In die Tage, da ich in der Türkei weile, fiel auch der Nikolaus-Tag. Ich hatte nichts im und auch – wie man landläufig sagt – keinen im Schuh. Aber es fiel mir eine Geschichte ein. Vor Jahren erzählte mir ein Orchestermusiker abends in der Theaterkantine, als er am Morgen aufgestanden und in seine Hausschuhe geschlüpft sei, habe er etwas Feuchtes an einem seiner Füße gespürt. „Da hat mir doch meine Frau“, erzählte er dem gespannt lauschenden Kantinenpublikum, „gefüllte Schokolade in die Hausschuhe gesteckt!“ Zur Rede gestellt, habe sie ihm geantwortet: „Heute ist doch Nikolaus! Irre. Eine Sauerei“, echauffierte sich der Musiker, „man ist doch kein Kind mehr!“ Wir versammelten Theaterleute lachten lauthals. Manchem spritzte das Bier aus den Mund …
In der Türkei ist der Nikolaus so gut wie nicht bekannt, die Deutschen wissen größtenteils wohl nichts über dessen Herkunft
Hier in Izmir fand ich in meinem Umfeld niemanden, der den Nikolaus kennt. Dabei lebte er doch in der Türkei. Na, ganz stimmt das nicht: es muss heißen, er lebte seinerzeit auf dem heutigen Gebiet der Türkei. Wiederum dürften umgekehrt viele Deutsche nichts über die Herkunft des Nikolaus wissen.
Wer war Nikolaus?
„Nikolaus wirkte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts als Bischof von Myra in der kleinasiatischen Region Lykien, damals Teil des römischen, später des byzantinischen, noch später des osmanischen Reichs. […] Myra in Lykien, mittlerweile Demre, ist ein kleiner Ort etwa 100 km südwestlich von Antalya in der heutigen Türkei. Im 4. Jahrhundert war der Ort Bischofssitz […]“ Quelle: via Wikipedia. Weiter heißt es: „Über das Leben des historischen Nikolaus gibt es nur wenige belegte Tatsachen.“ Und weiter zu den Reliquien: „Nach der Evakuierung der Stadt Myra und vor ihrer Eroberung durch seldschukische Truppen 1087 raubten süditalienische Kaufleute die Reliquien aus der Grabstätte des Heiligen in der St.-Nikolaus-Kirche in Demre und überführten sie ins heimatliche Bari. Die Reliquien befinden sich in der eigens errichteten Basilika San Nicola. Die türkische Nikolaus-Stiftung fordert allerdings die Reliquien des Heiligen zurück. Die Stadt Bari feiert jedes Jahr zu Ehren des Heiligen vom 7. bis 9. Mai, dem vermutlichen Tag der Ankunft der Reliquien, das Fest der Translatio. Die Statue des Heiligen wird, begleitet von über 400 Personen in historischen Kostümen, in einer Prozession von der Basilika bis zum Hafen getragen und auf ein Boot geladen. Anschließend wird mit ihr die Bucht umrundet.“
Der folgende Text zum Vorlesen für Kinder von Efi Goebel (via Erzbistum Köln) erzählt vom Heiligen Nikolaus:
»Ihr kennt doch den Heiligen Nikolaus? Vor vielen hundert Jahren lebte er in dem Land, das wir heute Türkei nennen.
In seinen jungen Jahren war Nikolaus natürlich noch kein Bischof. Und noch lebte er auch nicht in Myra, sondern in einer anderen Stadt. Nikolaus war damals ein reicher Mann. Von seinen Eltern hatte er viel Geld, ein großes Haus und manch anderen Besitz geerbt.
In den Sommermonaten, wenn es schön warm war, spielte sich das Leben der Menschen auf den Straßen ab. Gern spazierte Nikolaus dann umher und hörte auf das manchmal muntere, manchmal traurige, manchmal komische Stimmengewirr in den Gassen.
Doch plötzlich hört er hinter einer Mauer eine traurige Stimme. Und auch weinende Stimmen sind nicht zu überhören: „Morgen werdet ihr zu euren neuen Dienstherren gehen,“ sagt eine tiefe Männerstimme. „Wie gerne würde ich euch bei mir behalten. Aber ich bin arm. Ich schaffe es nicht, genug Geld zum Leben für uns alle zu verdienen.“
Die traurige Stimme des Vaters und das Weinen der Mädchen stimmen Nikolaus nachdenklich. Kann er nicht helfen? Rasch läuft er zurück in sein Haus. Dort füllt er einen Sack mit Goldstücken. Er eilt zurück zur Gartenmauer. Er geht bis zu der Stelle, an der die Mauer ein Fenster zum Wohnhaus hat. Schnell schaut Nikolaus sich um: niemand hat ihn gesehen. Da nimmt er den Sack mit den Goldstücken und wirft ihn hinein! Bevor noch jemand aus dem Fenster schauen kann, dreht er sich um und läuft davon.
Im Haus hat der arme Vater das ungewöhnliche Geräusch am Fenster gehört. Und wie groß ist seine Überraschung, als er den aufgeplatzten Sack und die vielen Geldstücke entdeckt! Woher das Geld wohl kommt? Wer hat es durch die Fensteröffnung geworfen? Rasch schaut der Vater auf die Straße hinaus. Aber dort ist es menschenleer! Nur etwas weiter oben in der Straße, dort, wo die Häuser der Reicheren stehen, meint er eine Bewegung an der Haustüre wahrzunehmen. Dort wohnt doch der reiche junge Mann, dieser Nikolaus?! Er wendet seinen Blick wieder dem Geld zu: Ob es wirklich für ihn und seine Töchter bestimmt ist? Dann wäre er allen Kummer und alle Sorgen los! Die Frage, wer der gute Geber ist, lässt ihm keine Ruhe. Er beschließt, im Haus von Nikolaus nachzufragen. All seinen Mut nimmt er zusammen und klopft an. Der Diener führt ihn zu Nikolaus in den Garten. „Junger Herr“, spricht der Vater, und sinkt vor Nikolaus auf die Knie, „sag, bist du es, der einen Geldsack durchs Fenster in mein Haus geworfen hat? Ist es wirklich gedacht, mir und meinen Töchtern zu helfen?“
„Steh nur auf“, antwortet Nikolaus und hilft dem Mann auf die Füße. „Ich hörte zufällig von deiner Not. Es ist doch nicht schwer, von dem Vielen, was ich besitze, abzugeben. Du brauchst mir nicht zu danken. Ich freue mich mit euch, wenn es dir und deinen Töchtern gutgeht.“
Jahre sind vergangen. Nikolaus ist älter geworden. Nun unternimmt er Reisen, um andere Städte kennenzulernen. Eines Morgens will er in der Stadt Myra die Kirche besuchen. Zu Tagesbeginn möchte er dort beten. Die Lehren Jesu sind ihm wichtig! Er weiß, dass Gott ihn liebt. Er möchte wie Jesus den Menschen helfen. Er ist gerne Christ.
Als er den dunklen Kirchenraum betritt, stellt sich ihm plötzlich ein alter Mann entgegen: „Das ist er, das ist unser neuer Bischof!“, ruft er in die Kirche hinein. Nikolaus ist verwirrt: „Ich bin kein Bischof!“, sagt er und will sich abwenden. Doch der Mann hält ihn fest: „Unser alter Bischof ist vor kurzer Zeit gestorben. Nun brauchen wir einen neuen Bischof, der sich um uns sorgt und uns führt. In der vergangenen Nacht haben wir gebetet, dass Gott uns zeigen möge, wer unser Bischof sein soll.“ Die Augen des alten Mannes glänzen. „Wir meinten, dass Gott sicher einen guten und frommen Menschen zu uns schicken wird. Und du bist nun schon so früh am Morgen in die Kirche gekommen! Wer seinen Tag im Gebet unter den Schutz Gottes stellt, der ist sicher ein guter Bischof für uns!“
Nikolaus ist verwirrt: Sollte es wirklich Gottes Wille sein? Er will darüber nachdenken. Er möchte überlegen, ob er als Bischof den Menschen und Gott dienen kann. Plötzlich merkt er, dass in der Kirche noch viele andere Menschen sind. Alle hoffen, dass er ihr Bischof werden wird! Die hoffnungsvollen Augen der Menschen und ihre Bitten bleiben bei Nikolaus nicht ungehört. Einige Zeit später wird Nikolaus zum Bischof von Myra geweiht. Nikolaus spürt, dass er Gott und den Menschen als Bischof gut helfen kann.»[…]
Was sagt uns diese Geschichte heute?
Es ist natürlich eine schöne Tradition und den Kindern alljährlich eine Freude, wenn sie am Nikolaustag am Morgen etwas Süßes in ihren Schuhen finden. Aber denken wir auch daran, dass heutzutage bei vielen unseren Kindern die Schuhe am 6. Dezember gewissermaßen leer bleiben. Oder hinein Getanes von den Eltern anderswo eingespart werden muss. Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. „Seit 2015 ist dieser Wert laut eines Mikrozensus um mehr als einen Prozentpunkt gewachsen“, lasen wir am 19.9.2022 in der Welt. Ein Skandal für eines der reichsten Länder der Erde! Eine Schande ist des Weiteren die Anzahl der Tafeln in Deutschland, die inzwischen an ihre Grenzen kommen. Und noch dazu einst gar nicht ins Leben gerufen worden waren, um Arme zu versorgen. Dagegen werden die Reichen in diesem Land immer noch reicher.
Was bedeutet den Menschen heute das Thema „Teilen“ und Solidarität?
Vor 1700 Jahren teilte Martinus von Tours, oder St. Martin, seinen Mantel mit einem Bettler am Tor der französischen Stadt Amiens. Bis heute gilt das als ein Symbol für Barmherzigkeit und Solidarität und, das viele Menschen in Europa und anderswo in der Welt seit Jahrhunderten inspirierte und weiter inspiriert. Im Jahr 2017 liefen mein holländischer Freund Tjerk Ridder zusammen mit Esel Lodewijk (Ludwig) die neue europäische Kulturroute „Het Martinus-Weg“ von Paris nach Utrecht.
Zuvor war Ridder am 1. Juli 2017 mit Esel Lodewijk anlässlich der Internationalen Martinus-Parade in Tours in Frankreich.
Unter dem Titel „In Het Licht Van Martinus“ wandelten beide auf den Spuren keines geringeren als Sankt Martin. Und in Folge dessen interessierte sich Tjerk Ridder natürlich für das Thema „Teilen“ und dafür, was den Menschen heute Solidarität bedeutet. Meinen damaligen Bericht finden Sie hier.
Sich mit Nikolaus- und Sankt-Martins-Tag zu befassen ist nicht verkehrt
Mir scheint es nicht verkehrt zu sein, dass uns Nikolaus-Tag und der Sankt-Martins-Tag daran erinnern, dass wir wieder einmal daran denken, dass es anderen schlechter als einem selbst geht – und das wir mit ihnen teilen oder ihnen anderswo helfen sollten. Allein, das ist zu wenig! Es mit allen diesen Tagen so. Auch mit Internationalen Frauentag am 8. März, wo den Frauen etwas Gutes getan und daran erinnert wird, dass sie in der Arbeitswelt noch immer schlechter entlohnt werden als Männer. Und danach? Alles vergessen. Es läuft alles weiter wie gehabt. Vergessen die Schwüre und hehren Politiker-Worte von gestern. Das kann es doch wahrlich nicht gewesen sein!
Wie wollen wir leben?
Wir, vom »Stichpunkt Magazin», wollen „Das Magazin für eine Gesellschaft mit Kultur“ sein. Was durchaus heißt, auch Optimismus zu verbreiten. Was jedoch nicht ausschließt festzustellen – feststellen zu müssen -, dass mit unserer Gesellschaft vielfach etwas nicht (mehr) stimmt. Sie ist und wird weiter gespalten. Herrschende Politik sowie Mainstream- und Konzernmedien betreiben das quasi Hand in Hand. Viele Menschen trauen einander nicht mehr. Andere feinden sich an.
Es gibt Stimmen, die meinen, wir befänden uns bereits im Dritten Weltkrieg. Zumindest ist es bereits nach Zwölf. Wie auch immer: Es gilt unsere Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Zu Bedenken ist, dass wir schon einmal weiter waren. Zunächst einmal müssen wir jeder für sich und letztlich alle zusammen, überlegen: Wie wollen wir leben?
Darüber müssen wir einen Diskurs führen und – auch über Ländergrenzen hinweg – in einen Austausch treten. Warum uns nicht an Willy Brandts Worten seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag orientieren? Brandts Kernbotschaften lauteten damals: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen.“ Gerade und erst recht jetzt, da es heutzutage Politiker und Medien gibt, die diese richtige Politik als falsch bezeichnen und das damals Wegweisende in jeder Hinsicht diffamieren.
Tage wie der Nikolaus- sowie der St.Martins-Tag sollten uns ruhig auch weiterhin daran erinnern, was Solidarität zu leben heißt. Nur sollten das keine Eintagsfliegen bleiben. Es sollte und muss an einer Gesellschaft gebaut werden, wo künftig solidarische Verhaltensweisen wie sie Nikolaus von Myra und Martin von Tours gezeigt haben so alltäglich sind, dass alles andere einfach als nicht mehr vorstellbar gilt.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint ebenfalls im >>Stichpunkt Magazin<<.
Als ich kürzlich einem Freund kundtat, dass ich das neue Buch von Oskar Lafontaine mit dem Titel „Ami, it’s time to go“ rezensieren würde, entgegnete er mir: „Ja, mein Gott, das haben wir doch schon in den 1970er Jahren und früher gerufen! Es stand an mancher Wand.“
Ja, und nun sind sie noch immer da. Während die Russen uns nicht nur die deutsche Einheit möglich machten sondern gutgläubig auch ihre Truppen aus dem einstigen Gebiet der DDR abzogen. Die USA führen ihre Kriege u.a. über die Air Base Ramstein (also geht Krieg von deutschem Boden aus) und diktieren nicht nur den EU-Staaten, nicht zuletzt Deutschland, wie und wo sie nach ihre Pfeife zu tanzen haben. Zu allem Unglück haben wir Deutschen nun auch noch die Ampel-Regierung, wohl die schlimmste und schlechteste Bundesregierung seit Gründung der BRD. Zu allem Überfluss sind die Grünen Teil dieser Bundesregierung! Die einstige Friedenspartei (man fasst es nicht) ist zu einer kriegstreiberischen, olivgrün zu nennenden Partei geworden. Bessere Einflussagenten als Annalena Baerbock und Robert Habeck – beide absolute Fehlbesetzungen betreffs der von ihnen geführten Ressorts – könnte Washington sich in Berlin nicht wünschen. Das passt wie die Faust aufs Auge, gerade jetzt im Ukraine-Krieg, welcher nicht zuletzt ein Stellvertreterkrieg auf den Rücken der ukrainischen Bevölkerung gegen Russland ist. Lange geplant. Wir sollten nicht vergessen, dass der Maidan-Putsch 2014 in Kiew von den USA mit 5 Milliarden Dollar und entsprechenden Personal ins Werk gesetzt wurde.
Und natürlich – da gibt es auch bei Oskar Lafontaine kein Vertun – ist der Krieg Russland in Ukraine ein völkerrechtswidriger. Allerdings darf darob nicht vergessen werden, dass dieser Krieg eine blutige achtjährige Vorgeschichte hat. In dieser Zeit beschoss das ukrainische Regime die eigenen (vorwiegend) russischstämmige Bürgerinnen und Bürger im Donbass. 14 000 Menschen starben so in den Oblasten Lugansk und Donezk. Renten wurden nicht gezahlt etc.
Unsere Beziehung zu den USA ist längst keine Freundschaft mehr und nicht einmal mehr eine Partnerschaft. Zunehmend schaden die USA uns. Denn das Imperium USA bröckelt zunehmend. Dieses sich überheblich als „God’s own country“ verstehende Land denkt nur an eigene Interessen. Und der Rest der Welt hat sich diesen Interessen unterzuordnen. Tun das Länder nicht, dann wird ihnen schon einmal der Arm umgedreht. Sagte das nicht einmal sogar der einst hierzulande in den Himmel gehobene „Friedhofsnobelpreisträger“ (Mathias Bröckers) und Drohnenmörder Obama?
Nun gab es Anschläge auf die Nord Stream Pipeline. Wer dahintersteckt ist nicht bekannt. Wurde noch nicht ermittelt. Wird es je herauskommen? Darf es je herauskommen? Doch wenn man die Frage Cui bono – Wem nützt es – stellt, kann man eigentlich nur auf eine Antwort kommen.
Uns, Deutschland, jedenfalls nutzt es nicht nur nicht, sondern schadet uns betreffs unserer Energieversorgung erheblich. Stattdessen wollen (müssen?) wir schmutziges US-Frackinggas für teuer Geld über den großen Teich nach Deutschland schippern lassen! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Auch Sanktionen gegen Russland, die die USA auch Deutschland und den EU-Ländern sozusagen dekretierten, schaden. Für Deutschland kann man sagen: sie schaden uns mehr als Russland. Kriegen wir nicht rechtzeitig die Kurve, dann sinkt unsere Wirtschaftskraft und damit der in Jahrzehnten fleißig erarbeitete Wohlstand. Laut Amtseid sollen Minister der Bundesregierung nebst Bundeskanzler Schaden vom deutschen Volke abwenden und dessen Nutzen mehren. Diese Bundesregierung verstößt gegen diesen Amtseid. Und hakt man nach, so erfährt man, dieser Amtseid ist offenbar nicht mehr als eine Floskel. Ihn einklagen? Fehlanzeige.
Nun aber zu Oskar Lafontaine!
Offenbar sieht er Licht am Ende des Tunnels. Hoffnung auf einen zugegeben dringend notwendigen Wandel, um nicht zu sagen: Eine Wende zum Besseren, zur Vernunft. Allein, mir fehlt – so sehr ich es doch selbst wünsche – der Glaube an eine baldiges Aufwachen, das zu entsprechenden Taten führt. Doch lesen Sie selbst und machen sich ihre eigenen Gedanken, liebe Leserinnen und Leser:
„Langsam, aber sicher kippt die Stimmung in der Bundesrepublik. Von Tag zu Tag sind immer weniger Leute bereit, die anhaltende Kriegshetze so ohne Weiteres mitzumachen. Sie erfahren von dem großen Leid, das in der Ukraine verursacht wird, und hören die täglichen Forderungen des CDU-Vorsitzenden Merz, der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann oder des Grünen-Abgeordneten Hofreiter, immer mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. Leider gibt der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz nach anfänglichem Zögern immer wieder klein bei und liefert. Den Vogel abgeschossen hat erneut unsere Außenministerin Annalena Baerbock, die ihre Forderung, die Ukraine mit weiteren Waffen und Leopard-Panzern auszustatten, damit begründete, dass deutsche Waffen Leben retten würden. Da fehlen einem die Worte.
Die Älteren erinnern sich noch daran, dass Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 27 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, darunter viele Millionen Russen und Ukrainer. Am 27. Januar 2014 hatte der 95-jährige Überlebende der Belagerung Leningrads, Daniil Granin, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages an die Inschrift eines russischen Soldaten an den Wänden des Reichstages erinnert: »Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst.«1Und jetzt sollen wir wieder Waffen liefern, damit das Morden in der Ukraine endlos weitergeht, mit deutschen Waffen Russen getötet werden und die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt?
