DGB-Gewerkschaften im Sinkflug – sie haben es zugelassen, dass Zweifel daran bestehen, ob sie noch Teil der Friedensbewegung sind

Für Gewerkschaften gibt es nichts Wichtigeres als Mitglieder. Wenn sie die Unternehmen nicht mit Mitgliedern beeindrucken können, können sie sie auch nicht mit Streikdrohungen erschrecken. Wer nicht einmal mit Streiks drohen kann, der braucht an den Tischen der Tarifverhandlungen gar nicht erst Platz zu nehmen.

Die Zahl der Mitglieder, die in den DGB-Gewerkschaften organisiert sind, ist seit der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte eingebrochen. Im Jahr 2017 ist sie erstmals unter 6 Millionen gesunken. Zum Jahresende 2021 waren es noch 5.7 Millionen Mitglieder, gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 130.000.

Von offizieller Seite wird diese Entwicklung hauptsächlich auf die demografische Entwicklung, Beschäftigungsabbau allgemein, Strukturwandel in der Berufswelt und neuerdings zusätzlich noch auf die Pandemie, mit ihrer erschwerten Mitgliederwerbung geschoben. Doch diese Sichtweise ist mehr als kurzsichtig, die Gründe sind vielfältiger und durch den DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften auch hausgemacht.

Zum Beispiel hat der DGB in seinem Aufruf zum Antikriegstag 2022 es versäumt, sich klar und eindeutig von der momentanen deutschen Wirtschafts-, Finanz,- Kriegs,- und Außenpolitik abzugrenzen, sich gegen Militarisierung, Aufrüstung und Krieg zu positionieren und damit zu einer Deeskalation des Ukraine-Kriegs beizutragen.

Seit 1957 wird am 1. September an die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie an die schrecklichen Folgen von Krieg, Gewalt und Faschismus erinnert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat aus Anlass des diesjährigen Antikriegstags eine Erklärung unter dem Motto: „Für den Frieden! Gegen einen neuen Rüstungswettlauf! Die Waffen müssen endlich schweigen!“ herausgebracht.

Wer sich davon jedoch eine klare Abgrenzung von der derzeitigen deutschen Wirtschafts-, Finanz,- Kriegs,- und Außenpolitik erhofft, wird enttäuscht.

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„Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Antikriegstag am 1. September 2022 – Für den Frieden! Gegen einen neuen Rüstungswettlauf! Die Waffen müssen endlich schweigen!

„Nie wieder Krieg!“ – das ist und bleibt die Grundüberzeugung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Jeder Krieg ist ein Angriff auf die Menschheit und die Menschlichkeit. Aus dieser Überzeugung unterstützen wir die Friedensbewegung mit unserer gewerkschaftlichen Kraft.

Mit dem verbrecherischen Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ist der Krieg zurück in Europa. Im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und anderswo wüten weiterhin, teilweise seit Jahrzehnten, Kriege und Bürgerkriege. Tod, Zerstörung und Flucht – so lautet ihre fürchterliche Bilanz. Die Waffen müssen endlich schweigen – überall auf der Welt!

Russlands autokratisches Regime verfolgt eine brutale Politik der militärischen Konfrontation und Eskalation. Sein verbrecherischer Krieg zielt auf die Vernichtung der Ukraine ab. Selbst den Einsatz nuklearer Waffen schließt die russische Führung nicht aus. Die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung liegt in Trümmern. Diese tiefe Zäsur zwingt uns, neue Antworten zu finden.

Die deutsche Bundesregierung hat darauf mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken. In den letzten Monaten haben Themen, wie das Sondervermögen für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr oder die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, die öffentliche und politische Auseinandersetzung geprägt. Diese breite und offene Debatte ist notwendig. Sie hat sich aber immer stärker auf den Einsatz militärischer Mittel der Friedenssicherung verengt.

Mit unseren Aktionen und Kundgebungen am diesjährigen Antikriegstag warnen wir vor einer weiteren Militarisierung der Debatte. Der Ukraine-Krieg darf uns nicht zu dem Irrglauben verleiten, Frieden ließe sich mit Waffen schaffen. Hinzu kommt, dass jeder Euro, der zusätzlich für Aufrüstung ausgegeben wird, an anderer Stelle zu fehlen droht. Die Finanzierung militärischer Friedenssicherung darf weder auf Kosten der Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates gehen und die soziale Ungleichheit in unserem Lande verschärfen. Noch darf sie dazu führen, dass die dringenden Zukunftsinvestitionen in die sozial-ökologische Transformation ausbleiben.

Deshalb wollen wir ein Zeichen setzen:

  • für eine europäische und internationale Friedensordnung, die auf den Menschenrechten und den Prinzipien der Freiheit, der Selbstbestimmung und der sozialen Gerechtigkeit beruht. Die Bundesregierung fordern wir auf, ihren im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch einer wertebasierten deutschen Außenpolitik konsequent umzusetzen.
  • für eine kooperativ ausgerichtete Sicherheitspolitik, die weit über militärische Friedenssicherung hinausgeht. Auch der nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung muss ein breites Sicherheitsverständnis zugrunde liegen, das zentrale Aspekte, wie die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, die Bekämpfung von Pandemien, die Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung und den Aufbau widerstandsfähiger internationaler Liefer- und Wertschöpfungsketten, umfasst. Gleichzeitig fordern wir, zivile Instrumente der Diplomatie, der Entwicklungszusammenarbeit und einer fairen Handelspolitik, der humanitären Hilfe und der Konfliktprävention, im Rahmen der neuen Strategie deutlich aufzuwerten.
  • gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf. Gerade der Ukraine-Krieg zeigt, wie wichtig es ist, am Ziel einer weltweit kontrollierten Abrüstung festzuhalten. Die Festlegung der Bundesregierung, den deutschen Rüstungshaushalt dauerhaft auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO oder darüber hinaus aufzustocken, lehnen wir auch deshalb entschieden ab. Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, mit dem angekündigten Rüstungsexportkontrollgesetz umgehend für eine deutliche Beschränkung von Waffenexporten zu sorgen.
  • für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen. Alle Nuklearmächte modernisieren derzeit ihre Atomwaffenarsenale. Dieser Wahnsinn muss beendet werden! Dabei sehen wir auch die Bundesregierung in der Pflicht: Wir fordern sie auf, an dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands festzuhalten, aus der nuklearen Teilhabe auszusteigen und die Lagerung von Atomwaffen in unserem Land zu beenden. Das bedeutet für uns auch, dass Deutschland dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beitreten muss“.

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Anmerkungen zum Aufruf des DGB zum Antikriegstag 2022

Der DGB als Dachverband der Gewerkschaften in Deutschland war über Jahrzehnte ein einflussreicher Akteur und eine wichtige Stimme in der bundesdeutschen Friedensbewegung. Heute steht der DGB bei vielen Mitgliedern in der Kritik, weil er sich eher als Partner der Konzerne und Unternehmen versteht, es unterlässt, den bürgerlichen Staat grundlegend zu kritisieren und nicht als Kampforganisation der Beschäftigten angesehen wird.

Im Sinne einer Partnerschaft ist auch die zentrale Erklärung zum Antikriegstag 2022 am 1. September gehalten:

Der Deutsche Gewerkschaftsbund

  • versucht sich als eine fortschrittliche Kraft zu inszenieren, die „vor einer weiteren Militarisierung der Debatte“ warnen will.
  • ruft aber zu konkreten Aktionen am 1. September dieses Jahres gar nicht erst auf.
  • benennt nicht, warum es in diesem Wirtschaftssystem immer wieder zu Kriegen kommt.
  • lobt die Bundesregierung praktisch dafür, weil sie bemüht ist „die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken “ und spricht sich zwar „gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf “ aus, doch fallen keine kritischen Worte zum milliardenschweren „Sondervermögen für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr“.
  • verneint dann auch selbst den Irrglauben, „Friede ließe sich mit Waffen schaffen“, doch fragt nicht, was die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sonst sein sollen, als vorgeblich Frieden mit Waffen zu schaffen.
  • versucht sein pazifistisches Antlitz zu wahren, weil er weiß, dass die kategorische Ablehnung des Krieges vielen Mitgliedern tief im Herzen liegt und er sieht sich gleichzeitig in seinen Leitungsgremien offenbar gezwungen, die deutsche Aufrüstungs- und Eskalationspolitik mitzutragen.
  • meint vorgeblich und oberflächig, weil „die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung in Trümmern liegt, zwingt uns diese tiefe Zäsur, neue Antworten zu finden“. Er lobt: „Die deutsche Bundesregierung hat darauf mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken“. Der DGB spricht sich für diese „notwendige breite und offene Debatte“ aus, die sich „aber immer stärker auf den Einsatz militärischer Mittel der Friedenssicherung verengt hat“.
  • fordert die Bundesregierung auf, „ihren im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch einer wertebasierten deutschen Außenpolitik konsequent umzusetzen“ und plappert unreflektiert die Sätze der ‚werteorientierten‘ Außenpolitik nach. Eine solche Politik, die nichts anderes als unsere Werte und Interessen meint, trägt zwangsläufig zwei unlösbare Probleme in sich: Einmal ist sie widersprüchlich und zum anderen unfähig zu einem derzeit äußerst wichtigen Dialog.
  • wandelt im aktuellen Aufruf das „Nie wieder Krieg“ kategorisch zu: „Krieg ist ein Angriff auf die Menschheit und Menschlichkeit“, weil der Aufruf sich ja schließlich gegen Russland und dessen „brutale Politik der militärischen Konfrontation und Eskalation“ richtet.
  • erwähnt nicht namentlich die anderen Kriege, wie bspw. den türkischen völkerrechtswidrigen Angriff auf Kurdengebiete in Syrien oder den brutalen Krieg im Jemen.
  • verschweigt, dass die USA und NATO alle wiederholten Bemühungen Russlands zur friedlichen Beilegung des Konflikts ausgeschlagen haben. Er erwähnt nicht, dass sie es bis zuletzt nicht für nötig gehalten haben, Russland eine ernsthafte Antwort zu geben auf dessen Vertragsentwurf, mit rechtsverbindlichen gegenseitigen Garantien und auf der Grundlage der gleichen und unteilbaren Sicherheit die weitere Eskalation zu beenden.
  • erklärt, dass die nun entstandene „tiefe Zäsur“ „uns“ zwinge, „neue Antworten zu finden“. Er hat auch Verständnis für eine „Reihe von Maßnahmen“ der Bundesregierung, die der Stärkung der „Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU“ dienen und möchte nur, dass die militärische Friedenssicherung nicht auf Kosten der „Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates“ und der „sozial-ökologischen Transformation“ geht.
  • sagt dagegen nichts zu den Zusammenhängen von Krieg, Teuerungen und der wirtschaftlichen Lage. Kaum ein Wort zur Inflation, steigenden Mieten, explodierenden Energiepreisen, wie sich der (Wirtschafts-)Krieg mit Russland auf den Lebensstandard der Beschäftigten in diesem Land auswirkt und was der DGB dagegen zu tun gedenkt.
  • schließt die Augen vor der Lage, die selbst Olaf Scholz als „sozialen Sprengstoff“ bezeichnete und lässt die konkrete Lebenssituation der beschäftigten und erwerbslosen Menschen völlig unerwähnt

und

unterstützt eine Regierungspolitik mit ihren Sanktionsmaßnahmen und ihrem anti-Russland-Wahn, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des eigenen Landes riskiert mit dem Ziel, „Russland zu ruinieren“ (Zitat Außenministerin Baerbock).

Der Aufruf zum internationalen Antikriegstag steht insgesamt betrachtet in seiner langen, oft widersprüchlichen Tradition, bei der die aktive Beteiligung der Mitglieder an den halbherzigen Friedensaktionen seit Jahren rückläufig ist.

Weiter zeigt die Erklärung des DGB auf, dass von den Gewerkschaften bei einer weiteren Eskalation der Lage kaum konstruktives, widerständiges, diplomatisches und deeskalierendes Handeln zu erwarten ist.

Für die konkreten Anlässe auf die Straße zu gehen, aktiv in den Produktions- wie auch in den Reproduktionsbereich einzugreifen braucht es keinen 1. September.

Auch andere Tage bieten sich an, gegen Militarisierung, Aufrüstung und Krieg aktiv zu werden, um beispielweise die Rüstungsfabrikation zu sabotieren, deren Transporte und Lieferketten zu stören, die Produktion durch Besetzungen, Blockaden, Bummeln und Krankfeiern zu drosseln. Die Freizeit nutzen, um gemeinsam mit anderen Menschen sich in der sozialen Verteidigung zu üben, Flüchtlingen und Deserteuren sicheren Aufenthalt und gute Verstecke zu gewähren. Kreative Lösungen für die lebensnotwendige Warenbeschaffung, gegen stetige Preissteigerung, für eine ausreichende und günstige Energiezufuhr zu entwickeln und Verbrauchsmessungen verbraucherfreundlich zu manipulieren. Eine Vermögensumverteilung zu organisieren und dabei die internationale Solidarität nicht zu vergessen.

Für all das braucht es keinen 1. September und keinen Aufruf des DGB zum Antikriegstag!

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Dem Mitgliederverlust in den DGB-Gewerkschaften kann nur entgegengesteuert werden, wenn ernsthaft versucht wird, in den Betrieben Basisdemokratie in den Gewerkschaften zu praktizieren, in jedem Unternehmen wo möglich, Betriebsräte gegründet werden, die Vertrauensleutegremien funktionsfähig gemacht und als Querschnittsaufgabe aller Gewerkschaften und des DGB eine aktive Friedenspolitik oben auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Quelle: Gewerkschaftsforum.de

gewerkschaftsforum.de: Anmerkungen zum Aufruf des DGB zum Antikriegstag 2022

Seit 1957 wird am 1. September an die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie an die schrecklichen Folgen von Krieg, Gewalt und Faschismus erinnert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat aus Anlass des diesjährigen Antikriegstags eine Erklärung unter dem Motto: „Für den Frieden! Gegen einen neuen Rüstungswettlauf! Die Waffen müssen endlich schweigen!“ herausgebracht.

Wer sich davon jedoch eine klare Abgrenzung von der derzeitigen deutschen Wirtschafts-, Finanz,- Kriegs,- und Außenpolitik erhofft, wird enttäuscht.

Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Antikriegstag am 1. September 2022 – Für den Frieden! Gegen einen neuen Rüstungswettlauf! Die Waffen müssen endlich schweigen!

Nie wieder Krieg!“ – das ist und bleibt die Grundüberzeugung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Jeder Krieg ist ein Angriff auf die Menschheit und die Menschlichkeit. Aus dieser Überzeugung unterstützen wir die Friedensbewegung mit unserer gewerkschaftlichen Kraft.

Mit dem verbrecherischen Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ist der Krieg zurück in Europa. Im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und anderswo wüten weiterhin, teilweise seit Jahrzehnten, Kriege und Bürgerkriege. Tod, Zerstörung und Flucht – so lautet ihre fürchterliche Bilanz. Die Waffen müssen endlich schweigen – überall auf der Welt!

