Der Sonntag naht. Und damit die Bundestagswahl. Damit sollte die Ära von „Kohls Mädchen“, des „wandelnden Hosenanzugs“ (frei nach Urban Priol), beziehungsweise „Mutti“ Merkel enden. Einst galt sie gar, wie der Autor des hier zu besprechenden Buches, „Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt“, Peter Zudeick, erinnert, als „Doppeltes Quotchen“: „Weil sie eine Frau und aus dem Osten ist.“ (S.160). Freilich könnten wir mit der Wahl durchaus auch in eine Krise schlittern.
Welche Mehrheiten wären wie zu erreichen? Wer koaliert mit wem? Bis eine Entscheidung fällt könnte es bis Ende des Jahres oder gar noch darüber hinaus dauern. Solange wird uns Angela Merkel noch erhalten bleiben. Oder bringt man sie gar dazu noch ein bisschen nachzukellen, um eine eventuell heraufbeschworene nationale Krise zu vermeiden? Gott bewahre! Wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen. Oder sollen wir es mal ohne Regierung probieren? Belgien immerhin blieb zumindest einmal anderthalb Jahre ohne Regierung. Und, ist Belgien untergegangen? Sie werden mir entgegenhalten, liebe Leserinnen und Leser, Belgien sei nicht Deutschland. Was ja stimmt. Oder man wird einen Satz mit Äpfel und Birnen ins Feld führen. Verzeihung, ich schweife ab.
Peter Zudeick über das Merkel-Ende: „Es wird wohl kein triumphaler Abgang werden“
Betreffs der Bewertung der scheidenden Bundeskanzlerin ist Peter Zudeick gewiss beizupflichten: „Es wird wohl kein triumphaler Abgang werden“. Aber, schreibt Zudeick auch (S.188): „Angela Merkels Renommee als Person scheint von dem politischen Gewürge ihrer letzten Jahre unberührt zu bleiben.“ Persönlich bin ich der Meinung, dass die Geschichte (gesetzt dem Fall, sie würde ehrlich geschrieben) letztlich kein gutes Bild von ihr zeichnen wird. Und so mancher Mitmensch dürfte später ungern an diese Ära Merkel erinnert werden wollen. Aber ich kann mich auch täuschen. Peter Zudeick gegen Ende des Buches: „Und in der Corona-Pandemie geriet ihr für die Geschichtsbücher gezeichnetes Bild endgültig ins Wanken. Aber vielleicht wird auch hier, wenn einmal genug Zeit vergangen ist, die milde Abendsonne der Geschichte ein freundlicheres Bild möglich machen.“ Mag sein: der Mensch ist ziemlich vergesslich. Man vergesse nicht, dass sich bei Merkel in der Corona-Krise durchaus auch autoritäre Züge zu zeigen begannen. Ich musste da an ein Gespräch von Merkel mit Günter Gaus denken, wo sie gestand, einen gewissen Faible fürs Autoritäre zu haben.
Angela Merkel und die Demokratie
Ein wenig ketzerisch gefragt: Ist Angela Merkel eine Demokratin durch und durch? Als sie einmal einer „Marktkonforme Demokratie“ das Wort redete, konnte man schon ins Grübeln kommen. Kanzlerin Merkel: “Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.” (Quelle: Freitag.de) Im Buch reißt das Zudeick kurz an, um darauf hinzuweisen, dass sie das später so nicht wiederholt habe. Und auch das haben wir unter der lieben „Mutti“ erlebt: Als „CDU-Chefin räumt sie Positionen und wechselt Überzeugungen wie andere die Socken.“ Stichwort. „Fukushima“ (S.175). Zunächst der Ausstieg betreffs der Atomkraft aus dem Ausstieg, den die rot-grüne Koalition 2000 eingeleitet hatte. Für die Bundeskanzlerin „nicht weniger als eine Revolution in der Energieversorung“. Nach dem Atomunglück von Fukushima dann die Wendung von Angela Merkel: „Wir alle wollen schnellstmöglich aussteigen und in die Versorgung mit erneuerbaren Energien ein- und umsteigen.“Zudeick: „Zwischen der Revolutionsankündigung und der Ankündigung diesem Satz liegen sieben Monate. Und die Atomkatastrophe von Fukushima.“
Die Causa Kemmerich
Und auch dies kommt zur Sprache: Als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich 2020 mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde, griff Bundeskanzlerin Angela Merkel vom fernen Südafrika aus ein und ließ sozusagen par ordre du mufti diese Wahl „rückgängig“ machen. Diese Wahl hatte die Kanzlerin erklärt (S.185), (…) „sei inakzeptabel und müsse rückgängig gemacht werden“ (…)
Skandalös: Merkels „Griechenland-Hilfe“
Gut als Leser von Peter Zudeick daran erinnert zu werden, was die besonders von Merkel (und Finanzminister Schäuble als Hardliner) orchestrierte „Griechenland-Hilfe“ in erster Linie war, eine Bankenrettung: „Keine Rede von Aufbau, Wachstum, Hilfe zur Selbsthilfe.“
Deutschlands Kanzlerschaften gingen manchmal bitter und unschön zu Ende
Deutsche Kanzlerschaften verliefen nie so ganz rund. Und manches Mal gingen sie bitter und unschön zu Ende. Konrad Adenauer („Der Alte“) – der erste Bundeskanzler der BRD – musste schließlich förmlich aus dem Amt gekantet werden. „Ludwig Erhard wurde rausgeschubst, Willy Brandt zum Rücktritt gezwungen“, heißt es zum Buch.Willy Brandt stolperte über die „Guillaume-Affäre“. Beziehungsweise man ließ ihn vorsätzlich und sehenden Auges in diese Falle tappen. Für die Affäre selbst trug ja Brandt keine Verantwortung. Der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher informierte den Kanzler nicht über den längst bekannten Spionageverdacht gegen Brandts engsten Mitarbeiter Guillaume. Brandt übernahm jedoch die politische Verantwortung.
Helmut Kohls Kanzlerschaft endete in Skandalen
Schon in den ausgehenden Achtziger Jahren breitete sich Verdruss über die ewige Kanzlerschaft Kohls aus. Bei den nächsten Wahlen sah man „Birne“, wie man ihn wegen seiner Figur wenig schmeichelhaft zu nennen pflegte, weg vom Kanzlerbungalowfenster. Indes rettete ihm das Ende der DDR und die Deutsche Einheit, wofür der Pfälzer ja sofort die Weichen in seinem Sinne zu stellen verstand, den Allerwertesten. Dann wurden Skandale publik. „Der Dicke“ weigerte sich vehement die Namen deren zu nennen, die an die CDU gespendet hatten. Dennoch wird Helmut Kohl wohl als „Kanzler der Einheit“ lange in Erinnerung bleiben.
Absprung verpasst
Besonders die Kanzler Adenauer und Kohl verpassten den rechten Moment für den Absprung vom Kanzlersessel. So auch Angela Merkel. Peter Zudeick stellt zutreffend fest: (Merkel) „hätte die Chance gehabt, ihre Kanzlerschaft nach 16 Jahren geordnet und in Würde zu beenden, auch sie hat es nicht geschafft“.
Schröder „suboptimal“
Gerhard Schröder, auch der „Genosse der Bosse“ genannt (als der er während seiner Kanzlerschaft mittels seiner Politik tatsächlich kenntlich wurde), heißt es zum Buch „kegelte sich selbst aus dem Spiel“. In der sogenannten „Elefantenrunde“ nach den Bundestagswahl 2005 fiel Schröder peinlich auf: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden?“ Und weiter: „Ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.“ Schröder: Den direkten Kampf „Er oder sie“, habe Merkel verloren. „Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen. Das ist eindeutig. Machen Sie sich da gar nix vor“, gebärdete sich Schröder brutal lächelnd. Angela Merkel war erschüttert und erwiderte mit Recht, wie Peter Zudeick erinnert (S.154) „dass den Regierungsauftrag nur derjenige hat, der die stärkste Fraktion stellt“. Zudeick (S.155): „Es ist viel spekuliert worden, ob Schröder nur unter dem Einfluss von Testosteron und Adrenalin oder auch von Genuss- oder Rauschmitteln gestanden habe.“ Später räumte Schröder ein, sein Auftreten sei wohl „suboptimal“ gewesen. Schröder entsozialdemokratisierte – möchte ich sagen – die SPD. Nicht zuletzt durch die Agenda 2010. Namentlich besonders durch Hartz IV, das von Linken als „Armut per Gesetz“ bezeichnet wurde. Tausende Mitglieder verließen die Partei. Viele tausend Wählerinnen und Wähler kehrten der Partei den Rücken. Immerhin – wird in Zudeicks Buch positiv erwähnt – verweigerte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA im Falle des Irak-Kriegs als Vasall zu folgen. Vergessen wird aber auch nicht, dass er, zusammen mit dem Grünen Joschka Fischer und dessen Partei die BRD erstmals in deren Geschichte in einen Krieg (den sogenannten „Kosovo-Krieg“ gegen die Bundesrepublik Jugoslawien) zog. Später gestand er (ohne dass das irgendwelche Folgen juristischer Natur zeitigte), dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 allerdings: „Schröder verspricht US-Präsident Bush uneingeschränkte Solidarität, was zu einiger Unruhe in der eigenen Partei und vor allem bei den Grünen führt.“Schröder erzwingt schließlich die Zustimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz in Afghanistan, indem er im Bundestag die Vertrauensfrage stellt. Der Einsatz, der erst viel später endlich ehrlich auch Krieg genannt werden durfte, ging durch. In welchem Fiasko das endete, erfuhren wir in diesen Tagen noch vor dem zwanzigsten Jahrestag der Anschläge von 9/11 … Schröder als Bundeskanzler war schließlich Geschichte. Indes Bundeskanzlerin Angela Merkel Schröders Agenda-Politik – dankbar für die Vorarbeit von Rot-Grün (die nebenbei bemerkt Union und FDP gegen die Opposition der SPD hätten nie durchsetzen können) – fortsetzte, darauf aufbaute und hie und da sogar noch verschlimmerte.
Angela Merkel verlässt die Berliner Bühne und hinterlässt ein Land, das mehr denn je gespalten ist
Wie schon angemerkt, stolpert auch Angela Merkel wenig rühmlich von der Berliner Bühne. Inzwischen ist die deutsche Gesellschaft tief gespalten. Was sie freilich schon vor der Corona-Krise der Fall gewesen war. Der Umgang mit der Pandemie, war, um mit Gerhard Schröder zu sprechen, gelinde ausgedrückt suboptimal. Das An- und Verordnungsgewirr betreffs der Corona-Maßnahmen wurde fabriziert in einem vom Grundgesetz nicht vorgesehenem Gremium, zusammengesetzt aus den nahezu immer gleichen Bundes- und Länderpolitikern sowie handverlesenen Experten – nach dem Motto heute hüh, morgen hott. Der Publizist Matthias Heitmann sprach einmal – fällt mir gerade ein, auf Reitschuster.de veröffentlicht – über unser Land in der Corona-Pandemie von einer „Kita-Republik mit ihrer Bundeskindergärtnerin“. Mittels dieser Corona-Maßnahmen wurden quasi papageienartig verstärkt durch eine regierungssprecherartig gleichtönende Presse über anderthalb Jahre hinweg unisono hauptsächlich Angst und Schrecken verbreitet.