Die Belesenen glauben ohnehin nicht an die Alleinschuld Russlands. Sie erinnern sich an das Gorbatschow gegebene Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Sie wissen, dass die USA 2014 einen Putsch auf dem Maidan organisiert und finanziert haben, um eine Marionettenregierung einzusetzen, die die endgültige Aufnahme der Ukraine in die NATO vorantreiben würde. Zu verlockend war für die Hardliner in Washington die Vorstellung, nach den Raketenbasen in Polen und Rumänien jetzt auch Raketen an der ukrainisch-russischen Grenze aufstellen zu können. Unvergessen ist in diesem Zusammenhang das schamlose Märchen der USA, die Raketen in den osteuropäischen Staaten würden stationiert, um iranische Raketen abzufangen. Und selbstverständlich druckte die westliche Propagandapresse diese dämlichen Erklärungen ab, ohne sie infrage zu stellen, geschweige denn zu kritisieren. Das Pentagon kann jede Lüge verbreiten – die westlichen Medien werden sie schlucken. Raketen ohne Vorwarnzeiten sind so etwas wie das Messer am Hals des jeweiligen Gegners. Sie sind die glaubwürdige Drohung, mit einem Schlag die politische Führung und die militärischen Kommandozentralen des Gegners auszuschalten. »Nicht wer zuerst zu den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt«, schrieb schon vor 500 Jahren der Florentiner Nicolo Machiavelli.
Die von Willy Brandt geprägte Entspannungspolitik, die uns jahrzehntelang Frieden und Sicherheit gebracht hat, wurde Zug um Zug aufgegeben.2Die Ampel-Regierung unterstützt seit ihrem Regierungsantritt vorbehaltlos die aggressive Politik der USA. Ein Sanktionspaket nach dem anderen wurde beschlossen, um Putin zu bestrafen. Der mit Sanktionen geführte Wirtschaftskrieg gegen Russland begann spätestens 2017, lange vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Senat und Kongress in Washington beschlossen ein Gesetz, das zum Ziel hatte, den russischen Einfluss in Europa und Eurasien zurückzudrängen. 2018 nahmen die USA Nordstream 2 in den Fokus.3Gesetzlich wurde festgelegt, dass die Sanktionsbeschlüsse der USA in Zukunft internationales Recht seien und Verstöße dagegen zivilrechtlich und strafrechtlich in den USA verfolgt würden. In der Klausel 257 dieses Gesetzes wurde bestimmt, dass es das Ziel dieses Gesetzes sei, dem Export von US-Energieressourcen Vorrang vor anderen Exportströmen zu verschaffen, um in den USA neue Jobs entstehen zu lassen. Schon im Dezember 2017 hatten Demokraten und Republikaner der Schweizer Firma Allsees, die die Rohre für Nordstream 2 verlegte, mit der Vernichtung gedroht, wenn sie nicht binnen 48 Stunden die Arbeit an der Pipeline einstellen würde. Die Firma gab nach. Immerhin hatte der damalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern den Mut, diese US-Gesetze als einen »eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht« zu brandmarken.4Ein mutiger deutscher Bundeskanzler hätte die Sprengung von Nordstream 2 jetzt eine Kriegserklärung an Deutschland genannt. Mittlerweile merken viele Bundesbürger: Diese Sanktionen sind vor allem ein Schuss ins eigene Knie. Sicher, die Russische Wirtschaft leidet und hat zunehmend Schwierigkeiten, aber hierzulande schießen die Energiepreise durch die Decke. Viele Leute können ihre Heizungskosten und die Strompreise nicht mehr bezahlen und wissennicht, wie es weitergehen soll. Die deutsche Wirtschaft befürchtet eine Pleitewelle und fordert die Regierungauf eine Lösung zu finden. Aber – und das trauen sich die wenigsten auszusprechen: Ohne russische Rohstoffe und Energielieferungen werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Immer mehr Menschen werden verarmen und zahlloseBetriebe werden schließen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Sehenden Auges fährt die Ampel-Koalition die deutsche Wirtschaft an die Wand. Deshalb ist diese Regierung die dümmste, die wir hatten Seiten Bestehen der Bundesrepublik.“
(Aus dem Kapitel: „Kein Nuklearkrieg in Europa! Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien“; ab S.7
Oskar Lafontaine erinnert an die erfolgreiche Entspannungspolitik und die hervorragenden Erfolge in der Ostpolitik Willy Brandts. Er kritisiert, dass diese Entspannungspolitik durch eine Politik der Konfrontation ersetzt wurde. Da hat Lafontaine Recht. Wie viel Porzellan in den Beziehungen zu Russland ist in letzten Jahren zerschlagen worden. Er erinnert daran, was Viele womöglich gar nicht mehr erinnern, bzw. überhaupt nicht bemerkt haben: Die Abkehr von der Entspannungspolitik hat bereits vor 30 Jahren begonnen, da Michael Gorbatschow die politische Bühne verlassen hatte. Da hätten die Hardliner in Washington geglaubt, „jetzt könne man die Früchte des Zusammenbruchs der Sowjetunion ernten“. „Die USA brachen alle Versprechungen und weiteten die NATO nach Osten aus, obwohl US-Politiker wie George Kennan diese Osterweiterung den größten Fehler der US-Außenpolitik nach dem Kriege nannten. Die Osterweiterung werde zu Militarismus und Nationalismus führen. Selten wurden die Folgen einer falschen Politik so präzise vorausgesagt.“ (S.11) Wie richtig Kennan (aber auch andere Politiker, selbst der Hardliner Kissinger) mit diesen Warnungen lag, sehen wir nun heute im Jahre 2022. Nicht nur in der Ukraine. Ringsum brechen alte Wunden wieder auf, schon drohen weitere Konflikte (etwa in Moldawien) Europa zu erschüttern. Als wenn eine Büchse der Pandora geöffnet worden wäre! Wenn uns das um die Ohren fliegt, dann gnade uns Gott, oder wer auch immer!
Erschreckend, wie wenig wir als Menschheit aus früheren Konflikten und Weltkriegen gelernt haben. Erst recht Politiker wie Habeck und Baerbock. Wo waren die im Geschichtsunterricht? Ich lese gerade Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ und kann nur empfehlen dieses Buch zu lesen. Vornweg Habeck und Baerbock – und ja: auch Scholz lege ich es ans Herz!
Oskar Lafontaine hat es auf den Punkt gebracht: Wir – das trifft für ganz Europa zu! – müssen uns der Vormundschaft der USA dringend – bei ansonsten drohendem Untergang im nuklearen Inferno – entziehen. Wir müssen gute Beziehungen zu Russland zu beiderseitige Wohl aufbauen, und Handel und Wandel treiben. Und kulturellen Austausch. Lafontaine skandalisiert die Tatsache, dass heute russische Künstler ausgeladen werden, ihr Engagement verlieren und selbst russische Literatur gecancelt wird, wie das heutzutage heißt. Dazu gehört freilich auch, dass Russland eine Sicherheit zugestanden und garantiert wird, die wir selbstverständlich ebenfalls für uns wünschen. Lafontaine bringt auch den einstigen großen Präsidenten Frankreichs, Charles de Gaulle ins Gespräch. Der bekanntlich für mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von den USA stand. Zu diesem Behufe ließ er seinerzeit die militärische Zusammenarbeit mit der NATO ruhen. Der gestandene General gedachte sich nicht unter die Knute der USA zu begeben.
Lafontaines Buch schließt mit dem Kapitel „Gedanken zum Krieg“ (S.45). Da wird er sehr persönlich, was auch seine Haltung gegen jedweden Krieg erklärt, welche er sich bis heute bewahrt hat. Der Onkel, dessen Vornamen ihm seine Eltern gaben, fiel 1941 200 Kilometer vor Moskau. Sein Vater ist im April 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem US-Soldaten erschossen worden, als er auf dem Weg seiner Familie war.
Diese kleine Buch ruft Wichtiges in Erinnerung. Es ist ein Buch, das sagt, was ist. Sowie was sein könnte, ja sein müsste. Und ist ein Plädoyer für die Einkehr von Vernunft und Arbeit am Frieden. Oskar Lafontaine erinnert hat seinen politischen Ziehvater Willy Brandt, der in seiner berühmten Nobelpreisrede festgestellt habe: „Krieg ist die Ultima Irratio“. Und der zusammen mit seinem Freund Egon Bahr die Deutschen immer wieder gemahnt habe: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Daran er jetzt. Aber auch an Michael Gorbatschow, den der die Freude gehabt habe kennenzulernen. Die Deutschen hätte ihm viel zu verdanken. Weshalb wir die Russen nicht zu Feinden erklären dürften.
Jetzt, so Lafontaine, müsse alles dafür getan werden, dass die Waffen schweigen: „Der Waffenstillstand, der Frieden“, schließt dieses Buch, „hat höchste Priorität. „Jeder sollte versuchen, dazu seinen Beitrag zu leisten.“
Eine englische Zeitung erschien zur Zeit als Oskar Lafontaine Bundesfinanzminster in der rot-grünen Koalition war mit einer deutschen Titelseite. Die „Sun“ fragte ihre Leser: „Ist dies der gefährlichste Mann Europas?“ und konkretisierte: „Oskar Lafontaine stellt die größte Bedrohung für die britische Lebensart seit 1945 dar.“ Der Grund dafür seien seine Thesen zur europäischen Währungspolitik. Wie Recht Oskar Lafontaine seinerzeit in Sachen einer vernünftigen Finanzpolitik hatte, zeigte Jahre danach die Finanzkrise 2007/2008.
Wird Oskar Lafontaine mit seinem Buchtitel wieder als gefährlicher Mann – gar als Antiamerikaner gelten? Ihn wird es nicht jucken. Denn er hat ja Recht. Und was juckt es die gestandene (politische) Eiche aus dem Saarland …
Heftiges Kopfschütteln und eine darob aufkommende ehrliche Empörung ist noch immer zu wenig, wenn man von dergleichen Kenntnis erhält. Am gestrigen Abend erreichte mich ein Anruf des Schriftstellers, Autors und Publizisten Dr. Wolfgang Bittner, von dem ich in der Vergangenheit einige Bücher rezensiert hatte (z. B. „Der neue West-Ost-Konflikt“). Die aufschreckende Information, welche ich von ihm erhielt, formulierte er auch schriftlich und sendete sie u.a. auch an Medien. Sie erschien u.a. in der „Sicht vom Hochblauen“:
„Liebe Freundinnen und Freunde,
wie ich vor Kurzem erfuhr, stehe ich auf einer schwarzen Liste des ukrainischen Zentrums zur Desinformationsbekämpfung (CCD) mit etwa hundert weiteren Personen.
Scott Ritter, ehemaliger Geheimdienstoffizier des Marine Corps und UN-Waffeninspektor, der ebenfalls auf der CCD-Liste steht, schrieb dazu einen offenen Brief an seine Kongressabgeordneten (die US-Senatoren Chuck Schumer und Kirsten Gillibrand sowie den Kongressabgeordneten Paul Tonko), worin er sie auffordert, „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die vom US-Kongress bewilligten Mittel nicht zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verwendet werden, das den Bürgern der Vereinigten Staaten, einschließlich mir, durch den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung zusteht.“ Ritter merkt an, dass alle drei Abgeordneten eine Resolution unterstützt haben, um Mittel für die ukrainische Regierung und ihr Zentrum zur Desinformationsbekämpfung bereitzustellen, das ihn ins Visier genommen hat.
Ritter schreibt: „Als Bürger meines Wahlkreises, dessen Name auf einer vom ukrainischen Zentrum für Desinformationsbekämpfung veröffentlichten sogenannten ‘schwarzen Liste’ steht, wurde und wird mein persönliches und berufliches Leben nachteilig beeinflusst durch die abschreckende Wirkung, als ‘russischer Propagandist’ bezeichnet zu werden, nur weil ich das von der Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen habe. Darüber hinaus hat die Ukraine in der Vergangenheit ,schwarze Listen’ dieser Art in ,Abschusslisten’ umgewandelt, auf denen diejenigen, die sich gegen die Politik der ukrainischen Regierung aussprechen, ermordet oder mit Gewalt bedroht werden. Ich bin mir sicher, dass Sie mit mir darin übereinstimmen, dass der Kongress nicht die Befugnis haben darf, durch sein Handeln ausländischen Regierungen die Mittel an die Hand zu geben, um Bürger der Vereinigten Staaten davon abzuhalten, ihre verfassungsmäßig geschützten Rechte auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen.“
Der Leiter des ukrainischen Zentrums zur Desinformationsbekämpfung, Andriy Shapovalov, soll in einer Rede vor einem Runden Tisch über Desinformationsbekämpfung die Personen auf der Liste als „Informationsterroristen“ bezeichnet haben, und dass „Informationsterroristen wissen sollten, dass sie sich vor dem Gesetz als Kriegsverbrecher verantworten müssen.“ Der Runde Tisch wurde zum Teil von der U.S. Civilian Research and Development Foundation mit Unterstützung des US-Außenministeriums organisiert.
Liebe Freundinnen und Freunde, das ist ein gravierender Angriff nicht nur auf mich und meine Arbeit, es ist ein neuer Höhepunkt der Einschüchterung und in diesem Fall auch einer physischen Bedrohung Andersdenkender und Oppositioneller, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch genommen haben. Die Bundesregierung wird wohl kaum etwas dagegen unternehmen. Ich bin erst einmal ratlos und möchte über diesen unerhörten Vorgang informieren.
Mit besten Grüßen
Wolfgang Bittner
Auf der ukrainischen schwarzen Liste stehen außer Wolfgang Bittner u.a.:
John J. Mearsheimer
Ray McGovern
Richard Black
Rolf Mützenich
Helga Zepp-LaRouche
Alice Schwarzer
Scott Ritter
Jacques Baud
Jay Naidoo
Douglas Macgregor
Leonardo Tricarico
Johannes Varwick
Prof. Christian Hacke
Jaques Baud
Tulsi Gabbard
Glen Greenwald
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Solidaritätsbekundung
Folgendem schließe ich mich als Journalist und Blogger ausdrücklich an und versichere Dr. Wolfgang Bittner meiner Solidarität. Willy Brandt hätte vermutlich zu dieser unsäglichen Praktik der Ukraine gesagt: Das darf nicht durchgehen.
„Wolfgang Bittner ist ein wichtiger Publizist und Autor, der wahrgenommen wird und darauf kann er stolz sein!
Diese Faschisten kennen keine Hemmungen mehr, es ist ein Wahnsinn. Wollen wir wirklich eine Regierung, die mit solchen Faschisten und Denunzianten zusammenarbeitet, diese mit allen Mitteln und Kräften unterstützt und damit ihren Amtseid bricht “Schaden vom deutschen Volk abzuwenden”.
Solidarität mit Wolfgang Bittner, Gut, dass es noch mutige Publizisten und Menschen wie ihn gibt“!
Evelyn Hecht-Galinski (Sicht vom Hochblauen)
Update vom 6. August 2022:
Scott Ritter: Es ist mir eine Ehre, auf der Liste der „russischen Propagandisten“ zu stehen
Wer durch das Aussprechen der Wahrheit auf der schwarzen Liste der „russischen Propagandisten“ landet, sollte dies mit Stolz als Auszeichnung tragen, sagt der politische Analyst Scott Ritter. Wenn es um faktenbasierte Analysen geht, dann ziehe er die sogenannte „russische Propaganda“ jederzeit der „ukrainischen Wahrheit“ vor.
Im Jahr 1997 flog ich im Auftrag einer Sonderkommission der Vereinten Nationen nach Kiew, um die ukrainische Regierung um Unterstützung bei der Untersuchung der Aktivitäten eines ukrainischen Staatsbürgers zu bitten. Dieser wurde verdächtigt, unter Verletzung von Bestimmungen des UN-Sicherheitsrates, illegal Komponenten und Herstellungskapazitäten für ballistische Raketen an den Irak verkauft und damit gegen verhängte Wirtschaftssanktionen verstoßen zu haben.
Während meines Besuchs kam es zu mehreren Treffen mit hochrangigen Beamten des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, darunter auch ihrem damaligen Direktor Wladimir Horbulin. Ich verließ Kiew in dem Einvernehmen, die ukrainische Seite hätte sich bereit erklärt, zu kooperieren – was sie letztlich nicht tat – und sie hoffte, dass ich ihre guten Absichten an die US-Behörden weitergeben würde – was ich tatsächlich auch tat – in der Erwartung, dass dies ihren Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der NATO unterstützen würde.
Fünfundzwanzig Jahre später hat derselbe Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat über sein „Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation“ eine schwarze Liste von Personen veröffentlicht, von denen angenommen wird, dass sie „russische Propaganda“ verbreiten.
Mein Name steht auf dieser Liste. Zu meinen „Verbrechen“ gehören, die Ukraine als Stützpunkt der NATO beschrieben zu haben, das Narrativ um das Massaker von Butscha in Frage gestellt zu haben und den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als „Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland“ bezeichnet zu haben.
Ich erkläre mich in allen drei Anklagepunkten für schuldig – und noch für viel mehr. Aber ich bin kein russischer Propagandist.
Das „Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation“ wurde im Jahr 2021 auf Anordnung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij gegründet. Das Zentrum wird von Polina Lysenko geleitet, einer Rechtsanwältin, die sechs Jahre zuvor ihren Abschluss in Rechtswissenschaften gemacht hat und deren Lebenslauf eine Zeit beim Nationalen Büro für die Bekämpfung der Korruption aufweist, einer Amtsstelle, die dem Generalstaatsanwalt unterstellt ist. Dort wurde ihr eine Dienstauszeichnung des amerikanischen FBI verliehen.
Bis sie an ihren jetzigen Posten berufen wurde, arbeitete sie zwischenzeitlich als Leiterin der Abteilung für Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit bei einem staatlichen Eisenbahnunternehmen.
Kurz nach ihrer Ernennung, stellte Lysenko die Arbeit des „Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation“ den Botschaftern der G7-Staaten, sowie jenen von Finnland, Israel und der NATO vor. Ihr Vorgesetzter, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Alexei Danilow, betonte dabei „die Bedeutung der Koordinierung von Maßnahmen mit strategischen Partnern bei der Bekämpfung feindlicher Informationsoperationen und der Bekämpfung von Desinformation“, während der Leiter des Büros des Präsidenten, Andrei Jermak, angab, er hoffe, „dass das Zentrum nicht nur ein ukrainisches Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation wird, sondern auch ein internationales“. Laut Yermak sei das Zentrum „operativ funktionsfähig“. Polina Lysenko betonte bei der Darlegung der Ziele und der Mission ihrer Organisation, dass „die Wahrheit unsere Hauptwaffe sein wird“.
Sie hätte damit beginnen sollen, die Aussage von Yermak auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Zwei Monate, nachdem er ihr Zentrum für „operativ funktionsfähig“ erklärt hatte, berichteten ukrainische Medien, dass es dem Zentrum an „Räumlichkeiten, Finanzierung und Personal“ fehle. Lysenko war die einzige Angestellte, und „ihr wurde ihr Gehalt über mehrere Monate nicht ausbezahlt“. Das Zentrum sollte eigentlich 52 Mitarbeiter haben, die mit etwa 2.000 Euro pro Monat entlohnt werden sollten. Eigentlich wäre das ukrainische Finanzministerium dafür verantwortlich gewesen, die Mittel für das Zentrum bereitzustellen, was es aber bis Mitte Juni 2021 nicht getan hat. Lysenko arbeitete allein in einem „winzigen Büro im Erdgeschoss des Gebäudes des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates“. Es scheint schwierig zu sein, „die Wahrheit als Hauptwaffe“ zu führen, wenn man nicht mal dafür bezahlt wird.
Ein Jahr später, während die Finanzierung und das Personal kein Problem mehr zu sein schienen – zum großen Teil dank der Übernahme der Gehaltsabrechnungen durch die US-Steuerzahler –, blieb die Qualität weiterhin ein Problem. Nehmen wir zum Beispiel den Fall, den Lysenko und ihr neues Zentrum gegen Desinformation in Bezug auf mich dargestellt hat.