Russlands autokratisches Regime verfolgt eine brutale Politik der militärischen Konfrontation und Eskalation. Sein verbrecherischer Krieg zielt auf die Vernichtung der Ukraine ab. Selbst den Einsatz nuklearer Waffen schließt die russische Führung nicht aus. Die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung liegt in Trümmern. Diese tiefe Zäsur zwingt uns, neue Antworten zu finden.

Die deutsche Bundesregierung hat darauf mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken. In den letzten Monaten haben Themen, wie das Sondervermögen für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr oder die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, die öffentliche und politische Auseinandersetzung geprägt. Diese breite und offene Debatte ist notwendig. Sie hat sich aber immer stärker auf den Einsatz militärischer Mittel der Friedenssicherung verengt.

Mit unseren Aktionen und Kundgebungen am diesjährigen Antikriegstag warnen wir vor einer weiteren Militarisierung der Debatte. Der Ukraine-Krieg darf uns nicht zu dem Irrglauben verleiten, Frieden ließe sich mit Waffen schaffen. Hinzu kommt, dass jeder Euro, der zusätzlich für Aufrüstung ausgegeben wird, an anderer Stelle zu fehlen droht. Die Finanzierung militärischer Friedenssicherung darf weder auf Kosten der Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates gehen und die soziale Ungleichheit in unserem Lande verschärfen. Noch darf sie dazu führen, dass die dringenden Zukunftsinvestitionen in die sozial-ökologische Transformation ausbleiben.

Deshalb wollen wir ein Zeichen setzen:

  • für eine europäische und internationale Friedensordnung, die auf den Menschenrechten und den Prinzipien der Freiheit, der Selbstbestimmung und der sozialen Gerechtigkeit beruht. Die Bundesregierung fordern wir auf, ihren im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch einer wertebasierten deutschen Außenpolitik konsequent umzusetzen.
  • für eine kooperativ ausgerichtete Sicherheitspolitik, die weit über militärische Friedenssicherung hinausgeht. Auch der nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung muss ein breites Sicherheitsverständnis zugrunde liegen, das zentrale Aspekte, wie die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, die Bekämpfung von Pandemien, die Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung und den Aufbau widerstandsfähiger internationaler Liefer- und Wertschöpfungsketten, umfasst. Gleichzeitig fordern wir, zivile Instrumente der Diplomatie, der Entwicklungszusammenarbeit und einer fairen Handelspolitik, der humanitären Hilfe und der Konfliktprävention, im Rahmen der neuen Strategie deutlich aufzuwerten.
  • gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf. Gerade der Ukraine-Krieg zeigt, wie wichtig es ist, am Ziel einer weltweit kontrollierten Abrüstung festzuhalten. Die Festlegung der Bundesregierung, den deutschen Rüstungshaushalt dauerhaft auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO oder darüber hinaus aufzustocken, lehnen wir auch deshalb entschieden ab. Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, mit dem angekündigten Rüstungsexportkontrollgesetz umgehend für eine deutliche Beschränkung von Waffenexporten zu sorgen.
  • für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen. Alle Nuklearmächte modernisieren derzeit ihre Atomwaffenarsenale. Dieser Wahnsinn muss beendet werden! Dabei sehen wir auch die Bundesregierung in der Pflicht: Wir fordern sie auf, an dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands festzuhalten, aus der nuklearen Teilhabe auszusteigen und die Lagerung von Atomwaffen in unserem Land zu beenden. Das bedeutet für uns auch, dass Deutschland dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beitreten muss.

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Anmerkungen zum Aufruf des DGB zum Antikriegstag 2022

Der DGB als Dachverband der Gewerkschaften in Deutschland war über Jahrzehnte ein einflussreicher Akteur und eine wichtige Stimme in der bundesdeutschen Friedensbewegung. Heute steht der DGB bei vielen Mitgliedern in der Kritik, weil er sich eher als Partner der Konzerne und Unternehmen versteht, es unterlässt, den bürgerlichen Staat grundlegend zu kritisieren und nicht als Kampforganisation der Beschäftigten angesehen wird.

Im Sinne einer Partnerschaft ist auch die zentrale Erklärung zum Antikriegstag 2022 am 1. September gehalten:

Der Deutsche Gewerkschaftsbund

  • versucht sich als eine fortschrittliche Kraft zu inszenieren, die „vor einer weiteren Militarisierung der Debatte“ warnen will.
  • ruft aber zu konkreten Aktionen am 1. September diesen Jahres gar nicht erst auf.
  • benennt nicht, warum es in diesem Wirtschaftssystem immer wieder zu Kriegen kommt.
  • lobt die Bundesregierung praktisch dafür, weil sie bemüht ist „die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken “ und spricht sich zwar „gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf “ aus, doch fallen keine kritischen Worte zum milliardenschweren „Sondervermögen für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr“.
  • verneint dann auch selbst den Irrglauben, „Friede ließe sich mit Waffen schaffen“, doch fragt nicht, was die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sonst sein sollen, als vorgeblich Frieden mit Waffen zu schaffen.
  • versucht sein pazifistisches Antlitz zu wahren, weil er weiß, dass die kategorische Ablehnung des Krieges vielen Mitgliedern tief im Herzen liegt und er sieht sich gleichzeitig in seinen Leitungsgremien offenbar gezwungen, die deutsche Aufrüstungs- und Eskalationspolitik mitzutragen.
  • meint vorgeblich und oberflächig, weil „die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung in Trümmern liegt, zwingt uns diese tiefe Zäsur, neue Antworten zu finden“. Er lobt: „Die deutsche Bundesregierung hat darauf mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken“. Der DGB spricht sich für diese „notwendige breite und offene Debatte“ aus, die sich „aber immer stärker auf den Einsatz militärischer Mittel der Friedenssicherung verengt hat“.
  • fordert die Bundesregierung auf, „ihren im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch einer wertebasierten deutschen Außenpolitik konsequent umzusetzen“ und plappert unreflektiert die Sätze der ‚werteorientierten‘ Außenpolitik nach. Eine solche Politik, die nichts anderes als unsere Werte und Interessen meint, trägt zwangsläufig zwei unlösbare Probleme in sich: Einmal ist sie widersprüchlich und zum anderen unfähig zu einem  derzeit äußerst wichtigen Dialog.
  • wandelt im aktuellen Aufruf das „Nie wieder Krieg“ kategorisch zu: „Krieg ist ein Angriff auf die Menschheit und Menschlichkeit“, weil der Aufruf sich ja schließlich gegen Russland und dessen „brutale Politik der militärischen Konfrontation und Eskalation“ richtet.
  • erwähnt nicht namentlich die anderen Kriege, wie bspw. den türkischen völkerrechtswidrigen Angriff auf Kurdengebiete in Syrien oder den brutalen Krieg im Jemen.
  • verschweigt, dass die USA und NATO alle wiederholten Bemühungen Russlands zur friedlichen Beilegung des Konflikts ausgeschlagen haben. Er erwähnt nicht, dass sie es bis zuletzt nicht für nötig gehalten haben, Russland eine ernsthafte Antwort zu geben auf dessen Vertragsentwurf, mit rechtsverbindlichen gegenseitigen Garantien und auf der Grundlage der gleichen und unteilbaren Sicherheit die weitere Eskalation zu beenden.
  • erklärt, dass die nun entstandene „tiefe Zäsur“ „uns“ zwinge, „neue Antworten zu finden“. Er hat auch Verständnis für eine „Reihe von Maßnahmen“ der Bundesregierung, die der Stärkung der „Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU“ dienen und möchte nur, dass die militärische Friedenssicherung nicht auf Kosten der „Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates“ und der „sozial-ökologischen Transformation“ geht.
  • sagt dagegen nichts zu den Zusammenhängen von Krieg, Teuerungen und der wirtschaftlichen Lage. Kaum ein Wort zur Inflation, steigenden Mieten, explodierenden Energiepreisen, wie sich der (Wirtschafts-)Krieg mit Russland auf den Lebensstandard der Beschäftigten in diesem Land auswirkt und was der DGB  dagegen zu tun gedenkt.
  • schließt die Augen vor der Lage, die selbst Olaf Scholz als „sozialen Sprengstoff“ bezeichnete und lässt die konkrete Lebenssituation der beschäftigten und erwerbslosen Menschen völlig unerwähnt

und

unterstützt eine Regierungspolitik mit ihren Sanktionsmaßnahmen und ihrem anti-Russland-Wahn, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des eigenen Landes riskiert mit dem Ziel, „Russland zu ruinieren“ (Zitat Außenministerin Baerbock).

Der Aufruf zum internationalen Antikriegstag steht insgesamt betrachtet in seiner langen,  oft widersprüchlichen Tradition, bei der die aktive Beteiligung der Mitglieder an den halbherzigen Friedensaktionen seit Jahren rückläufig ist.

Weiter zeigt die Erklärung des DGB auf, dass von den Gewerkschaften bei einer weiteren Eskalation der Lage kaum konstruktives, widerständiges, diplomatisches und deeskalierendes Handeln zu erwarten ist.

Für die konkreten Anlässe auf die Straße zu gehen, aktiv in den Produktions- wie auch in den Reproduktionsbereich einzugreifen braucht es keinen 1. September.

Auch andere Tage bieten sich an, gegen Militarisierung, Aufrüstung und Krieg aktiv zu werden, um beispielweise die Rüstungsfabrikation zu sabotieren, deren Transporte und Lieferketten zu stören, die Produktion durch Besetzungen, Blockaden, Bummeln und Krankfeiern zu drosseln. Die Freizeit nutzen, um gemeinsam mit anderen Menschen sich in der sozialen Verteidigung zu üben, Flüchtlingen und Deserteuren sicheren Aufenthalt und gute Verstecke zu gewähren. Kreative Lösungen für die lebensnotwendige Warenbeschaffung, gegen stetige Preissteigerung, für eine ausreichende und günstige Energiezufuhr zu entwickeln und Verbrauchsmessungen verbraucherfreundlich zu manipulieren. Eine Vermögensumverteilung zu organisieren und dabei die internationale Solidarität nicht zu vergessen.

Für all das braucht es keinen 1. September und keinen Aufruf des DGB zum Antikriegstag!

Quelle: gewerkschaftsforum.de

Hinweis:

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Beitragsbild: C. Stille

Protest gegen Schließungen bei Galeria Karstadt Kaufhof an drei davon bedrohten Standorten in Dortmund

Fachbereichsleiterin Handel bei ver.di Silke Zimmer spricht vor dem Eingang zu Galeria Kaufhof. Fotos (16): C. Stille

Die Geschäftsführungen von Galeria Karstadt Kaufhof sowie Karstadt Sports haben die Liste der zur Schließung vorgesehenen Kaufhäuser veröffentlicht. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hatte die Betriebsräte der 22 von Schließungen bedrohten NRW-Häuser für vergangenen Freitag nach Dortmund eingeladen.

Auf einer gemeinsamen Sitzung sollte ein Austausch über die aktuelle Situation stattfinden und das weitere Vorgehen gesprochen werden. Die Veranstaltung wurde gegen 14 Uhr für eine Protestveranstaltung in der Dortmunder Innenstadt unterbrochen. Die Betriebsräte zogen gemeinsam in die Innenstadt zu den drei betroffenen Dortmunder Häusern, um sich in kurzen Redebeiträgen für den Erhalt der Filialen einzusetzen.

Zwischenkundgebungen an den drei von Schließung bedrohten Kaufhausstandorten in Dortmund

Der Demozug führte vom Freizeitzentrum West (FZW) in der Ritterstraße über die Rheinische Straße auf den Westenhellweg, der Dortmunder Einkaufsmeile. Zwischenstopps erfolgten an den Kaufhäusern Galeria Kaufhof und Karstadt. Um dann zwecks einer Abschlusskundgebung vor Karstadt Sports zu enden. Dort bildeten die Demonstrierenden unter den Augen zahlreicher Passanten eine Menschenbrücke zwischen Karstadt und Karstadt-Sporthaus.

Gewerkschaft ver.di fordert politische Verantwortliche auf, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die die dramatische Situation für die Beschäftigten und ihre Familien abzuwenden

Die Fachbereichsleiterin der Gewerkschaft ver.di für den Handel in NRW, Silke Zimmer, hatte im Vorfeld der Demonstration deutlich gemacht: „Die von Schließung betroffenen Beschäftigten sind in ihrer Existenz bedroht. ver.di wird sich in den nächsten Wochen und Monaten weiter für den Erhalt der Häuser und Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen einsetzen. Hier fordern wir die Unterstützung aller politisch Verantwortlichen, dass gemeinsam alle Möglichkeiten, Chancen und Wege, um diese dramatische Situation für die Beschäftigten und ihre Familien abzuwenden, ausgeschöpft werden.“

Zu den Hintergründen

Galeria Karstadt Kaufhof gehört der Signa-Holding des Immobilien-Investors Réne Benko. Der österreichische Milliardär hatte im Zuge der Zusammenlegung von Karstadt und Kaufhof in den vergangenen Monaten gut eine halbe Milliarde Euro in das Unternehmen investiert und kürzlich noch einmal 140 Millionen Euro für Liquidität nachgeschossen. Von Benko lägen „weitere Zusagen für eine sehr umfangreiche Unterstützung“ vor, hatte es seitens des Insolvenzverwalters Frank Kebekus noch im April geheißen. Ein Kahlschlag betreffs der Beschäftigten war ausgeschlossen worden. Auf Staatsgeld wollte das Unternehmen verzichten. Zum 1. Juli muss der Sanierungsplan stehen, sonst würde der Warenhauskonzern in ein reguläres Insolvenzverfahren laufen.

Silke Zimmer: „Wenn das Warenhaus stirbt, dann stirbt auch der umliegende Einzelhandel!“

Den ersten Halt machte der Demonstrationszug bei sengender Hitze am Kaufhaus Galeria Kaufhof.

Silke Zimmer von der Gewerkschaft ver.di sagte dort: „Wenn das Unternehmen sich mit seinen Vorstellungen durchsetzt, werden von 42 Filialen in Nordrhein-Westfalen 18 geschlossen. Das ist jede zweite Filiale.“ Dass hier in Dortmund gleich drei Standorte geschlossen werden sollten, sei unbegreiflich – in einer Stadt wo fast 600.000 Menschen leben. Ein vor Ort tätiger Betriebsrat richtete ein paar Worte an die vor der Kaufhaustür versammelten. Viele Mitarbeiter*innen, so der Betriebsrat, seien dreißig oder gar vierzig Jahre bei Kaufhof beschäftigt und hätten gerne dort gearbeitet. Man wisse aber nun nicht wie es weitergehe. Man hoffe

Solidarisch: Michael Vogt von der Katholischen Stadtkirche.

auf die Unterstützung aller Bürger*innen, und das Dortmunder Standorte erhalten werden können. Sonst müsse mit „einem Sterben auf Raten“ gerechnet werden. Silke Zimmer sagte an den Insolvenzverwalter gerichtet: „Herr Kebekus, die Beschäftigten bei Karstadt Kaufhof Galeria Karstadt Sports nehmen Sie beim Wort. Wenn 18 Häuser von von 42 in NRW geschlossen werden sollen – wenn das kein Kahlschlag ist!“ Zimmer gab weiter zu bedenken: „Wenn das Warenhaus stirbt, dann stirbt auch der umliegende Einzelhandel!“ Die Kaufhaus-Mitarbeiter*innen hätten jahrelang auf Gehalt verzichtet, während sich die Manager die Taschen vollgemacht hätten, skandalisierte die Gewerkschafterin. Nun sollten die Beschäftigten die Suppe auslöffeln. Man fordere ein Zukunftskonzept für die Warenhäuser.