Gefährliche Spaltung der Gesellschaft
All das – und die Einschränkung von Grundrechten – hat nun die Spaltung der Gesellschaft abermals gefährlich vertieft. Unterdessen dürften noch mehr Menschen das Vertrauen in die Politik verloren haben. Im Buch steht zu lesen: „Deutschland ist angesichts der blassen, ja taumelnden Politik merkelmüde geworden. Und so ergeht es der Kanzlerin nicht anders als ihren sieben Vorgängern.“ Wer Angela Merkel im Amt als Konkurrent gefährlich werden konnte, den biss sie rigoros weg. Andere wiederum band sie an sich und belohnte sie, wenn sie ordentlich spurten, mit Ämtern. Der Buchtitel: „Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt“. Genial, prägnant! Ein Buch, das gut lesbar und informativ ist. Bei den älteren Leserinnen und Lesern dürften sich beim Lesen Erinnerungen auffrischen Dinge klarer werden. Den jüngeren ist es sehr zu empfehlen, um dem Lauf der Geschichte der BRD anhand den Politiken der jeweiligen Kanzler besser zu verstehen und interessante Einzelheiten kennenzulernen. Eine gute Analyse ist das Buch dazu. Allen Kanzlern und der bislang einzigen Kanzlerin sind eigene Kapitel gewidmet. Das Buch dürfte seine Leserinnen und Leser finden, bietet es doch die eigentlich einzigartige Möglichkeit bundesrepublikanische Politikgeschichte recht angenehm komprimiert – für mehrere Generationen geeignet – zu offerieren. Besonders interessant auch die Abbildung der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. Von der es dann rasant – aber nicht luschig durch die Zeit rasend – durchgeht bis ins Heute. Manchmal kommt einen beim Lesen sogar ein Schmunzeln auf. Politische Geschichte unterhaltsam in ein Buch gepackt.
Das glanzlose Ende deutscher Kanzlerschaften
Mit seinem neuen Buch erzählt Zudeick von einem eigenartigen und ganz besonderen Phänomen: dem immer wieder bitteren Ende deutscher Kanzlerschaften. Doch, Hand aufs Herz: war denn der Anfang, der „Einstieg“ Konrad Adenauers (CDU) als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland etwa glanzvoller Start? Nicht so ganz.
Konrad Adenauer wurde mit einer, seiner eigenen, Stimme erster Bundeskanzler der BRD
Franz Alt schrieb am 23.8.2009 im Tagesspiegel: „Et hätt noch immer jot jejange“, sagte Konrad Adenauer, als er am 15. September 1949 mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt war.“ Leider ist das so nicht bei Peter Zudeick (S.23) zu herauszulesen. Da ist nur davon die Rede, dass Adenauer „mit nur einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt“ wurde. Weshalb ich das hier ergänze. Erst später gab er zu, sich selbst gewählt zu haben. Es gibt wohl keine direkte Bestimmung, das nicht zu tun. Aber es galt zumindest wohl als anständig, sich bei einer einen selbst betreffenden Wahl nicht selbst zu wählen. Aber Anstand und Politik, liebe Leserinnen und Leser, Sie wissen das sicher, gehen nicht immer zusammen … Zuvor, am 21. August 1949, eine Woche nach der Wahl hat Konrad Adenauer die wichtigsten Köpfe von CDU und CSU zu einer „Kaffeetafel“ in sein Haus in Rhöndorf „zu einer Aussprache“ (S.22) eingeladen. Dort verhinderte Adenauer eine große Koalition mit der SPD. Solche Hinterzimmerpolitik findet auch heute noch statt. Dazu kommen Kungeleien aller Art sowie der immer größer gewordene Einfluss (die Regierungen haben es zugelassen) der Lobbyisten auf die Politik und der dadurch ebenfalls munter wie geschmiert laufenden Drehtüreffekt, wo Politiker in die Wirtschaft und manchmal auch wieder zurück in die Politik wechseln. Nicht zu vergessen die Korruption. Und der Kampf um die Macht (besonders wenn Politiker sie einmal geschmeckt haben), der leider oft konträr dem entgegenläuft, was man Volksvertretung zu nennen pflegt. All das tut der Demokratie nicht gut. Was das Buch bei den verschiedenen Kanzlerschaften deutlich werden lässt: manche Strategien bis hin zu gewissen Gaunereien tauchen immer wieder auf.
Zusatzlese-Empfehlung
Sicher hätte es zu weit geführt, für das Buch den Werdegang Konrad Adenauers etwas ausführlicher zu beleuchten. Deshalb möchte ich ergänzend hier Werner Rügemers Text „Adenauers gekaufte Demokratie“ empfehlen. Albrecht Müller (Herausgeber der NachDenkSeiten) schrieb dazu einleitend: „Konrad Adenauer wäre nie Bundeskanzler geworden und nicht geblieben, wenn er sich an Grundgesetz und demokratische Verfahren gehalten hätte. Schwarze Kassen, Schweizer Nummernkonten, Liechtensteiner Stiftungen, gefakete Anzeigen, Tarnorganisationen und Geheimdienste im In- und Ausland: Mit Verfassungsbruch und krimineller Energie finanzierten Konzerne die Regierungsparteien der neu gegründeten Bundesrepublik – und schon vorher. Interessant ist auch die von Werner Rügemer beschriebene Umpolung der Europa Union auf eine konservative, wirtschaftsnahe Linie und die Erfindung von NGOs. Schon in den fünfziger Jahren wurden Vorfeldorganisationen für politische Zwecke missbraucht. Wie heute WWF und NABU. Siehe hier.“
Politik, ein nicht selten schmutziges Geschäft
Peter Zudeicks Buch macht auch auf viele kritisch zu betrachtende Aspekte aufmerksam. Rosa-rot wird da nichts gemalt. Und es kommt auch zutage, dass – was viele von uns wohl auch schon ab und an aufgefallen sein dürfte – Politik gar nicht mal so selten ein schmutziges Geschäft ist. Und unsere Demokratie überhaupt nicht so sauber ist, wie sie uns Politiker und ein ziemlich heruntergerockter deutscher Journalismus nicht müde werden uns weiszumachen. Und zu diesem Behufe stets auf vermeintliche oder wirkliche Bösewichte anderswo zeigen. Albrecht Müller bezeichnet diese Methode der Manipulation als „Das Denkschema „Wir sind die Guten“. Stattdessen sollte doch lieber das Schwäbische Sprichwort beherzigt werden: „Ein jeder kehre vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier“, respektive die Welt. Zuweilen ist auch zu hören: Politik ist die größte Hure. Zu mir sagte das einmal ein alter Mann auf einem Campingplatz der tschechischen Seite des Riesengebirges weit vor 1989. Etwas verdutzt und ungläubig nahm ich den Spruch damals zur Kenntnis. Aber er hatte mich aufhorchen gemacht. Klar, verstand ich den Sinn. Doch zöge ich heute vor es anders auszudrücken. Beweisen doch so manche Huren, heute Sexarbeiterinnen genannt, viel mehr Herz und Verstand als manche der gegenwärtigen Politikerinnen oder Politiker. Ich empfehle Peter Zudeicks Buch unbedingt! Möge es viele Leserinnen und Leser erreichen. Wir können aus der erzählten Geschichte etwas lernen. Haben wir schon etwas gelernt, dann sollten wir es auch am Sonntag bei den Bundestagswahlen an den Urnen entsprechend deutlich werden lassen.
Informationen
Dr. Peter Zudeick arbeitet als freier Journalist und Korrespondent für fast alle ARD-Rundfunkanstalten. Seine scharfen politischen Analysen, aber auch seine satirischen Rückblicke haben ihn einem größeren Publikum bekannt gemacht. Zudeick studierte Germanistik, Pädagogik, Philosophie und Theaterwissenschaften und promovierte in Philosophie. 2009 erschien im Westend Verlag „Tschüss, ihr da oben“, 2013 der von ihm herausgegebene Band „Das alles und noch viel mehr würden wir machen, wenn wir Kanzler von Deutschland wär’n“.
Peter Zudeick
Vom Ende deutscher
Erscheinungstermin: | 30.08.2021 |
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Seitenzahl: | 200 |
Ausstattung: | Klappenbroschur |
Artikelnummer: | 9783864893384 |
Westend Verlag
18,00 Euro
Vera Lengsfeld im Corona-Ausschuss mit treffenden politisch-gesellschaftlichen Analysen
Seit Mitte Juli 2020 untersucht der Corona-Ausschuss in jeweils mehrstündigen Live-Sitzungen, warum die Bundes- und Landesregierungen im Rahmen des Coronavirus-Geschehens beispiellose Beschränkungen verhängt haben und welche Folgen diese für die Menschen hatten und weiter haben. Der Corona Ausschuss wurde von vier Rechtsanwält*innen gegründet. Er führt eine Beweisaufnahme zur Corona-Krise und den Maßnahmen durch.
Von den Rechtsanwält*inn angehört werden u.a. Mediziner, Journalisten, Juristen und von Anti-Corona-Maßnahmen Betroffene.
Wer die zumeist sehr interessanten und erkenntnisreichen Sitzungen des Ausschusses noch nicht gesehen hat, kann sie gerne (sh. oben) oder auf dem You Tube – Kanal von OVALmedia Ausschuss nachsehen und sich über dessen Arbeit so ein eigenes Bild verschaffen.
Ein Höhepunkt der Sitzung 41 „Troja Allenthalben“: Vera Lengsfeld im Gespräch
Am Freitag, dem 26. Februar 2021 fand abermals eine Tagung des Corona-Ausschusses statt. Wieder über die Maßen und nahezu durch die Bank interessant. Ich möchte Ihr Interesse, liebe Leserin, lieber Leser, speziell auf einen Part im Video lenken. Nämlich dem, welcher dem Gast Vera Lengsfeld vorbehalten war.
Sie war 1981 Mitbegründerin einer der ersten halblegalen Oppositionskreise der DDR, des Pankower Friedenskreises, seitdem Mitorganisatorin aller wichtigen Veranstaltungen der Friedens-und Umweltbewegung der DDR. Heute wird sie samt Mitstreiter*innen zumeist unter dem Rubrum „Bürgerrechtler der DDR“ geführt. Ich habe Vera Lengsfeld stets zugegebenermaßen kritisch beäugt oft hart kritisiert. Am Freitag, da sie Gast des Corona-Ausschusses war, gewann ich einen ganz anderen Eindruck von mir. Und ich fand, ich müsste ihr Abbitte für meine harte Kritik damals an ihr tun.
Vera Lengsfeld mit treffenden politisch-gesellschaftlichen Analysen
Wie dem auch sei, ihr Auftritt beim Ausschuss war jedenfalls äußerst informativ, ihre Aussagen sachlich und ihre politisch-gesellschaftltichen Analysen treffend und im höchsten Maße bedenkenswert. Lengsfeld, die auch einst einmal Mitglied der Grünen war, ist noch immer CDU-Mitglied, allerdings mittlerweile bei der Werteunion verortet.