Wenn die „Beschreibung der Ukraine als Stützpunkt der NATO“ jemanden zu einem russischen Propagandisten macht, dann hätte man mir Ben Watson zur Seite stellen sollen, ein Redakteur der notorisch „pro-russischen“ – Achtung: Sarkasmus! – Online-Zeitschrift Defense One, der im Oktober 2017 einen Artikel veröffentlichte, mit der selbsterklärenden Überschrift „In der Ukraine bilden die USA eine Armee im Westen aus, um mit ihr im Osten zu kämpfen“.
Der Artikel beschrieb die Arbeit von Militärpersonal der NATO und aus den USA im Rahmen der Vereinigten Multinationalen Trainingsgruppe im ukrainischen Zentrum für Gefechtstraining in Yaworiw. Dieses befindet sich in der Westukraine befindet und stellt buchstäblich einen NATO-Stützpunkt in dem Land dar. Alle 55 Tage wurde in dem Zentrum ein komplettes ukrainisches Armeebataillon nach NATO-Standards dafür ausgebildet, in die Ostukraine geschickt zu werden, um dort gegen von Russland unterstützte Separatisten im Donbass zu kämpfen.
Ein professioneller Tipp am Rande für Frau Lysenko: Wenn ein Land ein ständiges Kontingent von NATO-Truppen auf seinem Boden beherbergt, dann macht sich dieses Land zu einer Basis der NATO.
Lysenkos Stab erstklassiger Analysten zur Bekämpfung von Desinformation – wiederum Sarkasmus! – monierte ebenfalls meine Einschätzung des Massakers an Zivilisten in Butscha von Ende März/Anfang April als ein von ukrainischen Streitkräften begangenes Verbrechen. Lysenko war hierbei in guter Gesellschaft, ich wurde für dieselbe Analyse von Twitter gesperrt.
Auch vier Monate nach den in Butscha begangenen Gräueltaten bleibe ich bei meiner Analyse – die Faktenlage hat sich seither nicht geändert. Und ich wäre jederzeit bereit, dieses Thema mit Polina Lysenko und ihrem gesamten Personal live im ukrainischen Fernsehen zu debattieren. Ich würde mit jedem und überall darüber diskutieren – so zuversichtlich bleibe ich bei meiner ursprünglichen Analyse. Die Wahrheit ist schließlich meine Hauptwaffe.
Der letzte Vorwurf der unerschrockenen Wahrheitsdetektive rund um Lysenko gegen mich, dass ich den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als „Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland“ bezeichnet habe, stellt erneut die Professionalität ihrer Mitarbeiter infrage. Schließlich nannte der in Moskau geborene, sich selbst hassende Russe Max Boot in einem am 22. Juni in der Washington Post veröffentlichten Meinungsartikel den Ukraine-Konflikt „auch unseren Krieg“. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, in denen ich Max Boot in etwas zustimme. Boot wiederholte jedoch lediglich die Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass die US-Politik in Bezug auf den Ukraine-Konflikt darauf ausgerichtet sei, Russland durch die Unterstützung der Ukraine zu schwächen – was einer Definition aus dem Lehrbuch für einen „Stellvertreterkonflikt“ nahekommt.
Geben Sie sich mehr Mühe, Polina Lysenko. Versuchen Sie zumindest, ein paar einfache Punkte zu sammeln, indem Sie die Tatsache hervorheben, dass ein Großteil meiner Analysen zur Ukraine von Russia Today veröffentlicht werden – wie auch dieser Artikel. Dann könnten Sie zumindest sagen, dass ich von Russland bezahlt werde. Natürlich müssen Sie damit klarkommen, dass meine Analysen auch in zahlreichen nicht-russischen Medien veröffentlicht werden – ich meine, was für ein russischer Propagandist wird von amerikanischen und britischen Verlegern veröffentlicht?
Und dann ist da natürlich noch das heikle Thema der überwachten russischen Redaktion. Als Orientierung dient folgender Austausch:
Ich: „Irgendwelches Interesse daran, dass ich Stoltenbergs Präsentation zum Thema ‚den Preis zahlen‚ genauer unter die Lupe nehme?“
Der überwachte russische Redakteur: „Was ist Ihre Meinung?“
Ich: „Ich glaube nicht, dass Stoltenberg die Summe auf dem Preisschild versteht.“
Der überwachte russische Redakteur: „Ist es dieselbe Rede, in der er sagte: ‚Hört auf, euch zu beschweren‘, ja?“
Ich: „Ja.“
Der überwachte russische Redakteur: „Cool, lass es uns machen.“
Die strategische Hinterlist der russischen Propagandamaschine ist durch dieses kurze Gespräch gut dokumentiert. Ich kann nicht glauben, dass ich darauf hereingefallen bin.
Aber den Sarkasmus mal beiseitegeschoben, sollte die Veröffentlichung einer schwarzen Liste sogenannter „russischer Propagandisten“ durch das von Lysenko geleitete Zentrum, eine Beleidigung für jeden sein, der an die Konzepte der freien Meinungsäußerung glaubt. Ich bin stolz darauf, mit vielen von denen verbunden zu sein, die sich mit mir auf dieser Liste wiederfinden – Ray McGovern, Tulsi Gabbard, Douglas MacGregor, John Mearsheimer und viele andere.
Ich bin zuversichtlich, dass alle hier Genannten sagen werden, dass ihre Motivation für ihre Haltung zum Ukraine-Konflikt darin bestehe, der Wahrheit nachzugehen – der wahren Wahrheit, nicht der verwirrten Version, die von Lysenko und ihren von den USA bezahlten Analysten verbreitet wird. Niemand betrachtet sich selbst als russischen Propagandisten, sondern eher als amerikanischen Praktizierenden der Redefreiheit jener Art, die durch dieselbe US-Verfassung geschützt ist, auf deren Einhaltung und Verteidigung viele der genannten Personen – wie auch ich – einen Eid geschworen haben.
Ich schließe meinen Text damit, für mich selbst zu sprechen. Wenn das Festhalten an einer faktenbasierten Analyse, die den Test der Zeit überstanden hat, die neue Definition von „russischer Propaganda“ ist, dann bin ich dabei. Sie ist sicherlich besser, als die Orwellsche Version der Meinungsfreiheit, die von der US-Regierung und ihren Stellvertretern in der Ukraine verbreitet wird.
Ups! Jetzt habe ich es wieder getan!
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.
Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden. Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg (Pommern; heute Kołobrzeg, Republik Polen) geboren. Also zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Mutter ist eine einfache Frau. Den Vater lernte er nicht kennen. Egon Krenz entstammt kleinsten Verhältnissen. Nun hat Egon Krenz eine Autobiografie vorgelegt. Wenn man darin am Ende liest:
„Honeckers kameradschaftliches Verhältnis zu mir beeindruckte mich. Es war herzlich und produktiv. Das sollte sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als Gorbatschow in Moskau das Ruder übernahm, ändern. Eine Freundschaft ging zu Ende. Da widerrief Honecker, was im Westen seit Jahren über mich kolportiert worden war, nämlich dass ich sein ‚Kronprinz‘ sei. Doch dazu später.“ Wenn man das richtig versteht, dann dürfte also ein zweiter Teil seiner Erinnerungen folgen.
Egon Krenz zu seinem Vater: „Wer immer mein Vater gewesen sein mag: Er kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder. Die Überzeugung meiner Mutter ‚Nie wieder Krieg!‘ wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt. Sie blieb ein Element meines Denkens und Handelns.“
Krenz‘ Entwicklung und dessen Handeln nicht untypisch
Der Verlag schreibt zur Person Egon Krenz: „Seine Entwicklung: nicht untypisch. Sein Handeln ebenso. Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg, fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“
Der Westen war keine Alternative: „„Bei euch regieren ja immer noch die Nazis“
Krenz schreibt, 1947 als Zehnjähriger, einige Wochen auf Sylt verbracht zu haben, wohin ihn die Mutter zwecks Besuchs ihrer dort lebenden Tochter mitnahm. Der Grenzübertritt gestaltete die Mutter illegal, bediente sich eines Fluchthelfers. Bis nach Westerland in der britischen Zone brauchten die beiden mehrere Tage. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit Egon wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“
Krenz klärt über den Hintergrund auf: der Bürgermeister von Westerland auf Sylt war von 1951 bis 1964 ein gewisser Heinz Reinefahrth. Studierter Rechtsanwalt, als Generalleutnant der Waffen-SS 1944 Befehlshaber die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes befehligt. Unter seinem Befehl seien bis zu 50 000 Polen erschossen worden, schreibt Krenz. 1949 wurde Reinefahrth, der bereits für den US-Geheimdienst CIC arbeitete, 1949 vom Spruchgericht Hamburg-Bergedorf von jeder Schuld freigesprochen. Einem Auslieferungsantrag Polens gegen den Kriegsverbrecher hatte die britische Besatzungsmacht nicht stattgegeben …
Diese Zeilen von Egon Krenz erinnerten mich an eine andere Biografie
Darüber hatte vor vielen Jahren einmal eine Rezension geschrieben hatte. Manfred Liebscher (inzwischen leider verstorben) hatte seine Erinnerungen aufgeschrieben. Die hatte er ursprünglich nur für seine Enkel schreiben zu schreiben gedacht. Schließlich aber veröffentlichte er sie aber dennoch („Im Paradies der Erinnerungen“, Manfred Liebscher; im Netz noch erhältlich). Daraus:
Als Kind einfacher Leute hatte Manfred Liebscher selbst zunächst als Knecht gearbeitet. In den Anfangsjahren der DDR fand er den Weg zur Kasernierten Volkspolizei. Und von dort warb man ihn zum Ministerium für Staatssicherheit ab. Da arbeitete Liebscher für die eigene Kriminalpolizei der Staatssicherheit. Nach dem Ende der DDR rümpfte man die Nase über derartige Biografien. Doch gilt es zu differenzieren. Manfred Liebscher leistete über viele Jahre Wichtiges in seinem Bereich. Das vereinigte Deutschland konnte ihm keine Vergehen oder Straftaten nachweisen. Manfred Liebscher konnte noch eine Weile beim Bundesarchiv in Koblenz arbeiten. Damit seine Enkel verstünden, schrieb er ein Buch für sie. Das es doch noch das Licht der Öffentlichkeit erblickte, war eine gute Entscheidung. Ich empfehle meinen Lesern diese Autobiografie gleichsam als Geschichtsbuch zu lesen. (…)
Die DDR war für ihn “die Heimat der kleine Leute”. Ja: das in vielfacher Hinsicht bessere Deutschland… (…) Hier mein damaliger Beitrag.
Egon Krenz war mit 52 Jahren zwar nur kurz Staats- und Parteichef. Aber er sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel
Als einstiger Bürger der DDR war mir Egon Krenz natürlich bekannt. Ich erinnere mich seiner etwa als er zu meiner Schulzeit als oberster Funktionär der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) auf einer Veranstaltung im Blauhemd eine Rede in unserer Stadt hielt. Oft erschien er auch – auf zahlreichen Anlässen abgelichtet – auf diversen Zeitungsseiten oder in Berichten der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“, die viele Menschen in der DDR – meine Person eingeschlossen – aber eher selten konsumierten.
Damals schimpften Krenz nicht wenige abschätzig einen „Berufsjugendlichen“. Eine Titulierung, die sie vermutlich aus dem Westfernsehen übernommen hatten. Wer kannte oder traf den Menschen Egon Krenz damals schon persönlich und konnte sich ein einigermaßen objektives Bild von ihm machen? Erst gegen Ende der DDR hatten viele Leute den Menschen Egon Krenz wieder – und zwar positiv! – auf dem Schirm: Für kurze Zeit war er mit 52 Jahren Staats- und Parteichef geworden. „Wenngleich nur für kurze Zeit“, schreibt der Verlag. „Sie genügte jedoch, um Geschichte zu schreiben: Krenz sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel und Frieden im Land blieb.“
Begegnung mit Egon Krenz „tief im Westen“
Anlässlich des 20. Pressefests der DKP-Zeitung „UZ“ (mein Bericht) lief mir der letzte Staatsratsvorsitzende Egon Krenz erstmals ganz nahebei über den Weg. Noch dazu „tief im Westen“, in Dortmund, meiner neuen Heimat. Im Ernst-Thälmann-Zelt stellte er damals sein Buch „China, wie ich es sehe“ vor. Überdies hielt er des einen Tags eine Rede, die heute noch aktuell wäre. Und während des gleichen Pressefests saß er während des Konzerts von Konstantin Wecker am Abend dicht hinter mir. Ich ärgere mich bis heute, ihn nicht angesprochen zu haben, um ihm einige Fragen zu stellen …
Aber nun halte ich ja seine Autobiografie in Händen und erfahre mehr als genug. Freilich wäre eine persönliche Begegnung zugegebenermaßen schon etwas, das mich nach wie vor, interessieren täte. Nun ja …
Krenz‘ Autobiografie: sachlich, hoch interessant und auch Emotionen nicht aussparend
Krenz beschreibt seinen Lebensweg sachlich, hochinteressant, aber gar nicht nüchtern und staubtrocken: denn er offenbart auch seine Emotionen, welche ihn in dieser oder jener Lebensphase beschäftigten und welche Gedanken und auch Bedenken ihn überhaupt jeweils umtrieben. Aus Krenz‘ Zeilen spricht dessen ehrliches Engagement von frühester Jugend an. Von je her hat er es vermieden sich in den Vordergrund zu spielen. Hinterhältigkeit und Falschheit, um Vorteile zu erlangen, waren ihm offenbar schon sehr früh fremd und dementsprechend ein Gräuel. Er hat immer beides verachtet. Dafür war er offen und ehrlich und hat auch – wie zu lesen ist – öfters auch vor Parteifunktionären oder Vorgesetzten, selbst während seines Wehrdienstes bei der Armee nicht gezögert, Kritik zu äußern. Auch wenn ihm das durchaus auch hätte Nachteile betreffs seiner beruflichen wie politischen Entwicklung bescheren können.
Nicht zuletzt dürfte es Krenz mit ziemlicher Sicherheit zugute gekommen sein, dass er vielen Funktionären begegnete, die zuvor den Krieg erlebt hatten, Spanien-Kämpfer, Kommunisten oder engagierte Gewerkschafter gewesen waren. Viele dieser Menschen prägten Egon Krenz.
Ein Bildungsweg, welcher immer wieder Unterbrechungen erfuhr
Sein Bildungsweg verlief durchaus nicht so, wie von ihm gewünscht. Zunächst gedachte er 1953 im Dieselmotorenwerk Rostock eine zweijährige Lehre zum Maschinenschlosser zu machen. Sein altgedienter Meister legte alles daran, ihm betreffs der Herstellung eines Werkstücks „deutsche Werkarbeit“ beizubringen.
Doch bald schon trat im Werk ein Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung auf den Plan: Man brauche ihn. „An den Lehrerbildungsinstituten fehlen Studenten“, beschied ihm der Mann. Inzwischen war Egon Krenz mit 16 Jahren in die SED eingetreten. Der FDJ-Mann appellierte an Krenz (S.93): „Denk dran, die Partei erwartet von dir, dass du dort hingehst, wo es für unsere Sache am wichtigsten ist!“
Krenz (S.94) schreibt: „Niemand hatte mich gezwungen, in die SED zu gehen. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn die Partei nun von mir erwarte, ich sollte ihrem Ruf folgen, sei dies nur logisch, dachte ich mir.“
Er habe schlaflose Nächte gehabt. „Schließlich entschied ich mich für ‚unsere Sache’“, erzählt Krenz. Er machte das Lehrerstudium. Krenz: „Ich greife vor: Bereut habe ich die Entscheidung nicht. Lehrer wurde mein Traumberuf. Ich bedauerte nur, dass ich ihn nicht lange ausüben konnte.“
Auch Journalist, erfahren wir, wäre Egon Krenz gerne geworden. Doch die Partei stellte ihn immer wieder an andere Stellen. Nur die Nationale Volksarmee (NVA) blitzte bei ihm ab: ein Offizierslaufbahn einzuschlagen, lehnte er ab. Krenz sei verblüfft gewesen, dass der zu Besuch weilende damalige Generaloberst und Vize-Verteidiungsminister Heinz Hoffmann nichts dagegen einzuwenden hatte. Der beschied ihm: „Das ist richtig.“ Auf der Insel Rügen brauchten sie ihn als Funktionär der FDJ. Krenz: Dieses „Kadergespräch“ sei es gewesen, das „mein weiteres Leben bestimmen sollte.“
Warum die NVA-Uniformen weiter deutsch aussehen sollten
Interessant: In seiner NVA-Zeit hatte Egon Krenz Anstoß an der Ähnlichkeit der grauen DDR-Armeeuniform mit jener der faschistischen Wehrmacht genommen. Diese Uniform hatte man ihm auf Nachfrage erzählt, gehe auf die antinapoleonischen Befreiungskriege zurück. Krenz plaudert aus dem Nähkästchen: Die Entwürfe für die NVA-Uniformen ähnelten allein schon in der Farbe denen der Sowjetarmee. Dies sei in einem Gespräch zwischen SED-Chef Walter Ulbricht und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow auf den Tisch gekommen: „Chruschtschow kommentierte: Die DDR-Deutschen hätten wohl Angst sich auf deutsche Traditionen zu besinnen. Warum wollt ihr sowjetische Uniformen? Es reicht doch, wenn die Westdeutschen amerikanische Uniformen tragen. Ihr braucht deutsche Uniformen.“ So kam es dann. Um ein Argument in der Hand zu haben, dass die Ähnlichkeit der NVA-Uniform mit den früheren Wehrmachtsuniformen erklärte, kam dann wohl die oben genannte Erklärung ins Spiel.
Egon Krenz und der 17. Juni
Das Buch ist in vielerlei Hinsicht interessant und informativ. Denn auch kritisches wird nicht ausgeblendet. So schreibt Krenz auch über „Mein 17. Juni“. Im deutschen Westen sei vom „Volksaufstand“ geschrieben worden, in der DDR sein habe es geheißt: „faschistischer Putsch“. Krenz: „Als Schüler habe ich von beidem nichts gespürt.“ Später habe er davon gehört, dass etwa sechs Millionen Beschäftigte in der Industrie und 300 000 an den Aktionen beteiligt gewesen sein sollen.
Krenz: „Als bekannt wurde, dass Aufständische in Halle eine vermutlich ehemalige KZ-Aufseherin aus dem Gefängnis geholt und in einer Stadt im Bezirk Potsdam einen SED-Funktionär barbarisch ermordet hatten sagte ich mir: So etwas macht kein vernünftiger Arbeiter.“
Als einmal im Jahr 2011 kritische Geister in einer Radiosendung betreffs des 17. Juni zu Gericht über die DDR gesessen hatten, fragte sich Egon Krenz, warum da in der Regel die Geschichte ihres eigenen Landes ausgeblendet würde.
Schließlich hätte es doch nach der Einführung der D-Mark im Juni 1948 in den Westzonen als die Preise freigegeben wurden und so für die Masse unbezahlbar geworden seien auch spontane lokale Proteste und einen Generalstreik in der Bi-Zone gegeben. Gegen Unruhen in Stuttgart sei US-Militär mit Panzern und Tränengas vorgegangen. General Clay hatte ein Ausgehverbot verhängt. Es sei der größte Streik in Deutschland seit dem Kapp-Putsch 1920 gewesen.
Hatten „die Freunde“ um Lawrentij Berija ihre Hand im Spiele bei der Auslösung des „Volksaufstandes“?
Zum Thema 17. Juni gehört auch dies, was uns Krenz da eröffnet: Selbst ein SED-Generalsekretär konnte sozusagen nicht dekretieren, dass Stefan Heyms Buch „Fünf Tage im Juni“ in der DDR erscheinen konnte. Erich Honecker war dafür. „Die Freunde“, wie der Große Bruder in Moskau oft in der DDR genannt wurde, sagten jedoch „Njet!“. Moskaus Leute im SED-Politbüro, der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke wohl vorn dran, spurten entsprechend. Heym war der historischen Wahrheit zu offenbar zu nahegekommen: Dass nämlich bei der Auslösung des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953 sowjetische Kräfte um den potenziellen Stalin-Nachfolger Lawrentij Berija ihre Finger maßgeblich mit im Spiel hatten, Kräfte, die in der DDR lediglich noch die Verfügungsmasse für einen Deal mit dem Westen zur angestrebten Neutralisierung ganz Deutschlands sahen.