Zimmer bekräftigte gegenüber den Menschen in den betroffenen Städten: „Die Stadt gehört keinen Herrn Benko, gehört keiner Familie Otto von ECE. Die Stadt gehört ihnen!“

Michael Vogt, Pastor in der Katholischen Stadtkirche, sagte den von Kündigung bedrohten Beschäftigten ein paar solidarische Worte. Es sei wichtig, dass „der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel allen Wirtschaftens ist und bleibt“, wie es im Zweiten Vatikanischen Konzil gesagt worden sei.

Vor Karstadt sagte Pfarrer Friedrich Stiller: „Ihr habt das Recht auf eine Perspektive“

Betriebsrat Gerhard Löpke spricht.

Am zweiten Stopp der Protestierenden vor Karstadt-Kaufhaus auf dem Westenhellweg ergriff Betriebsrat Gerhard Löpke das Wort. Man habe im letzten Monat gerade in diesem Warenhaus „den letzten Nagel reingehauen und frisch renoviert.“ Seit letzter Woche Freitag hätten alle einen Schock, weil man die Mitteilung von der Schließung bekommen habe. Es könne nicht sein, dass man als Spielball für die Vermieter benutzt werde. Das werde sich die Belegschaft nicht gefallen lassen. Solidarisch mit den Forderungen der Beschäftigten erklärte sich vor diesem Karstadt-Standort auch der Theologe Friedrich Stiller: „Ihr habt das Recht auf eine Perspektive.“

Des Weiteren solidarische Grüße überbrachte die OB-Kandidatin der Grünen, Daniela Schneckenburger sowie Utz Kowalewski, der für die DIE LINKE für den Posten des Dortmunder Oberbürgermeisters kandidiert.

Schneckenburger nannte die Schließungspläne einen Skandal. „Eine Schneise der Verwüstung“ würde die Schließung von drei Warenhäusern in die Dortmunder Innenstadt schlagen.

Grüne OB-Kandidatin Daniela Schneckenburger skandalisierte die Schließungspläne.

Kowalewski sagte an die Adresse der Demonstranten: „Das ist eine Riesensauerei, was die mit euch veranstalten.“ Und an abwesenden Immobilien-Investor René Benko gerichtet: „Schämen Sie sich, Herr Benko!“

Der OB-Kandidat der SPD, Thomas Westphal, der ebenfalls an der Demonstration teilnahm, hatte schon am Vormittag im FZW zu den Betriebsräten gesprochen.

Auf der Abschlusskundgebung beschied Thomas Kutschaty: „Dass, was wir jetzt erleben, hat nichts mehr mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, dass ist asoziale Marktwirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen!“

Auf der Abschlusskundgebung vor Karstadt Sports bekundeten die Betriebsräte und die „Sportis“ kräftig: „Wir sind hier, wie sind laut, weil man uns die Zukunft klaut!“

Eine Betriebsrätin Monika von Karstadt Sports beschrieb die Situation aus Sicht der Beschäftigten: „Meine Kollegen sind deprimiert und wütend.“

OB-Kandidat der Partei DIE LINKE, Utz Kowalewski (rechts mit Mikro): „Stehen an eurer Seite!“

Am Mikrofon: SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag, Thomas Kutschaty.

Thomas Kutschaty, Fraktionschef der SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen hatte eigens die Landtagssitzung sausen lassen, um sich in Dortmund solidarisch mit den Karstadt-Galeria-Kaufhof-Beschäftigten zu zeigen. Seit 140 Jahren sei Karstadt in unseren Städten präsent, erinnerte Kutschaty. Groß und stark sei das Unternehmen im Zeichen des Wirtschaftswunders und der Sozialen Marktwirtschaft geworden. Kutschaty: „Dass, was wir jetzt erleben hat nichts mehr mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, dass ist asoziale Marktwirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen!“

Jahrelang sei es gut gegangen. Dann seien dubiose Manager und Hedgefonds gekommen und hätten dieses Unternehmen ruiniert: „Da wurden Gebäude verkauft und zu Wucherpreisen wieder zurückerstattet. Gewinne haben andere gemacht, die Beschäftigten mussten die Opfer bringen. Das ist eine Schweinerei!“ Noch sei nichts verloren, meinte Kutschaty hoffnungsvoll. Gemeinsam mit den Beschäftigten kämpfe man um jeden Arbeitsplatz. Die gesamte Bevölkerung sei nun aufgefordert, Solidarität zu zeigen.

Nach Beendigung der Abschlusskundgebung zogen die Betriebsräte wieder zurück zum FZW, um die Beratungen fortzusetzen.

 

Dortmund: 150 Jahre Baugewerkschaft in Deutschland gefeiert

Aus einer Ausstellung der IG BAU. Fotos: C. Stille

Der Allgemeine Deutsche Maurerverein wurde im Jahr 1869 gegründet. Es ist die Vorgängerorganisation der IG BAU (Bauen-Agrar-Umwelt). Auf einem Festakt im Bildungszentrum Hansemann, „Große Kaue“ wurden am vergangenen Samstag 150 Jahre Baugewerkschaft in Deutschland gefeiert. Zusammen mit dem IG BAU-Bundesvorsitzenden Robert Feiger, Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) und Vertretern des DGB NRW feierte die IG BAU Westfalen ihr 150-jähriges Bestehen.

Gewerkschaftliche Errungenschaften: 8-Stunden-Tag, Schlechtwettergeld und geregelte Unterkunft

Der 8-Stunden-Tag, Schlechtwettergeld, geregelte Unterkunft – diese Standards waren auf Baustellen vor 150 Jahren unvorstellbar. So lange ist es her, dass sich Bauarbeiter in Deutschland zum ersten Mal gewerkschaftlich organisiert haben.

In unserer Region vertritt die IG BAU die Interessen von 148.000 Menschen

In der Region vertritt die Gewerkschaft die Interessen von rund 78.000 Bauarbeitern und 70.000 Reinigungskräften. Außerdem kümmert sie sich um die Beschäftigten unter anderem in der Land- und Forstwirtschaft, im Dachdecker- und im Malerhandwerk.

150 Jahr Baugewerkschaft, das beste Fundament für die, die Deutschland bauen – heute und morgen“

Ausstellung IG BAU.

Die Festveranstaltung begann nach einem Sektempfang für die Gäste mit Filmeinspielungen, in denen der Zustand in Deutschland nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg dargestellt wurde und Bauarbeiter zu Worte kamen. Es ging um die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus. Arbeiter sprachen im Film über ihren Eintritt in die Gewerkschaft. Und deren Vorteile für Mitglieder, dem Zusammenhalt und die Freundschaft miteinander, die nötig ist, um für ein gemeinsames Ziel gemeinsam einzustehen. Gestreift wurden die Erfolge der IG BAU und ihrer Vorgängerorganisationen. Ein Fazit: „150 Jahre Baugewerkschaft, das beste Fundament für die, die Deutschland bauen – heute und morgen.“

Grußadressen von Politiker*innen sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens per Video

Immer wieder wurden während des Festaktes zwischendurch via Video Grußadressen von Politiker*innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie vom Arbeitgeberverband mit Glückwünschen zum 150-jährigen Jubiläum eingespielt. Um nur einige zu nennen: von Norbert Blüm, Hans-Jochen Vogel, Annegret Kramp-Karrenbauer und Gregor Gysi (der zusätzlich die Grußadresse von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlas), auch die Glückwünsche von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden zum Jubiläum übermittelt und des Weiteren Statements von Kurt Beck, Joachim Herrmann sowie Horst Lichter, Dieter Hallervorden und Ingo Appelt.

Regionalleiter der IB BAU Westfalen Bodo Matthey: Sich nicht auf der Tradition und dem gewerkschaftlich Erreichten ausruhen

Bodo Matthey, Regionalleiter der IG BAU Westfalen.

Regionalleiter der IG BAU Westfalen Bodo Matthey sagte, es reiche nicht aus, sich auf der Tradition und dem gewerkschaftlich Erreichten auszuruhen. Es heiße: „Tradition ist nicht die Bewahrung der Asche, sondern die Weiterreichung des Feuers.“ Oder: „Man muss das Gestern kennen, das Heute begreifen, um die Zukunft zu gestalten.“

Im Vorfeld des Festaktes gab Matthey bereits zu bedenken: „Seit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Maurervereins im Jahr 1869, der Vorgängerorganisation der IG BAU, hat sich auf dem Bau enorm viel getan. Doch auch wenn Bagger, Kräne und Tablets die Arbeit einfacher machen – die Frage nach fairen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen stellt sich heute genauso wie früher“. Für den Regionalleiter der IG BAU Westfalen steht fest: „Ohne starke Gewerkschaften wäre es um die Rechte von Arbeitnehmern in der Region viel schlechter bestellt.“

Robert Feiger (Bundesvorsitzender der IG BAU): „Wer Gewerkschaften loswerden möchte, der macht sich an einem historisch gewachsenen und demokratischen Selbstverständnis schuldig“

Die Festrede an diesem Abend hielt der IG BAU-Bundesvorsitzende Robert Feiger. Feiger beleuchtete die im Jahr 1869 beginnende Geschichte der deutschen Baugewerkschaft und wie es dem damals gegründeten Allgemeinen Deutschen Maurerverein im Jahre 1871 durch Streiks gelungen war einen ersten Tarifvertrag zu erzwingen. Was nicht lange Bestand gehabt habe: Denn die preußische Obrigkeit unter Bismarck verabschiedete 1878 das sogenannte Sozialistengesetz. Feiger: „Was damals geltendes Unrecht war, scheint heute überwunden zu sein. Die Koalitions- oder Vereinigungsfreiheit ist in dem Artikel 9 unseres Grundgesetzes hoffentlich verewigt. Wir sollten uns aber alle bewusst sein, es ist eine brüchige Freiheit, die wir auch auf jeden Tag hin erneuern müssen.“

Der Bundesvorsitzende der IG BAU geißelte das sogenannte „Union Busting“, eine von darauf spezialisierten Rechtsanwälten unterstützte „Gewerkschaftsfeindlichkeit“. Wo Unternehmer versuchten Gewerkschafter und Bedienstete mundtot zu machen und mit teils illegalen Mitteln gegen legitimierte Gesetze und Strukturen vorgingen. Robert Feiger machte klar: „Wer Gewerkschaften loswerden möchte, der macht sich an einem historisch gewachsenen und demokratischen Selbstverständnis schuldig, Kolleginnen und Kollegen. Wir lassen uns nicht einschüchtern!“

1890 sei das Sozialistengesetz kassiert worden und die frühen Gewerkschaften hätten sich in der Folge zu mitgliederstarken Organisationen entwickeln können. In nur wenigen Jahren seien damals 350.000 Bauleute organisiert worden.

Geschichtlicher Bogen von vor dem Ersten Weltkrieg bis hin zur jungen BRD

Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG BAU.

Feiger schlug einen geschichtlichen Bogen über die Zustände vor und nach dem dem Ersten Weltkrieg, sowie die Zeit des Hitlerfaschismus, wo es es betreffs der Gewerkschaften zu einer einschneidenden, schlimmen Zäsur gekommen sei – Gewerkschaften seien verboten, Gewerkschafter auch ermordet worden – bis hin zur Situation in der jungen BRD. Feiger führte diesen Bogen dann weiter über die Nachkriegszeit und die schwere Zeit des Wiederaufbaus ab 1945. Er erinnerte an die zusammen erkämpften und zusammen mit dem Baugewerbe vereinbarten Errungenschaften für die Arbeitnehmer*innen in der jungen Bundesrepublik. Ein sozialer Frieden „in unserer Branche“ sei es gelungen zu erreichen.

Die IG BAU – mit den von ihr vertretenen Gewerken und den dort tätigen Menschen – sei inzwischen mit dem gesamten Entstehungszyklus eines Gebäudes verbunden: Von der Schaffung, der Herstellung und Gewinnung des Baustoffs bis zum Ausheben der Grube und bis zum Abriss Gebäudes. Dadurch bekomme man auch einen Blick für gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch für Fehlentwicklungen.

Robert Feiger: Wir stehen heute vor ähnlichen Problemlagen wie in der Weimarer Republik

Heute stehe man vor ähnlichen Problemlagen wie vor knapp 100 Jahren in der Weimarer Republik. Viele Menschen könnten sich das Wohnen in der Stadt schlicht und einfach nicht mehr leisten. Sie würden verdrängt. „Manche landen auf der Straße, weil der Vermieter sie herausmodernisiert““, so Feiger. Für ein reiches Land wie Deutschland sei das nicht hinnehmbar, man brauche bezahlbaren Wohnraum für alle.

Das skandalisierte während er Veranstaltung auch Gewerkschafterin Gudrun Weissmann in einem Kurzinterview durch den Moderator des Festaktes als einen nicht länger hinnehmbaren Skandal.

Es müsse mehr gebaut werden, forderte Robert Feiger. Auf die Verpflichtung aus dem Grundgesetz, wo es heiße „Eigentum verpflichtet“ müsse gepocht werden. Forderungen nach Enteignung verstehe er, sie verschaffe jedoch keinen einzigen Quadratmeter Wohnung. Es müsse Geld in die Hand genommen und gebaut werden.

Auch stehe Altersarmut im Zusammenhang mit Wohnarmut. Diese zu beheben, müsse dringend etwas getan werden. Es müsse sozial und umweltverträglich gebaut werden.

Der Bundesvorsitzende bedauerte selbstkritisch: „Wir konnten den Vormarsch des Neoliberalismus nicht aufhalten. Aber wir haben dagegen gehalten, wo wie nur konnten“

Die letzten 25 Jahren, sagte Robert Fleiger, „haben das soziale Klima in unserem Land abgekühlt und auch den Sozialstaat geschwächt“. „Selbstkritisch“ stellte der Bundesvorsitzende der IG BAU bezüglich aller Gewerkschaften fest: „Wir konnten den Vormarsch des Neoliberalismus nicht aufhalten. Aber wir haben dagegen gehalten, wo wie nur konnten.“

Man habe als eine der ersten Branchen einen tariflichen Mindestlohn festschreiben können. Darauf, so Fleiger, sei er „froh und auch ein bisschen stolz“.