Eingangs beklagt sie das, was wir alle tagtäglich – soweit wir noch Medien konsumieren – von früh bis abends über die Medien geradezu bombardiert werden: mit den Corona-Zahlen aller Couleur: den Zahlen der Getesteten, Erkrankten, Toten etc. Treffend bezeichnet Lengsfeld das als Propaganda. Denn mit seriösen Journalismus hat das wahrlich nichts zu tun. Auf Lengsfelds Webseite steht zu lesen:
„Lange, viel zu lange haben die Bürger den Ausnahmezustand mit Geduld ertragen. Das ist zweifellos ein Erfolg der Corona-Propaganda, die täglich auf die Bevölkerung niederprasselt. Von morgens bis abends Infektions- und Totenzahlen, garniert mit Warnungen vor einem zusammenbrechenden Gesundheitssystem, vor Mutanten, zweiten und dritten Wellen. Die damit erzeugte Angst und Panik hat die von den Corona-Maßnahmen wirtschaftlich Betroffenen stumm auf Staatshilfe zu warten lassen, statt kritische Fragen zu stellen.“
Vera Lengsfeld fordert „ Nicht nur klagen, öffnen!“
„MediaMarktSaturn, die Baumarktkette Obi, sowie die Textilketten Peek&Cloppenburg (Düsseldorf) und Breuninger ziehen jetzt vor Gericht. „Wir haben Klagen vor den Verwaltungsgerichtshöfen in Baden-Württemberg, in Hessen, in Nordrhein-Westfalen, in Thüringen und Sachsen eingereicht – überall dort, wo wir Häuser haben. Ziel ist die sofortige Aussetzung der Lockdown-Maßnahmen, weil sie nicht verhältnismäßig sind und eine Ungleichbehandlung gegenüber dem Lebensmittelhandel bedeuten“, sagte, wie NWZ online berichtete, ein Breuninger-Sprecher. Alternativ fordere das Unternehmen Entschädigungen. Zweiteres sehe ich als Fehler. Die Unternehmer sollten Staatshilfe ablehnen und konsequent ihr Recht auf freien Handel einfordern. Nicht nur klagen, sondern einfach öffnen. Wenn an einem bestimmten Tag, zum Beispiel am 1. März das alle tun würden und genügend Kunden kämen, wäre der Corona-Spuk von einem Tag auf den anderen vorbei.“
Den (noch) Ängstlichen macht sie Mut:
„ In Corona-Deutschland regiert noch die Angst. Was bewirkt werden kann, wenn man die Angst überwindet, zeigt die Friedliche Revolution der DDR. Als genügend Menschen auf die Straße gingen, war das SED-Regime bald Geschichte.“
Bei Politikersprech hört Lengsfeld genau hin
Lengsfeld hört ganz offenbar – was stets ratsam erscheint – bei Politikersprech sehr genau hin. So auch bei dem Merkels. Im März 2020 habe die Bundeskanzlerin gesagt, man sei sich über das Problem Einschränkung der Grundrechtes bewusst, werde aber sehr verantwortungsvoll damit umgehen und jederzeit prüfen, ob das alles weiter nötig ist. Lengsfeld:
„Das ist nicht nur nicht passiert. Sondern inzwischen hat sich das Narrativ gewandelt, inzwischen sind die Grundrechte neue Freiheiten. Die gewährt werden, wenn man sich impfen lässt oder wenn die Regierung meint, es ist soweit. Die jederzeit wieder zurückgenommen werden können.“
Lengsfeld erzählte, sie habe sich von Anfang mit dem Buch von Klaus Schwab, „COVID 19: The Great Reset“ von Schwab/Malleret beschäftigt. Und sie habe nach der Lektüre des Buches festgestellt, „das ist die Blaupause, das ist tatsächlich die Blaupause dessen, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt“.
Angela Merkel sage eigentlich alles, was man vorhabe, so Lengsfeld. Getreu dem Spruch, des alten Fuchses Jean-Claude Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Die Corona-Maßnahmen, meint Vera Lengsfeld, seien für sie ein Testfall, für das, was die Bevölkerung zu ertragen bereit ist.
Lengsfeld meint: Überzeugungen sind der Kanzlerin fremd
Vera Lengsfeld kennt Angela Merkel seit 1990. Sowie aus 16 Jahren Bundestagstätigkeit. Auch aus Privatgesprächen. Ehrlich bekennt sie, sie sei sogar Merkel-Unterstützerin gewesen, als sie sich zu Zeiten des Leipziger Parteitages diese sich als Reformerin gegeben habe. Allerdings habe Lengsfeld, sofort als Merkel Kanzlerin geworden war, gemerkt, dass sie sich in Merkel getäuscht habe. Lengsfeld meint, „dass so was wie Überzeugungen“ der Kanzlerin fremd seien: „Wenn sie überhaupt einen Kompass hat, dass ist der grün bis linksextremistisch.“
Lengsfeld beklagte, dass die Akten der vermutlich 10.000 bis 30.000 Informellen Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit im Westen – die sehr die bundesdeutsche Geschichte beeinflusst hätten – und wahrscheinlich auf den sogenannten Rosenholz-Dateien gespeichert sind, die die CIA aus der DDR fortgeschafft hatte und von US-Präsident Clinton später wieder in die BRD zurückgeschickt worden waren (in der Amtszeit von Innenminister Otto Schily) bis heute weggeschlossen sind.
Heutige Politiker haben fast keinerlei Erfahrungen im wirklichen Leben gemacht
Den bedenklichen Zustand unserer Demokratie erklärt sich Lengsfeld, dass wir inzwischen eine Politikergeneration haben, die einen typischen politischen Prozess durchgemacht hätten: bei der CDU etwa lauf der über die Schülerunion bis hin in den Bundestag. Solche Politiker hätten fast keinerlei Erfahrungen im wirklichen Leben gemacht. Solche Politiker stelle inzwischen die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag, so Vera Lengsfeld. Als sie 1990 in den Bundestag gekommen ist, sei deren Mischung noch viel bunter gewesen.
Solcher Erfahrungen hat später übrigens auch der Dortmunder Bundestagsabgeordneter (früher SPD, jetzt fraktionslos und Mitglied der Partei Die Partei) gemacht (hier und hier).
Heute hätten diese Abgeordneten mit innerparteilichen Kungeleien zu schaffen. Tanze man aus der Reihe, werde man nicht wieder als Kandidat für Landtage oder Bundestag aufgestellt. Weshalb viele auch keinerlei Rückgrat mehr hätten.
Marco Bülow aus seiner Sicht: Bülow erklärte, woher das Nichtwahrnehmen sozialer Probleme vieler Abgeordneten rühre: „84 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, 16 Prozent Nichtakademiker. In der Gesellschaft ist es andersrum: Lediglich 20 Prozent der Menschen Akademiker.“ Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung. Diese Bundestagsabgeordneten bekämen nichts von gravierenden sozialen Problemen mit. In Berlin lebe man unter der Reichstagskuppel und somit in einer Blase. Marco Bülow: „Die Journalisten mit denn man es zu tun hat, die Lobbyisten mit denen man zu tun hat und die Kollegen mit denen man zu tun hat, die haben alle ein sehr gutes Auskommen und ihr Umfeld auch.“ Weshalb deren Fokus weg von den sozialen Problemen sei
Quelle: Claus Stille
Verkehrte Welt im Bundestag: Die Nase läuft, die Füße riechen
Wie Marco Bülow kritisiert übrigens wie auch Vera Lengsfeld, dass im Bundestag die Demokratie sozusagen auf den Kopf gestellt wird. Denn schließlich hätten ja Gesetzesvorschläge aus dem Bundestag zu kommen. Und Regierung als Exekutive hätte sie entsprechend umzusetzen.
Inzwischen laufe es aber umgekehrt, ja geradezu verkehrt (ein Kollege pflegt stets zu sagen: Verkehrte Welt. Die Nase läuft, die Füße riechen.)
Die Bundesregierung kaspert Gesetze aus und die Bundestagsabgeordnete nicken sie ab. Oftmals kennen sie nicht mal die Inhalte richtig. Darüber hat Marco Bülow ein Buch mit dem Titel „Die Abnicker“ geschrieben (hier und hier).
Soweit mein „Appetizer“, wie das heute neudeutsch heißt. Schauen sie das interessante Gespräch mit Vera Lengsfeld. Gerne auch die wirklich empfehlenswerte gesamte Sitzung 41.
Beitragsbild: Screenshot Claus Stille
Die bornierte Falschheit von Maas und Merkel
ARD-aktuell kaschiert ihre Doppelzüngigkeit und gefährliche Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China
Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Für den Hausgebrauch formuliert unser aller Kanzlerin Angela Merkel ihren Kategorischen Imperativ: „Rechtsextremismus müssen wir in den Anfängen bekämpfen, ohne jedes Tabu … sonst haben wir einen vollkommenen Verlust der Glaubwürdigkeit.“(1) Beachtet man allerdings, wie Merkels Regierungssprecher sich ahnungslos und nicht-wissend gegenüber dem Neonazismus und Rassismus im „befreundeten“ Ausland gibt (2) – „Adolf Hitler war der größte Mensch, er hat direkte Demokratie praktiziert“ (3, 4) – dann kann von Glaubwürdigkeit gleich keine Rede mehr sein. Außenminister Maas, „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“ (5), belegt davon unbeschadet den Auschwitz-Befreier Russland mit Sanktionen und verlangt sogar, den Rassisten Nawalny („… diese Drecksjuden!“ [6]) freizulassen. (7) Und die Tagesschau, längst erhaben über jeden Gedanken an kritisch-sauberen Journalismus, verschleiert all den Widersinn und die Doppelmoral der Bundesregierung.
Anlässlich des Jahrestages der rassistisch motivierten Hanauer Morde tat sich die Kanzlerin mal wieder dicke und gab die Vorkämpferin gegen Rechts.
„Wir stellen uns denen, die versuchen, Deutschland zu spalten, mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegen,“ (8)
schnuffelte sie in ihrem wöchentlichen Selbstdarstellungs-Video, und die Tagesschau übernahm den Ausschnitt geflissentlich. (ebd.) Die Hamburger vermieden hingegen sorgfältig, über die vehemente Kritik der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano zu berichten. In einem Grußwort an die Angehörigen der Opfer des Hanauer Massakers hatte Bejanaro über die rassistischen Auswüchse im deutschen Polizeiapparat geklagt:
„Schlimmer noch: Einige Beamte und Beamtinnen sind Teil der Netzwerke. Betroffene werden stigmatisiert und kriminalisiert. Aber wir werden dagegen aufstehen.“ (9)
Solche Worte passen eben nicht zum regierungsamtlichen, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gezeigten Bild vom wohlanständigen deutschen Antifaschismus.