Berija wurde übrigens später erschossen.
Orientierungslos nach Stalins Tod
Apropos Stalin. Nach der Wende bezeichneten eigene Genossen Krenz als Stalinist. Der Autor bekennt freimütig, dass er von Stalin einmal viel gehalten hatte. Als er aus dem Radio von dessen Tod erfährt, habe er sich wie gelähmt und geradezu verwaist gefühlt. Im Kapitel „Orientierungslos“ (S.76) hat Krenz darüber geschrieben.
„Was war Stalin nicht alles bis jetzt gewesen? Genius der Epoche, Vater der Völker, Sieger über Hitler, Bester Freund des deutschen Volkes, Führer des Weltfriedenslager … Für mich war er ein Phänomen. Mit politischer Logik allein und trotz Kenntnis, wie Öffentlichkeit wirkt, kann ich seinen Einfluss damals auf mich noch heute nicht erklären. Von Winston Churchill ist der Satz überliefert: Stalin „übernahm das Russland des Hakenpflugs und hinterließ es im Besitz der Atomwaffe“.
Eine Seite weiter schreibt Krenz: „Erst später, als die Mythen fielen und Stalins Verbrechen bekannt wurden, als ich begann, Marx, Engels und Lenin nicht nur zu lesen, sondern auch ihre Gedankengänge zu verstehen, verblasste mir das Heldenbild des Generalissimus. Freilich unter großen Schmerzen und nie vergessend, dass es gesellschaftliche Umstände gab, die sein Handeln begünstigt hatten. Und dass nie vergessen werden darf, dass er der oberste Kommandierende jener Armee war, die Deutschland vom Faschismus befreit hat.“
Viermächteabkommen: Leonid Breshnew stimmte sich eng mit Erich Honecker ab – hinter dem Rücken Walter Ulbrichts
Die Ausführungen in Krenz‘ Kapitel „Abkommen, Anerkennung, Abgrenzung“ (S.217) enthalten Informationen, die zumindest ich so noch nie zuvor irgendwo gelesen hatte. Das Kapitel und behandelt im Besonderen das sogenannte Viermächteabkommen über Berlin, das 1971 zwischen der UdSSR, den USA, Frankreich und Großbritannien abgeschlossen wurde. Man ist erstaunt, zu erfahren, dass sich KPdSU-Chef Leonid Breshnew betreffs dieser Verhandlungen eng mit SED-Politbüromitglied Erich Honecker abstimmte. Der Normalzustand war ja, dass die Besatzungsmacht Sowjetunion bestimmte, was in der DDR umgesetzt werden musste. Wie umgekehrt vorauszusetzen war, dass in Westdeutschland hauptsächlich die westlichen Alliierten – allen voran die USA – bestimmten wie der Hase zu laufen hatte.
Was ja, nebenbei bemerkt, noch heute so zu sein scheint. Würde sich sonst die Bundesregierung wie ein Vasall gegenüber den USA verhalten?
Im Fall des Viermächteabkommens aber legte offenbar der KPdSU-Generalsekretär Breshnew großen Wert auf die Zustimmung der DDR. Tief blicken dabei lässt die Tatsache, dass Breshnew und Honecker hinter Walter Ulbrichts Rücken handelten.
Ebenso ging es beim bemerkenswerten Besuch des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt in Breshnews Urlaubsdomizil Oreanda auf der Krim 1971 am Schwarzen Meer zu. Der Gastaufenthalt Brandts war zwischen dem KPdSU-Generalsekretär und Honecker abgestimmt worden. Brandt und Breshnew am Strand des Schwarzen Meeres beim Baden und bei Bootsfahrten. Was dort besprochen wurde, „erfuhr Honecker noch am gleichen Abend“ – sozusagen brühwarm.
Paranthese: Sehr aufschlussreich ist auch das Kapitel „Zwischen Ulbricht und Honecker“ (S.163). Auch Walter Ulbricht bekommt in Krenz‘ Erinnerung sozuagen ein ganz anderes Gesicht. In westlichen Erzählungen kaprizierte man sich immer hauptsächlich auf dessen Sächseln beim Reden. Und lachte über „Spitzbart“. Ein bisschen ließ man ihn so als eine Art Tölpel aussehen. Egon Krenz (S.172): „Ulbricht war eine Autorität und genoss hohen Respekt. National wie international. ‚In Deutschland hat er‘, urteilte der bürgerliche Publizist Sebastian Haffner über Ulbricht ’nach Adenauers Abgang keinen Gegenspieler, der ihm das Wasser reichen könnte.‘ Der weltläufige Historiker nannte ihn gar den ‚erfolgeichsten deutschen Politiker seit Bismarck.“
Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“
Egon Krenz erinnert sich: „Während Gromyko und Falin noch bis Anfang 1971 versuchten, Ulbricht von der Notwendigkeit des Abkommens zu überzeugen, hatten gleichzeitig Breshnew und Honecker hinter deren Rücken alles bereits besprochen und verabredet: Was für die Entspannung notwendig sei, könne die UdSSR auch im Namen der DDR tun. Breshnew hatt vor der endgültigen Abstimmung der Vier Mächte Honecker gefragt, ob die DDR-Führung mit dem Entwurf des Abkommens einverstanden sei. ‚Völlig einverstanden‘, hatte Honecker erklärt.
Krenz erklärt zur engen Koordinierung: „Die DDR saß zwar nicht mit am Verhandlungstisch, aber ohne ihre Zustimmung wurde nichts vereinbart. Dafür sorgte Breshnew persönlich. Regelmäßig rief er Honecker an, stimmte sich über wichtige Schritte der Verhandlungen mit ihm ab.“
Egon Krenz weist zum Abschluss dieses Kapitels auf eine Fehlstelle hin: „Heutzutage ist es üblich die Ostpolitik der SPD als Beitrag zur Entspannung zu loben. Den Beitrag der DDR kennt kaum jemand. Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“ (S.224)
Egon Krenz auf der Parteihochschule in Moskau und der Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialismus
Nicht nur im Kapitel „Parteihochschule Moskau“ erinnert sich Krenz gewiss leicht schlechten Gewissens daran, dass es während seines Aufstiegs in der Politik immer wieder seine Frau Erika (sie starb 2017) war, die ihm immer wieder Kraft gab, obwohl sie oft mit dem Alltag daheim allein da stand. Dabei hätte auch sie durchaus das Zeug dafür gehabt, höher aufzusteigen. Das Studium in der Sowjetunion bedeutete Krenz viel. Er lernte die Leute dort kennen. Schließlich erlernte er die Russische Sprache perfekt sprechen und schreiben. Und da er darauf bestanden hatte mit einem sowjetischen Kommilitonen auf einer Studentenbude zu wohnen, wurde er auch schon mal beschämt. Während er Anzüge und reichlich Kleidung mitgebracht hatte, die kaum in den schmalen Einbaukleiderschrank passten, war sein sowjetischer Stubengenosse Wolodja mehr als bescheiden ausgestattet: „Er öffnete seinen Kleiderschrank. Darin hing eine Hose und eine Jacke. ‚Das ist Kommunismus‘. Dann zeigte er auf meinen vollen Schrank: ‚Das ist euer Sozialismus.’“ (S.157)
Einmal traf Krenz einen Mann am Tag der Oktoberrevolution in einer Runde anderer Menschen. Der besaß nur ein halbes Gesicht. Krenz: „Als er deutsche Worte hörte, belegte er mich mit russischen Flüchen. ‚Ich kann diese Mördersprache nicht hören‘, rief er in den Raum. Krenz schwieg betreten, erzählt er. Krenz entgegnete ihm auf Russisch: „Was sind Sie für ein Kommunist? Marx und Engels waren auch Deutsche!“
Der in der Runde wohl hoch respektierte Mann antwortete: „Sie sind Kommunist?“ Krenz bejahte.
Der Gast, ein in seiner Funktion als Partisanenkommandeur im Zweiten Weltkrieg schwer verwundetet gewesener Mann, schwieg. Er verlangte einen Wodka. Nachdem er das Wasserglas leergetrunken hatte, drückte er Krenz ein gefülltes Glas in die Hand und sprach: „Entschuldigen Sie. Trinken wir auf die Zukunft.“
Egon Krenz früher in ein Licht gesetzt haben, in welches er nicht gehört – den Schuh muss ich mir anziehen
Zugegebenermaßen hielt ich Egon Krenz – wie viele andere führende Genossen – zu DDR-Zeiten für einen der üblichen Apparatschiks in der DDR, noch dazu für einen „Berufsjugendlichen“, wie er ob seiner früheren Funktionen geschimpft wurde. Für einen der Leute eben, die im stocksteifen, ideologiegetränkten Deutsch, in der SED-Propaganda, namentlich im Neuen Deutschland, aber auch andren SED-Blättern und in leicht abgeschwächter Form auch in den Zeitungen der Blockparteien vorkamen. Auch Krenz, der ja vorhatte, Journalist zu werden, kritisiert diese Sprache heute. Und wohl auch damals gefiel es ihm bereits nicht.
Ich fühle, dass ich Egon Krenz damals in ein Licht gesetzt habe, in welches er nicht gehört. Den Schuh muss ich mir anziehen. Da habe ich zu kurz gedacht. Ich muss einiges revidieren.
Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind, schrieb ich eingangs.
Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt. Aber er erfuhr auch Beistand
Die Autobiografie ist sehr gut geschrieben. Mit Herzblut, ohne ideologisch oder agitatorisch zu tönen. Es erklärt den Menschen Egon Krenz. Sein Wirken. Und den Anspruch, welcher er dabei an sich selbst gelegt hat. Da wird auch nicht mit Selbstkritik gespart. Auch nicht an Kritik an der DDR und deren führender Partei der SED, sowie an bestimmen politischen Entscheidungen und eingeschlagenen Entwicklungswegen, gerade auch auf ökonomischen Gebiet. All das klingt an. Nun wird es sicher Leserinnen und Leser geben, denen im Buch zu wenig Kritik an der DDR vorkommt. Mag sein. Dann ist das eben so.
Die Lektüre des ersten Bandes von Krenz‘ Erinnerungen ist spannend von Zeile zu Zeile. Es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Und es enthält einiges an Informationen, welche einen entweder so oder eben auch noch gar nicht untergekommen sind.
Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt.
Aber fast ähnlich wie bei Erich Honecker gab es auch bei Egon Krenz jemand, in dem Fall ein Superintendent, welcher ihm – noch dazu am Heiligen Abend 1989 – versprach, Beistand zu leisten.
Zu lesen gleich im Prolog zum ersten Erinnerungsband. Beide, der Kirchendiener und der vor kurzem noch gewesene Parteidiener, sprachen am Heiligen Abend über Gott und die Welt. Kirchenmann Krätschell sprach Krenz gegenüber, „dass er nun vom Leben beurlaubt sei“. Krenz: „Mit 52 Jahren? Soll alles vergebens gewesen sein, wofür ich seit meiner frühsten Kindheit gelebt hatte?“
Klein ließ sich Krenz durch die und auch durch andere nicht kriegen
Seine Partei, die SED, entledigte sich seiner schnöde. „Manche Weggefährten nannten sich jetzt ‚demokratischen Sozialisten‘, mich einen ‚Stalinisten‘. In der ihrer Partei gebe es keinen Platz für mich, meinten die Eifrigsten. Wirklich kurios. Dieser Partei nannte sich seit einigen Tagen SED-PDS. Ich war seit 1953 in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aus der diese SED-PDS hervorgegangen war. Die eilig Gewendeten beabsichtigten, mich zum Parteilosen zu machen?“ Krenz entschied sich nicht zu schmollen.
In ihm reifte ein Entschluss, dem er bis heute folgt: „klein kriegen die dich nicht. Ich hatte zwar verloren, war gestrauchelt, gestürzt, aber ich würde nicht liegenbleiben. Ich nicht. Schon um niemanden diesen Triumph zu gönnen, mich Fall gebracht zu haben. Da bin ich wie meine Landsleute hier oben im Norden: eindeutig, stur und beharrlich. Prinzipien brauchen eben einen harten Schädel. Das ist auch gut für die Beulen, die mir nicht nur der politische Gegner zugefügt hat.“
Lest dieses Buch! Auch den Altbundesbürgern rufe ich zu: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch
Leute, lest dieses Buch! Es erweitert den Denkhorizont. Auch wenn in den Altbundesländern sozialisierte Menschen womöglich das Gesicht verziehen mögen (jahrzehntelange Indoktrination sitzt halt tief), wie ich früher, wenn mir meine Mutter Wirsingkohlsuppe vorsetzte: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch.
Zum Buch
»dass ein gutes Deutschland blühe« Die Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR
Der einstige Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Partei machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«. Als er dessen Nachfolger an der Spitze des Staates wurde, war der Untergang des Landes nicht mehr aufzuhalten. Durch sein gesamtes Leben zieht sich gleichsam leitmotivisch die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft, »dass ein gutes Deutschland blühe«, wie es in Brechts »Kinderhymne« heißt, die in jener Zeit entstand, in die auch der Beginn des politischen Lebens von Krenz fällt. Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt, setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste. Dadurch bekommt dieser erste – wie auch jeder weitere – Teil der Autobiografie des DDR-Staatsmannes absolute Eigenständigkeit. Der in Kolberg geborene Krenz berichtet über seine Kindheit, die durch die Kriegsflucht mit seiner Mutter nach Ribnitz-Damgarten 1945 ein ungewolltes jähes Ende fand. Zu diesem Lebensabschnitt gehört der Umstand, dass der siebenjährige Krenz in einer der Massenszene des Ufa-Films »Kolberg« mitspielte. Es sollte der letzte Spielfilm sein, der im untergehenden Reich Premiere hatte. In seiner neuen Heimat, bei den Wahlen 1946, machte Krenz für die CDU Wahlkampf, indem er SED-Plakate überklebte. Aus dieser ersten Begegnung mit Politik entwickelten sich Kontakte, die für ihn prägend wurden und zu seinem entschiedenen Ja zum Sozialismus führten. Wer waren die Leute, die in der DDR Politik machten? Welche Politik? War der Wechsel von Ulbricht zu Honecker eine Umbruchszeit? Krenz erzählt pointiert, verwebt Damaliges mit Heutigem, liefert Fakten, reflektiert seine Erfahrungen tief, kritisch und streitbar. Dadurch entsteht ein dichter, lebhafter, höchst informativer Text, der die Memoiren zu einem herausragenden Leseerlebnis macht und darüber hinaus auch eine Quelle für all jene ist, die sachlich an Geschichte, Politik und einem Nachdenken über die Gesellschaft interessiert sind.
Quelle: edition ost
Egon Krenz
Aufbruch und Aufstieg
Erinnerungen
352 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen, Personenregister
Düstere Zeiten. Sind wir schon im dritten Weltkrieg? Mag sein. Schlimm genug, der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat einen Krieg entfacht. Menschen finden den Tod. Menschen werden schwer verletzt. Städte und Dörfer werden schwer beschädigt. Wer es wissen will, kann erfahren, dass dieser Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann. Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte. So auch dieser. Im Grunde genommen begann er mit dem vom Westen – hauptsächlich den USA – unterstützten Maidan-Putsch 2014. Aber auch schon davor lassen sich Anzeichen entdecken, dass sich da etwas Unheilvolles zusammenbraute. Darauf soll hier jetzt nicht eingegangen werden. Das lässt sich anderswo lesen.
Dieser Krieg aber läuft nun. Anscheinend unaufhaltbar weiter und weiter. Ich frage mich nun täglich, warum von keiner Initiative zu hören und zu lesen ist, die sich das Ziel gesetzt hat zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Was gewiss nicht einfach ist. Aber versucht muss es doch werden!
Wie sagte Helmut Schmidt einst so richtig: »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen«
Und wäre nicht Deutschland angesichts seiner auf ihm lastenden Geschichte mit Verantwortung scher an zwei Weltkriegen nicht prädestiniert diese Vermittlerrolle zu übernehmen? Selbstverständlich!
Was aber riechen wir stattdessen: 1914!
Weil eben das Gegenteil geschieht. Da wird einseitig auf Russland eingeschlagen, nahezu alle noch vorhandenen Brücken zwischen unseren beiden Nationen abgebrochen, und die Ukraine soll mit schweren Waffen ausgerüstet werden? Wir haben zum Unglück eine (grüne! [sic!]) Außenministerin, die von einem Journalisten kürzlich als „Handgranate ohne Splint“ bezeichnet worden war. Das trifft es! Eine Politikerin, die offenbar keine Ahnung von Diplomatie hat und noch dazu jegliches Fingerspitzengefühl vermissen lässt.
Die seinerzeit wegweisende Ost- und Entspannungspolitik der Regierung Brandt wird verdammt und zum Fehler erklärt. Von politischen Schwergewichten wie Brandt, Schmidt und anderen – ja selbst Kohl muss hier mit benannt werden – ist weit und breit keine Sicht mehr. Was nicht nur für Deutschland sondern traurigerweise für die gesamte EU gilt. Alle agieren quasi als Kolonien der USA. Und anscheinend kriegsgeile Politiker würden, hat man den Eindruck, eher heute als morgen gen Moskau ausrücken lassen – denn selbst wären sie wohl zu feige dazu an die Front zu ziehen.
Von der unsäglichen Presse, die augenscheinlich von jeglicher Geschichtskenntnis ungetrübt gegen Russland hetzt und Russland nicht nur in jeder Hinsicht einseitig sich dabei hauptsächlich ukrainischer Propaganda bedienend, niederschreibt und diffamiert, ganz zu schweigen. Sie agiert gleich wie in der Corona-Krise als Antreiber der Politik. Pazifisten und Friedensbewegten wird die Pest an den Hals gewünscht. Gleichgerichtet im Grunde sind unsere Medien. Um das böse andere Wort nicht zu gebrauchen. Aus eigenem Antrieb gleichgerichtet, wie zu vermuten steht. Was m.E. viel schlimmer ist, als wären sie von irgendwem dazu gezwungen. Diejenigen, die kriegsgeil den Stift erheben, sind offenbar „Haltungsjournalisten“, wie man das heute nennt. Aus gut bestalltem Haushalten stammend. Wer sonst kann es sich heute noch leisten, Journalist zu werden? Und gewiss hier und grün angehaucht.
Neulich bezeichnete Jürgen Todenhöfer die Grünen auf einer Demonstration m.E. zu Recht als Kriegspartei.
Was also machen? Wir müssen wieder auf einen Friedenskurs einschwenken! Dazu gibt es keine Alternative.
FLYING COLUMN des Dortmunder Künstlers Leo Lebendig, darin die Friedensbotschaft. Foto: C. Stille
Die IPPNW (Die Organisation IPPNW (Abkürzung für International Physicians for the Prevention of Nuclear War; Name der deutschen Sektion IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) ist ein internationaler Zusammenschluss von Human-, Tier- und Zahnärzten, die sich unter anderem vor allem für die Abrüstungatomarer Waffen einsetzt.) hat diesbezüglich zum Jahreskongress 2022 eine „Hamburger Erklärung“ abgegeben
Claus Stille
IPPNW-Pressemitteilung vom 02.05.2022
Im Sturm den Friedenskurs halten, Hamburger Erklärung
Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW verabschiedet Resolution zum Jahreskongress 2022
02.05.2022 Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) forderte die Bundesregierung am Wochenende bei ihrem Jahreskongress in Hamburg dazu auf, die Anstrengungen für eine Waffenruhe in der Ukraine ins Zentrum des politischen Handelns zu stellen. Anstatt Waffen zu liefern und aufzurüsten, müssten diplomatische Wege für einen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und perspektivisch eine neue pan-europäische Sicherheitsarchitektur geschaffen werden. „Der russischen Regierung Brücken zu bauen, bedeutet kein Einverständnis mit ihrem Tun. Wir müssen vielmehr einen Ausweg aus einer Situation finden, die sonst eine europäische, wenn nicht gar eine globale atomare Eskalation zur Folge haben könnte“, hieß es in der verabschiedeten Resolution.