Große Herausforderungen: Digitalisierung und Klimawandel. Nicht spalten lassen. Der Grundgedanke: Solidarität

Kommende großen Herausforderungen, unterstrich Robert Feiger, seien Digitalisierung und Klimawandel sowie für eine gerechte Gesellschaft einzutreten. Unbedingt angehen müsse man nicht zuletzt als Gewerkschaft gegen Rassismus und andere Formen der Ausgrenzung. Das sei eine „unserer zentralen Aufgaben“. Fleiger: „Wir lassen uns nicht spalten. Lassen wir uns auch nicht auseinanderbringen von einer neoliberalen Ideologie, nach der jede und jeder sich selbst am nächsten ist. Der Grundgedanke sei Solidarität.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau: IG BAU ist ganz natürlicher Verbündeter beim Strukturwandel

Ullrich Sierau, der Dortmunder OB.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau, der erst später – nach dem (gewonnenen) BVB-Spiel, aber wie er sagte, dennoch „pünktlich wie ein Maurer“ und wie angekündigt gegen 19 Uhr zum Festakt erschienen war, hielt an diesem Abend ein Grußwort zum Abschluss des offiziellen Teils.

Ullrich Sierau lobte die IG BAU „als ganz natürlichen Verbündeten von denjenigen die auf kommunaler, regionaler Ebene“ in Sachen des sich über viele Jahre erstreckt habenden und weiter erfolgenden Strukturwandels (er nannte beispielsweise die international Beachtung findende Renaturierung der Emscher) in Dortmund tätig seien.

Mittlerweile sei Dortmund eine Wissenschaftsstadt mit sieben Hochschulen, 54.000 Studierenden und einem Technologiezentrum und Technologiepark größer als solche in München oder in Berlin-Adlershof. Die meisten Einrichtungen seien in neuen Gebäuden untergebracht. „Hätten“, so Sierau, „nicht Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter diese Stätten errichtet, gebe es das alles nicht.“ Das wiederum sei im Umkehrschluss durch den Strukturwandel bedingt gewesen.

Zum Abschluss des offiziellen Teils: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“

Zum Abschluss des Festaktes erhoben sich die Gewerkschaftsfunktionär*innen und sangen gemeinsam ein altes russisches Arbeiterlied in deutscher Nachdichtung: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Hernach stand ein Gewerkschafter auf und sang die, um die während der Zeit der Weimarer Republik entstanden zwei weiteren, von unbekannten Verfassern stammenden, Strophen kurzerhand solo:

4. Brechet das Joch der Tyrannen,
die euch so grausam gequält.
|: Schwenket die blutigroten Fahnen
über die Arbeiterwelt.:|

5. Brüder ergreift die Gewehre
auf zur entscheidenden Schlacht.
|: Dem Sozialismus die Ehre.
Ihm sei in Zukunft die Macht. 😐

Gemütlicher Abschluss mit Abendessen sowie Musik und Tanz

Timur singt zur Gitarre.

 

 

Musikalische Beiträge während des Festaktes steuerte Timur (Gesang/Gitarre) bei. Nach dem Abendessen stand Musik und Tanz mit DJ Benjamin Luig auf dem Plan.

Paukenschlag vor 50 Jahren im Dortmunder Norden: Die Septemberstreiks 1969 kamen von unten ohne Beteiligung der Gewerkschaften. Zeitzeuge Werner Nass berichtete

Von links: Dr. Wilfried Kruse, Wiltrud Lichte-Spanger und Werner Nass. Foto: C. Stille

„Ein Paukenschlag ging vor 50 Jahren durch den Dortmunder Norden, der ganz Deutschland bewegte“, so Wiltrud Lichte-Spanger, die Vorsitzende des Evinger Geschichtsvereins. Spontane Streiks, ohne Unterstützung durch Gewerkschaften oder Parteien, begannen im September 1969 auf der Westfalenhütte, setzten sich über die Zentralwerkstatt der Zeche Fürst Hardenberg auf die Dortmunder Schachtanlagen und die Dortmunder Stadtwerke fort. Auch Betriebsräte hielten sich zurück, verschlossen sich in ihren Büros. Erfolge hefteten sie sich später an die Brust. Bald breitete sich die Streikwelle, der „Heiße Herbst 69“ über ganz Deutschland aus – Geschichte, die heute noch aktuell ist. Am Montagabend war dies Thema bei einer Veranstaltung des Evinger Geschichtsvereins. Als Zeitzeuge berichtete Werner Nass, später einer der einflussreichsten Betriebsräte in der Stahlindustrie, wie er den Streik erlebte.

Zur Situation im September 1969

Wiltrud Lichte-Spanger erinnerte an die Geschichte vor den Streiks. Zuvor hatte es nach dem Krieg in Westdeutschland die Aufbaujahre auch im Ruhrgebiet gegeben. Dann jedoch sei die erste Wirtschaftskrise 1966 eingetreten. Später sei eine Erholung erfolgt. Die Studentenbewegung stellte alles in Frage, was die Zeit des 2. Weltkriegs überlebt hatte. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms waren Gewerkschaften, wie sie meinten, durch die Friedenspflicht an langfristig abgeschlossene, niedrige Tarifverträge gebunden, während die Hoesch-Konzernleitung den Aktionären eine drastische Erhöhung der Dividenden ankündigte, sahen die Arbeiter weiter in die Röhre.

1969 sei dann die Forderung aufgestellt worden den Stahlarbeiter zwanzig Pfennig mehr pro Arbeitsstunde zu zahlen. Das wurde von den Verwaltungen brüsk angelehnt.

Wilfried Kruse: In den Jahren 1969 und folgende ging mit der Nachkriegszeit die Adenauer-Zeit zu Ende, die „grauenvoll war“

Dr. Wilfried Kruse, ehemals Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund, gab den ZuhörerInnen einleitend einen Einblick in die „lange Vorgeschichte“ der Streiks. Wenn bezüglich der Septemberstreiks von 1969 von spontanen Streiks geredet werde, so Kruse, entstehe der Eindruck, sie seinen „plötzlich und aus heiteren Himmel“ gekommen. Was nicht der Fall gewesen sei. Es stimme weder gesellschaftlich noch betrieblich. Kruse sagte, er habe eigentlich ein kurzes Video aus der Deutschen Schlagerparade 1969 zeigen wollen. Dies war aber an technischen Problemen gescheitert. Der Titel der Veranstaltung lautete ja „September 1969: Als die heile Welt zerbrach“. Deshalb der Blick auf die Schlager jener Zeit: denn die heile Welt ging ja auch 1969 noch weiter, wusste Kruse. Zwar habe es Elvis und Woodstock in den USA und die Beatles in Großbritannien gegeben – in der BRD aber hatte ein Schlagerstar den größten Erfolg überhaupt im Lande. Das sei Heintje gewesen, der Inbegriff von heiler Welt, mit „Heidschi Bumbeidschi“ Anfang 1969 der größte Hit.

Er erzähle das, erklärte Kruse, weil wir uns davor hüten müssten, Schwarz-Weiß-Bilder zu erzeugen.

Es habe nämlich immer Widersprüche und Spannungen gegeben.

In den Jahren 1969 und folgende gehe es um das Ende der Nachkriegszeit. Präziser gesagt: „Das der Adenauer-Zeit.“ Eine Zeit in der es eine Kombination gegeben habe aus einem in den 1950er Jahren beginnenden sogenannten „Wirtschaftswunder“ (Sinnbild dafür war Ludwig Erhard mit der Zigarre im Mund) und gleichzeitig eine äußerst konservative Grundhaltung. Einerseits es sei eine Zeit voller Optimismus – nach dem Krieg ging es endlich wieder aufwärts – gewesen, die andererseits jedoch, was die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffe, „grauenvoll war“.

Der Faschismus war beschwiegen worden

Nach 1945 sei der Faschismus eigentlich nicht zum Thema gemacht, sondern verdrängt und beschwiegen worden. Weshalb Dr. Kruse den Beginn des Endes der Nachkriegszeit nicht bei den 69er Streiks, sondern beim Auschwitz-Prozess (1963-1965) verortet.

Mit Willy Brandt kam ein Politik- und Moralwandel

Als wichtiges Datum nannte Wilfried Kruse 1966. Da sei nämlich die erste Garde der westdeutschen Politiker aus den 1950er Jahre abgelöst worden. Es kam zur ersten Großen Koalition. Der Sozialdemokrat Willy Brandt (im Widerstand gegen die Nazis tätig gewesen) wurde in der Bundesregierung des Christdemokraten Kurt-Georg Kiesinger (einem Nazitäter) Vizekanzler. Willy Brandts Credo: „Mehr Demokratie wagen“. Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 – wenige Tage nach dem Septemberstreik – bekam die SPD knapp 42 (!) Prozent der Stimmen. Willy Brandt wurde Bundeskanzler der sozial-liberalen Koalition (mit der FDP). Es habe ein Kultur- und Moralwandel begonnen und ein verändertes Frauenbild gegeben. Was Willy Brandts Politikwandel ermöglichte.

Für den jungen Gewerkschafter Werner Nass war diese Zeit „ein Hammer“

Nachdem Dr. Wilfried Kruse zum besseren Verstehen den entsprechende gesellschaftlichen Hintergrund jener Zeit nachgezeichnet hatte, sprach Zeitzeuge Werner Nass darüber wie es zu den Septemberstreiks gekommen war. Er selbst erlebte sie als junger Vertrauensmann „im dritten und vierten Glied“. Diese Zeit, sagte Nass, sei damals „ein Hammer für einen jungen Gewerkschafter“ gewesen.

An diesem 2. September 1969 habe er zufällig Frühschicht im Walzberg als Schweißer gehabt: „Um neun Uhr ging das dann rund.“

Die Konjunktur brummte: Für Aktionäre hohe Dividenden. „Die Malocher sollten außen vor bleiben“

Mehrere Faktoren wären damals zusammengekommen. 1969 sei genauso ein heißer Sommer wie 2018 gewesen. Da habe der Vorstand gesagt, man müsse den Kollegen an den Hochöfen etc. wenigstens eine Flasche Wasser geben. Das Unternehmen habe horrende Gewinne gemacht, die Konjunktur war enorm nach oben gegangen. Die Aktionäre sollten höhere Dividenden bekommen. Nass: „Aber der Malocher sollte außen vor bleiben.“

Dann spielte die IG-Metall eine Rolle. Was vor fünfzig Jahren so war und heute noch so ist. Die Perspektive sei, stets Tarifverträge für 12 Monate abzuschließen. Was ganz selten eingehalten worden sei und längere Laufzeiten vereinbart wurden. 1969 brummte also die Konjunktur und der Tarifvertrag lief noch bis zum 1. Dezember dieses Jahres. Einen neuen Tarifvertrag zu verhandeln war nicht möglich. Die IG Metall habe gesagt: Uns sind die Hände gebunden.

Zwischen den drei Stahlstandorten in Dortmund habe es seinerzeit Stundenlöhne zwischen 5,30 DM und 5,40 DM gegeben, während in der Weiterverarbeitung die Löhne höher gewesen seien.

Die Vorstände lehnten die Forderungen des Betriebsrats ab

Die Betriebsratsvorsitzenden gingen damals daran am 15. August 1969 Forderungen zu stellen, die Tarifverhandlungen vorzuziehen und der Arbeitslohn pro Stunde sollte um 20 Pfennig rückwirkend steigen.

Die Betriebsdirektoren äußerten Verständnis. Die Vorstände aber lehnten ab. Die Vorstände von Union und Phoenix waren bereit am 1. Dezember 1969 fünfzehn Pfennige draufzulegen. Der Betriebsrat der Westfalenhütte lehnte einstimmig dieses Angebot ab. Man wollte 20 Pfennig mehr, sofort.

Um den Forderungen Ausdruck zu verleihen, sollten 100 Arbeiter auf die Treppe zur Hauptverwaltung kommen – doch schon bald waren es 1000 und dann fast 3000!

Der damalige Betriebsrat Albert Pfeifer habe dann im Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden der Vertrauenskörperleitung Fritz Wäscher gebeten,

Treppe zur Hoesch-Verwaltung in späteren Jahren. Foto: via Geschichtsverein Eving.

dass dieser 100 Kollegen bitte, auf die Treppe zur Hauptverwaltung zu kommen. Nun rumorte es überall in den Betrieben. Einige Vertrauensleute im Bereich des Hochofens wollten es aber nicht bei der Zahl von 100 Kollegen belassen. Sie wollten die Kaffeepause um 9 Uhr nutzen, um mit mehr Leuten zur Hauptverwaltung zu kommen. Werner Nass: „Man ist gestartet und wusste nicht wo man landet.“

Auf einmal waren 1000 Menschen vor der Hauptverwaltung. Der Betriebsrat begannt mit dem Vorstand Gespräche zu führen. Der Vorstand sagte 20 Pfennig mehr zu. Doch zwischenzeitlich war die gesamte Frühschicht – vielleicht fast 3000 Arbeiter an der Treppe. Bevor das Ergebnis von 20 Pfennig mehr bekannt wurde, wurde die Losung herausgegeben: 30 Pfennig mehr. Die Sache schaukelte sich hoch. All das kam von der Basis. Die IG Metall, so Nass, und der Betriebsrat waren außen vor. Der Betriebsrat lehnte ab weitere Gespräche zu führen. Nun forderte man – wenn heute nicht 30 Pfennig beschlossen würden – fordere man 50 Pfennige. Eine Strohpuppe wurde symbolisch an der Hoesch-Hauptverwaltung aufgehangen.

Was wiederum dazu führte, dass die bürgerliche Presse – etwa die FAZ und die Bildzeitung – schrieben, die Frau des Vorstandsvorsitzenden Fritz Harders hätte sich auf ihrem Grundstück in Ergste mit der Pistole verteidigen müssen gegen diese schlimmen Stahlarbeiter. Diese seien von Kommunisten oder was auch immer ferngesteuert. Nass: „Alles erlogen.“ Er machte deutlich, an diesem 2. und 3. September 1969 habe es keinerlei parteipolitischen Aktivitäten gegeben. „Es waren die normale Kumpel, die Vertrauensleute, die aus eigenem Antrieb handelten.

Solidarität von den anderen Werken in Dortmund: 20 000 Menschen trafen sich am Wall!

All dies habe sich mittags am 2. September abgespielt. Studenten hätten versucht die Macht zu übernehmen. Die Stahlarbeiter rochen jedoch Lunte und ließen sich nicht missbrauchen.

Die Westfalenhütte stand alleine da. Die beiden anderen Werke in Dortmund sollten davon abgehalten werden sich zu solidarisieren. Die Mittagsschicht der Westfalenhütte führte den Streik weiter. Bei Union und bei Phoenix ließ nun ebenfalls die Nachtschicht die Arbeit ruhen. Der Betriebsrat forderte die Arbeiter auf die Arbeit wieder aufzunehmen

. „Ein ganz gefährliche Sache“, merkte Werner Nass an: „Uneinigkeit auf der Arbeitnehmerseite.“ Der Vorstand war dennoch nicht bereit zu verhandeln. Man glaubte – auch weil die IG Metall außen vor – die Sache liefe sich tot.