Geldhahn auf für Ukro-Nazis
Angesichts der nazistischen Umtriebe in Kiew (s. Anm. 4) hätten Berlin und auch Brüssel sofort reagieren und für die Ukraine den Geldhahn zudrehen müssen. So hatte es der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko gefordert (10). Stattdessen fließen aus deutschen und europäischen Steuermitteln Milliarden Euro nach Kiew:
„Deutschland hat großes Interesse an einer stabilen, demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Ukraine. Seit 2014 hat Deutschland die Ukraine insgesamt mit über 1,8 Mrd. EUR unterstützt.“ (11)
Eintausendachthundert Millionen Euro zahlte Deutschland bereits an die Regierung in Kiew. An ein politisches System, das den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera zum Nationalhelden kürte. An einen Staat, dessen einst von seinen Wählern bejubelter Präsident Wolodymyr Selensky kurzerhand drei oppositionelle Fernsehsender abschalten ließ, weil deren russlandfreundliche Programmangebote ihm nicht passten. (12, 13) Diesen Frontalangriff auf die Säulen der Demokratie, auf Rundfunk- und Meinungsfreiheit, kommentierte die Bundesregierung auch noch so:
Es ist legitim, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität und nationale Sicherheit schützt und sich angesichts des Ausmaßes von Desinformationskampagnen im Land gegen manipulierte Informationen wehrt. (14)
Denn nur echt demokratisch gesinnte Regierende wissen, was echt wahr und was echt eine Gefahr für die nationale Sicherheit ist – und deshalb echt verboten gehört, gelle? Also unterstützen unsere regierenden Antidemokraten ihre Gesinnungsfreunde und Nazi-Verehrer in Kiew. Und zwar auf diplomatisch-politischer Ebene genauso wie mit massenhaft Kohle. Jüngste deutsche Quertreiberei ganz im Sinne der Ukronazis: Russland hatte in die OSZE eine Initiative eingebracht, um endlich die Umsetzung des Minsk-II-Abkommens zur Befriedung der Ukraine zu erreichen. Sie enthielt nur drei Punkte:
„Unterstützung des vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Minsker Abkommens, Aufforderung nach baldiger Umsetzung und eine Aufforderung an die Strukturen der OSZE, dabei behilflich zu sein.“ (15)
Völlig unerwartet lehnten Kiew und seine westlichen Verbündeten die Initiative ab – auch Deutschland. (ebd.) Und unsere öffentlich-rechtliche Tagesschau? Macht einen großen Bogen um all diese Ungeheuerlichkeiten, wie es sich für einen echten Nachrichtendienstboten gehört.
Gelebte Perversionen
Kommen wir noch einmal auf das geradlinige Denken unseres großen Außenministers Maas zurück, der „wegen Auschwitz“ in die Politik ging (natürlich nicht wegen der Karriereaussichten und der fetten Diäten), ergo ein grundanständiger Mensch sein muss. Wenn´s Covid-19-mäßig klemmt, verweigert er eben doch jüdischen Exilanten aus Russland die Einreise in die Bundesrepublik (16), allem geschichtsbewussten humanitären Anspruch zum Trotz. Dann dürfen nur noch deutsche Spätaussiedler, sogenannte Volksdeutsche, zu uns rein.
Zweierlei Maas, hier haben wir´s in Reinform: Einerseits (wegen des kriminellen Nawalny) die Politik der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland anfeuern und andererseits mahnen:
„Eine wirtschaftliche Isolierung Russlands würde das Land nur weiter in die Arme Chinas treiben …(das) ist nicht nur falsch, sondern gefährlich“. (17)
Das offenbart ein so irres Defizit an Logik, dass man sich unwillkürlich fragt, wo der Notarzt bleibt. Hat dieser Außenminister nicht seit seinem Amtsantritt unzählige Attacken gegen Russlands Regierung geritten? Hat er nicht wieder und wieder mit mörderischer Sanktionspolitik das deutsch-russische Verhältnis schwerstens belastet, auch auf Kosten abertausender syrischer Menschenleben? Die gewaltfreie und dem Bevölkerungswillen gemäße Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation sowie Russlands völkerrechtskonforme Unterstützung Syriens reichen unserem Berliner Hampelmann aus, dem Kreml „Aggression“ vorzuwerfen und dagegen die „Entschlossenheit des Westens“ einzufordern – ganz im Sinne seiner Strippenzieher in Washington. Die Tagesschau wirft ja trotz allem nicht die Frage auf: Wie tief können Hirnrisse eigentlich reichen?
Umsturz-Politik
In transatlantischem Kadavergehorsam unterstützt unser Außenminister die Anstrengungen der USA, den Verlust ihrer Weltherrschaft aufzuhalten und in Russland wieder ein gefügiges Regime à la Boris Jelzin zu installieren. Merkel und Maas sagen nicht selbst, dass das „System Putin“ gestürzt werden soll. Aber sie lassen widerspruchslos zu, dass es einer ihrer konservativen Prolieferanten sagt, der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr:
„Die Ziele, die wir gegenüber Russland haben, sind ja sehr große. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland, das ist sehr schwer zu erreichen mit wirtschaftlichem Druck.“ (18, 19)
„Putin muss weg – Nawalny for president!“ verfolgt das Ziel, Russland wieder dem Westen gefügig zu machen und abermals zu Schleuderpreisen auf seine gigantischen Rohstoffreserven zuzugreifen. Spezialdemokrat Gernot Erler, vormals „Russland-Beauftragter“ der Bundesregierung, kleidete die Hintergedanken in ein hinterfotziges Lob:
„Der Westen respektierte Michail Gorbatschow als einen der Väter der deutschen Einheit und sah Russland in der Jelzin-Zeit auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft. Ein Weg, zu dem sich Präsident Putin bei seiner berühmten Rede im Bundestag 2001 noch ausdrücklich bekannte…“ (20)
Die Oligarchen des “Werte-Westens” wünschen sich die Zustände der Jelzin-Zeit zurück, als vormals sowjetisches Staatseigentum von Wirtschaftsverbrechern wie Michail Chodorkowski geplündert und Milliardenwerte ins westliche Ausland verschoben wurden, so dass die russische Bevölkerung in Hunger und Elend versank.
Krawallny bis zum Geht-nicht-mehr
Mit Alexej Nawalny, einem ausgewiesenen Chodorkowski-Protegé, ließe sich das wohl wieder so einrichten. Er ist ja ebenfalls ein rechtskräftig verurteilter und derzeit erneut vor einer entsprechenden Anklage stehender Wirtschaftskrimineller. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, die russischen Urteile gegen ihn und Chodorkowski als Willkürakte einstufte, spricht eher gegen diese Richter als gegen Russland; der EGMR ist schließlich unübersehbar mit vormaligen Politikern besetzt und macht kein Hehl aus seiner Einäugigkeit. (21, 22) Zu einem ähnlichen Urteil wie dem für Nawalny hat der EGMR sich im Fall des in London eingekerkerten Journalisten Assange nicht aufgerafft.
Ungezählte Male und trotz des Überdrusses der deutschen Öffentlichkeit haben Merkel und Maas – mit tatkräftiger Unterstützung der Tagesschau-Redaktion – ihre Nawalny-Zirkusnummern aufgeführt und ihn zu einem Märtyrer für Freiheit und Menschenrechte stilisiert:
„… Weil er Korruption und Bereicherung in höchsten Kreisen anprangert. Weil er die Willkür von Gerichten und Behörden beklagt. Weil er sich nicht den Mund verbieten lässt. Nawalny rüttelt damit an den zentralen Pfeilern, auf denen das System Putin seit mehr als 20 Jahren steht.“ (23)
Dass der Mann sich eben wieder als rechter Kotzbrocken in einem Gerichtssaal aufführte und mit seinen widerwärtigen Schmähungen sogar hochbetagte Weltkrieg-II-Veteranen überzog, konnte man in hunderten von Beiträgen nationaler und internationaler Medien nachlesen (24, 25, 26), aber nicht von der Tagesschau erfahren. Er beleidigte einen 94-Jährigen derart gehässig, dass der greise Veteran zusammenbrach und am Fortgang der Verhandlung nicht mehr teilnehmen konnte. Dass Nawalny wegen seiner bösartigen Ausfälle zu einer für deutsche Verhältnisse milden Geldstrafe verurteilt wurde, skandalisierte die Tagesschau hingegen mit dicken Krokodilstränen im Knopfloch – sogar als Aufmacher in ihrer Hauptausgabe um 20 Uhr. (27)
Vergessen die Zeiten, als Nawalny auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch so dargestellt wurde, wie er sich selbst gab:
„Früher beschimpfte er Bürgerrechtler und Schwule. Die einen seien ‚quasiliberale Wichser‘ oder ‚senile Trickbetrüger‘, die anderen ‚Schwuchteln‘, die weggesperrt gehörten. … In der Sache bleibt er unverändert.“ (28)
Aus Tagesschau-Sicht ist Nawalny heute ein Held – und Heiko Maas ein angesehener Außenminister. Gründlichere Beobachter kommen allerdings zu einer wesentlich nüchterneren Einschätzung:
„… Heiko Maas ist in dieser Kampagne ein unredlicher Scharfmacher, der völlig ohne Beleg die Behauptung aufstellte, dass es Indizien gebe, dass der Kreml hinter dem Giftanschlag stehe. Das war selbstdem Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer, zu viel, der … zum Agieren von Maas anmerkte, dass ‚diesersodurchdrehe,dass dies kein gutes Zeichen für dieses Land‘ sei.“ (29)
Das Ende vernunftgeleiteter Politik
Inzwischen steht fest, dass Maas – mit Merkels Billigung, denn sie bestimmt die Richtlinien der Politik – die einst freundschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Russland restlos zerstört hat. Der russische Außenminister Lawrow:
„Die deutsche Regierung untergräbt das in Jahrzehnten aufgebaute Vertrauen, das Grundlage für die Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR sowie der Ostpolitik von Willy Brandt war. Heute sagt sich Berlin sowohl von der DDR als auch vom politischen Erbe von Willy Brandt los. Das Band des gegenseitigen Vertrauens ist zerrissen.“ (30)
Eine Meldung mit diesem Zitat hätte in sämtliche Ausgaben der Tagesschau gehört. Sie war ein journalistisches Muss. Doch ARD-aktuell versteckte sogar Lawrows Warnung, Russland werde die Beziehungen zur EU komplett abbrechen, falls sie ihre Sanktionspolitik weiter steigere, sorgfältig in einer stillen Ecke der tagesschau.de. (31)
Unklar bleibt, welche Vorteile unsere Politiker und ihre medialen Wasserträger sich eigentlich von ihren plumpen Attacken gegen Russland versprechen. Einen ergiebigen Anwendungsbereich hat ihre böswillige Feindbildpflege allerdings: Sie dient der Begründung und Rechtfertigung ständig steigender Rüstungsausgaben, sichert also die satten Profite unseres militärisch-industriellen Komplexes.Die Bundesregierungmeldeteder Brüsseler NATO-Zentraletrotz der Corona-Epidemiefür das laufende Jahr „Verteidigungs“ausgaben von 53,03 Milliarden Euro.Das sind fast zehn Prozent Steigerung innerhalb von nur zwei Jahren (32) und katapultiert Deutschland in die oberste Reihe jener Länder, die ihre Militärhaushalte maßgeblich steigern. (33)
Die Musik spielt im Osten
Hatte unser diplomatisches Genie Heiko Maas nicht gerade noch davor gewarnt, „Russland in die Arme Chinas zu treiben“? (Anm. 17) Sch…sch… schon passiert, Heiko: Der chinesische Außenminister Wang Yi hat seinem russischen Kollegen Lawrow bereits im Dezember vorgeschlagen, über ein formelles Militärbündnis mit gegenseitigen Schutzgarantien nach dem Muster der NATO zu verhandeln. (34) Präsident Putin hat zugestimmt – und so könnte ein US-amerikanischer Albtraum wahr werden. (35) An sowas will die Tagesschau natürlich nicht rühren.