„Es ist schwer auszuhalten, dass sich noch kein Verhandlungsdurchbruch abzeichnet. Aber eines ist klar: In einen globalen Rüstungswettlauf einzutreten, manövriert uns in eine Eskalationsspirale, die für die Welt in einen Atomkrieg enden könnte. Aufrüstung schafft keinen nachhaltigen Frieden, sondern bindet finanzielle Ressourcen, die wir nicht bezahlen können und intellektuelle Ressourcen, die wir an anderer Stelle benötigen. Der Kampf gegen den Klimawandel müsste als verloren abgeschrieben werden. Deshalb müssen wir eine andere Lösung finden. Das ist nicht naiv. Es ist einfach ohne Alternative“, unterstreicht der IPPNW-Vorsitzende Dr. med. Lars Pohlmeier.
In diesem Sinne forderten die Mediziner*innen auf Ihrem Jahreskongress einen sofortigen Verzicht der NATO und Russlands auf einen Erstschlag von Atomwaffen sowie einen Waffenstillstand und Verhandlungen über den Status der Ostukraine und der Krim. Um einen Atomkrieg zu verhindern sei internationale Diplomatie und sofortige Deeskalation die einzige Option. Auch diplomatische und zivilgesellschaftliche Kontakte auf allen Ebenen müssten erhalten bleiben, um Lösungen im Sinne der Friedenslogik, Konfliktanalyse und zivile Konfliktbearbeitung zu ermöglichen.
In der Resolution heißt es abschließend: „Der Krieg in Europa ist eine Mahnung, an unsere eigenen internationalen Wurzeln zu denken. Wir sind im Kern zuallererst eine internationale Friedensorganisation, die blockübergreifend für die Verhütung eines Atomkrieges arbeitet. Wir streiten gemeinsam dafür, angesichts der unvorstellbar grausamen humanitären Folgen eines möglichen Atomwaffeneinsatzes deren Einsatz zu verhindern. Weiterhin gilt: Dies ist nur durch die kontrollierte Abschaffung aller Atomwaffen zu erreichen.“
Arno Luik schreibt in seinem Beitrag „Der 27. Februar 2022, oder: Ich kenne keine Parteien mehr“ auf dem NachDenkSeiten vom 3. Mai 2022:
„Und so blicke ich heute auf die Welt, wie vor einigen Jahren der alte und weise Historiker Eric Hobsbawm im Gespräch mit mir sie ausmalte“:
„Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde.“
Da fällt mir jetzt – ca. 3000 von einem offenbar irre gewordenen Deutschland ein, dass das äußerst interessante und wichtige Buch „Das Zeitalter der Extreme“ – bislang noch nicht einmal halb gelesen – zuhause in Griffnähe meines Schreibtisches liegt! Ich muss es unbedingt weiterlesen. Wenn ich nämlich Pech habe, dann lebe ich bald in der von Eric Hobsbawm ausgemalten Welt. In der Vorzeit sind wir ja schon mittendrin. Wie lautet ein Fluch der Chinesen: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Nun haben wir den Salat …
Hier das Interview, das Arno Luik einst für den Stern mit dem weisen Historiker Eric Hobsbawm in London führte.
Der Sonntag naht. Und damit die Bundestagswahl. Damit sollte die Ära von „Kohls Mädchen“, des „wandelnden Hosenanzugs“ (frei nach Urban Priol), beziehungsweise „Mutti“ Merkel enden. Einst galt sie gar, wie der Autor des hier zu besprechenden Buches, „Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt“, Peter Zudeick, erinnert, als „Doppeltes Quotchen“: „Weil sie eine Frau und aus dem Osten ist.“ (S.160). Freilich könnten wir mit der Wahl durchaus auch in eine Krise schlittern.
Welche Mehrheiten wären wie zu erreichen? Wer koaliert mit wem? Bis eine Entscheidung fällt könnte es bis Ende des Jahres oder gar noch darüber hinaus dauern. Solange wird uns Angela Merkel noch erhalten bleiben. Oder bringt man sie gar dazu noch ein bisschen nachzukellen, um eine eventuell heraufbeschworene nationale Krise zu vermeiden? Gott bewahre! Wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen. Oder sollen wir es mal ohne Regierung probieren? Belgien immerhin blieb zumindest einmal anderthalb Jahre ohne Regierung. Und, ist Belgien untergegangen? Sie werden mir entgegenhalten, liebe Leserinnen und Leser, Belgien sei nicht Deutschland. Was ja stimmt. Oder man wird einen Satz mit Äpfel und Birnen ins Feld führen. Verzeihung, ich schweife ab.
Peter Zudeick über das Merkel-Ende: „Es wird wohl kein triumphaler Abgang werden“
Betreffs der Bewertung der scheidenden Bundeskanzlerin ist Peter Zudeick gewiss beizupflichten: „Es wird wohl kein triumphaler Abgang werden“. Aber, schreibt Zudeick auch (S.188): „Angela Merkels Renommee als Person scheint von dem politischen Gewürge ihrer letzten Jahre unberührt zu bleiben.“ Persönlich bin ich der Meinung, dass die Geschichte (gesetzt dem Fall, sie würde ehrlich geschrieben) letztlich kein gutes Bild von ihr zeichnen wird. Und so mancher Mitmensch dürfte später ungern an diese Ära Merkel erinnert werden wollen. Aber ich kann mich auch täuschen. Peter Zudeick gegen Ende des Buches: „Und in der Corona-Pandemie geriet ihr für die Geschichtsbücher gezeichnetes Bild endgültig ins Wanken. Aber vielleicht wird auch hier, wenn einmal genug Zeit vergangen ist, die milde Abendsonne der Geschichte ein freundlicheres Bild möglich machen.“ Mag sein: der Mensch ist ziemlich vergesslich. Man vergesse nicht, dass sich bei Merkel in der Corona-Krise durchaus auch autoritäre Züge zu zeigen begannen. Ich musste da an ein Gespräch von Merkel mit Günter Gaus denken, wo sie gestand, einen gewissen Faible fürs Autoritäre zu haben.
Angela Merkel und die Demokratie
Ein wenig ketzerisch gefragt: Ist Angela Merkel eine Demokratin durch und durch? Als sie einmal einer „Marktkonforme Demokratie“ das Wort redete, konnte man schon ins Grübeln kommen. Kanzlerin Merkel: “Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.” (Quelle: Freitag.de) Im Buch reißt das Zudeick kurz an, um darauf hinzuweisen, dass sie das später so nicht wiederholt habe. Und auch das haben wir unter der lieben „Mutti“ erlebt: Als „CDU-Chefin räumt sie Positionen und wechselt Überzeugungen wie andere die Socken.“ Stichwort. „Fukushima“ (S.175). Zunächst der Ausstieg betreffs der Atomkraft aus dem Ausstieg, den die rot-grüne Koalition 2000 eingeleitet hatte. Für die Bundeskanzlerin „nicht weniger als eine Revolution in der Energieversorung“. Nach dem Atomunglück von Fukushima dann die Wendung von Angela Merkel: „Wir alle wollen schnellstmöglich aussteigen und in die Versorgung mit erneuerbaren Energien ein- und umsteigen.“Zudeick: „Zwischen der Revolutionsankündigung und der Ankündigung diesem Satz liegen sieben Monate. Und die Atomkatastrophe von Fukushima.“
Die Causa Kemmerich
Und auch dies kommt zur Sprache: Als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich 2020 mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde, griff Bundeskanzlerin Angela Merkel vom fernen Südafrika aus ein und ließ sozusagen par ordre du mufti diese Wahl „rückgängig“ machen. Diese Wahl hatte die Kanzlerin erklärt (S.185), (…) „sei inakzeptabel und müsse rückgängig gemacht werden“ (…)
Skandalös: Merkels „Griechenland-Hilfe“
Gut als Leser von Peter Zudeick daran erinnert zu werden, was die besonders von Merkel (und Finanzminister Schäuble als Hardliner) orchestrierte „Griechenland-Hilfe“ in erster Linie war, eine Bankenrettung: „Keine Rede von Aufbau, Wachstum, Hilfe zur Selbsthilfe.“
Deutschlands Kanzlerschaften gingen manchmal bitter und unschön zu Ende
Deutsche Kanzlerschaften verliefen nie so ganz rund. Und manches Mal gingen sie bitter und unschön zu Ende. Konrad Adenauer („Der Alte“) – der erste Bundeskanzler der BRD – musste schließlich förmlich aus dem Amt gekantet werden. „Ludwig Erhard wurde rausgeschubst, Willy Brandt zum Rücktritt gezwungen“, heißt es zum Buch.Willy Brandt stolperte über die „Guillaume-Affäre“. Beziehungsweise man ließ ihn vorsätzlich und sehenden Auges in diese Falle tappen. Für die Affäre selbst trug ja Brandt keine Verantwortung. Der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher informierte den Kanzler nicht über den längst bekannten Spionageverdacht gegen Brandts engsten Mitarbeiter Guillaume. Brandt übernahm jedoch die politische Verantwortung.
Helmut Kohls Kanzlerschaft endete in Skandalen
Schon in den ausgehenden Achtziger Jahren breitete sich Verdruss über die ewige Kanzlerschaft Kohls aus. Bei den nächsten Wahlen sah man „Birne“, wie man ihn wegen seiner Figur wenig schmeichelhaft zu nennen pflegte, weg vom Kanzlerbungalowfenster. Indes rettete ihm das Ende der DDR und die Deutsche Einheit, wofür der Pfälzer ja sofort die Weichen in seinem Sinne zu stellen verstand, den Allerwertesten. Dann wurden Skandale publik. „Der Dicke“ weigerte sich vehement die Namen deren zu nennen, die an die CDU gespendet hatten. Dennoch wird Helmut Kohl wohl als „Kanzler der Einheit“ lange in Erinnerung bleiben.
Absprung verpasst
Besonders die Kanzler Adenauer und Kohl verpassten den rechten Moment für den Absprung vom Kanzlersessel. So auch Angela Merkel. Peter Zudeick stellt zutreffend fest: (Merkel) „hätte die Chance gehabt, ihre Kanzlerschaft nach 16 Jahren geordnet und in Würde zu beenden, auch sie hat es nicht geschafft“.
Schröder „suboptimal“
Gerhard Schröder, auch der „Genosse der Bosse“ genannt (als der er während seiner Kanzlerschaft mittels seiner Politik tatsächlich kenntlich wurde), heißt es zum Buch „kegelte sich selbst aus dem Spiel“. In der sogenannten „Elefantenrunde“ nach den Bundestagswahl 2005 fiel Schröder peinlich auf: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden?“ Und weiter: „Ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.“ Schröder: Den direkten Kampf „Er oder sie“, habe Merkel verloren. „Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen. Das ist eindeutig. Machen Sie sich da gar nix vor“, gebärdete sich Schröder brutal lächelnd. Angela Merkel war erschüttert und erwiderte mit Recht, wie Peter Zudeick erinnert (S.154) „dass den Regierungsauftrag nur derjenige hat, der die stärkste Fraktion stellt“. Zudeick (S.155): „Es ist viel spekuliert worden, ob Schröder nur unter dem Einfluss von Testosteron und Adrenalin oder auch von Genuss- oder Rauschmitteln gestanden habe.“ Später räumte Schröder ein, sein Auftreten sei wohl „suboptimal“ gewesen. Schröder entsozialdemokratisierte – möchte ich sagen – die SPD. Nicht zuletzt durch die Agenda 2010. Namentlich besonders durch Hartz IV, das von Linken als „Armut per Gesetz“ bezeichnet wurde. Tausende Mitglieder verließen die Partei. Viele tausend Wählerinnen und Wähler kehrten der Partei den Rücken. Immerhin – wird in Zudeicks Buch positiv erwähnt – verweigerte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA im Falle des Irak-Kriegs als Vasall zu folgen. Vergessen wird aber auch nicht, dass er, zusammen mit dem Grünen Joschka Fischer und dessen Partei die BRD erstmals in deren Geschichte in einen Krieg (den sogenannten „Kosovo-Krieg“ gegen die Bundesrepublik Jugoslawien) zog. Später gestand er (ohne dass das irgendwelche Folgen juristischer Natur zeitigte), dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 allerdings: „Schröder verspricht US-Präsident Bush uneingeschränkte Solidarität, was zu einiger Unruhe in der eigenen Partei und vor allem bei den Grünen führt.“Schröder erzwingt schließlich die Zustimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz in Afghanistan, indem er im Bundestag die Vertrauensfrage stellt. Der Einsatz, der erst viel später endlich ehrlich auch Krieg genannt werden durfte, ging durch. In welchem Fiasko das endete, erfuhren wir in diesen Tagen noch vor dem zwanzigsten Jahrestag der Anschläge von 9/11 … Schröder als Bundeskanzler war schließlich Geschichte. Indes Bundeskanzlerin Angela Merkel Schröders Agenda-Politik – dankbar für die Vorarbeit von Rot-Grün (die nebenbei bemerkt Union und FDP gegen die Opposition der SPD hätten nie durchsetzen können) – fortsetzte, darauf aufbaute und hie und da sogar noch verschlimmerte.
Angela Merkel verlässt die Berliner Bühne und hinterlässt ein Land, das mehr denn je gespalten ist
Wie schon angemerkt, stolpert auch Angela Merkel wenig rühmlich von der Berliner Bühne. Inzwischen ist die deutsche Gesellschaft tief gespalten. Was sie freilich schon vor der Corona-Krise der Fall gewesen war. Der Umgang mit der Pandemie, war, um mit Gerhard Schröder zu sprechen, gelinde ausgedrückt suboptimal. Das An- und Verordnungsgewirr betreffs der Corona-Maßnahmen wurde fabriziert in einem vom Grundgesetz nicht vorgesehenem Gremium, zusammengesetzt aus den nahezu immer gleichen Bundes- und Länderpolitikern sowie handverlesenen Experten – nach dem Motto heute hüh, morgen hott. Der Publizist Matthias Heitmann sprach einmal – fällt mir gerade ein, auf Reitschuster.de veröffentlicht – über unser Land in der Corona-Pandemie von einer „Kita-Republik mit ihrer Bundeskindergärtnerin“. Mittels dieser Corona-Maßnahmen wurden quasi papageienartig verstärkt durch eine regierungssprecherartig gleichtönende Presse über anderthalb Jahre hinweg unisono hauptsächlich Angst und Schrecken verbreitet.
Gefährliche Spaltung der Gesellschaft
All das – und die Einschränkung von Grundrechten – hat nun die Spaltung der Gesellschaft abermals gefährlich vertieft. Unterdessen dürften noch mehr Menschen das Vertrauen in die Politik verloren haben. Im Buch steht zu lesen: „Deutschland ist angesichts der blassen, ja taumelnden Politik merkelmüde geworden. Und so ergeht es der Kanzlerin nicht anders als ihren sieben Vorgängern.“ Wer Angela Merkel im Amt als Konkurrent gefährlich werden konnte, den biss sie rigoros weg. Andere wiederum band sie an sich und belohnte sie, wenn sie ordentlich spurten, mit Ämtern. Der Buchtitel: „Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt“. Genial, prägnant! Ein Buch, das gut lesbar und informativ ist. Bei den älteren Leserinnen und Lesern dürften sich beim Lesen Erinnerungen auffrischen Dinge klarer werden. Den jüngeren ist es sehr zu empfehlen, um dem Lauf der Geschichte der BRD anhand den Politiken der jeweiligen Kanzler besser zu verstehen und interessante Einzelheiten kennenzulernen. Eine gute Analyse ist das Buch dazu. Allen Kanzlern und der bislang einzigen Kanzlerin sind eigene Kapitel gewidmet. Das Buch dürfte seine Leserinnen und Leser finden, bietet es doch die eigentlich einzigartige Möglichkeit bundesrepublikanische Politikgeschichte recht angenehm komprimiert – für mehrere Generationen geeignet – zu offerieren. Besonders interessant auch die Abbildung der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. Von der es dann rasant – aber nicht luschig durch die Zeit rasend – durchgeht bis ins Heute. Manchmal kommt einen beim Lesen sogar ein Schmunzeln auf. Politische Geschichte unterhaltsam in ein Buch gepackt.
Das glanzlose Ende deutscher Kanzlerschaften
Mit seinem neuen Buch erzählt Zudeick von einem eigenartigen und ganz besonderen Phänomen: dem immer wieder bitteren Ende deutscher Kanzlerschaften. Doch, Hand aufs Herz: war denn der Anfang, der „Einstieg“ Konrad Adenauers (CDU) als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland etwa glanzvoller Start? Nicht so ganz.
Konrad Adenauer wurde mit einer, seiner eigenen, Stimme erster Bundeskanzler der BRD
Franz Alt schrieb am 23.8.2009 im Tagesspiegel: „Et hätt noch immer jot jejange“, sagte Konrad Adenauer, als er am 15. September 1949 mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt war.“ Leider ist das so nicht bei Peter Zudeick (S.23) zu herauszulesen. Da ist nur davon die Rede, dass Adenauer „mit nur einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt“ wurde. Weshalb ich das hier ergänze. Erst später gab er zu, sich selbst gewählt zu haben. Es gibt wohl keine direkte Bestimmung, das nicht zu tun. Aber es galt zumindest wohl als anständig, sich bei einer einen selbst betreffenden Wahl nicht selbst zu wählen. Aber Anstand und Politik, liebe Leserinnen und Leser, Sie wissen das sicher, gehen nicht immer zusammen … Zuvor, am 21. August 1949, eine Woche nach der Wahl hat Konrad Adenauer die wichtigsten Köpfe von CDU und CSU zu einer „Kaffeetafel“ in sein Haus in Rhöndorf „zu einer Aussprache“ (S.22) eingeladen. Dort verhinderte Adenauer eine große Koalition mit der SPD. Solche Hinterzimmerpolitik findet auch heute noch statt. Dazu kommen Kungeleien aller Art sowie der immer größer gewordene Einfluss (die Regierungen haben es zugelassen) der Lobbyisten auf die Politik und der dadurch ebenfalls munter wie geschmiert laufenden Drehtüreffekt, wo Politiker in die Wirtschaft und manchmal auch wieder zurück in die Politik wechseln. Nicht zu vergessen die Korruption. Und der Kampf um die Macht (besonders wenn Politiker sie einmal geschmeckt haben), der leider oft konträr dem entgegenläuft, was man Volksvertretung zu nennen pflegt. All das tut der Demokratie nicht gut. Was das Buch bei den verschiedenen Kanzlerschaften deutlich werden lässt: manche Strategien bis hin zu gewissen Gaunereien tauchen immer wieder auf.