Am Hoesch-Museum. Foto: Stille

Am zweiten Tag des Streiks, dem 3. September, kam von den beiden anderen Werken in Dortmund das Signal an die Arbeiter der Westfalenhütte: Wir kommen zu euch.

Die Arbeiter von der Westfalenhütten kamen ihnen entgegen. Werner Nass: „Dieses Bild habe ich immer noch im Kopf. Das war der erste Kampf mit zwanzigtausend, die sich in der Stadt getroffen haben. Da war auch der kleine Krämer dabei, der ja auch Sorgen hatte, wenn das schief geht.“

Zwanzigtausend Menschen trafen sich am Wall.

„Es war eine Stimmung, getragen von der Kraft, die von unten kam“, erinnerte sich Nass. Doch keiner habe gewusst wie und wo es enden werde.

Sieg! „So ein Tag so wunderschön wie heute“

Gegen elf Uhr an diesem Tag war der Vorstand wieder bereit, die Verhandlungen aufzunehmen.

Wohl um zwanzig vor eins sei es gewesen, das Vorstand und Betriebsräte verkündet habe, die 30 Pfennig werden bezahlt, die Ausfallzeiten vergütet und es wird in keiner Form Abmahnungen geben.

Nass: „Unterm Strich ein unglaublicher Erfolg. Praktisch gegen die Gewerkschaft. Der Betriebsrat war stellenweise außen vor.“ Zum Schluss sei das Lied „So ein Tag so wunderschön wie heute.“ Noch am selben Tag wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Für ihn als junger Gewerkschafter, sagte Werner Nass, sei das ein Schlüsselerlebnis gewesen.

Er gab auch zu bedenken, dass man nach diesem unglaublichen Erfolg in nachfolgenden Arbeitskämpfen auch habe Niederlagen einstecken müssen. Erfolge setzten sich nicht einfach fort.

Werner Nass gab darüber hinaus zu bedenken, wenn man in einen Streik gehe, muss man auch sehen, wo eine Tür ist wo man wieder zurückkann. Auf der Gewerkschaftsschule habe man gelernt quer zu denken. Und entsprechendes Rüstzeug dafür erhalten, das Wirtschaftssystem zu begreifen. Mit den 69er Tagen habe ein neues Denken eingesetzt.

Die Septemberstreiks waren eine Initialzündung

Dr. Wilfried Kruse schätzte ein, dass der Septemberstreik auf der Westfalenhütte eine Initialzündung war, der fast die gesamte westdeutsche Stahlindustrie und 150 000 Stahlarbeiter erfasste. 30 000 Beschäftigte hatte sich in Dortmund am Septemberstreik in der Stahlindustrie und bis zu achttausend im Bergbau beteiligt.

Der Streik im Bergbau war ein Misserfolg

Im Bergbau indes sei die Streiksituation anders und viel schwieriger gewesen, erklärte Wilfried Kruse. Dort sei es um Arbeitskleidung und mehr Urlaub

Eingang ehemalige Zeche Minister Stein. Foto: via Geschichtsverein Eving.

gegangen. Die Vorstände im Bergbau hätten Verhandlungen abgelehnt. Die IG Bergbau und Energie war nicht nur wie im Stahlbereich die IG Metall außen vor, überrumpelt und nicht handlungsfähig, sondern massiv gegen diesen Streik eingestellt gewesen. Streikführer im Bergbau wurden von ihrer Gewerkschaft hart angegriffen.

Der Streik im Bergbau brach aus diesen Gründen zusammen und war ein Misserfolg.

Wolfgang Skorvanek sieht bei allen Unterschiedlichkeiten Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks und der Klimaschutzbewegung

In der Einladung zur Veranstaltung war vermerkt: „Bei allen Unterschiedlichkeiten meint Wolfgang Skorvanek, ebenfalls stellvertretender Vorsitzender des Evinger Geschichtsvereins, gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks von 1969 und der heutigen Klimaschutzbewegung um Greta Thunberg. Skorvanek: „Damals wie heute entstand eine spontane Aktion junger Menschen, die ohne Rücksicht auf Sanktionen neue Ansprüche formulierten, bevor sie von Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften zunächst erkannt wurden.“

Fazit von Dr. Kruse

„Die Septemberstreiks waren der Höhepunkt, wo Arbeiter sichtbar wurden, aber gleichzeitig der Beginn vom Ende des Malochers. Des Malochers als schwer arbeitenden Bergarbeiter oder Stahlarbeiter.“

So könne man die Septemberstreiks als Höhepunkt und Abgesang des Malochers markieren.

Ein Kurzfilm zum Septemberstreik:

Gastbeitrag von Dr. Rolf Geffken: Trotz Putin? Russisches Arbeitsrecht scheut keinen Vergleich

Erste Ergebnisse eines Forschungsaufenthalts in Kaliningrad (von Dr. Rolf Geffken):

Die hiesige mediale Berichterstattung zu Rußland ist voller Vorurteile und Pauschalierungen. Schon das Wort „Putin“ löst bei den meisten Menschen negative Assoziationen aus. Wir wollen zum Abbau solcher Vorurteile beitragen. Der Autor des Buches „Umgang mit dem Arbeitsrecht“ Dr. Rolf Geffken, fasst im Folgenden die wesentlichen Ergebnisse eines soeben durchgeführten Forschungsaufenthaltes in Russland zum aktuellen russischen Arbeitsrecht (auch unter Berücksichtigung früherer Forschungsaufenthalte in China und den Philippinen) zusammen und hebt die Bedeutung von Rechtsvergleichen für den Rechtsfortschritt im Interesse der Arbeitnehmer hervor. In einem gesonderten Bericht wird er auf seine durchweg positiven menschlichen Erfahrungen bei seinem Besuch in Kaliningrad eingehen und dabei insbesondere die Forderung nach einer Wiederaufnahme der Eisenbahnverbindung von Berlin nach Kaliningrad, erheben.

Hierzulande haben sich die meisten Zeitgenossen an alle möglichen oder fast unmöglichen neoliberalen Deformationen des Arbeitsrechts gewöhnt. Ob es um die Reduzierung des Kündigungsschutzes, die Existenz der Leiharbeit, um die weitreichenden Möglichkeiten zur Versetzung eines Arbeitnehmers oder um die Anordnung von Überstunden geht: Die meisten haben sich an das „geltende Recht“ gewöhnt und ihre Berater und Prozessvertreter tun ein Übriges, um weiteren (politischen) Erkenntnisgewinn aus diesem Mangel zu vermeiden: „Das ist halt so. Da kann man nichts machen. Das ist Gesetz“. In dieser Situation ist es für jeden, der bereit ist, über den Tellerrand zu schauen, von Interesse, die jeweilige Rechtslage in einem anderen Land kennenzulernen. Rechtsvergleiche offenbaren schnell: Nichts ist in Stein gemeißelt. Nichts ist selbstverständlich. Nichts ist „gottgewollt“ so und nicht anders. Solche Erkenntnisse gewinnt man nicht nur, wenn man die Rechtslage in Deutschland mit der Lage etwa in Belgien oder Frankreich vergleicht sondern vor allem auch dann, wenn man sich quasi exotische Rechtsordnungen heraussucht, so zum Beispiel das Arbeitsrecht in Russland. Hier einige Beispiele, die dem Autor erst jünst wieder bei einem Besuch in Rußland begegneten:

1. Kündigungen sind in Russland nur unter den im Gesetz klar genannten Voraussetzungen möglich. Eine Kleinbetriebsklausel, die unbegrenzt Kündigungen für kleinere Betriebe ermöglicht, gibt es ebenso wenig wie Namenslisten, die die Entlassung von Beschäftigten pauschal erleichtern.

2. Versetzungen sind praktisch nur mit Zustimmung der Betroffenen möglich, während sie in Deutschland im Rahmen des Direktionsrechts des Arbeitgebers fast unbegrenzt möglich sind (es sei denn ein Betriebsrat verweigert die Zustimmung).

3. Auch Befristungen sind nach dem russischen Arbeitsrecht fast nur mit Zustimmung der Beschäftigten möglich. Zulässig sind sie nur in Ausnahmefällen, während in Deutschland in den letzten 40 Jahren zum einen die sog. Sachgründe für die Befristung erheblich erweitert wurden und sogar die sachgrundlose Befristung erleichtert wurde. Auch befristete Arbeitsverhältnisse müssen gekündigt werden. In Deutschland laufen Sie einfach aus.

4. Die Arbeitszeit ist einheitlich auf 40 Std wöchentlich festgelegt (Art. 91 Russ ArbGB). Es gibt einige wenige branchenbezogene Ausnahmen. Arbeitszeitkonten sind unbekannt. Überstunden können nur in gesetzlich vorgeschriebenen Ausnahmefällen angeordnet werden. Zudem sind sie stets mit dem 1,5 fachen des Normallohns zu vergüten, während es in Deutschland neben tarifvertraglichen Zuschlägen gesetzliche Zuschläge nur bei der Nachtarbeit, nicht aber bei einfachen Überstunden gibt.

5.“Freie Dienstverträge“ werden im Falle der Eingliederung der Betroffenen in den Betrieb unter geringen Voraussetzungen in Arbeitsverträge umgedeutet, so dass es zu einer erleichterten Anwendung des Arbeitsrechts kommt und zur Verhinderung von Scheinselbständigkeit.

6. Im ganzen russischen Arbeitsrecht – und nicht nur wie in Deutschland im Verhältnis zu Tarifverträgen – gilt das Günstigkeitsprinzip. Eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung g i l t, egal in welchem Bereich.

7. Das Gesetz verpflichtet den Arbeitgeber dem Arbeitnehmer spätestens drei Tage nach Arbeitsaufnahme einen schriftlichen Arbeitsvertrag auszustellen. Eine ähnliche Regelung gibt es in Deutschland zwar mit dem Nachweisgesetz. Hier muss aber der Arbeitnehmer initiativ werden, was er oft unterlässt und weder der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung haben in Deutschland bislang eine Beweislastumkehr für den Arbeitnehmer geschaffen.

8. Die Gewerkschaften haben ein Initiativrecht im Rahmen der Gesetzgebung und können im nationalen Parlament wie auch in den Parlamenten der Regionen eigene Gesetzesvorschläge einbringen. Ein in Deutschland absolut unbekanntes Recht.

9. Es gibt zwar keine Betriebsräte, die Rechte der Gewerkschaften im Betrieb gehen aber wesentlich weiter als in Deutschland. So haben die Gewerkschaften eine öffentlichrechtliche Kontrollbefugnisse in Bezug auf zahlreiche Betriebsinterna, wie zum Beispiel auch in Bezug auf die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen. Den Vollzug dieses Informationsrechts können Sie selbst durchsetzen, was in Deutschland dem Betriebsrat verwehrt ist (in Deutschland müsste der Betriebsrat sein Informationsrecht mühsam über das Arbeitsgericht durchsetzen).

10. Schließlich und letztlich wird das gesamte Arbeitsrecht von staatlichen Arbeitsbehörden überwacht. In Deutschland gibt es allenfalls Ämter zur Kontrolle der Arbeitssicherheit und den Zoll zur Kontrolle des Mindestlohnes. Eine allgemeine Arbeitsinspektion wie etwa auch in Frankreich gibt es n i c h t. Anmerkung: Natürlich wäre es in Deutschland auch nicht denkbar, dass etwa die staatliche Arbeitsinspektion eigene Räume im örtlichen Gewerkschaftshaus (!) gemietet hat (wie der Autor bei seinem Besuch in Kaliningrad Anfang August 2019 feststellen konnte).

 

Natürlich kommt nun der Einwand: „Ja, aber wie sieht die Realität aus ?“ Ja, wie sieht die Realität aus ? Wie sieht sie in Deutschland aus ? Es wäre ja nicht verwunderlich, wenn das deutsche Arbeitsrecht angesichts einer vielfältigen neoliberalen Zerstörung wenigstens 1:1 vollzogen wäre. Zu viel verlangt wäre es sicher n i c h t. Aber weit gefehlt: Auch das arbeitgeberfreundliche deutsche Arbeitsrecht ist schlecht und mangelhaft vollzogen. Nehmen wir nur das Betriebsverfassungsgesetz, das für alle Betriebe von Beschäftigten gilt, aber tatsächlich nur in maximal 40 % der betriebsratsfähigen Betriebe vollzogen ist. Schon deshalb ist der o.g. Einwand mit der angeblich „anderen Wirklichkeit“ falsch und irreführend. Er ist meist nur dem Vorurteil geschuldet, dass man sich „das alles nicht vorstellen“ könne oder „nicht glaube“. Das mag sein und verwundert den Autor wenig, ist aber weder ein wissenschaftlicher noch ein politischer Einwand. Es geht deshalb auch tatsächlich um etwas anderes:

* Das Arbeitsrecht ist (nicht nur sein Vollzug) Ergebnis eines bestimmten Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital u n d zwischen den Gewerkschaften und dem jeweiligen Staat. Es drückt also unabhängig von seiner Wirksamkeit sehr viel zum Beispiel über die Stärke der Gewerkschaften zum Zeitpunkt seines Zustandekommens aus. So besteht etwa nach deutschem Arbeitsrecht k e i n Grundsatz, dass Arbeitsrechte „im Zweifel“ immer zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Wohl aber exisitiert dieser nach dem philippinischen Arbeitsrecht. Die Vorsitzende der Verfassungskommission, die diesen Grundsatz festlegte, war eine Krankenschwester, die dort im Namen der Gewerkschaften dieses Prinzip im Nachgang zur sog. Aquino-Revolution verfocht. Das Recht war also unmittelbar Ergebnis einer politischen Revolution. Als die Koalitionsfreiheit im Grundgesetz in Deutschland verankert wurde, waren die Gewerkschaften noch eine schlagkräftige und kampffähige Massenorganisation. Umgekehrt: Das Arbeitsrecht von Hongkong spiegelt heute noch den neokolonialen Geist des englischen Zivilrechts und die Schwäche der Hongkonger Gewerkschaften wieder3. Trotz einer angeblichen „Demokratiebewegung“ spiegelt sich in ihm k e i n Kampf um bessere Arbeitsbedingungen wieder.