Militärische Machtverschiebungen, das kapiert man sogar in den USA,stärken immer auch die Wirtschaftskraft der fraglichen Partnerländer. Ganz besonders in diesem Fall: China fehlen Rohstoffe, die Russland im Überfluss hat, und Russland kann vom technologischen Spitzenstandard und der Leistungsstärke der chinesischen Industrie profitieren. Gemeinsam werden sie weiter anWettbewerbsstärke und globalerBedeutung gegenüber dem Westen gewinnen. Für China ist dabei von Vorteil, dass Russlands hochentwickelte Waffensysteme denen der USA zurzeit weit überlegen sind. Ein Vorsprung, den das gesamte NATO-Bündnis in den nächsten Jahren nicht wird aufholen können.
Nichtsdestotrotz droht US-Präsident Biden verstärkten Kampf „für die Demokratie“ gegen Russland und China an: „Amerika ist zurück!“ (36) Und selbstverständlich kommt das politische Funktionspersonal unserer (Rüstungs-)Wirtschaft, angeführt von Kanzlerin Merkel, eilfertig Bidens Forderung nach und apportiert ihm mit gekrümmtem Rücken eine Verlängerung der Bundeswehr- Einsätze in Afghanistan und Afrika. (ebd.) Dabei sind 61 Prozent unserer deutschen Mitmenschen gegen diese vermaledeiten Auslandseinsätze. (37) Doch Oberdemokratin Merkel pariert trotzdem lieber den Amis.
Biden, Merkel, Maas und alle Kalten Krieger ihres Schlages wären gut beraten, die Sichtweise der chinesischen Kommunisten wenigstens zur Kenntnis zu nehmen:
„Washington und Brüsselhabenan der strategischen Überlegung festgehalten, Russland zu schwächen. Wir glauben jedoch, dass Russland nicht von den USA und dem Westen besiegt wird. Russland hat eine Widerstandsfähigkeit und Ausdauer, die sich die Westler nicht vorstellen können. … Wenn die USA und der Westen jetzt politische Probleme aufwerfen, werden Zeit und Glück nicht an ihrer Seite stehen.” (38, Übers. d. Verf.)
Es gehört schon eine Riesenportion deutsche Dummheit und Arroganz dazu, den russisch-chinesischen Block auch noch mit geradezu bescheuerten Regime-change- Provokationen (von Hongkong über Minsk bis St. Petersburg) gegen sich aufzubringen. Das Merkel-Maas-Ensemble intrigiert ja nicht nur gegen China und Russland, sondern schmiert auch die Revoluzzer in Weißrussland – zur Freude aller transatlantischen Bellizisten. Der Versuch, Weißrussland von Russland abzuspalten, konnte nur die gegenteilige Konsequenz haben: Moskau und Minsk bei deren Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der beiden Staaten zu bestärken. (39)
Konfrontation auf Teufel komm raus
Das „tiefgreifende systematische Unverständnis“ (40) der Bundesregierung hat längst die Spitzenjournalisten der ARD-aktuell infiziert. Kommentarlos ließen sie Heiko Maas tagesschau-öffentlich nach Verlängerung des Mandats für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan rufen. (41) Dass er damit die militärische Ausrichtung Deutschlands auf die geostrategische Konfrontation der USA/NATO mit Russland und China vorantreibt (42) und unser Land zum Schlachtfeld werden kann, hängt für Tagesschau-Redakteure von heute zu hoch.
Es kommt halt immer anders – wenn man denkt. Am Denken hapert es jedoch bei unseren Berliner Strategen und ihrer medialen Hamburger Gefolgschaft. Rechnen wir also weiterhin mit verdeppten Tagesschau-Nachrichten à la „Die Lage spitzt sich weiter zu“, bis Ramstein und Büchel in die Luft fliegen. Denn kein höheres Wesen erbarmt sich unser.
Die Autoren
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert:
Hinweis: Gastbeiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Beitragsbild: von simonschmid614 auf Pixabay
Quellen und Anmerkungen:
(2) https://www.youtube.com/watch?v=-f6B5ilLgkY
(3) https://www.youtube.com/watch?v=tof3OBZ3itM
(4) http://blauerbote.com/2018/09/08/hitler-war-ein-grosser-demokrat/
(5) https://www.juedische-allgemeine.de/politik/ich-bin-wegen-auschwitz-in-die-politik-gegangen/
(8) https://www.tagesschau.de/inland/merkel-hanau-rassismus-101.html
(10) https://www.andrej-hunko.de/component/tags/tag/ukraine
(11) https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/bilaterale-beziehungen/202760
(13) https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/traurige-nachrichten-aus-der-ukraine/
(14) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2440116#content_3
(16) https://www.juedische-allgemeine.de/politik/keine-einreise-nach-deutschland-fuer-juden/
(17) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/russland-nawalny-nord-stream-2-bundestag-100.html
(19) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8527/
(21) https://www.grin.com/document/285038
(23) https://www.tagesschau.de/kommentar/nawalny-urteil-kommentar-101.html
(26) https://www.n-tv.de/politik/Nawalny-droht-Strafe-wegen-Diffamierung-article22364154.html
(27) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-41593.html
(28) https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/nawalny-kritisch-klimeniouk-100.html
(31) https://www.tagesschau.de/ausland/russland-aussenminister-lawrow-101.html
Abgedreht: Merkel, Scholz, Maas, Nawalny. Von Friedrich Klinkhammer und Volker Bräutigam
Mit dieser Regierung ist kein Staat zu machen und von ARD-aktuell kein Journalismus zu erwarten. „Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge“, fand Willy Brandt, erster der vier sozialdemokratischen Außenminister in der 71jährigen Geschichte der Bundesrepublik – und deren einziger rühmlicher. Nach ihm und nach jahrzehntelanger Pause hielt die Degeneration der SPD auch Einzug im Außenamt. Auf dem absteigenden transatlantischen Ast ließen sich Frank-Walter Steinmeier, hernach Sigmar Gabriel und schließlich Heiko Maas nieder. Danach kann nur noch Mickymaus kommen. Unfasslich, aber wahr: Im krassen Gegensatz zu Brandt – dessen Ostpolitik war auf Entspannung und Friedenssicherung gerichtet – sucht Maas heute Provokation und Konfrontation mit Russland. Er hat Kanzlerin Merkels Segen. Beide setzen erwartungsfroh aufs kurze Gedächtnis ihrer Wähler – oder auf deren Apathie. Zeit, dass wir die Erinnerung an ein paar der übelsten Machenschaften dieses Gespanns stützen. Die Tagesschau bringt´s ja nicht. Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam.
Für Agnostiker und Sonstige: Die Gott-ist-tot-Theologie ist belegt. Lebte der Allgütige noch, dann hieße Maas mit Vornamen Heini und wäre nicht Außenminister. Sein ideeller Hoflieferant Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP, wäre ungeboren geblieben oder hätte zumindest keine transatlantisch-imperialistische AgitProp vom Stapel gelassen wie diese:
“Der Fall Nawalny fügt sich in ein zunehmend negatives Bild Russlands im Westen ein, das durch den Skripal-Anschlag, den Tiergartenmord, die Hackerangriffe auf den Deutschen Bundestag und die Einmischungsversuche in die Wahlkämpfe verschiedener westlicher Staaten geprägt ist.“
Keine dieser Bezichtigungen ist mit Tatsachen belegt. Nicht einmal halbwegs diskutable Indizien sprechen für sie. Die Anwürfe wurden in den Giftküchen westlicher Geheimdienste und Propaganda-Apparate kreiert, nach einer Rezeptur, die dem AgitProp-Großmeister Joseph Goebbels zugeschrieben wird, obwohl es keine Primärquelle dafür gibt:
„Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben. … Deshalb ist es von lebenswichtiger Bedeutung für den Staat, seine gesamte Macht für die Unterdrückung abweichender Meinungen einzusetzen … die Wahrheit (ist) der größte Feind des Staates.“
Es geht der Kumpanei von bedenkenlosen Mainstream-Journalisten und hinterhältigen Politstrategen mit dem eingangs zitierten Befund um die Verfestigung russlandfeindlicher Einstellungen und die Unterdrückung davon abweichender Meinungen. Auf diesem Feld macht auch der „Faktenfinder“ seinem Namen und der Institution der ARD-aktuell besondere Unehre, wie sein Beitrag über Nawalny zeigt.
Giftmischer am Werk
Prüft man die Behauptungen auf Tatsachengehalt und logische Konsistenz, dann kommt rein gar nichts dabei heraus. Dröseln wir´s auf:
Der Skripal-Fall ist nicht geklärt. Die britischen Behörden haben Vater und Tochter Skripal einfach verschwinden lassen. Die Gruselmär vom Nowitschok-Attentat auf die Beiden, ausgeführt von erfundenen russischen Geheimdienstkillern nach Drehbuch von James Bond-Filmen, war rundum derart unhaltbar geworden, dass man sie einfach aus den Schlagzeilen verbannte und den „Fall“ der Vergessenheit überließ. War da noch was?
Der „Tiergartenmord“ – Käseblattjournalisten lassen sich ums Verrecken nicht von diesen depperten Metaphern abbringen, Tagesschau-Redakteure schon gar nicht – genauer: Motiv und Hintergründe der Ermordung eines dschihadistischen Gewaltverbrechers im Berliner Tiergarten – ist ebenfalls absolut unklar. Auf der Anklagebank sitzt ein Russe, von dem man nicht mal den Namen mit Bestimmtheit weiß. Auf Basis hauchdünner, reichlich konstruiert wirkender Indizien behauptet der Generalbundesanwalt als oberster, jedoch weisungsgebundener Kläger der Regierung, der Beschuldigte sei ein geheimdienstlicher Auftragsmörder. Mehr ist nicht.
Nach wie vor unbekannt sind die Verantwortlichen für die Hacker-Angriffe auf den Bundestag. Hochprofessionelle Hacker lassen sich nun mal nicht einfach aufspüren, sie können immer falsche Spuren legen. Natürlich verdächtigt unsere politische Funktionselite so kaltschnäuzig wie beweislos den russischen Geheimdienst. Russophobie bis unter die Haarspitzen. Erwiesen hat sich hingegen, dass die US-amerikanischen Schnüffeldienste bei uns längst Hausmeister sind und die NSA sogar das Handy der Kanzlerin abgriff. Der Merkel-Satz „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht“ gehört als weltweit dämlichste Stellungnahme eines Spitzenpolitikers zu einem geplatzten Geheimdienstangriff auf seinen Staat ins Guinnessbuch der Rekorde.