Zusatzlese-Empfehlung
Sicher hätte es zu weit geführt, für das Buch den Werdegang Konrad Adenauers etwas ausführlicher zu beleuchten. Deshalb möchte ich ergänzend hier Werner Rügemers Text „Adenauers gekaufte Demokratie“ empfehlen. Albrecht Müller (Herausgeber der NachDenkSeiten) schrieb dazu einleitend: „Konrad Adenauer wäre nie Bundeskanzler geworden und nicht geblieben, wenn er sich an Grundgesetz und demokratische Verfahren gehalten hätte. Schwarze Kassen, Schweizer Nummernkonten, Liechtensteiner Stiftungen, gefakete Anzeigen, Tarnorganisationen und Geheimdienste im In- und Ausland: Mit Verfassungsbruch und krimineller Energie finanzierten Konzerne die Regierungsparteien der neu gegründeten Bundesrepublik – und schon vorher. Interessant ist auch die von Werner Rügemer beschriebene Umpolung der Europa Union auf eine konservative, wirtschaftsnahe Linie und die Erfindung von NGOs. Schon in den fünfziger Jahren wurden Vorfeldorganisationen für politische Zwecke missbraucht. Wie heute WWF und NABU. Siehe hier.“
Politik, ein nicht selten schmutziges Geschäft
Peter Zudeicks Buch macht auch auf viele kritisch zu betrachtende Aspekte aufmerksam. Rosa-rot wird da nichts gemalt. Und es kommt auch zutage, dass – was viele von uns wohl auch schon ab und an aufgefallen sein dürfte – Politik gar nicht mal so selten ein schmutziges Geschäft ist. Und unsere Demokratie überhaupt nicht so sauber ist, wie sie uns Politiker und ein ziemlich heruntergerockter deutscher Journalismus nicht müde werden uns weiszumachen. Und zu diesem Behufe stets auf vermeintliche oder wirkliche Bösewichte anderswo zeigen. Albrecht Müller bezeichnet diese Methode der Manipulation als „Das Denkschema „Wir sind die Guten“. Stattdessen sollte doch lieber das Schwäbische Sprichwort beherzigt werden: „Ein jeder kehre vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier“, respektive die Welt. Zuweilen ist auch zu hören: Politik ist die größte Hure. Zu mir sagte das einmal ein alter Mann auf einem Campingplatz der tschechischen Seite des Riesengebirges weit vor 1989. Etwas verdutzt und ungläubig nahm ich den Spruch damals zur Kenntnis. Aber er hatte mich aufhorchen gemacht. Klar, verstand ich den Sinn. Doch zöge ich heute vor es anders auszudrücken. Beweisen doch so manche Huren, heute Sexarbeiterinnen genannt, viel mehr Herz und Verstand als manche der gegenwärtigen Politikerinnen oder Politiker. Ich empfehle Peter Zudeicks Buch unbedingt! Möge es viele Leserinnen und Leser erreichen. Wir können aus der erzählten Geschichte etwas lernen. Haben wir schon etwas gelernt, dann sollten wir es auch am Sonntag bei den Bundestagswahlen an den Urnen entsprechend deutlich werden lassen.
Informationen
Dr. Peter Zudeick arbeitet als freier Journalist und Korrespondent für fast alle ARD-Rundfunkanstalten. Seine scharfen politischen Analysen, aber auch seine satirischen Rückblicke haben ihn einem größeren Publikum bekannt gemacht. Zudeick studierte Germanistik, Pädagogik, Philosophie und Theaterwissenschaften und promovierte in Philosophie. 2009 erschien im Westend Verlag „Tschüss, ihr da oben“, 2013 der von ihm herausgegebene Band „Das alles und noch viel mehr würden wir machen, wenn wir Kanzler von Deutschland wär’n“.
Im Jahr 1969 versprach Bundeskanzler Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“.
Im Widerspruch dazu verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Willy Brandt am 28. Januar 1972 den „Extremistenbeschluss“ oder sogenannten Radikalenerlass.
In den folgenden Jahren wurden ca. 3,5 Millionen Bewerber*innen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz erhielt den Auftrag zu entscheiden, wer als „Radikaler“, als „Extremist“ oder als „Verfassungsfeind“ zu gelten hatte. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt.Die
Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren Kommunist*innen, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und Gewerkschafter*innen. In Bayern traf es auch Sozialdemokrat*innen und in der Friedensbewegung engagierte Menschen.
Das schüchterte viele ein.
Mitglieder und Sympathisant*innen rechter Parteien und Gruppierungen wurden dagegen im öffentlichen Dienst geduldet und bei Bewerbungen fast nie abgelehnt.
Um gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen „Radikalenerlass“ oder„Extremistenbeschluss“, sondern die konsequente Umsetzung des Art. 139 GG und der §§ 86 und 130 StGB. Hiernach sind neonazistische Organisationen und die Verbreitung von Nazi-Gedankengut verboten.
Die Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und den Kernnormen des internationalen Arbeitsrechts, wie die ILO seit 1987 feststellt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte1995 die Praxis der Berufsverbote.
Im Jahr 2022 jährt sich der „Radikalenerlass“ zum 50. Mal
Die nationale und internationale Solidaritätsbewegung, alle Menschen, die sich an diesem Kampfbeteiligt haben, die Gewerkschaften und alle Initiativen gegen Berufsverbote haben sich um die Demokratie verdient gemacht. Ihre politische und materielle Unterstützung werden wir weiterhin brauchen.
Es ist an der Zeit,
den „Radikalenerlass“ generell und bundesweit offiziell aufzuheben,
alle Betroffenen voll umfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen
die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.
Erstunterzeichner*innen
Alt FranzDr.; Autor, Becker PeterRechtsanwalt Kassel, Behle Christinestv. Vorsitzende Ver.di, Bejarano EstherAuschwitzüberlebende; Sängerin, Bejarano &Microphone MafiaRappergruppe, Birkwald Matthias W.MdB,Bsirske Frankehem. Ver.di-Vorsitzender, Cezanne JörgMdB, Däubler, Prof. Dr. WolfgangArbeitsrechtlerUni Bremen, Degenhardt KaiMusiker, Deppe FrankPolitikwissenschaftler Uni Marburg, Dreyer Peter Richter, Enderlein Hinrichehem. Frakt.vors. Ba-Wü; Minister a.D., Erler, Dr.h.c. GernotStaatsminister a.D., Foschepoth,Prof. Dr. JosefHistoriker; Autor, Fritsch UweBR-Vors. VW Braunschweig, IG Metall, Fülberth-Sperling, Prof.Dr. GeorgWissenschaftler; politischer Publizist, Gabelmann Sylvia MdB, Gehrke WolfgangJournalist; ehem.MdB, Gerns WilliRentner; ehem. Parteisekretär, Becker PeterRechtsanwalt Kassel, Gleis Thies Parteivorstands-mitglied,Gohlke Nicole MdB, Gössner Rolf Richter; Publizist,Gross Martin Leiter ver.di Landesbez. BW, Hofmann Jörg 1. Vorsitzender IG Metall, Hoffmann Reiner DGB-Vorsitzender, Hornung Andrea Geschäftsfüh-rung SDAJ,Hunko Andrej MdB,Jäckel Otto Rechtsanwalt, Jelpke Ulla MdB, Kahl, Dr. Dr. Joachim Philosoph,Kastner Wolfram Künstler; Vors. Kuratorium d. K. Eisner-Kulturstiftung,Kerth Cornelia BundesvorsitzendeVVN-BdA,Kessler AchimMdB,Klinger Wolfgang Beratende Pflegefachkraft,Köbele Patrik Parteivorsitzender,Kocsis Andrea stv. Vorsitzende Ver.di,Köditz Kerstin MdB,Krämer Ralf Parteivorstandsmitglied; Ver.di,Krey-mann Lena SDAJ-Vorsitzende,Kunzmann Martin Landesbezirksvorsitzender DGB BaWü,Kurz Ingrid em. Prof.,Linksjugend solid, Mangelsdorff Emil Jazz-Musiker,Merk Xaver ehem. Gewerkschaftssekretär,Nagel Jochenehem. GEW-Landesvorsitzender Hessen, Neu Alexander MdB, Nissen Ulli MdB, Paech, Prof. Dr. Norman em Prof. Uni Hamburg, Perli Victor MdB, Pflüger Tobias MdB; Friedensforscher, Pispers Volker Kabarettist, Ramelow Bodo Ministerpräsident Thüringen,Renner Martina MdB; Stellvertr. Parteivorsitzende,Richter WeraChefredakteurin UZ,Rügemer Werner Schriftsteller,Schalauske Jan MdL Hessen; Landesparteivorsitzender,Schubert Michael Rechtsanwalt,Schubert UlrikeBuchhändlerin i.R.,Straetmanns Friedrich MdB, Tepe MarlisGEW-Vorsitzende,Troost Axel Stellvertr. Vorsitzender,Urban, Dr. Hans-Jürgen Geschäftsführendes Bundesvor-standsmitglied, IG Metall, Uthoff Max Kabarettist,van Ooyen Willi u. Sima Kassaie-van Ooyen Friedens- undZukunftswerkstatt, Venske Henning Autor,Wader Hannes Liedermacher,Weber, Dr. Ellen Rentnerin,WeinbergHarald MdB, Werneke Frank Bundesvorsitzender Ver.di,Wette, Prof. Dr. Wolfram Historiker; Friedensforscher,Wissler Janine MdL Hessen; Fraktionsvorsitzende,Zachcial Michael Sänger („Die Grenzgänger“), Zelik RaulAutor und Parteivorstandsmitglied, Zitzelsberger RomanBezirksleiter IG Metall Ba.-Wü.Für die Betroffenen: Klaus Lipps (Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen die Berufs-verbote), Silvia Gingold, Werner Siebler, Dorothea Vogt, Matthias Wietzer und Michael Csaszkóczy
Weitere Unterschriften bitte an: Klaus Lipps, Pariser Ring 39, 76532 Baden-Baden oder ViSdP: Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung demokratischer Rechte / K. Lipps – k.lipps@posteo.
Hintergrund
*/Aufruf von Betroffenen des „Radikalenerlasses“ an die Politik: „Beenden Sie die Berufsverbotepolitik endlich offiziell“/*
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/B//undesweite Unterschriftensammlung in Vorbereitung des 50. Jahrestages im Januar 2022/*//*
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*Aktuell fällt im Zusammenhang mit den Einschränkungen im Rahmen der derzeitigen Covid-19-Maßnahmen der Begriff des Berufsverbots. Und in der Tat ist es für Hunderttausende Menschen derzeit eine große Belastung, dass sie in ihrem Beruf nicht arbeiten können. Das sorgt für Unsicherheit und Existenzängste, selbst wenn es staatliche Unterstützungs-maßnahmen gibt – die aber nicht alle erhalten und die hinten und vorne nicht ausreichen.*
*Die Berufsverbote der 70er und 80er Jahre für Tausende Menschen, die im öffentlichen Dienst arbeiteten oder sich dafür bewarben, hatten einen völlig anderen Hintergrund.*
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*Der Radikalenerlass vom 28. Januar 1972 von Kanzler Willy Brandt (den Brandt später selbst als seinen größten politischen Irrtum bezeichnete) und den Ministerpräsidenten der westdeutschen Bundesländer hatte schwere Folgen für die Betroffenen: Viele verloren ihre Arbeit oder wurden gar nicht erst eingestellt, allein deshalb, weil sie sich beispielsweise gegen Notstandsgesetze, gegen den Krieg in Vietnam oder das Wiedererstarken alter Nazis engagiert und damit ihre im Grundgesetz garantierten Grundrechte wahrgenommen haben.*
*Nie wurde den Betroffenen eine konkrete Dienstpflichtverletzung vorgeworfen, sondern es ging meist um die Mitgliedschaft in legalen linken Parteien und Organisationen, oder um Kandidaturen für Parlamente.*
*Eine besonders üble Rolle dabei spielte der sogenannte Verfassungsschutz, der alle, die auch nur nach fortschrittlichen Einstellungen rochen, ausschnüffelte und die so gesammelten „Erkenntnisse“ an die Dienststellen weiterleitete. Dort saßen dann Beamtinnen und Beamte, die mit einem obrigkeitsstaatlichen Weltbild für Entlassungen und Nichteinstellungen sorgten. Die Hoffnung vieler damals Betroffener vor Gericht Recht zu bekommen, wurde nicht selten deshalb enttäuscht, weil an den Richtertischen Menschen saßen, die ihren ersten Amtseid auf Hitler geleistet hatten; Willi Geiger, ehemals Nazistaatsanwalt, war 26 Jahre lang Bundesverfassungsrichter.*
* Finanzielle Hilfen vom Staat erhielten die vom Berufsverbot Betroffenen nicht; sogar um Arbeitslosenunterstützung mussten sie kämpfen. Für viele sind die Folgen bis heute gravierend. Viele sind gesundheitlich angeschlagen und die Pensionen oder Renten sind mehr als bescheiden.*
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*Eine große Solidaritätsbewegung in Deutschland und in ganz Europa führte nach 1972 dazu, dass viele ehemalige Betroffene schließlich doch noch oder wieder eingestellt wurden. In einigen Bundesländern wurde der Radikalenerlass ganz abgeschafft, in den meisten nicht mehr angewendet. Aber wirklich aufgearbeitet ist dieses dunkle Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte bis heute nicht.*
Mit dieser Regierung ist kein Staat zu machen und von ARD-aktuell kein Journalismus zu erwarten. „Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge“, fand Willy Brandt, erster der vier sozialdemokratischen Außenminister in der 71jährigen Geschichte der Bundesrepublik – und deren einziger rühmlicher. Nach ihm und nach jahrzehntelanger Pause hielt die Degeneration der SPD auch Einzug im Außenamt. Auf dem absteigenden transatlantischen Ast ließen sich Frank-Walter Steinmeier, hernach Sigmar Gabriel und schließlich Heiko Maas nieder. Danach kann nur noch Mickymaus kommen. Unfasslich, aber wahr: Im krassen Gegensatz zu Brandt – dessen Ostpolitik war auf Entspannung und Friedenssicherung gerichtet – sucht Maas heute Provokation und Konfrontation mit Russland. Er hat Kanzlerin Merkels Segen. Beide setzen erwartungsfroh aufs kurze Gedächtnis ihrer Wähler – oder auf deren Apathie. Zeit, dass wir die Erinnerung an ein paar der übelsten Machenschaften dieses Gespanns stützen. Die Tagesschau bringt´s ja nicht. Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam.
Für Agnostiker und Sonstige: Die Gott-ist-tot-Theologie ist belegt. Lebte der Allgütige noch, dann hieße Maas mit Vornamen Heini und wäre nicht Außenminister. Sein ideeller Hoflieferant Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP, wäre ungeboren geblieben oder hätte zumindest keine transatlantisch-imperialistische AgitProp vom Stapel gelassen wie diese:
“Der Fall Nawalny fügt sich in ein zunehmend negatives Bild Russlands im Westen ein, das durch den Skripal-Anschlag, den Tiergartenmord, die Hackerangriffe auf den Deutschen Bundestag und die Einmischungsversuche in die Wahlkämpfe verschiedener westlicher Staaten geprägt ist.“
Keine dieser Bezichtigungen ist mit Tatsachen belegt. Nicht einmal halbwegs diskutable Indizien sprechen für sie. Die Anwürfe wurden in den Giftküchen westlicher Geheimdienste und Propaganda-Apparate kreiert, nach einer Rezeptur, die dem AgitProp-Großmeister Joseph Goebbels zugeschrieben wird, obwohl es keine Primärquelle dafür gibt:
„Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben. … Deshalb ist es von lebenswichtiger Bedeutung für den Staat, seine gesamte Macht für die Unterdrückung abweichender Meinungen einzusetzen … die Wahrheit (ist) der größte Feind des Staates.“
Es geht der Kumpanei von bedenkenlosen Mainstream-Journalisten und hinterhältigen Politstrategen mit dem eingangs zitierten Befund um die Verfestigung russlandfeindlicher Einstellungen und die Unterdrückung davon abweichender Meinungen. Auf diesem Feld macht auch der „Faktenfinder“ seinem Namen und der Institution der ARD-aktuell besondere Unehre, wie sein Beitrag über Nawalny zeigt.
Giftmischer am Werk
Prüft man die Behauptungen auf Tatsachengehalt und logische Konsistenz, dann kommt rein gar nichts dabei heraus. Dröseln wir´s auf:
Der Skripal-Fall ist nicht geklärt. Die britischen Behörden haben Vater und Tochter Skripal einfach verschwinden lassen. Die Gruselmär vom Nowitschok-Attentat auf die Beiden, ausgeführt von erfundenen russischen Geheimdienstkillern nach Drehbuch von James Bond-Filmen, war rundum derart unhaltbar geworden, dass man sie einfach aus den Schlagzeilen verbannte und den „Fall“ der Vergessenheit überließ. War da noch was?
Der „Tiergartenmord“ – Käseblattjournalisten lassen sich ums Verrecken nicht von diesen depperten Metaphern abbringen, Tagesschau-Redakteure schon gar nicht – genauer: Motiv und Hintergründe der Ermordung eines dschihadistischen Gewaltverbrechers im Berliner Tiergarten – ist ebenfalls absolut unklar. Auf der Anklagebank sitzt ein Russe, von dem man nicht mal den Namen mit Bestimmtheit weiß. Auf Basis hauchdünner, reichlich konstruiert wirkender Indizien behauptet der Generalbundesanwalt als oberster, jedoch weisungsgebundener Kläger der Regierung, der Beschuldigte sei ein geheimdienstlicher Auftragsmörder. Mehr ist nicht.
Nach wie vor unbekannt sind die Verantwortlichen für die Hacker-Angriffe auf den Bundestag. Hochprofessionelle Hacker lassen sich nun mal nicht einfach aufspüren, sie können immer falsche Spuren legen. Natürlich verdächtigt unsere politische Funktionselite so kaltschnäuzig wie beweislos den russischen Geheimdienst. Russophobie bis unter die Haarspitzen. Erwiesen hat sich hingegen, dass die US-amerikanischen Schnüffeldienste bei uns längst Hausmeister sind und die NSA sogar das Handy der Kanzlerin abgriff. Der Merkel-Satz „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht“ gehört als weltweit dämlichste Stellungnahme eines Spitzenpolitikers zu einem geplatzten Geheimdienstangriff auf seinen Staat ins Guinnessbuch der Rekorde.
Auch die angeblichen russischen Einmischungsversuche in ausländische Wahlvorgänge sind nachweislich nur Propagandaböller. Sie dienen jedoch fortwährend zur Rechtfertigung zunehmender staatlicher Kontrolle über den öffentlichen Meinungsaustausch. Die vom US-Kongress veranlassten Muller-Untersuchungen gegen Trump haben zweifelsfrei ergeben, dass an der intriganten Kabale namens „Russiagate“ nichts Wahres war. Dennoch wird den Russen auch von deutscher Seite nach wie vor unterstellt, sie versuchten demokratische Prozesse im Ausland zu manipulieren.
An Widersprüchlichkeit, Stupidität und Realitätsferne wie an Feindseligkeit und Gefährlichkeit unerreicht sind die Storys unterm Rubrum Nawalny-Experiment.
Der Faktenfinder der ARD-aktuell hat in Erfüllung seines AgitProp-Auftrags die Einflussagentin Silvia Stöber Gift spritzen lassen, eine Autorin mit privilegiertem Arbeitsvertrag und bescheidener, von der Konrad-Adenauer-Stiftung geschulter Sichtweise. Ihr Artikel beweist, wie billig man Fakten mit Meinung ersetzen und gutes Geld mit schlechtem Journalismus machen kann.
Inkompatibilität, was ist das?
Dass auch im Journalismus Unvereinbarkeitsregeln gelten, hat sich ersichtlich nicht bis zur ARD-aktuell-Chefredaktion und erst recht nicht bei den zuständigen NDR-Rundfunkräten herumgesprochen. Über Stöber ist eigentlich bekannt, dass sie in Georgien an einer Regierungskonferenz teilnahm, die vom Atlantic Council, dem German Marshall Fund of the United States und der Konrad Adenauer Stiftung unterstützt wurde. Wohlgemerkt: Die ARD-Journalistin agierte dort nicht als Berichterstatterin, sondern als Mitwirkende an der Seite von Ministern und NATO-Generälen.