* Ein „nicht vollzogenes Arbeitsrecht“ drängt auf Umsetzung. Nicht etwa bloss begrifflich oder aufgrund irgendeines geheimen juristischen Automatismus sondern weil Arbeitnehmer ihre Rechte meist nicht einfach freiwillig aufgeben sondern ihre Durchsetzung verlangen. Als die chinesische Regierung nach langer öffentlicher Diskussion mehr Arbeitnehmerrechte im neuen Arbeitsvertragsgesetz von 2008 verankern ließ, hoffte sie, damit die umfangreiche Streikbewegung im Lande eindämmen zu können. Doch es kam anders: Da die staatlichen Kontrollbehörden gegen die Verletzungen der arbeitsrechtlichen Bestimmungen durch Arbeitgeber nicht konsequent genug einschritten, nahmen die Arbeiter ihre Rechte s e l b s t in die Hand und riefen Streiks aus, gerade u m ihr Recht durchzusetzen. Das nicht vollzogene Arbeitsrecht erwies sich also gerade als Motor des kollektiven Kampfes um bessere Arbeitsbedingungen und nicht etwa als deren Ersatz. Auch dies zeigt, dass es für irgendeine Art der Relativierung eines ungewöhnlichen Arbeitsrechts angesichts einer „anderen Realität“ keinen Grund gibt. Im Gegenteil: Jeder Rechtsfortschritt bringt die Arbeiterklasse weiter, egal ob in Russland, in China, in Belgien oder in Philippinen. Man muss aber diese Rechtsfortschritte zur Kenntnis nehmen und weiter verbreiten, gerade in einem Land wie Deutschland, in dem inzwischen nahezu jeder Rechtsfortschritt vom Mantel des Neoliberalismus zugedeckt wurde. Offensichtlich aus eben diesem Grund warnte auch die Unternehmensberatung Rödl und Partner davor, dass das Arbeitsrecht Russlands „immer noch z u formal“ und zu wenig flexibel sei, während die Europäische Handelskammer in die Debatte über das chinesische Arbeitsvertragsgesetz 2008 durch eine Intervention im Nationalen Volkskongress sich gegen angeblich zu hohe Abfindungszahlungen der Arbeitgeber im Falle von Kündigungen wehrte…

Man sieht also: Auch die Kapitalseite ist sich der „Gefahr“ eines eher an den Interessen der Beschäftigten orientierten Arbeitsrechts sehr wohl bewusst und zwar gänzlich unabhängig von der Frage, inwieweit es jeweils vollzogen und durchgesetzt ist. Deshalb ist die Relativierung weiterreichender Regelungen in anderen nationalen Rechtsordnungen töricht, unpolitisch und letztlich undialektisch. Gewerkschaften, Betroffene, Betriebsräte und Rechtsvertreter sollten sie vielmehr für ihren eigenen Kampf und ihre eigene Interessenvertretung nutzen.

 

Dr. Rolf Geffken 15.8.2019

Anmerkung Claus Stille: Mein Dank gilt Herrn Dr. Rolf Geffken für die freundliche Überlassung seines auf Rat&Tat veröffentlichten Textes.

 

Für Interessierte das ergänzende Video bei youtube. Dort kann man den Kanal des Verfassers übrigens kostenlos abbonnieren:

 

Textilfabrikbrand in Karatschi mit 285 Toten 2012: „Week of Justice“ – Symposium, Filmvorführung und Diskussion in Bochum und Dortmund

Erinnern Sie sich noch an den furchtbaren Fabrikbrand in einer pakistanischen Textilfabrik im Jahre 2012?

Logo via medico international.

Die Organisation medico international informiert:

Fighting Factory Disasters in South Asia

„258 Tote, Dutzende Verletze – das ist die furchtbare Bilanz des Fabrikbrands bei Ali Enterprises im September 2012 in Karatschi, Pakistan. Hauptkunde der Fabrik war das deutsche Textilunternehmen KiK. Nur drei Wochen vor dem Brand hatte der italienische Prüfdienstleister RINA die Fabrik mit einem internationalen Gütesiegel für Sicherheitsstandards zertifiziert.

Vier Betroffene des Fabrikbrands sind gegen KiK vor Gericht gezogen – vor das Landgericht Dortmund, auf Initiative des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und mit Unterstützung von medico international. Das Verfahren soll klar machen: Transnationale Unternehmen aus dem Globalen Norden sind auch für die Arbeitsbedingungen in ihren Tochter- und Zulieferbetrieben im Globalen Süden verantwortlich. Am 29. November wird das Landgericht den Fall erstmals mündlich verhandeln.

Am Tag vor der Anhörung diskutieren Aktivist_innen, Jurist_innen und Wissenschaftler_innen an der Ruhr-Universität Bochum über Möglichkeiten, tagtägliche Ausbeutung in Lieferketten und Ereignisse wie den Fabrikbrand in Karatschi zu verhindern. Wie sieht die zukünftige Organisierung der Gewerkschaften im weltweiten Kampf gegen die miserablen Zustände in der Textilbranche aus? Wie kann das Recht der Externalisierung der sozial und ökologisch problematischen Voraussetzungen und Konsequenzen der Produktion etwas entgegen setzen? Wie können Verbraucherkampagnen Druck auf Unternehmen ausüben? Und welche Rolle spielen Gütesiegel oder Zertifizierungen dabei, die aktuellen Verhältnisse zu zementieren?

Die Fachkonferenz beschäftigt sich sowohl mit dem Einzelfall des Brandes bei Ali Enterprises in Pakistan als auch mit der Gesamtsituation der Arbeitsbedingungen in Lieferketten in Südasien.

Die Veranstaltung findet auf Deutsch und Englisch statt. Eine vorherige Anmeldung ist nicht notwendig.

Programm

13:30 – 13:45 Uhr:
Eröffnung
Prof. Dr. Tobias Singelnstein (Universität Bochum), Dr. Carolijn Terwindt (ECCHR), Dr. Thomas Seibert (medico international)

13:45 – 14:45 Uhr:
Diskussion I Building a Global Third Stand
Nasir Mansoor, stellv. Generalsekretär, NTUF
Dr. Thomas Seibert, Menschenrechtsreferent, medico international
Moderation: Frederike Boll, Friedrich-Ebert-Stiftung

14:45 – 15:45 Uhr:
Diskussion II Opportunities and Limits of the Law
Faisal Siddiqi, Rechtsanwalt
Dr. Miriam Saage-Maaß, Leiterin des Programmbereichs Wirtschaft und Menschenrechte, ECCHR
Moderation: Prof. Dr. Markus Kaltenborn, Ruhr-Universität Bochum

15:45 – 16:00 Uhr:
Pause

16:00 – 17:00 Uhr:
Diskussion III Verbraucherkampagnen, Verhandlungen und Entschädigungen
Christie Miedema, Kampagnenkoordinatorin, Clean Clothes Campaign
Caspar Dohmen, Wirtschaftsjournalist
Moderation: Dr. Carolijn Terwindt

17:00 – 17:30 Uhr:
Abschluss Offene Diskussion mit dem Publikum (D/EN)
Moderation: Dr. Carolijn Terwindt

Im Anschluss am gleichen Tag Filmvorführung und Diskussion: Zum Verfahren wegen eines Fabrikbrands in Pakistan bei einem KiK-Zulieferer im Schauspiel Dortmund

Eingangsportal des Schauspielhauses Dortmund; Foto: Stille

Am Tag vor der Anhörung stellt eine der Kläger_innen aus Pakistan den Fall im Schauspiel Dortmund vor. Ein knapp 20-minütiges Video, das dem Gericht als Beweismittel vorliegt, rekonstruiert anhand von Fotos, Filmen und Zeug_innenaussagen die Brandschutzmängel und Ereignisse der Brandnacht. Die Jurist_innen des ECCHR und der Anwalt der Kläger_innen erläutern den rechtlichen Rahmen des KiK-Verfahrens. Das Publikum ist im Anschluss eingeladen, mit allen Beteiligten zu diskutieren.

Saeeda Khatoon, verlor ihren einzigen Sohn bei dem Fabrikbrand in Karatschi und ist eine der vier Kläger_innen im Verfahren gegen KiK

Nasir Mansoor, stellvertretender Generalsekretär der Gewerkschaft NTUF aus Pakistan, arbeitet zusammen mit der Selbstorganisation der Betroffenen des Fabrikbrands

Miriam Saage-Maaß, ECCHR, erarbeitete mit den Betroffenen die Zivilklage gegen KiK

Remo Klinger, Rechtsanwalt aus Berlin, der die Kläger_innen gegen KiK vor Gericht vertritt

Thomas Seibert, Menschenrechtsreferent von medico international, das die Klage von Beginn an unterstützt

Es moderiert: Carolijn Terwindt, ECCHR

Die Veranstaltung findet auf Deutsch und Englisch statt und wird simultan übersetzt. Der Eintritt ist frei. Es wird jedoch um eine Kartenreservierung über das Schauspiel Dortmund: schauspiel@theaterdo.de gebeten. Ab 20 Uhr ist ein Lifestream via http://www.facebook.com/schauspieldortmund von der Veranstaltung geplant.

Blackbox „Menschenrechte vor Profit

28.11.2018 Dortmund

20:00 Uhr
Schauspiel Dortmund
Studio
Theaterkarree 1-3
44137 Dortmund

Hinweis: Die Gerichtsverhandlung am 29. November 2018 am Landgericht Dortmund (Kaiserstraße 34) ist öffenlich und beginnt um 12 Uhr.

Das Beitragsfoto (via medico internationa) zeigt Saeeda Khatoon, die bei dem Fabrikbrand ihren einzigen Sohn verlor.

Kampf für den Kohleausstieg: „Der Hambacher Wald, der Kohleausstieg und die Rolle von RWE in unserer Region“ – Dirk Jansen referierte in Dortmund

Dirk Jansen (links) mit Eckhard Althaus (rechts).

An die Räumung des Hambacher Waldes, das teilweise äußerst brutale Vorgehen der Polizei dabei, sowie an die Proteste dagegen, die auf deren Höhepunkt 50.000 Menschen, die sich vor Ort zu einer Demonstration trafen, zusammenbrachte, dürften wir uns alle noch erinnern.

Auch daran, dass dabei ein Mensch ums Leben kam, müssen wir denken. Seit dem Beginn der Räumung im Hambacher Wald durch die Polizei, ist eine Massenbewegung entstanden.

Der BUND-NRW bekämpft seit Jahrzehnten die Braunkohlenutzung im Rheinischen Revier. Er ist damit schon sehr viele Jahre intensiv beschäftigt. Ihm gehört auch am Abbaugebiet Hambach ein Grundstück, dass vor Jahren erworben wurde. Inzwischen ist der BUND zugunsten von RWE enteignet worden. Eine juristische Auseinandersetzung läuft noch.

Die besondere Verbindung von Dortmund zu RWE

In den Räumlichkeiten der Auslandsgesellschaft NRW e.V. in Dortmund fand am vergangenen Montag eine interessante Veranstaltung unter dem Titel „Der Hambacher Wald, der Kohleausstieg und die Rolle von RWE in unserer Region“ statt.

Für Attac Dortmund erklärte eingangs dieser Veranstaltung Eckhard Althaus warum Dortmund eine doppelt Verbindung mit RWE bzw. Innogy hat. Diese habe zwei Seiten, einmal DSW21 (Dortmunder Stadtwerke), 23,6 Millionen RWE-Aktien halten und damit der größte kommunale Einzelaktionär von RWE. Das Bündnis „RWE-Kommunal“ fordere bereits seit Jahren, dass diese RWE-Aktien verkauft werden. Die zweite Verbindung ist der Dortmunder Kommunalversorger DEW21 (Dortmund Energie und Wasser) der zu knapp 40 Prozent im Eigentum von ehemals RWE – inzwischen Innogy – ist. Man wolle, so Althaus, dass diese Verbindung gelöst wird und DEW21 ein rein kommunaler Energieversorger wird. In einem offenen Brief, so informierte Eckhard Althaus, an den OB und die Mitglieder der demokratischen Ratsfraktionen hätten die im Bündnis vertretenen acht Organisationen gefordert, die RWE-Aktien zu verkaufen und DEW21 vollständig in kommunale Hand zu überführen. Überdies empfehle man den Kunden von DEW21 dringend zu einem reinen Ökostromanbieter zu wechseln.

Vision des BUND: Ein zukunftsfähiges Land in einer zukunftsfähigen und friedfertigen Welt

Voller Saal in der Auslandsgesellschaft Dortmund.

Als Referent konnte Attac abermals einen kompetenten Referenten, nämlich Dirk Jansen (sh. hier), Geschäftsleiter (seit fast drei Jahrzehnten hauptamtlich) des BUND-NRW (gegründet 1976), gewinnen. Der BUND, darauf verwies Jansen nicht ohne Stolz, mit über 600.000 Mitgliedern und UnterstützerInnen der größten Natur- und Umweltschutzbund – worauf er Wert lege – Deutschlands.

Gerade bei der Thema Hambacher Wald komme das zum Tragen. Da es hier um Biodiversität und Erhaltung der Lebensgrundlagen, sowie Umwelt- und Klimaschutz gehe. Dem BUND geht es um explizit die treibende gesellschaftliche Kraft zu sein, welche für eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Jansen: „Unsere Vision ist die eines zukunftsfähigen Landes in einer zukunftsfähigen und friedfertigen Welt.“

Jahrzehntelanger Kampf gegen die Braunkohlenutzung

Dirk Jansen bekämpft seit Jahrzehnten die Braunkohlenutzung im Rheinischen Revier. Dabei gehört Jansen zu den Menschen, die in diesem Kampf an vorderster Front stehen. Er ist auch maßgeblich an den verschiedenen Facetten der juristischen Seite des Kampfes unmittelbar beteiligt. Waldbesetzungen gehören jedoch nicht zu diesem Kampf. Im Verlaufe des Abends berichtete Jansen über die verschiedene Aspekte dieses Kampfes. Dirk Jansen machte klar, dass es dabei keineswegs „nur“ um den Wald, sondern auch um Klimaschutz und die dringende Notwendigkeit, die CO2-Emissionen schnell und drastisch zu reduzieren, gehe. Um den erforderlichen Kohleausstieg erreichen zu können, brauche es entsprechend großen, weiteren Druck auf die politischen Entscheidungsträger.

Großartiger juristischer Erfolg am 5. Oktober 2018: Rodungsstopp im Hambacher Wald

Dirk Jansen erinnerte, dass BUND-NRW am 5. Oktober einen juristischen Erfolg eingefahren habe: Die weitere Rodung des Hambacher Waldes wurde gerichtlich untersagt. Das Bedauern, dass – da machte Jansen aus seinem Herzen keine Mördergrube – der Aktienkurs der RWE AG darauf um danach um fünfzehn Prozent eingebrochen ist, hielt sich bei ihm verständlicherweise in Grenzen. Auch die Stadt Dortmund als Anteilseigner dürfte in diesem Jahr vielleicht dem entsprechend weniger Dividende einfahren.