Auch die angeblichen russischen Einmischungsversuche in ausländische Wahlvorgänge sind nachweislich nur Propagandaböller. Sie dienen jedoch fortwährend zur Rechtfertigung zunehmender staatlicher Kontrolle über den öffentlichen Meinungsaustausch. Die vom US-Kongress veranlassten Muller-Untersuchungen gegen Trump haben zweifelsfrei ergeben, dass an der intriganten Kabale namens „Russiagate“ nichts Wahres war. Dennoch wird den Russen auch von deutscher Seite nach wie vor unterstellt, sie versuchten demokratische Prozesse im Ausland zu manipulieren.
An Widersprüchlichkeit, Stupidität und Realitätsferne wie an Feindseligkeit und Gefährlichkeit unerreicht sind die Storys unterm Rubrum Nawalny-Experiment.
Der Faktenfinder der ARD-aktuell hat in Erfüllung seines AgitProp-Auftrags die Einflussagentin Silvia Stöber Gift spritzen lassen, eine Autorin mit privilegiertem Arbeitsvertrag und bescheidener, von der Konrad-Adenauer-Stiftung geschulter Sichtweise. Ihr Artikel beweist, wie billig man Fakten mit Meinung ersetzen und gutes Geld mit schlechtem Journalismus machen kann.
Inkompatibilität, was ist das?
Dass auch im Journalismus Unvereinbarkeitsregeln gelten, hat sich ersichtlich nicht bis zur ARD-aktuell-Chefredaktion und erst recht nicht bei den zuständigen NDR-Rundfunkräten herumgesprochen. Über Stöber ist eigentlich bekannt, dass sie in Georgien an einer Regierungskonferenz teilnahm, die vom Atlantic Council, dem German Marshall Fund of the United States und der Konrad Adenauer Stiftung unterstützt wurde. Wohlgemerkt: Die ARD-Journalistin agierte dort nicht als Berichterstatterin, sondern als Mitwirkende an der Seite von Ministern und NATO-Generälen.
Der zweite Autor des in Rede stehenden Beitrages ist Patrick Gensing, Redaktionsleiter des Tagesschau-Faktenfinders. Von ihm weiß man aus eigenem Bekenntnis, wes Geistes Kind er ist:
„Ich glaube, dass man die Leute eher gewinnen kann, wenn im Journalismus eine Haltung vertreten wird, als wenn man da irgendwie einfach nur Fakten angehäuft werden. (sic) Das ist in meinen Augen auch überhaupt nicht Journalismus.“
Ach so. Gesinnung also statt Fakten. „Leute gewinnen“ statt informieren. Die neue Maßeinheit für miesen Journalismus im übergesetzlichen Notstand: der „Gensing“. Der werte Kollege glaubt doch tatsächlich, er dürfe die staatsvertragliche Pflicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu faktenorientierter, objektiver Berichterstattung in faktenfreie Beeinflussung umkehren. Wenn er das nicht auch noch im Qualitätsdeutsch eines BILD-Reporters gestammelt hätte, würde man zum Schreikissen greifen.
Seine „Haltung“ zeigt er reichlich ungeniert:
„Russland weist stets jede Beteiligung zurück – und schlägt mit Desinformation zurück… Attacken, Vorwürfe – aber keine Angaben zum eigentlichen Thema …: So reagierte Russland oft, wenn der Kreml in der Kritik stand.“
Gensing und Seinesgleichen demonstrieren damit ein absurdes Rechtsverständnis: Wenn Russland nicht beweist, dass die Beschuldigungen unzutreffend sind, dann stimmen die eben. Der Beitrag ist gespickt mit derlei Anwürfen unter Beweislast-Umkehr: „…offenbar von russischen Behörden…, „…mutmaßlich …“, „… es könnte sich um Rache handeln …“
Es zeichnet diesen „Faktenfinder“ aus, dass er keine Fehler einräumt und Falsches nicht richtigstellt. Die fraglos russlandfeindlichen Aussagen der Regierung reflektiert er als unstreitig zutreffend, auf Gegenrecherche und Berücksichtigung der russischen Sichtweise verzichtet er konsequent.
Ohne Ehrgefühl
Auf politischen Konformismus abgerichtete Journalisten interessiert eben nicht, warum die Bundesregierung sich weiterhin weigert, den russischen Ermittlern Zugang zur deutschen Untersuchung des Nawalny-Vorfalls und den vorläufigen Ermittlungsergebnissen zu gewähren. Mehrere russische Rechtshilfeersuchen „prüft“ die Berliner Justizverwaltung seit Wochen, erfüllt ist bisher keines. Dabei liegt doch nahe, die Blut-, Urin- und Gewebeproben, die dem Patienten Nawalny im Krankenhaus Omsk und danach in der Berliner Charité entnommen wurden, noch einmal von unabhängigen Instituten außerhalb Russlands und Deutschlands abgleichen und prüfen zu lassen. So käme man der Wahrheit auf die Spur. Die deutsche Weigerung kann nur einen Grund haben: Merkel, Seibert, Maas & Co. haben etwas zu verbergen, sagen die Unwahrheit und manipulieren die Öffentlichkeit. Eine schlechte Kopie der britischen Skripal-Farce.
Nawalny, der „führende Oppositionspolitiker“, kam ihnen nun in die Quere, unverfroren pöbelnd, wie man ihn halt kennt. Knapp vier Wochen nach seiner vorgeblichen lebensgefährlichen Vergiftung mit Nowitschok sonnt er sich erwartungsgemäß und mopsfidel wieder in medialer Aufmerksamkeit. Ungeachtet seiner medizinischen Erste-Klasse-Versorgung in Deutschland und des ihm gewährten, extrem teuren Personenschutzes, ungeachtet der deutschen Gastfreundschaft, die auch seine Angehörigen und seine politische Entourage einbezog, erdreistete er sich, im Gespräch mit dem Schmutzblatt BILD den Alt-Kanzler Gerhard Schröder als korrupten, aus Schwarzen Kassen bezahlten „Laufburschen Putins“ zu beschimpfen.
Bundeskanzlerin Merkel hätte die Anwürfe umgehend zurückzuweisen müssen, schon aus Selbstachtung und aus Respekt vor der Würde des Amtes, das Schröder vor ihr bekleidet hatte. Nawalny hat sein Gastrecht missbraucht. Schon deshalb hätte Merkel ihn auffordern müssen, das Land zu verlassen. Desgleichen waren Vizekanzler Olaf Scholz und die SPD-Vorsitzenden gefordert, klare Kante zu zeigen. Aber auch sie bestätigten nur ihre Stillosigkeit und Mangel an Ehrgefühl.
Und wie verhielten sich ARD-aktuell und die anderen Medien des Mainstreams angesichts dieses Skandals? Sie schienen ihn feixend zu goutieren. Ihr auffällig neutrales Wiederkäuen des Groschenblatt-Interviews konnte nicht darüber hinwegtäuschen.
Großmaul im Staatsschutz
Größere Verkommenheit und weitergehender Verzicht auf politischen Anstand waren nicht denkbar. Ein rassistisches Großmaul, zuhause mehrmals vorbestraft, unter anderem wegen Steuerbetrugs, gerade erst einen Monat vor dem angeblichen Nowitschok-Attentat mit dem Politreklame-Institut „FPK“ Pleite gegangen, darf sich weiterhin auf Staatskosten unbesorgt in Deutschland erholen. Toll. Merkel kann von Glück sagen, dass Schröder ihr erspart, ihren Protegé Nawalny auch noch vor deutscher Strafverfolgung wegen Verleumdung in Schutz nehmen zu müssen; die politischen Kollateralschäden der Nawalny-Affäre für Deutschland sind schon genug. Schröder ist lediglich gegen BILD zivilrechtlich vorgegangen. Nawalny ist zu klein für eine Begegnung vor Gericht.
Auch Norbert Röttgen, Nullnummer im Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, schaffte es nicht, Schröder zu provozieren. Sein Geifern:
„Dass sich Gerhard Schröder, der ja in bezahlten Diensten im russischen Öl- und Gasgeschäft steht, an der Vertuschung und Verwischung der Verantwortung, die in Russland liegt, beteiligt, erfüllt in Deutschland viele mit Scham. (…) Das trifft auch für mich zu.“
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Hatte der sich so gschamig gebende Herr, selbst Laufbursche der Amis auf der „Atlantikbrücke“, nicht anno 2006 neben seinem Bundestagsmandat unbedingt auch noch Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie werden wollen, weil er den Hals gar nicht voll genug kriegen konnte?
Aus einem anderen trüben Tümpel quakt der sozialdemokratische „Russlandexperte“ Gernot Erler. Putin solle beweisen, dass staatliche russische Stellen nicht in den Nawalny-Fall verwickelt seien. Schröder habe zwar recht, wenn er sage, dass es keine gesicherten Fakten gebe. Aber:
„Wenn man rein rechtlich das betrachtet, rein juristisch, ist das zutreffend, aber natürlich nicht politisch. … Es ist auch schwer beweisbar, dass Putin hinter diesem Anschlag steht. Aber die politische Verantwortung ändert sich ja dadurch nicht und der muss sich Russland stellen. Und da können wir nicht länger akzeptieren, dass dieser Spruch, der immer wieder kommt – „keine Beweise“ – dann die einzige Antwort ist”.
Zu Brandts und Wehners Zeiten hätte ein sozialdemokratischer Exponent für diese gleichermaßen hinterhältige, diffamierende und dummdreiste Sprücheklopferei von seiner Parteiführung eine Abreibung der Extraklasse bekommen. Heute sind solche rechtsdrehenden Absonderungen politische Norm. Würde „der Kreml“ sich derartige Denkweisen zu eigen machte, könnte er Kanzlerin Merkel politisch und den deutschen Staatsschutz juristisch für jeden relevanten Mord hierzulande verantwortlich machen, vom Attentat beim Münchner Oktoberfest bis zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheid-Platz; Moskau könnte – nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ – unter Hinweis auf rechtsextreme Netzwerke im deutschen Sicherheitsapparat und auf deutsche Demokratiedefizite Sanktionen verhängen, beispielsweise mal den Gashahn zudrehen.
Die Sanktionitis ist endemisch
Womit wir wieder zu Maas kommen, fast wäre er uns durchs Sieb gefallen. Seine sanktionsbewehrten Demarchen sind ja im Grund nur hochfrequente Hilfeschreie, ihn doch bitte bitte endlich auch für voll zu nehmen. Ob mit Vorstößen in der UNO, in Syrien, in Libyen, in der Ukraine oder in Weißrussland, die südamerikanischen und die fernöstlichen Gefilde nicht zu vergessen: Überall hat der Mann nur Pups im Parfümladen gespielt, statt seines Amtes zum Nutzen unseres Landes zu walten. Jetzt hat er doch tatsächlich mithilfe Frankreichs neue EU-Sanktionen gegen ein paar vermeintlich schuldige russische Amtsträger erwirkt. Beflissen bot sich ihm die Tagesschau als Bühne an, auf der er wieder Warmluft ablassen konnte. Nun denn, wenigstens fordert er nicht mehr, über den Verzicht auf die Fertigstellung der Gasrohrleitung Nord Stream 2 nachzudenken.