Der zweite Autor des in Rede stehenden Beitrages ist Patrick Gensing, Redaktionsleiter des Tagesschau-Faktenfinders. Von ihm weiß man aus eigenem Bekenntnis, wes Geistes Kind er ist:
„Ich glaube, dass man die Leute eher gewinnen kann, wenn im Journalismus eine Haltung vertreten wird, als wenn man da irgendwie einfach nur Fakten angehäuft werden. (sic) Das ist in meinen Augen auch überhaupt nicht Journalismus.“
Ach so. Gesinnung also statt Fakten. „Leute gewinnen“ statt informieren. Die neue Maßeinheit für miesen Journalismus im übergesetzlichen Notstand: der „Gensing“. Der werte Kollege glaubt doch tatsächlich, er dürfe die staatsvertragliche Pflicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu faktenorientierter, objektiver Berichterstattung in faktenfreie Beeinflussung umkehren. Wenn er das nicht auch noch im Qualitätsdeutsch eines BILD-Reporters gestammelt hätte, würde man zum Schreikissen greifen.
Seine „Haltung“ zeigt er reichlich ungeniert:
„Russland weist stets jede Beteiligung zurück – und schlägt mit Desinformation zurück… Attacken, Vorwürfe – aber keine Angaben zum eigentlichen Thema …: So reagierte Russland oft, wenn der Kreml in der Kritik stand.“
Gensing und Seinesgleichen demonstrieren damit ein absurdes Rechtsverständnis: Wenn Russland nicht beweist, dass die Beschuldigungen unzutreffend sind, dann stimmen die eben. Der Beitrag ist gespickt mit derlei Anwürfen unter Beweislast-Umkehr: „…offenbar von russischen Behörden…, „…mutmaßlich …“, „… es könnte sich um Rache handeln …“
Es zeichnet diesen „Faktenfinder“ aus, dass er keine Fehler einräumt und Falsches nicht richtigstellt. Die fraglos russlandfeindlichen Aussagen der Regierung reflektiert er als unstreitig zutreffend, auf Gegenrecherche und Berücksichtigung der russischen Sichtweise verzichtet er konsequent.
Ohne Ehrgefühl
Auf politischen Konformismus abgerichtete Journalisten interessiert eben nicht, warum die Bundesregierung sich weiterhin weigert, den russischen Ermittlern Zugang zur deutschen Untersuchung des Nawalny-Vorfalls und den vorläufigen Ermittlungsergebnissen zu gewähren. Mehrere russische Rechtshilfeersuchen „prüft“ die Berliner Justizverwaltung seit Wochen, erfüllt ist bisher keines. Dabei liegt doch nahe, die Blut-, Urin- und Gewebeproben, die dem Patienten Nawalny im Krankenhaus Omsk und danach in der Berliner Charité entnommen wurden, noch einmal von unabhängigen Instituten außerhalb Russlands und Deutschlands abgleichen und prüfen zu lassen. So käme man der Wahrheit auf die Spur. Die deutsche Weigerung kann nur einen Grund haben: Merkel, Seibert, Maas & Co. haben etwas zu verbergen, sagen die Unwahrheit und manipulieren die Öffentlichkeit. Eine schlechte Kopie der britischen Skripal-Farce.
Nawalny, der „führende Oppositionspolitiker“, kam ihnen nun in die Quere, unverfroren pöbelnd, wie man ihn halt kennt. Knapp vier Wochen nach seiner vorgeblichen lebensgefährlichen Vergiftung mit Nowitschok sonnt er sich erwartungsgemäß und mopsfidel wieder in medialer Aufmerksamkeit. Ungeachtet seiner medizinischen Erste-Klasse-Versorgung in Deutschland und des ihm gewährten, extrem teuren Personenschutzes, ungeachtet der deutschen Gastfreundschaft, die auch seine Angehörigen und seine politische Entourage einbezog, erdreistete er sich, im Gespräch mit dem Schmutzblatt BILD den Alt-Kanzler Gerhard Schröder als korrupten, aus Schwarzen Kassen bezahlten „Laufburschen Putins“ zu beschimpfen.
Bundeskanzlerin Merkel hätte die Anwürfe umgehend zurückzuweisen müssen, schon aus Selbstachtung und aus Respekt vor der Würde des Amtes, das Schröder vor ihr bekleidet hatte. Nawalny hat sein Gastrecht missbraucht. Schon deshalb hätte Merkel ihn auffordern müssen, das Land zu verlassen. Desgleichen waren Vizekanzler Olaf Scholz und die SPD-Vorsitzenden gefordert, klare Kante zu zeigen. Aber auch sie bestätigten nur ihre Stillosigkeit und Mangel an Ehrgefühl.
Und wie verhielten sich ARD-aktuell und die anderen Medien des Mainstreams angesichts dieses Skandals? Sie schienen ihn feixend zu goutieren. Ihr auffällig neutrales Wiederkäuen des Groschenblatt-Interviews konnte nicht darüber hinwegtäuschen.
Großmaul im Staatsschutz
Größere Verkommenheit und weitergehender Verzicht auf politischen Anstand waren nicht denkbar. Ein rassistisches Großmaul, zuhause mehrmals vorbestraft, unter anderem wegen Steuerbetrugs, gerade erst einen Monat vor dem angeblichen Nowitschok-Attentat mit dem Politreklame-Institut „FPK“ Pleite gegangen, darf sich weiterhin auf Staatskosten unbesorgt in Deutschland erholen. Toll. Merkel kann von Glück sagen, dass Schröder ihr erspart, ihren Protegé Nawalny auch noch vor deutscher Strafverfolgung wegen Verleumdung in Schutz nehmen zu müssen; die politischen Kollateralschäden der Nawalny-Affäre für Deutschland sind schon genug. Schröder ist lediglich gegen BILD zivilrechtlich vorgegangen. Nawalny ist zu klein für eine Begegnung vor Gericht.
Auch Norbert Röttgen, Nullnummer im Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, schaffte es nicht, Schröder zu provozieren. Sein Geifern:
„Dass sich Gerhard Schröder, der ja in bezahlten Diensten im russischen Öl- und Gasgeschäft steht, an der Vertuschung und Verwischung der Verantwortung, die in Russland liegt, beteiligt, erfüllt in Deutschland viele mit Scham. (…) Das trifft auch für mich zu.“
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Hatte der sich so gschamig gebende Herr, selbst Laufbursche der Amis auf der „Atlantikbrücke“, nicht anno 2006 neben seinem Bundestagsmandat unbedingt auch noch Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie werden wollen, weil er den Hals gar nicht voll genug kriegen konnte?
Aus einem anderen trüben Tümpel quakt der sozialdemokratische „Russlandexperte“ Gernot Erler. Putin solle beweisen, dass staatliche russische Stellen nicht in den Nawalny-Fall verwickelt seien. Schröder habe zwar recht, wenn er sage, dass es keine gesicherten Fakten gebe. Aber:
„Wenn man rein rechtlich das betrachtet, rein juristisch, ist das zutreffend, aber natürlich nicht politisch. … Es ist auch schwer beweisbar, dass Putin hinter diesem Anschlag steht. Aber die politische Verantwortung ändert sich ja dadurch nicht und der muss sich Russland stellen. Und da können wir nicht länger akzeptieren, dass dieser Spruch, der immer wieder kommt – „keine Beweise“ – dann die einzige Antwort ist”.
Zu Brandts und Wehners Zeiten hätte ein sozialdemokratischer Exponent für diese gleichermaßen hinterhältige, diffamierende und dummdreiste Sprücheklopferei von seiner Parteiführung eine Abreibung der Extraklasse bekommen. Heute sind solche rechtsdrehenden Absonderungen politische Norm. Würde „der Kreml“ sich derartige Denkweisen zu eigen machte, könnte er Kanzlerin Merkel politisch und den deutschen Staatsschutz juristisch für jeden relevanten Mord hierzulande verantwortlich machen, vom Attentat beim Münchner Oktoberfest bis zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheid-Platz; Moskau könnte – nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ – unter Hinweis auf rechtsextreme Netzwerke im deutschen Sicherheitsapparat und auf deutsche Demokratiedefizite Sanktionen verhängen, beispielsweise mal den Gashahn zudrehen.
Die Sanktionitis ist endemisch
Womit wir wieder zu Maas kommen, fast wäre er uns durchs Sieb gefallen. Seine sanktionsbewehrten Demarchen sind ja im Grund nur hochfrequente Hilfeschreie, ihn doch bitte bitte endlich auch für voll zu nehmen. Ob mit Vorstößen in der UNO, in Syrien, in Libyen, in der Ukraine oder in Weißrussland, die südamerikanischen und die fernöstlichen Gefilde nicht zu vergessen: Überall hat der Mann nur Pups im Parfümladen gespielt, statt seines Amtes zum Nutzen unseres Landes zu walten. Jetzt hat er doch tatsächlich mithilfe Frankreichs neue EU-Sanktionen gegen ein paar vermeintlich schuldige russische Amtsträger erwirkt. Beflissen bot sich ihm die Tagesschau als Bühne an, auf der er wieder Warmluft ablassen konnte. Nun denn, wenigstens fordert er nicht mehr, über den Verzicht auf die Fertigstellung der Gasrohrleitung Nord Stream 2 nachzudenken.
Moskau hat natürlich Gegensanktionen angekündigt. Originell wäre es, unserem Staatsgast Nawalny bis zur einwandfreien Klärung des vorgeblichen Nowitschok-Anschlages die Rückkehr nach Russland zu verweigern. Dann müsste Heikos Kabinettskollege Horst Seehofer schauen, wie er mit dem „bedeutendsten russischen Exil-Oppositionspolitiker“ und dessen Effekthaschereien klarkommt.
Nicht ausgeschlossen ist, dass Maas aus schierer Geltungssucht selbst von den Oliv-Grünen abkupfert: Deren „Experte“ Stefan Meister nämlich, wohlbestallter Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, verstieg sich zu der Empfehlung, Russland mit einer „robusten EU-Mission“ in der Ost-Ukraine unter Druck zu setzen. Einen völkerrechtswidrigen Krieg beginnen, um einen der westlichen Geschäftemacherei hinderlichen Bürgerkrieg in der Ukraine zu beenden: Auf solche hirnrissigen Einfälle kann nicht mal Maas ohne grüne Nachhilfe kommen.
Zu Beginn unserer Überlegungen hatte der aufrichtige Friedenspolitiker Willy Brandt das Wort. Am Schluss wollen wir Frank-Walter Steinmeier zitieren, einst Handlanger in Schröders völkerrechtswidrigem Angriffskrieg auf Jugoslawien, später Mitwirkender an der Vorbereitung des blutigen Staatsstreichs in Kiew. Heute gibt er die pastoral säuselnde Silberpappel:
„Feindbilder, Stimmungsmache und Kampagnenjournalismus sind ein Missbrauch dieser vierten Gewalt, ebenso wie eine fortgesetzte Verletzung der Sorgfaltspflicht“
psalmodierte er bei der Eröffnung des Springer-Neubaus am 6. Oktober in Berlin. Er muss längst nicht mehr befürchten, dass ihm ein Journalist den Spiegel vorhält. Berufen zu dergestalt kritischem Nachrichtenjournalismus wären die Redakteure im ARD-Hauptstadtstudio. Aber – wir sagten das eingangs schon – die bringen es einfach nicht.
Das Autoren-Team:
Volker Bräutigam (links) und Friedrich Klinkhammer. Foto: C. Stile
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: publikumskonferenz.de/blog.
Für diese Ziele lohnt es sich, sich zu engagieren, zu streiten, zu demonstrieren und zu regieren – auf der Straße, im Parlament und in Regierungen.
Es handelt sich um friedenspolitische Kernforderungen aus der Friedensbewegung für vielfältige außerparlamentarische Aktionen und parlamentarisches sowie Regierungshandeln. Jede dieser Kernforderungen bedarf eines umfassenden Begründungs- und Argumentationszusammenhanges.
Kernforderungen:
Frieden in Europa ist nur mit Russland möglich. Wir treten ein für eine Politik des Dialoges, der Entspannung und Verständigung auch mit Russland. Ziel sollte eine neue europäische Friedensordnung sein, die auf Kooperation und Abrüstung basiert. Ein Helsinki 2 Prozess, der in einer neuen europäischen Friedenscharta mündet, könnte diesen Prozess fördern. Dieser Prozess der Zivilisierung der Politik wird verbunden mit einem Prozess des Rückzugs aus der NATO. Deutschland tritt aus den militärischen Strukturen der NATO aus.
Abrüstung ist ein Kernelement der Friedenspolitik. Der Verteidigungsetat sollte ab 2021 jedes Jahr um 10% gekürzt werden, alle Neuanschaffungen von Waffen werden gestoppt. Die freiwerdenden Ressourcen werden
für ein umfassendes Konversionsprogramm zum Abbau der Rüstungsindustrie,
für den Ausbau des Gesundheitssystems,
für Hilfe für Selbsthilfe für den globalen Süden zur Verfügung gestellt,
für eine umfassende und solidarische Flüchtlingspolitik genutzt.
Deutschland entwickelt gemeinsam mit anderen Ländern eine Initiative für eine Kampagne zur weltweiten Kürzung der Rüstungsausgaben um mindestens 10% jährlich zur Realisierung der SDGs (Sustainable Development Goals).
Eine Welt ohne Atomwaffen ist das Ziel. Als ersten Schritt dahin wird der TPNW (Atomwaffenverbotsvertrag) umgehend unterzeichnet und ratifiziert. Das Abkommen über die Stationierung der US-Atomwaffen wird gekündigt, so dass diese Atomwaffen in spätestens 12 Monaten abgezogen werden müssen. Die 45 neuen Atomwaffen tragende F 18 Kampfflugzeuge für ca. 8 Milliarden Dollar werden nicht angeschafft.
Deutschland steigt aus dem Programm zum Leasen und zur Beschaffung bewaffnungsfähiger Drohnen aus und übernimmt die Initiative für eine Intensivierung der Verhandlungen über eine weltweite Kampfdrohnenverbotskonvention.
Rüstungsexport wird per Gesetz verboten.
Alle Auslandseinsätze werden per Beschluss des Deutschen Bundestages beendet und ein verantwortbarer aber schneller Rücktransport eingeleitet.
Das Stationierungsabkommen mit den Vereinigten Staaten über US – Militärbasen wird umgehend gekündigt. Für die freiwerdenden Flächen wird ein umfassendes Infrastruktur-Konversionsprogramm unter Beteiligung der Kommunen, der Gewerkschaften und der Friedensbewegung erarbeitet.
Eine zivile Kommission erarbeitet ein Konzept der Neustrukturierung der Bundeswehr, als defensive Verteidigungsarmee entsprechend dem Grundgesetz. Strukturen wie die KSK werden umgehend aufgelöst.
Als zentraler Partner in der EU setzt sich Deutschland für eine Friedenspolitik der EU als Teil europäischer Friedenspolitik ein. Dies beinhaltet, dass PESCO, die Europäische Verteidigungsagentur, die Finanzierung europäischer Rüstungsforschung, die Unterstützung militärischer Beschaffungen und die Finanzierung militärischer Einsätze umgehend beendet werden. Deutschland steigt aus Frontex aus. In Zusammenarbeit mit der internationalen Friedensbewegung wird ein Konzept Zivilmacht EU erarbeitet.
Alle Institutionen der zivilen Konfliktbearbeitung, der Friedensforschung, des Friedensdienstes, etc. werden materiell deutlich gestärkt und ausgebaut.
Frieden verlangt aktives Handeln und Bewegung. Deswegen setzen wir uns für eine eigenständige gesellschaftliche Förderung der Friedensbewegung ein.
Pascal Luig, Berlin, NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit e.V. (NatWiss)
Willi van Ooyen, Frankfurt/M. Aktivist der Friedens- und Sozialforumsbewegung, Bundesauschuss Friedensratschlag, Ostermarschbüro
Karl Heinz Peil, Frankfurt/M. Friedens- und Zukunftswerkstatt e. V., verantwortlicher Redakteur des ‚Friedensjournal‘
Prof. Dr. Werner Ruf, Edermünde, Kasseler Friedensforum
Bernhard Trautvetter, Essen, Mitbegründer Netzwerk Schule ohne Bundeswehr NRW, Sprecher Essener Friedensforum, VVN-BdA
Die Erklärung basiert auf dem Aufruf, der bisher von 1245 Personen unterzeichnet wurde und für den weiterhin Unterschriften auf frieden-links.de gesammelt werden.
Wer schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat – bei mir sind es nun über sechs – müsste gemerkt haben, dass in unserem Land etwas schief läuft. Die Gesellschaft ist ungerechter geworden und wird es weiter. Quasi ist etwa was soziale Gerechtigkeit angeht, ein Rückwärtsgang eingelegt worden. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich immer weiter geöffnet. Das allerdings ist freilich keinem Naturereignis geschuldet, sondern von Menschen befeuert und ins Werk gesetzt worden. Und zwar von der herrschenden Politik, die einflussreichen Einflüsterern auf den Leim gegangen ist. Als am schlimmsten sicher und als besonders einschneidend zu charakterisierend ist da Beschreitung eines neoliberalen: besser marktradikalen Weges – von dem längst sichtbar geworden ist, dass dieser ein Holzweg ist, da er unsere Gesellschaft immer ungleicher und ungerechter macht und letztlich ziemlich sicher zerstört – zu nennen.
Ein großes Menetekel, das davon kündete, dass wir auf diesem Wege eigentlich besser nicht weiter gehen sollten, stellte die letzte Finanzkrise dar. Aber sind wir umgekehrt, haben wir aus den gemachten Fehler gelernt? Wie man inzwischen erkennen kann: nein!
Nicht einmal das kleine, millionenfach verkaufte Manifest „Empört euch!“ von Stéphane Hessel konnte – abgesehen von einem kurzem Aufmerken und Aufbegehren, ähnlich wie bei der Occupy-Bewegung – auf lange Sicht keinen entscheidenden, Umschwung herbeiführen. Und den Aufbau einer wieder sozialer gerechten Gesellschaft maßgeblich befeuern.
Mit der steigenden Ungerechtigkeit und Ungleichheit kam freilich auch Unmut unter Menschen auf. Da konnte einem der Gedanke schon einmal aufkommen: Müsste das nicht irgendwann unweigerlich zu einer Revolution führen? Schließlich geschah dergleichen doch bereits in der Geschichte!
Der iranisch-deutsche Germanist Bahman Nirumand, ein Zeitgenosse Rudi Dutschkes und anderer Köpfe der 1968er Bewegung, wurde einmal in einem Interview gefragt, ob er eine Revolution favorisiere – ob er sie für nötig und machbar hielte.
Nirumand überlegte kurz und antwortete dann, heute zöge er einer Revolution eher eine Evolution vor. Also eine Entwicklung, die man überlegt Schritt für Schritt vollziehen möge. Immerhin, so der Gelehrte, seien ja Revolutionen meist blutig – wie beispielsweise die Französische Revolution – und führten dann zu ganz anderen Ergebnissen wie ursprünglich ins Auge gefasst.
Nicht umsonst heißt es, auf einem Ausspruch Pierre Victurnien Vergniauds fußend: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.
Albrecht Müller, langjähriger SPD-Politiker und Gründer der NachDenkSeiten, der es erst im Oktober letzten Jahres mit seinem Buch „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte, stellt allerdings via des in blutrot gedruckten Titels seines jüngst ebenfalls wieder im Westend Verlag erschienenen Buches fest: „Die Revolution ist fällig“, schränkt jedoch mit dem Untertitel sofort wieder ein: „Aber sie ist verboten“
Was denn nun?