Höchste Eisenbahn ins Sachen Klimaschutz

Dass es in Sachen Kohleausstieg und nicht zuletzt Klimaschutz höchste Eisenbahn ist, machte Dirk Jansen deutlich, indem er auf die jüngsten Wetterereignisse hierzulande (Hitzesommer, geringer Niederschlag, Niedrigwasser des Rheins) wie nicht zuletzt in Kalifornien (verheerende Waldbrände) hinwies. Die Klimaerwärmung – auch wenn die nicht kontinuierlich voranschreite – sei einfach nicht mehr wegzudiskutieren. Das Pariser Übereinkommen (von der BRD unterschrieben) mit dem langfristigen (völkerrechtlich verbindlich) Ziel, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C gegenüber vorindustriellen Werten zu begrenzen das Ziel, bzw. den Temperaturanstieg nach Möglichkeit auf 1,5 °C (in NRW, so Jansen, längst überschritten) zu begrenzen, da dies die Risiken und Folgen des Klimawandels deutlich vermindern würde; sei unbedingt in Angriff zu nehmen. Dirk Jansen: „Alles was darüber hinausgeht wir wirklich zu wahnsinnigen Disruptionen führen, zu Naturkatastrophen über Flüchtlingsbewegungen bis zum wirtschaftlichen Breakdown.“

Deutschlands hohe Verantwortung für die Senkung der CO2-Emissionen

Dennoch sei es traurige Realität, dass sowohl die globalen Emissionen als auch die Erdtemperatur weiter steigen. Allein das Festhalten an der Kohle als dem klimaschädlichsten fossilen Brennstoff (Braunkohle ist dabei noch schmutziger als Steinkohle) könne die in Paris verabschiedete Zielerreichung

Dirk Jansen, Geschäftsleiter BUND-NRW. Fotos: Claus Stille

verhindern, warnte der Referent. Deutschland, erfuhren wir, ist weltweit einer der größten Akteure in Sachen Kohleverstromung. Wir liegen bezüglich der Kraftwerkskapazitäten an vierter Stelle. Europaweit verzeichne man in der BRD die höchsten CO2-Emissionen aus dem Kohlebereich, informierte Jansen. Daraus leite sich auch eine hohe Verantwortung Deutschlands ab. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeit schnellsteuernd einzugreifen – alles Alternativen seien vorhanden – und entsprechende Maßnahmen zur Klimaverbesserung in die Tat umzusetzen, zeigte sich der Geschäftsleiter den BUND-NRW sicher.

Dirk Jansen: „Etwa ein Drittel der Treibhausabgase der Bundesrepublik bekommen wir aus Nordrhein-Westfalen.“

Traurig für Deutschland, so Jansens Mitteilung: Wir seien hier dabei „die selbst gesteckten Klimaschutzziele krachend zu verfehlen“. Was vor allem an der „tragenden Rolle Nordrhein-Westfalens“ liege. Dirk Jansen: „Etwa ein Drittel der Treibhausabgase der Bundesrepublik bekommen wir aus Nordrhein-Westfalen.“ Wenn NRW am Klimaschutz scheitere, dann scheitere auch Deutschland, erklärte der Referent vor vollem Saal in Dortmund. Und wenn die BRD als wichtiger Player in Europa scheitert, dann drohe freilich auch die ganze Energiewende vor die Wand gefahren zu werden.

Das liege vor allen Dingen am enormen Einfluss der Energiewirtschaft. Leider, bedauerte Jansen, würden auch in NRW unter Schwarz-Gelb die Erneuerbaren Energien ausgebremst. Etwa sollten die Abstände von Windenergieanlagen künftig 1500 Meter betragen. Dagegen dürften Tagebaue heute bis zu hundert Meter an Wohnbebauungen herangeführt werden.

DIW: Klimaziele nur durch schnellen Ausstieg aus der Braunkohle zu erreichen

Etwa zehn Prozent des in der BRD erzeugten Stroms werde, so Jansen, übrigens exportiert.

Das DIW hat verschieden Szenarien berechnet. Die Klimaziele seien nur erreichbar durch einen forcierten Ausstieg aus Kohleverstromung. Den schnellen Ausstieg aus der Braunkohle halte das DIW für alternativlos. Es zeige auch auf, dass die Versorgungssicherheit in Deutschland nicht gefährdet sein würde, es also nicht duster hier wird. Wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt werden: Ausbau der Erneuerbaren Energie muss forciert und perspektivisch Speicherkapazitäten geschaffen werden. Das DIW habe einen klimaschutzkompatiblen Braunkohleausstiegspfad errechnet und käme da auf Restmengen, die wir dann noch hätten, um die Klimaschutzziele nicht zu gefährden, von etwa 150 Millionen Tonnen im Tagebau Garzweiler und von 230 Millionen Tonnen im Tagebau Hambach, was hieße, dass dort keine einziger Baum mehr gefällt werden müsste und dürfte.

Vom Ökoinstitut hat sich der BUND (den Tagebau Hambach betreffend) ausrechnen lassen wie viel Restkohlemengen Braunkohle „wir uns noch erlauben können“ ohne das 1,5 Grad-Ziel von Paris zu verfehlen. Demnach müssten für die ganz schnelle Variante des Ausstiegst 94 Prozent, für die langsamere Variante 88 Prozent der noch vorhandenen Braunkohle im Boden verbleiben. In Hambach dürften dann nur noch zwischen 78 und 162 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden.

Ende November soll das Ergebnis der Kohlekommission vorliegen

Die Bundesregierung habe sich nicht getraut in Sachen Klimaschutz Rahmenbedingungen festzulegen. Deshalb habe man die sogenannten Kohlekommission (dazu hier mehr) einrichten lassen. Sie solle möglichst Maßnahmen festlegen zum Erreichen des 2020er Klimaschutzziels (40 Prozent CO2-Reduktion) und festlegen wie das 2030er Klimaschutzziel erreicht werden kann. Darüber hinaus soll die Kommission ein Kohleausstiegsdatum festlegen. Ende November soll das Ergebnis der Kohlekommission vorliegen.

Warum der Hambacher Wald für den BUND so wichtig ist

Jansen betonte, man spreche absichtlich nicht von einem Forst, sondern von einem Wald. Eben keiner intensiv genutzte Baumplantage, sondern von einem extensiv überwiegend in der Vergangenheit bewirtschaftetem Wald, welcher vor etwa 12.000 Jahren entstanden ist. Der Hambacher Wald, ein „Dauerwald mit einem enormen Artenreichtum, erfülle alle Kriterien der europäischen Fauna-und-Flora-Habitatrichtlinie. Hundert Vogelarten seien dort heimisch. Es gibt dort zehn Fledermausarten. Bekannt geworden sein dürfte das Vorhandensein der größten Kolonien der sehr seltenen, aber inzwischen einigen Bekanntsheitsgrad erreichten Bechsteinfledermaus. Dirk Jensen merkte nebenbei aber bemerkenswert an: Die einstige rot-grüne NRW-Landesregierung habe es seinerzeit unterlassen den Hambacher Wald als Habitat auszuweisen: „Die Verantwortliche hieß damals Barbara Höhn.“

Klagen gegen Tagebauerweiterung schon 1996

Diese Arten zu erhalten und gegen die Tagebauerweiterung klage man als BUND bereits seit 1996.

Der Bergrecht in Deutschland sei sehr kompliziert und so ausgerichtet und gibt den Betroffenen so gut wie keine Chance. Betriebspläne für Tagebaue wurden von RWE mit Bergbehörde in Arnsberg quasi intern ausgemacht, völlig ohne Beteiligung der Öffentlichkeit. Durch das Vorhandensein der europäischen Öffentlichkeitsbeteilungsrichtlinien habe sich das Recht aber positiv weiter entwickelt.

Es könne nicht angehen, so Jansen, dass bestimmte Entscheidungen inzwischen in Deutschland nur noch von Gerichten anstelle der Bundesregierung getroffen würden. Siehe Fahrverbote wegen schmutziger Diesel. Die Landesregierung verweigere sich dem Gesundheitsschutz.

RWE verbreite Fakenews. Statt behaupteten 200 Hektar Wald existierten nämlich von 500 Hektar. Der CEO von RWE wiederhole dies allerdings inzwischen nicht mehr, denn es ist widerlegt.

Das Argument der Bechsteinfledermaus ist ein starkes Schwert

Das Argument der Bechsteinfledermaus sei ein starkes Schwert, um das Ziel der Tagebauschließung zu erreichen. Die Klimaschutzziel könnten im Bergrecht nämlich nicht eingeklagt werden. Im Übrigen habe RWE auf Vorrat Wald gerodet. Das Argument des RWE-CEOs, es drohe sonst ein Stillstand bei den Kraftwerken sei ebenso unter Fakenews abzubuchen.

Jansen: „Also haben Sie ein Herz für unsere Bechsteinfledermaus.“

Beeindruckende Demo am 6. Oktber 2018. Weitere große Kundgebungen nötig

Dirk Jansen war Versammlungsleiter am 6. Oktober bei der großen Demonstration am 6. Oktober im Hambacher Wald: „Ich muss Ihnen sagen, so was habe ich wirklich noch nicht erlebt. Beeindruckend, das 50.000 Menschen friedlich, gewaltfrei, fröhlich, den Rodungsstopp, den wir ein Tag zuvor erreicht hatten dann gefeiert haben. Solche großen Proteste bräuchten wir bald wieder, so Jansen.

Fragwürdiges Agieren von IGBCE und RWE. Mögliche AfD-Nähe vieler RWE-Beschäftigten

Die Gewerkschaften, erzählte Dirk Jansen, seien über Jahrzehnte immer ruhig gestellt worden: RWE hab stets gute Löhne und Lohnzusatzleistungen gezahlt. „So langsam bröselt das so ein bisschen weg.“ Denn die ganzen Privilegien seien allmählich nicht mehr durchzuhalten.

Fragwürdig sei das Agieren der zuständige Gewerkschaft IGBCE und RWE. Zuletzt habe man für RWE-Mitarbeiter, die für ihre Arbeitsplätze im Hambacher Revier demonstrierten, Busse gechartert, um die Leute zur Demo zu karren. Einige Betriebsräte von RWE träten zunehmend militant auf. Hundert Gewerkschafter seien sogar soweit gegangen, bei der Umweltschützerin Antje Grothus vor deren Haustür aggressiv zu protestieren – genehmigt von der Polizei. Die Methoden dieser Leute, angewandt gegen die Antibraunkohleproteste würden immer fragwürdiger: „Das ist viel Hass dabei.“

Manche RWEler wendeten sich ganz offen der AfD zu. Mittlerweile, glaubt Dirk Jansen, „dass es bei dem RWE-Beschäftigten einen richtigen großen AfD-Block gibt.“ Dafür habe er zwar keine Belege dafür, aber Anzeichen in Form von Hassmails, die ihn und andere erreichten, deuteten zumindest daraufhin. Während etwa die Gewerkschaft ver.di frühzeitig schon ein Kohleausstiegskonzept vorgelegt habe, mauere die konservative IGBCE immer noch, der DGB sei weggetaucht.

Jansen: „Wir brauchen dringend ein Kohle-Konsens, da beißt die Maus kein Faden ab“.

Am 26. und 28. November finden die entscheidenden Sitzungen der Kohle-Kommission statt.

Die Frage- und Diskussionsrunde an diesem Abend war nicht weniger interessant und aufschlussreich als der vorangegangene Vortrag. Er förderte zusätzlich Aspekte zutage.

Update vom 22.11.2018: Wie heute bekannt wurde, ist die Entscheidung der Kohle-Kommission auf Januar 2019 verschoben worden.

Via BUND-NRW.

Hinweis: Kundgebungen in Köln und Berlin unter dem Motto: Tempo machen beim Kohleausstieg! Demo am 1.12.2018 in Köln (Deutzer Werft) und Berlin (Kanzleramt).

Zum Thema passender Artikel hier.

Die großartige, vielfach engagierte Susi Neumann, interviewt von Michael Rühl

Susi Neumann ist ein Original. Eine großartige Frau aus dem Ruhrpott, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Nie redet sie um die heißen Brei herum. Im Gegenteil: Sie spricht wie ihr der Schnabel gewachsen ist, frei von der Leber weg und stets Tacheles. Das musste selbst ein Sigmar Gabriel (hier) erfahren. Sie ist Gewerkschafterin, war

Susi Neumann stets kämpferisch. Hier auf einer Veranstaltung der Progressiven Sozialen Plattform mit Marco Bülow im Bahnhof Langendreer. Foto: Claus Stille

Betriebsrätin. Noch heute – krankheitsbedingt in Rente – engagiert sie sich für die Menschen. Aktiv ist sie auch bei der von Marco Bülow (SPD) gegründeten Progressiven Sozialen Plattform und auch bei AUFSTEHEN. Da hatte Susi Neumann neulich bei einer AUFSTEHEN-Veranstaltung in Bochum einen vielbeachteten und beklatschten Auftritt (hier).

Meinen sehr verehrten LeserInnen möchte ich ein sehr interessantes Interview mit Susi Neumann empfehlen, dass Michael Rühl mit ihr in ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen geführt hat.

„Susi Neumann im Gespräch mit Michael Rühl über Gewerkschaft, Betriebsrat, SPD, Aufstehen & Progressive Soziale Plattform. #Aufklärung ist auch schwere #Kost – deshalb: #Ungeschnitten und #unzensiert. Anm. d. R.: Ab Minute 20 ist die #Zigarette selbstredend als #Kunstform anzusehen.“

Quelle: Michael Melcher via You Tube

Hinweis: Hier finden sich einige Beiträge von mir, die mit Susi Neumann in Verbindung stehen.

Update vom 5. Dezember 2018: Susi Neumann abermals im Interview. Nun tritt sie aus der SPD aus

Sie spricht über die SPD und deren Umgang mit dem aus der Partei ausgetretenen Marco Bülow. Über gewerkschaftliches Engagement und den Wert und die Würde von Reinigungskräften.

Gastkommentar von Prof. Albrecht Goeschel: „Sozialpartnerschaft“, „Parität“, „Solidarität“: Matrix-Parolen aus Angela Orwells Sozialstaat

Prof. Albrecht Goeschel (*)

zur

100jährigen Wiederkehr des „Stinnes-Legien“-Bündnisses von

Unternehmern und Gewerkschaften vom 15. November 1918

Dieser deutsche Herbst 2018 ist der Herbst der Selbstoffenbarungen. Das Merkelregime gesteht schluckweise bei “Flüchtlingschaos“, “Dieselskandal“, „Wohnungsmangel“, „Altersarmut“ etc. seine Gesellschaftsund Umweltschädlichkeit; das Linksmilieu positioniert sich unter dem Motto „Solidarität statt Heimat“ gegen die in Asien und Afrika Daheimgebliebenen und gegen die in Deutschland Beheimateten und jetzt gesteht der Deutschen Gewerkschaftsbund, dass die sozialdemokratischen Gewerk-

schaften schon immer „Sozialpartner“ von Staat und Großkapital waren und mehr denn je sind.

Sozialpartnerschaft“: Leitbild des kapitalistischen Sozialstaats

Die Gelegenheit für diese Selbstentblößung der Gewerkschaften in Deutschland bietet die 100jährige Wiederkehr des so genannten „Stinnes-Legien“-Abkommens vom 15. November 1918. Dieser Vertrag zwischen Sozialdemokratie in Gestalt des späteren Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und Unternehmerverbänden beinhaltete den Schutz der Unternehmen vor Verstaatlichung für den Preis der Aner-

kennung der Gewerkschaften als Tarifpartei. Es war dieses Bündnis, das die deutsche Arbeiterklasse nach der angeblichen „Revolution“ vom November 1918 wieder in den Schrebergarten des von der Sozialdemokratie als ihr Revier betrachteten Sozialversicherungsstaates pferchte.