Moskau hat natürlich Gegensanktionen angekündigt. Originell wäre es, unserem Staatsgast Nawalny bis zur einwandfreien Klärung des vorgeblichen Nowitschok-Anschlages die Rückkehr nach Russland zu verweigern. Dann müsste Heikos Kabinettskollege Horst Seehofer schauen, wie er mit dem „bedeutendsten russischen Exil-Oppositionspolitiker“ und dessen Effekthaschereien klarkommt.
Nicht ausgeschlossen ist, dass Maas aus schierer Geltungssucht selbst von den Oliv-Grünen abkupfert: Deren „Experte“ Stefan Meister nämlich, wohlbestallter Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, verstieg sich zu der Empfehlung, Russland mit einer „robusten EU-Mission“ in der Ost-Ukraine unter Druck zu setzen. Einen völkerrechtswidrigen Krieg beginnen, um einen der westlichen Geschäftemacherei hinderlichen Bürgerkrieg in der Ukraine zu beenden: Auf solche hirnrissigen Einfälle kann nicht mal Maas ohne grüne Nachhilfe kommen.
Zu Beginn unserer Überlegungen hatte der aufrichtige Friedenspolitiker Willy Brandt das Wort. Am Schluss wollen wir Frank-Walter Steinmeier zitieren, einst Handlanger in Schröders völkerrechtswidrigem Angriffskrieg auf Jugoslawien, später Mitwirkender an der Vorbereitung des blutigen Staatsstreichs in Kiew. Heute gibt er die pastoral säuselnde Silberpappel:
„Feindbilder, Stimmungsmache und Kampagnenjournalismus sind ein Missbrauch dieser vierten Gewalt, ebenso wie eine fortgesetzte Verletzung der Sorgfaltspflicht“
psalmodierte er bei der Eröffnung des Springer-Neubaus am 6. Oktober in Berlin. Er muss längst nicht mehr befürchten, dass ihm ein Journalist den Spiegel vorhält. Berufen zu dergestalt kritischem Nachrichtenjournalismus wären die Redakteure im ARD-Hauptstadtstudio. Aber – wir sagten das eingangs schon – die bringen es einfach nicht.
Das Autoren-Team:

- Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
- Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: publikumskonferenz.de/blog.
Nawalny-Nachrichten: Merkel erwirkt Denkverbot
Bildquelle: unbekannt
Nawalny-Nachrichten: Merkel erwirkt Denkverbot
ARD-aktuell schaltet fügsam die Stromzufuhr zu den Resthirnen ab.
Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Gral der Erleuchteten, mit elf Buchstaben? ARD-AKTUELL. „Ach, die schon wieder“, seufzt Tantchen Trudi aus Berlin. Wie oft hat sie uns schon erinnert, das Gute auf der Welt sei aber nicht ohne das Böse zu denken? Der Wertewesten, also wir, kann nun mal nicht ohne den bösen Russen. Wer´s bezweifelt, gurgle bitte Tee mit Nowitschok-Geschmack, dieser hinterfotzigen, allertödlichsten Chemiewaffe, von den „Soffjets“ ausgebrütet. Es ist daher für Tagesschau und Tagesthemen nur konsequent, dass Bundeskanzlerin Merkel beweislos behauptet, Alexei Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden und Putin müsse jetzt umgehend dazu Stellung nehmen. Da gibt’s keine redaktionelle Rückfrage, das wird uns im O-Ton rapportiert. Für ARD-Qualitätsjournalisten hat nämlich nur US-Präsident Trump einen an der Waffel, weil er seinen Mitbürgern empfahl, Sagrotan gegen den Virus SARS-Cov2 zu schlucken. (1)
Es ist unglaublich, was die deutsche Politelite und der ihr hörige Medien-Mainstream der Öffentlichkeit mit der Nawalny-Nummer zugemutet haben. Selbst nach einer Woche lebt die Story immer noch: Der böse Wladimir Putin und seine Geheimdienstkiller haben den „führenden russischen Oppositionspolitiker“ Alexei Nawalny im Gulag-Sibirien erst mal mit Nowitschok abgefüllt. Dann wollten sie das vertuschen und haben so getan, als wollten sie sein Leben retten. Und dann haben sie ihn samt Familie und Propagandamannschaft nach Deutschland ausfliegen lassen, damit dort die gemeine Vergiftung von der Bundeswehr nachgewiesen werden kann. (2, 3) Schmerz, lass nach!
Solchen Schmarren servierte ARD-Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga am 2. September in vollem Ernst. (4) Liebhabern der Realsatire sei dieser Tiefpunkt des bundesdeutschen Nachrichtenjournalismus´ zur Betrachtung anempfohlen; die komprimierte Ansammlung von Verstößen gegen zentrale Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrags (5) ist in der ARD-Mediathek abrufbar.
Die Sendung erreichte 2,27 Millionen Zuschauer und einen „Marktanteil“ von 11,1 Prozent. Sie begann hochdramatisch, ohne Begrüßung und übliche Anmoderation, mit O-Ton der Bundeskanzlerin:
“Alexei Nawalny wurde Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Dieses Gift lässt sich zweifelsfrei in den Proben nachweisen. Damit ist sicher: Alexei Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden und ich verurteile das im Namen der ganzen Regierung auf das allerschärfste.” (Anm. 4)
Miosga verstand es nicht als ihre Aufgabe, die apodiktischen Behauptungen der Kanzlerin distanziert zu zerlegen und kritisch zu beleuchten. Sie kann sowas nicht. Wer alt genug ist, das seichte Geschwätz des TT-Moderatoren-Gespanns Miosga / Zamperoni mit den journalistischen Glanzleistungen zu vergleichen, die Barbara Dickmann und ihr Kollege Hanns-Joachim Friedrichs vor 40 Jahren als Tagesthemen-Moderatoren der ersten Stunde vollbrachten, spürt ´nen Kloß im Hals.
Miosga fiel keine einzige relevante Frage zur Aufhellung des Sachverhalts ein, obwohl selbst das ZDF schon vor Jahr und Tag zu Nowitschok verkündet hatte:
„Für die Herstellung solcher Stoffe braucht man nicht unbedingt eine staatliche Infrastruktur.“ (6)
Möglicherweise war das unserer begnadeten Fachfrau fürs Nichtbegreifen der Hintergründe einer Nachricht nicht einmal bekannt. Aus vermutlich gleichem Grund verlor sie auch kein Wort darüber, dass ausgerechnet ein – wohlgemerkt anonymes – weisungsgebundenes Bundeswehr-Labor und nicht eine unabhängige zivile Institution die angeblich von Nawalny stammenden Proben untersucht hat.
Sachkenntnis behindert nur
Miosga und ihre Redaktion hatten ersichtlich auch nicht daran gedacht, erst mal bei der Leitung der Charité in Berlin nachzufragen, von wem und warum deren Wissenschaftler angewiesen worden waren, die Bundeswehr einzuschalten – und warum sie sich nicht beispielsweise an das erstklassige zivile Hamburger „Institut für Hygiene und Umwelt“ (7) gewandt hatten, eines der ganz wenigen Fachinstitute weltweit, die ein Spitzen-Zertifikat der UNO vorzuweisen haben. Wir hätten gerne erfahren, ob sich die toxikologischen Kapazitäten der Berliner Charité – wie die ARD-Anstalten eine öffentlich-rechtliche Körperschaft – nicht von der Bundesregierung veralbert und missbraucht fühlen.
Der fade Geschmack, den man bei dem Vorgang empfindet, rührt daher, dass der Bundesnachrichtendienst Anfang der 90er Jahre bei einer Geheimoperation unter Mitwirkung der Bundeswehr ans russische „Nowitschok“ gelangt war, wie die führende russophobe Süddeutsche Zeitung zu berichten wusste. (8)
Eine Miosga und die ihr zuarbeitenden rund 20 Redakteure interessieren solche Feinheiten anscheinend nicht. In Ihrer Sendung – volle 14 Minuten allein über das Thema Nawalny / Nowitschok – durfte Reporterin Kerstin Balzer frech an Standard-Vorurteile anknüpfen:
„Ob der Kreml mit dem Giftanschlag zu tun hat, ist jetzt die große Frage“ (Anm. 4)
Der Kreml. Alles klar. Schon irritierte nicht mal mehr, dass der vormalige Abgeordnete der Linkspartei, Jan van Aken, vorsichtig anmerkte:
„der Verdacht liegt nahe, das Gift könnte aus Moskau kommen, es könnte aber auch von anderen Geheimdiensten sein, die es Moskau in die Schuhe schieben wollen“ (ebd.)
Gesunde Zweifel an dem Getöse der Kanzlerin zu wecken, war unerwünscht. Miosga griff van Akens Hinweis nicht auf. Vielmehr gab sie der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt Gelegenheit, zu gemeinsamen Strafaktionen Deutschlands, der EU und gar der USA gegen Russland aufzurufen – und den ultimativen, US-gefälligen Schuss ins deutsche Knie zu verlangen:
„Nordstream 2 ist nichts mehr, was wir gemeinsam mit Russland vorantreiben können“ (ebd.)
In diesem intellektuellen Souterrain verblieb denn auch Moderatorin Miosga, als sie die russophobe ARD-Korrespondentin Ina Ruck in Moskau fragte:
Die Bundesregierung scheint sich sicher zu sein, dass hinter dem Giftanschlag der russische Staat steckt. Was spricht dafür?
Merken wir was? Ruck servierte prompt das gewünschte Pflaumenmus:
„Kampfstoffe wie dieses Nervengift werden seit Sowjetzeiten in Geheimlaboren hergestellt und ich glaube, wir können sicher sein, dass die Zeiten vorbei sind, dass man solche Stoffe irgendwo auf dem Schwarzen Markt kaufen kann. … Diese Labore sind unter strenger Kontrolle der Geheimdienste. Das mag der Grund für die Annahme sein, dass das hier kein zufälliger Kriminalfall ist. (ebd.)
Solches Gelaber – „ich glaube, wir können sicher sein …“ „das mag der Grund für die Annahme sein…“ ist Ina Rucks Ersatzformel für: „Ich weiß nix Genaues, ich hab keinen Schimmer, worüber ich hier daherrede: Hauptsache, ich bin auf Sendung und kann meinen schnellen antirussischen Beißreflex zeigen. Gelle?
Hetzer am Werk
Russland ist vor mehr als 20 Jahren dem „Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen“ (9) beigetreten und Mitglied der Überwachungsorganisation OPCW. (10) Darauf spricht Miosga die Moskau-Korrespondentin Ruck aber nicht an – weiß diese Moderatorin überhaupt davon? Man dürfe jetzt in Berlin nicht zufrieden sein, hechelt sie, sondern müsse zu
„Sanktionen greifen. Und wie könnten die aussehen und was heißt das für das deutsch-russische Verhältnis? Ich habe den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen gefragt.“ (Anm. 4)
Der zeigt denn auch wie erhofft, was ein ausgewiesener Russenfresser und Stellvertretender Vorsitzender der Atlantikbrücke so auf der Pfanne hat. Auszüge (wörtliche Mitschrift. Für das verkorkste Deutsch ist Röttgen selbst verantwortlich):
Jetzt sind wir erneut brutal in die menschenverachtende Realität des Regimes Putin damit konfrontiert worden … Es muss eine klare harte europäische Antwort geben … Wenn es jetzt zur Vollendung des Gasprojekts Nordstream 2 käme, dann wäre das die maximale Bestätigung und Ermunterung für Waldimir Putin … Es gibt nur eine einzige Sprache, die Putin versteht … deshalb muss man über die Nichtvollendung der Pipeline sprechen. … Putin ist abhängig von den Erdgasverkäufen an uns. (ebd.)