Albrecht Müller richtet im Kapitel II. „Das Zeitalter der Restauration. Wo man hinschaut – Rückschritt“ und den dementsprechenden 19 Unterkapiteln den Fokus auf das gesellschaftliche Rollback, das vonstatten ging. Ein Vorgang, wie der Autor deutlich macht, der schon früher betrieben wurde, als wir gemeinhin denken. Und letztlich dazu führte, das die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderging und geht. Im Unterkapitel 1 (S.17) gibt Müller zu bedenken: „Ungleichheit gab es immer. Das neue Phänomen ist die Radikalität der Ungleichheit und die Veränderung seit den 1970er- und 80er-Jahren.“
Und er weist daraufhin, dass immer wieder versucht wurde Ungleichheit zu rechtfertigen. Eigentlich eine Frechheit, wenn man’s recht bedenkt!
Aber es wurde gemacht. Und Politiker wurden mit Erklärungen eingeseift, die das bestätigen zu schienen. Sie glaubten das entweder oder es wurde ihnen glaubhaft gemacht.
Müller: „Lange Zeit wurde die Pferdeäpfel-Theorie verbreitet. Diese meint: Wenn man die Großen und Starken ordentlich füttert, dann fällt auch für die Kleinen, für die Spatzen am Wegesrand, etwas ab. In moderner Formulierung heißt das dann: Wir dürfen Anleger nicht abschrecken, unser Land muss für die großen Vermögen attraktiv bleiben.“
Das Ganze wird als „Trickle-down-Effekt“ bezeichnet. Kurz auf einen Nenner gebracht, heißt das, Steuern runter für Spitzenverdiener. Was angeblich „auch der Allgemeinheit und Mehrheit zugute“ käme. Und wer nicht groß nachdenkt – und Pardon: in diesem Land wird von der großen Mehrheit nicht groß nachgedacht – glaubt das ganz und gar. Und die Unverschämtheit geht durch. Noch dazu, wenn es bestimmte Medien auch noch nachplappern.
So fand der Rückschritt zumeist auf leisen Sohlen und in langsamer Gangart statt. Erst um das Jahr 1990 herum ging es sozusagen Schlag auf Schlag. Der Neoliberalismus packte marktradikal zu, wo es herrschende Politik zuließ und ermöglichte, indem es aus gutem Grund einmal eingerichtete Leitplanken – welche bisher das Schlimmste verhindert hatten – nach und nach niederriss.
Stéphane Hessel, der bereits erwähnte Autor von „Empört euch!“, geißelte die Diktatur des Geldes.
„Für Deutschland – wie für Europa und die Welt insgesamt – könnte die Empörung über die „unverschämte“ Macht des Geldes und seiner Diener eines der Aufreger und Treibstoff für den Widerstand sein. Ebenso die „Diktatur der Finanzmärkte“ und das damit ursächlich in Verbindung stehende immer weiter voran schreitende Aufklaffen der Schere zwischen Armen und Reichen“, schrieb ich am 12.11. 2011 in meinem Beitrag für den Freitag, bezugnehmend auf Hessels Büchlein. Doch die Aufregung hielt sich leider in Grenzen.
Auch Albrecht Müller greift die übergroße Macht des Geldes auf.
Die Überschrift des Unterkapitels 2 lautet: „Die Staatsgewalt geht vom Großen Geld aus“
Er schreibt:
„In Art. 20 unseres Grundgesetzes heißt es, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus“ und stellt nüchtern wie stimmig fest: „Das ist ein wirklich schöner Spruch. Aber mit der Wirklichkeit hatte dieses Versprechen von Anfang an nicht allzu viel zu tun. Die wirtschaftlich Starken hatten de facto immer mehr zu sagen als das normale, nicht vermögende Volk. Aber es gab eine gewisse Kontrolle.“ Das ist – weitgefasst – das, was ich vorhin unter dem Begriff „Leitplanken“ verbucht hatte.
Und die Politik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt war sogar imstande soziale Sicherheit auszubauen und Menschen Bildungschancen zu eröffnen, die Menschen aus Familien zugute kamen, finanziell nicht gut ausgestattet waren.
Nebenbei bemerkt: Ein Gerhard Schröder dürfte von einer solchen Politik profitiert haben, indem er studieren konnte. Nur leider hatte er das offenbar vergessen oder wohl eher verdrängt. Als er selbst Bundeskanzler geworden war und zerschlug er mehr oder weniger dergleichen – betrieb Sozialabbau.
Wie auch immer: Albrecht Müller ist hinsichtlich der Überschrift des Unterkapitels 2 zuzustimmen. Im Übrigen kennen wir doch wohl alle das Sprichwort „Geld regiert die Welt“. Oskar Lafontaine griff dies vor ein paar Jahren auf und postulierte treffend: Nie habe dieser Ausspruch so sehr gestimmt wie heute.
Die Finanzmarktdiktatur von der schon Stéphane Hessel sprach führte in die Finanzkrise 2007/2008. Aber die Spekulationen gehen munter weiter. Dazu lesen wir passend etwas in Unterkapitel 7. „Spekulationen gehören ins Casino“ (S.59)
Der Mensch ist vergesslich. Weshalb möglichst vielen Menschen zu empfehlen ist, dieses hier vorliegende Buch zu lesen. Auch wenn sie schon älter sind und in den Zeiten, die beschrieben werden selbst gelebt haben. Schließlich ist darin zu verfolgen wie was und auch durch wen oder was bestimmte Entscheidungen eingestielt worden sind. Man sieht klarer und erlebt womöglich Aha-Effekte. Denn dadurch kommt man nochmals den Sachen auf die Spur, die die Grundlagen für heutige Schlamassel und die Misere der Gegenwart legten.
Erst recht sollten junge Menschen das Buch lesen. Vielfach sind sie uninformiert betreffs dieser Abläufe und Ereignisse. Diese Lücken werden leider in der Regel auch nicht durch die schulische Bildung geschlossen. Es sei denn es gibt hie und da einmal wache, engagierte Lehrer, die sich darum kümmern. Erst recht werden diese Lücken nicht durch die Mainstream-Medien geschloss, die immer mehr eher desinformieren als Licht in bestimmte Geschehnisse zu bringen. In vielerlei Hinsicht weist deren Berichterstattung, die Gegenwart betreffend, sogar immense Lücken auf. Solche Lücken zu lassen ist m.E. manches Mal sogar destruktiver als zu lügen. Da lag Ulrich Teusch ziemlich richtig, indem der den Begriff „Lückenpresse“ verwendete, als es aus Mündern von Pegida-Demonstranten „Lügenpresse, Lügenpresse!“ grölte.
Auch Kriege sind wieder der Ernstfall (S.64). Ein schlimmer Rückfall, weit zurück hinter die verantwortliche Friedens- und Ostpolitik der Regierung Brandt. Die Joschka-Fischer-Grünen machten es zusammen mit der Schröder-SPD möglich, dass die Bundeswehr erstmalig an einem Krieg – dem Krieg gegen Jugoslawien – teilnahm. Mehr als ein Fauxpas!
Dass wir nach wie vor ein untertäniger Vasall der USA sind, bearbeitet Albrecht Müller ab Seite 76. Er weißt auch auf Einflusspersonen, resp. Einflussagenten in deutschen Regierungsämtern und Parteien hin, die im Interesse von Washington sprechen und handeln. Durch die Bank sind sie in Zirkeln wie der Atlantik-Brücke und ähnlichen Organisationen. Was auch auf Journalisten wie Claus Kleber (heute Journal) u.a. zutrifft. Dementsprechend tönt deren Berichterstattung. Ein nicht hinnehmbarer Zustand.
Diese Einflussagenten springen stets wie Springteufel aus der Kiste hervor, wenn es gilt im Interesse ihrer US-amerikanisch dominierten Gremien zu handeln. Dies sehen wir nun auch wieder in der Nawalny-Affäre und im Falle der politischen Krise in Weißrussland.
Der Autor widmet sich auch der Situation der Jugend. In „Die Verunsicherung der Jugend“ (S.85) arbeitet er heraus, in welche eine unsichere Zukunft die Jugend heute geht. Er setzt das ins Verhältnis zu der Situation in den Jahren, da er selbst studierte und andere eine Lehre begannen und gute Stellungen bekommen konnten, in den sie nahezu unbefristet tätig sein konnten.
Heute hangeln sich viele von Praktikum zu Praktikum – auch noch unbezahlt -, um dann mit viel Glück vielleicht eine Stelle zu bekommen, die – wenn sie Pech haben – prekär bezahlt wird.
All das ein Grund zur Revolution! Ja, aber sie ist ja verboten.
Gewiss will Albrecht Müller kein neues Weimar prognostizieren. Aber als „eine unheilverkündende Warnung, einen ernsten Mahnruf oder ein Vorzeichen drohenden Unheils“ – wie die Definition von Menetekel in Wikipedia lautet – sollten Albrecht Müllers Worte im Unterkapitel 11. „Die Parteien sind am Ende, sie werden ihrer wichtigsten Aufgabe nicht gerecht“ schon gedeutet und auch verstanden werden.
Müller übt an allen deutschen Parteien treffende Kritik. Bezogen auf die Grünen, schreibt er – besonders auf der Agieren im Kosovo-Krieg und später in der Ukraine-Krise (S.90) bezogen:
„Es ist erstaunlich still geworden um die Meinungsbildung innerhalb der Grünen-Partei und -Fraktion auf Bundesebene. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die Grüne Partei wie andere Parteien auch über weite Strecken fremdbestimmt und gesteuert ist.“
Freilich nimmt Albrecht Müller bei seiner Parteienkritik seine eigene Partei, die SPD, nicht aus. Er schreibt über „Dramatische Veränderungen bei der SPD – Anpassung“.
Zu recht skandalisiert der Autor das zunehmende Phänomen, dass „Parteien als Karriereleitern, Politik als Berufsersatz“ benutzt würden.
Ähnlich charakterisierte diese bedenklich zu nennende Entwicklung auch der aus der SPD ausgetretene und jetzige partei- und faktionslose Bundestagsabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund:
„Bülow erklärte, woher das Nichtwahrnehmen sozialer Probleme vieler Abgeordneten rühre: „84 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, 16 Prozent Nichtakademiker.
In der Gesellschaft ist es andersrum: Lediglich 20 Prozent der Menschen Akademiker.“
Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung.“ (hier mein Artikel)
Eine sehr interessantes Kapitel! Sie, lieber Leser, werden vieles selbst nachvollziehen können, wenn sie ein bisschen zurück- bzw. nachdenken.
Auf Seite 96 heißt es bei Müller:
„Fremdbestimmt und die Ordinate verschoben:
Bei der Arbeit an diesem Kapitel merke ich: Es ist hilfreich, nach so vielen langen Jahren auf die Entwicklung der Parteien zurückzublicken. Dann sieht man, dass die Parteien, die man in der Parteienlandschaft zum linken Spektrum zählt, in den letzten Jahrzehnten nach rechts verschoben worden sind. Überall haben sich innerparteilich jene Kräfte durchgesetzt, die jeweils zum konservativen Flügel zählen. Das gilt für die SPD, für die Grünen und für die Linkspartei – bei letzter ist der Prozess noch nicht abgeschlossen.“
Und weiter:
„Dieser Prozess ist jeweils von außen gefördert, wenn nicht sogar systematisch betrieben worden. Von außen heißt: von den konkurrierenden Parteien, von der Politikwissenschaft und anderen Multiplikatoren und von den Medien.“
Ich muss da immer an einen Professor denken, der auf einer Medientagung vor ein paar Jahren in Kassel im Zusammenhang mit der systematischen Zurichtung, die andere und Medien manchmal auch als „Entzauberung“ zu bezeichnen pflegen, speziell der Grünen davon sprach, diese seien „rundgelutscht“ worden. Systemgerecht, füge ich ketzerisch hinzu. Übrigens der Partei DIE LINKE droht ebenfalls dieses Rundlutschen. Vielmehr: es ist längst im Gange. Kürzlich trat sogar die von Medien stets als „Jobcenterrebellin“ bezeichnete Inge Hannemann aus der Linkspartei aus. Wenn das kein Zeichen ist!
Und es ist alles andere als eine Verschwörungstheorie: Selbstredend werden Parteien auch unterwandert und mit Einflussagenten durchsetzt.
Nicht zuletzt haben alle Parteien des Deutschen Bundestages versagt, wenn es um die eingeführten Corona-Maßnahmen ging. Eine Opposition gab es praktisch nicht. Schweigen im Walde mit brav aufgesetztem Mund-Nase-Schutz – auch DIE LINKE.
Unter Punkt 14. auf Seite 112 beklagt Albrecht Müller: Mieser Umgang der Politik mit den Menschen. Die neue Corona-Erfahrung.“
Ein Übel nach dem anderen wird in diesem Buch aufgespießt und ausreichend analysiert. Und die weitverbreitete Heuchelei hierzulande wird prächtig deutlich im Kapitel 16 „Die Würde des Menschen ist unantastbar – und millionenfach verletzt“
Angespielt wird auf den Artikel 1 unseres Grundgesetz:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Hehre, schöne Worte. Blicken wir aber auf die Realität, kommen einen die Tränen und der Hut geht einen hoch!
Mit der Kapitelüberschrift „Die EU ist kaputt“ (S.121) gehe ich voll d’accord. Wenn ich von mir reden darf: Für mich war die EU gestorben, als sie seinerzeit mit dem in Not befindlichen Griechenland so schmählich verfuhr, dass man sich als fühlender Mensch und EU-Bürger für eine mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU fürchterlich schämen musste.
Albrecht Müller zählt viele Missstände auf: „Lobby Einfluss und Korruption in Europa“ (S.124), „Steueroasen mitten in Europa“ (S.125).
Wichtig auch, dass der Autor auf den Einfluss der USA auf einzelne Länder (S.126) und die Folgen hinweist. Er nennt „die Sonderbeziehungen der USA zu einzelnen Staaten insbesondere Mittel- und Osteuropas, zu Polen, zu den meisten baltischen Staaten, zu Rumänien“
Die USA spielten auch in der Personalpolitik mit. Müller: „Mit Sicherheit haben sie ihren Segen für die Ernennung von Ursula von der Leyen zum wichtigsten Amt der Europäischen Union erteilt.“ (S.127)
Der Autor sieht in dieser „schlechten Entwicklung (…) Zeichen von Rückschritt und auch Zeichen des Abschieds von einer wirklich guten Idee, der Idee der Zusammengehörigkeit und der Eigenständigkeit der europäischen Völker“.
Die etablierten Medien kommen im Buch nicht gut weg. Daran schuld sind sie selbst. Müller zitiert aus Wolf Schneiders Buch „Unsere tägliche Desinformation – Wie die Massenmedien uns in die Irre führen“. 1984 (!) veröffentlicht:
A) Manche Journalisten manipulieren
B) Viele Journalisten werden gegängelt
C) Viele Journalisten sind unkritisch
D) Allen Journalisten sind Zwängen unterworfen
E) Alle Journalisten werden benutzt
Und wie sieht es heute aus? Wenn ich daran denke, steigt mein Blutdruck gefährlich an.
Albrecht Müller schließt das Kapitel so:
„Und dennoch versuchen die Betroffenen heute den Eindruck aufrechtzuerhalten, die Welt der etablierten deutschen Welten sein in Ordnung. Diese verquere Selbstwahrnehmung ist eine Katastrophe.“
Albrecht Müller möchte, dass „wir uns auf einen langen Weg zu einer Neuen Gesellschaft“ (S.149) machen.
Und stellt in der ersten Zeile nüchtern fest:
„Die Lage ist in vielerlei Hinsicht verkorkst. Die Rettung des Versprechens des Grundgesetzes, dass alle Macht vom Volke ausgehen soll, verlangt im Kern die Korrektur der einseitigen und ungerechten Vermögensverhältnisse, die Korrektur der publizistischen Macht weniger Medienkonzerne, die Wiederherstellung von Markt und Wettbewerb und die Befreiung aus der Vormundschaft der USA.“
Müller: „Das wäre das Minimum und es käme einer Revolution gleich. Es wäre ein Neuanfang.“
Allerdings stellt der Autor auch fest, dass der notwendige Ansatz für einen solchen Neuanfang nicht einmal am Horizont zu sehen sei:
„Hinzu kommt, dass es – umgangssprachlich ausgedrückt – hierzulande an vielen Ecken stinkt. Einen einzigen Hebel umzulegen bringt nicht das Heil.“
Weiter gibt Müller zu bedenken:
„Sosehr als eine wirkliche Revolution, also eine radikale Umverteilung und Umwälzung der Machtverhältnisse fällig wäre, sosehr es nötig wäre, die Uhr auf Start zurückzudrehen, so wenig gibt es aus heutiger Sicht Anhaltspunkte dafür, dass dies erfolgreich möglich wäre. Wir müssen also abwarten, Zeit gewinnen und auf grundlegende Veränderungen hoffen und daran arbeiten. Zugegeben, eine vage Hoffnung. Aber wer bietet mehr? Die einzige Revolution, die man sich ohne Blutvergießen und vielleicht gekrönt von Erfolg vorstellen könnte, wäre eine Reform-Politik, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg und dann mit Abstand nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger konsequent betrieben worden ist. Sozial-, Steuer- und Bildungspolitik und ein starker Staat insgesamt sorgten für eine etwas gerechtere Gesellschaft.“
Müller verweist auf den französischen Ökonomen Thomas Piketty, der die damals entstandenen Gesellschaften die „sozialdemokratischen Gesellschaften“ nenne. Allerdings, so Müller, sei der Begriff „sozialdemokratisch“ sehr verbrannt. Ansonsten könnte man diesen wiederbeleben, um sich im Endeffekt eine „revolutionäre Veränderung der jetzigen Gesellschaft durch eine breit gefächerte Reformpolitik vorstellen“ zu können (S.151). Das liefe auf eine Kulturrevolution hinaus.“
Wenn nicht – will ich da einwerfen – auch der Begriff „Reform“ unter dem man früher gemeinhin Verbesserungen verstand, bis ein gewisser Gerhard Schröder mit seiner Politik etwa der Agenda 2010 dafür sorgte, dass der Begriff heute eher negativ konnotiert ist – ebenfalls verbrannt wäre.
Fazit
Tatsächlich ist vieles schwer verkorkst in unserer Gesellschaft. Und die Aussichten, etwas zu ändern, sind nicht gut. Klar gibt es Menschen, die demonstrieren. Müller: Gegen Rassismus, für eine verantwortliche Klimapolitik und andere gegen die Corona-Politik der Bundesregierung und mehr Freiheit. Aber sei darin der große Ansatz der notwendigen geistigen und politischen Umwälzung zu erkennen? Selbst die Friedensbewegung ist kaum sichtbar. Angesichts dessen müsste man – die Frage stellt sich mir nach der Lektüre des sehr empfehlenswerten Buches: Hängt in Wirklichkeit nicht alles mit allem zusammen? Das zu erkennen, könnte einen Wumms hervorbringen! Könnte. Müsste! Albrecht Müller beendet sein Buch so: Es bleibt Hoffnung.“
Was sonst? Schließlich stirbt sie bekanntlich zuletzt …
Der Westend Verlag zum Buch
Revolution nicht vorgesehen
Bestsellerautor Albrecht Müller zeigt, dass und wie sich die Verhältnisse grundlegend verschlechtert haben. Die Revolution ist überfällig! Aber leider im Grundgesetz nicht vorgesehen … Der Idee nach haben wir eine schöne Demokratie, tatsächlich aber verhärtete Verhältnisse: Die Einkommen sind ungerecht verteilt. Große Vermögen in wenigen Händen und Finanzkonzerne beherrschen die Wirtschaft. Die Parteien sind programmatisch entkernt, die Medien konzentriert und meist angepasst. Frieden? Gemeinsame Sicherheit? Stattdessen wird auf Konfrontation und Kriegsvorbereitung gesetzt, fremdbestimmt von den USA. Europa zerbröselt. Die Revolution ist überfällig, resümiert Albrecht Müller, aber es wird sie nicht geben. Sein Rat an Gleichgesinnte: Tut euch zusammen, verhindert das Schlimmste und setzt auf bessere Zeiten!