Das 100jährige Jubiläum dieses nach dem Bauernkrieg und der Frankfurter Nationalversammlung erneute Ausbremsen einer fundamentalen Neuordnung in Deutsch-

land wurde Mitte Oktober 2018 von der Unternehmerseite und von der Gewerkschaftsseite gemeinsam gebührend gefeiert – mit dem „Bundespräsidenten“ als Gast und passend im Berliner „Historischen Museum“. Von den eigentlich fälligen Protesten gegen diese Staatsparty war nichts zu hören und zu sehen. Hoffentlich ungewollt war hingegen der zeitgleiche Berliner Aufmarsch „Solidarität gegen Ausgrenzung“ faktisch und thematisch eine Sympathiekundgebung für das Bündnis von Staat, Kapital und Arbeit – eben den „kapitalistischen Sozialstaat“. In seiner Merkel-Version trägt dieser längst orwellsche Züge in Hinblick auf Neusprech und Täuschung. So wird Nachschub an Billigarbeit und Gebildetenplünderung von Entwicklungsländern per Migration selbst bei einer so genannten „Links-Partei“ zu „Mitmenschlichkeit“ gematrixt.

Parität“: Umverteilungsillusion des Sozialversicherungsstaats

Ein Paradebeispiel vor allem auch für die Verdrehung der Inhalte, Begriffe und Sprache in diesem Sozialstaat als politische Form der „Sozialpartnerschaft“ ist die zur

Ikone stilisierte „Parität“ in der Finanzierung der Sozialversicherungen. Diese scheinbar gleichgewichtige Form der Sozialversicherungs-Finanzierung hat Bismarck schon bei ihrer Einrichtung aus politisch-strategischen Gründen gewählt. Er wollte, wie Roland Vaubel schreibt, ganz bewusst eine „Umverteilungsillusion“ erzeugen. Dabei sind es im beitragsfinanzierten Sozialversicherungsstaat stets die Beschäftigten selbst, die ihre Sozialversicherung zur Gänze finanzieren.

Die an dieser Stelle gerne ins Feld geführten „Lohn-Nebenkosten“, also Sozialbeiträge und Lohnsteuern, sind gesamtwirtschaftlich Teil der Brutto-Arbeitskosten“, die von der Kapitalseite ganz einfach durch entsprechend niedrigere Netto-Löhne ausgeglichen werden. Ein Weg dazu war der vom Regime des Parvenü Schröder und des Taxiprofessors Fischer, also durch Rot-Grün im Jahr 2005 per Hartz IV durchgesetzte millionenstarke Niedriglohnsektor, d.h. eine Lohn-Spreizung. Ein anderer Weg war die vom gleichen Regime und im gleichen Jahr auch noch eingeführte Aufspaltung der Krankenkassenbeiträge in Normalbeiträge für „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ und in Zusatzbeiträge, die nur die „Arbeitnehmer“ zu tragen haben.

Dabei ist hier anzumerken, dass die Sozialstaats-Begriffe „Arbeitnehmer“ bzw. „Arbeitgeber“ ebenfalls, ähnlich wie die „Lohn-Nebenkosten“ und die „Parität“, zu den zentralen Täuschungsbegriffen des deutschen kapitalistischen Sozialstaats gehören: Wer ist es, der tatsächlich seine Arbeitszeit und sein Arbeitsvermögen auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt verkauft („gibt“)… ? Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Brutto-Arbeitskosten auch noch dadurch gesenkt wurden, dass im Falle der 1993 eingeführten „Pflegeversicherung“ bestimmte Risiken aus der bisherigen Sozialversicherung herausgelöst wurden und in einem neuen Sozialversicherungszweig versichert wurden, der allerdings nur noch Teilkaskoleistungen abgibt.

Für die Kapitalseite ist ihr Sozialstaat mitsamt Sozialpartnerschaft und Parität also ein amüsantes Hütchenspiel, bei dem geschickt und geräuschlos sowieso immer gewonnen wird.

Das wäre anders,wenn die von den Eliten einschließlich der Gewerkschaften bejammerten Lohn-Nebenkosten zusammen mit den Nettolöhnen als Gesamtlohn ausgereicht würden. Dann würden die Lohnauseinandersetzungen sehr viel härter geführt werden müssen, da die gesamten hinter der sozialstaatlichen Kulisse florierenden Kosten des Gesundheits- und Sozialwesens dann „eingepreist“ werden müssten. Heiner Flassbeck begründet seine Forderung nach einer Rückkehr zu hohen Produktivlöhnen richtig auch mit der Formel: „Lohnnebenkosten sind Lohnkosten“. Dabei würde dies die Kapitalseite nicht besonders irritieren. Sie hat genug Möglichkeiten des Ausgleiches und der Überwälzung ihrer Arbeitskosten.

Für die Gewerkschaftsseite wäre mit einer konsequenten Schließung des Paritäts-Theaters allerdings die Zeit der bequemen staatlichen statt gewerkschaftlichen Lohnpolitik vorbei. Solange das Politische System bald die Hälfte der Brutto-Arbeitskosten per Gesetz oder Verordnung festlegt, brauchen dafür schon einmal keine Lohnstrategien entwickelt und keine Arbeitskämpfe geführt werden. In aller Ruhe kann sich die Gewerkschaftsbürokratie in der Sozialstaats-Hängematte um Mitgliederzahlen und Beitragseinnahmen kümmern. Die notwendigen „wissenschaftlichen“ Begründungen für diese gewerkschaftliche Lohnpolitik auf dem Umweg über die staatliche Neben-Lohnpolitik, flankiert durch die Arbeitgeberseite im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen „Parität“, liefern die beiden „gewerkschaftsnahen“ Forschungseinrichtungen „IMK“ und „WSI“ mit ihren sozialdemokratisch-vulgärkeynesianischen Sozialstaatsvorschlägen.

Schubumkehr“: Der Sozialstaat als Feind von Land und Leuten

Kritische Ökonomen sehen vor allem auch in der kraftlosen Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften eine wesentliche Ursache für die Ungleichgewichtskrise der Euro-Zone und der EU. Nur mit solchen durch Sozialpartnerschaft korrumpierten und staatliche statt gewerkschaftliche Lohnpolitik sedierten Gewerkschaften konnten die Dumpinglohnstrategie und der Exportismus des Geschäftsmodell Deutschland gemacht und die Nachbarvolkswirtschaften und –gesellschaften zerstört werden. Mittlerweile gibt es auch eine Studie, die zeigt, dass und wie die europäische Sozialpolitik zu einem Instrument der „Klassengesellschaft der billigen Arbeit“ (Albrecht Goeschel) geworden ist.

Immer wieder sind auch in den letzten Jahren in Labournet, Makroskop, Telepolis, Tumult etc. Studien veröffentlicht worden, wie durch den Sozialstaatsprozess, insbesondere die so genannten „Sozialreformen“, die Regionalstrukturen beschädigt und zerstört worden sind. Die räumlichen Lebenswelten der Leute sind aber entscheidend dafür, ob gedrückte Netto-Löhne durch Daseinsvorsorge, d.h. Infrastruktur, Öffentliche Dienste etc. real angehoben oder noch weiter herunter gedrückt werden.

Gerade die „Gesundheitsreformen“ mit ihrer Zerstörung der autonomen regionalen Krankenkassen AOK, BKK und IKK und deren Umwandlung in Kassenkonzerne und die derzeit still und leise betriebene Zerstörung der flächendeckenden Krankenhausversorgung und deren Umwandlung in wenige Großklinikzentren wurde stets von Sozialdemokratie und Gewerkschaften mitbetrieben oder zumindest hingenommen. In Telepolis wurde hierzu in den zurück liegenden Monaten mehrfach publiziert.

Wie man sieht: „Sozialpartnerschaft“, „Parität“ und „Solidarität“ haben sich im orwellschen Merkel-Sozialstaat für Politik und Kapital lange Jahre ausgezahlt. Die Leute haben zwar mehr geahnt und gespürt als verstanden, dass und wie der Sozialstaat nicht mehr dazu da ist, die Gesellschaft vor den schlimmsten Kapitalismus-Exzessen zu bewahren. Die Leute haben nur noch keine Begriffe und Bilder dafür, dass und wie der kapitalistische Sozialstaat die heimtückischte Waffe des neuen Weltkapitalismus gegen sie ist. Der Merkelsche „Willkommensputsch“ war und ist hier für die

Leute so einer Art Erkenntnishilfe dafür gewesen, wie mit ihnen stillschweigend umgesprungen wird. Es ist nicht zufällig, dass populistische Parteien dort in Deutschland die höchsten Stimmanteile bei Wahlen erzielen, wo die Untaten des Sozialstaats die Lebensverhältnisse am weitreichendsten zerstört haben.

Jubiläum“: Die miese Geschichte der „Sozialpartnerschaft“

Anstelle der von den Eliten gerne gesehenen und begünstigten Stammeskriege zwischen „Links“ und „Rechts“ sollte sich die kritische Publizistik in Deutschland lieber vor allem der Zerstörung der „Sozialstaatsillusion“ (Wolfgang Müller; Christel Neusüß) widmen. Dazu soll nachfolgend noch ein kleiner Beitrag geliefert werden:

Am Ende des Ersten Weltkrieges, nach dem Matrosenaufstand, dem Waffenstillstand und der Kaiserabdankung, hat wegen der enormen Kriegsanstrengungen,der Gebiets-, Kolonien- und Exportmarktverluste des Deutschen Reiches, des Reparationsterros, der Nachkriegsinflation etc. die dringende Notwendigkeit eines umfas- senden Rekonstruktionsprogrammes mit Bodenreform, Außenhandelsregime, Bankenkontrolle, Branchenplänen und Arbeitsmarktregulierung bestanden..

Der sozialdemokratisch dominierte Rat der Volksbeauftragten beschränkte sich aber auf harmlose „Sozialpolitik im luftleeren Raum“, wie der exzellente Historiker Arthur Rosenberg spottet: Man führte den Achtstundentag ein und ließ ansonsten alles beim Alten. Das „Stinnes-Legien“- Bündnis war schon vorher geschlossen worden. In der kriegs- und reparationsbedingten Hyperinflation der Folgejahre wurde die zwar ehrenwerte, aber politisch naive sozialpolitische Wohltat der Sozialdemokratie, der Achtstundentag, wieder einkassiert. Die historische Schuld der Sozialdemokratie in diesen Jahren war, dass sie die Trennung und das Gegeneinander von Arbeit und Kapital mit ihrer Schrebergartenpolitik als Trennung von Sozial- und Wirtschaftspolitik noch verfestigt hat. Nachdem Mitte der 1920er Jahre Europa und vor allem Deutschland als Anlagesphä-

re für die enormen Kriegsgewinne der Vereinigten Staaten entdeckt worden waren, kam es in Deutschland zu einem regelrechten Kreditboom. In dieser Situation war es möglich,auch mit Zustimmung der Wirtschaft wieder mehr „Sozialpolitik“ zu betreiben. Als vierter Zweig der Sozialversicherung wurde eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet. Die dringend nötige Steuerung der Kreditverwendung und eine entsprechende Steuerabsicherung der Kreditbedienung wurden natürlich versäumt. Die kurz darauf ausbrechende Weltwirtschafts- und Kreditkrise traf die deutsche Wirtschaft auch deshalb besonders hart, weil die berüchtigte Regierung Brüning und ihre Nachfolge- regierungen die Nutzbarkeit der Sozialversicherungen als Krisenpuffer nicht erkannt hatten und durch rabiate Sozialkürzungen die Krise verschärften. Die eigentliche Ver- antwortung für diese aus heutiger Sicht idiotische Sparpolitik der Regierung Brüning lag aber bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die mit ihrer ausschließlichen Sozialpolitik in den Jahren davor keine Konzepte, Programme und Instrumente für eine umfassende Wirtschaftspolitik präpariert hatten.

Ja, und dann passierte, was ein Dauerthema der historisch-politischen Diskussion ist: Die jämmerliche Zukunftsfeigheit der Sozialdemokratie, die jahrzehntelang nichts besseres wusste, als die deutsche Arbeiterklasse seit Bismarck in ihr Spießbürgerghetto „Sozialpolitik“ einzupferchen, bekam in den Wahlen der 1930er Jahre die Quittung: Die nichtsozialdemokratischen Teile der Arbeiterklasse, die von den Sozialdemokraten stets ignorierten Bauern, der alte und der neue Mittelstand mandatierten die Nationalsozialisten ausreichend, um die Weimarer Republik zu übernehmen.

In unserem Zusammenhang ist dabei nur wichtig: Zwar servierten die Nazis die Sozialdemokraten und Gewerkschaften als politische Organisationen der Arbeiterklasse ab und verboten den „Klassenkampf“ als politisch-ökonomische Idee – faktisch aber entwickelte sich im Nationalsozialismus mit der „Deutschen Arbeitsfront“, der mitglieder- und wirtschaftsstärksten Massenorganisation des Dritten Reiches, ein für die Privatwirtschaft und auch die Staatsbürokratie unüberwindbarer Gegenspieler. Diese Organisation repräsentierte die Arbeiterklasse durch eine politisch-ökonomische Durchdringung beinahe aller ihrer Lebensbereiche. Dies reichte von der Frei- zeit- und Urlaubsorganisation „Kraft durch Freude“ bis zum Wolfsburger „Volkswagenwerk“ der Arbeitsfront.Dabei lag die eigentliche politische, ökonomische und soziale Macht der Deutschen Arbeitsfront darin, dass durch die rasante Aufrüstung zwischen 1933 und 1939 ein enormer Industriearbeitermangel entstand. Primitive Ausbeutungs- und Unterdrückungskonzepte seitens Industriekapital und Rüstungsbürokratie waren bei dieser Lage nicht machbar. Es gibt zu dieser sozusagen „dialektischen“ Ausformung des alten Klassenkonfliktes in einer neuen Harmonisierung von Ökonomie und Sozialem, von Wirtschafts- und Sozialpolitik während des Dritten Reiche eine exzellente Studie von Timothy W. Mason aus dem Jahr 1978 mit dem Titel „Sozialpolitik im Dritten Reich“.

Dieses Beispiel einer Integration von Ökonomie und Sozialem musste nach Kriegs- ende nach den Vorstellungen der aus ihren Nischen wieder aufgetauchten Konservativen, des Großkapitals und der Westalliierten schnellstens beseitigt werden. Daher wurden die teilweise von ihren Belegschaften besetzten Ruhrkonzerne mit alliierter Militärgewalt wieder geräumt und später die Erhardsche Politikshow „Soziale Marktwirtschaft“ aufgeführt – und schon waren Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder fein säuberlich getrennt. Das ganze Sozialtheater ging von vorne los und jetzt macht der Sozialstaat Front gegen die normalen Leute. Diese „Schubumkehr“ ist eine weitere Merkel-Wende.

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Prof. (Gast) Albrecht Goeschel, Staatliche Universität Rostov, Präsidiumsmitglied der Accademia ed Istituto

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Beitragsbild: Claus-D. Stille

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Dazu auch: Die NachDenkSeiten mit einem Beitrag: 100 Jahre „Stinnes-Legien-Abkommen“ – „Eine traurige Veranstaltung von DGB und Arbeitgeberverbänden“.