Tiefsinnige Erörterung der Prinzipien demokratischer Rechtstaatlichkeit erübrigt sich angesichts der Entgleisungen. Befragung der deutschen Zuständigkeit, Unschuldsvermutung, sachliche Beweiswürdigung als Voraussetzung für unabhängiges Urteilen und jegliche Planung einer Bestrafungsaktion: überflüssig. Für die Kanzlerin steht der Schuldige fest und hat damit für alle anderen Deutschen ebenfalls als schuldig zu gelten:
„Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt.“ (ebd.)
Der Außenminister-Darsteller Heiko Maas tutet natürlich ins gleiche Horn, und die Tagesthemen verbreiten auch sein Gedöns ohne Rückfrage:
„Wir werden in den nächsten Tagen darüber beraten, wie wir in Europa darauf angemessen reagieren können. Darüber werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich nun verhält.“ (ebd.)
Ein wahres Glück, dass einigen Vernunftbegabten unter den EU-Ratsmitgliedern das US-amerikanische Motto „erst schießen, dann fragen“ noch zuwider ist.
Bundesregierung und Tagesschau-Redaktion unterschlugen den sehr bedeutsamen Umstand, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft bereits fünf Tage zuvor, am 27. August, ein Rechtshilfeersuchen nach Berlin geschickt hatte, um eine auf die deutschen „Erkenntnisse“ bezogene Untersuchung einleiten zu können, die über die eigenen polizeilichen Vorermittlungen in Russland hinausgeht. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet. (11) Dahinter steckt böse Absicht, wie man durchaus nachvollziehbar und nicht nur in Moskau vermuten darf. (12)
Primitive Agitation statt Journalismus
Nach all den O-Tönen, Moderations- und Reportertexten hatte die ARD-aktuell immer noch nicht genug. Zur Krönung ihres Spitzenprodukts von AgitProp erlaubte sie der Barrikadenbraut Golineh Atai ein visuelles und intellektuelles Attentat auf die mentale Integrität des Zuschauers. In ihrem Kommentar – nee, bei ARD-aktuell heißt der ja jetzt „Meinung“ – durfte sie ein Visa-Verbot für einen erweiterten Kreis von Russen fordern, das Einfrieren russischer Vermögenswerte vorschlagen und – darauf kam es an – die sofortige Kündigung des Nordstream 2-Projekts.
In Atais von Sachlichkeit und Rechtsverständnis unbelasteter Suada fehlte nur noch der Vorschlag, Putin und seinen Außenminister Lawrow umgehend auf dem Roten Platz in Moskau zu füsilieren. Merkwürdig, dass sie darauf verzichtete, denn spätestens seit ihrer fälschenden und verlogenen Ukraine-Berichterstattung ist sie für ausgeprägte journalistische Bösartigkeit bekannt. Erst kürzlich fiel sie wieder einmal unangenehm auf, als sie per Twitter versuchte, den Philosophen Richard David Precht öffentlich anzupinkeln, weil er ihr nach einer Maischberger-Sendung über Weißrussland komplette Ignoranz vorgeworfen hatte. (13)
Strich drunter. Es geht der ARD-aktuell nicht um unparteiische, sachgerechte, umfassende Information über Russland und diesbezügliche geopolitische Zusammenhänge; bitte machen Sie sich selbst ein Bild anhand der von uns hier betrachteten Sendung.
Wir jedenfalls konstatieren: Die Nachrichten-Zentralredaktion des Ersten Deutschen Fernsehens vermittelt bei vollem Bewusstsein der Problematik schiere antirussische Propaganda. Sie erzeugt gezielt Ablehnung und Hass, sie malt Feindbilder von einem Land, das schon einmal Opfer deutscher Machtfantasien war und mit 26 Millionen Toten für die Befreiung von unserer Obsession bezahlte. Diese Machtfantasien werden heute nur anders serviert, sind aber auf identische Ziele ausgerichtet. Neu, beinahe humoristisch, ist dabei der Dilettantismus, mit dem unsere hochdotierten Qualitätsjournalisten vorgehen.
Wegbereiter des Krieges
Beruhigen darf uns das allerdings nicht. Der Publizist Ulrich Teusch nannte diese Art der Propaganda “Der Krieg vor dem Krieg” und stellt die berechtigte Frage: ”Wie oft haben Medien durch tendenziöse, emotionalisierende Berichterstattung und Kommentierung für den Krieg gesorgt? Wie oft haben sie jene gesellschaftliche Sportpalast-Atmosphäre erzeugt, die ihn erst möglich machte?” (14)
Wie zu Jelzins Zeiten schon greifbar nahe, will die US-geprägte transatlantische Plutokratie die unermessliche Russische Föderation und ihre reichen Bodenschätze kontrollieren, nicht bloß Westeuropas Regierungen an der Kandare halten. In Moskau bestimmen zwar keine Waisenknaben, aber sie sind die gegenwärtigen Garanten des Weltfriedens. An Putin und Lawrow besticht die gelassene Sachlichkeit, die sie den gehässigen Angriffen transatlantischer Politiker und Journalisten entgegenbringen. Sie üben eine geostrategische Bremsfunktion aus und lassen damit den Wertewesten immer wieder auflaufen: in Venezuela oder in Syrien, in der Ukraine oder in Libyen, im Umgang mit dem Iran oder in den Vereinten Nationen.
Aischylos, griechischer Schöpfer der klassischen Tragödie, erkannte schon vor 2 500 Jahren: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“. Nach tausendfacher Erfahrung weiß man heute, dass die von Politikern vorgebrachte Lüge erst nach ihrer Verbreitung durch Journalisten wirklich kriegswirksam wird. Der Bombenkrieg gegen Afghanistan begann 2001 mit der Lüge, dort säßen die Verantwortlichen für den Anschlag auf die Zwillingstürme in New York. Die Mär, Saddam Hussein besitze heimliche Massenvernichtungswaffen, diente anno 2003 zur Begründung des Dritten Irakkriegs. Die Kriege gegen Libyen 2010 und gegen Syrien 2011 wurden mit Lügen über die angeblich „mörderischen Regimes“ der Präsidenten Muammar Gaddafi und Baschir Assad losgetreten. Haben unsere Qualitätsjournalisten jemals sichtbare Erkenntnisse aus der üblen Historie gewonnen und Konsequenzen aus dem bösartigen Geschwätz der Politiker gezogen?
Nicht die Bohne. Tendenzfreie, professionell recherchierte und friedensförderliche Nachrichten sind bei Tagesschau und Tagesthemen so selten wie dicke Briefträger bei der Post.
Wir erlauben uns ein Postskriptum
Einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Maas, Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer und die gesamte Stahlhelm-Fraktion von CDU und Grünen im Deutschen Bundestag:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Damen und Herren Volksvertreter mit und ohne Ministeramt,
Am 3. Januar dieses Jahres befahl US-Präsident Donald Trump, den iranischen General Kassem Soleimani zu ermorden. Er ließ sich live unterrichten, als eine Drohne MQ-9-Reaper auf dem Flughafen Bagdad die Wagenkolonne des Iraners mit Raketen beschoss. Außer Soleimani wurden zehn weitere Menschen zerfetzt, darunter ein Flughafenarbeiter. Die Aktion wurde über die US-Relaisstation in Ramstein/Pfalz gesteuert und Deutschland zum Mordkomplizen gemacht. Haben Sie von Trump und der US-Administration eine Erklärung verlangt? Haben Sie den deutschen Generalbundesanwalt angewiesen, ein Ermittlungsverfahren gegen den Massenmörder im Weißen Haus in Washington einzuleiten? Nein?
gez. Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.tagesschau.de/ausland/trump-desinfektionsmittel-101.html
(3) http://thesaker.is/russians-are-the-dumbest-most-incompetent-idiots-on-the-planet/
(4) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-7737.html
(5) s. § 11, Auftrag. https://www.ard.de/download/538848/Staatsvertrag_fuer_Rundfunk_und_Telemedien_in_der_Fassung_des_20__Aenderungsstaatsvertrags__vom_8__bis_16__12__2016.pdf
(6) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nawalny-nowitschok-russland-bundesregierung-100.html
(7) https://www.hamburg.de/hu/
(10) https://www.opcw.org
(11) https://www.n-tv.de/politik/Russen-bitten-im-Fall-Nawalny-um-Auskuenfte-article22004076.html
Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog
Blumen für Stukenbrock 2020 – Bericht vom Tag des Gedenkens und Mahnens
In diesem Jahr stand die Mahn- und Gedenkveranstaltung „Blumen für Stukenbrock“ unter dem Motto „75 Jahr nach der Befreiung – Alles für den Frieden. Mahnen und Gedenken zum Antikriegstag 2020“.

Gruppe dess Fördervereins Gedenkstätte Internationales Rombergpark Komittee. Vorn Mitte: Eugen Drewermann und rechts neben ihm der stellvertretende Generalkonsul der Russischen Föderation Walerie Iwanowitsch Sidorow. Fotos: C. Stille
Die Gedenkveranstaltung erinnert alljährlich an die 65 000 in Stukenbrock von den Nazis dort zu Tode gequälten sowjetischen Kriegsgefangenen. Der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock e.V.“ möchte damit die Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager Stalag 326
und die sowjetischen Kriegsgefangenen, welche dort unermessliches Leid hatten erleiden müssen, wachhalten. Und so dazu beitragen, dass der Friede zwischen den Menschen und den Völkern erhalten bleibt bzw. ein für allemal erkämpft werden möge. Der Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen seinerzeit systematisch organisiert worden. Deren einzelnen Grabstätten und die Massengräber des sowjetischen Soldatenfriedhofs zeugen von dem unvorstellbaren Verbrechen, das die Wehrmacht an den Kriegsgefangenen verübte.
Eine Dortmunder Gruppe nahm zum wiederholten Male am Gedenken „Blumen für Stukenbrock“ teil. Den Bericht vom Vorjahr finden Sie hier.
Der Besuch am Gedenkort Stukenbrock wurde organisiert vom , Förderverein der Gedenkstätte Steinwache-Internationales Rombergpark-Komitee e.V. in Dortmund.
Die Gedanken des Arbeitskreises Blumen für Stukenbrock für die Mahn- und Gedenkveranstaltung zum Antikriegstag 2020 standen im Zeichen von „75 Jahre nach der Befreiung – Alles für den Frieden!“
Worte der Mahnung und des Gedenkens sprach in diesem Jahr als Hauptredner der Veranstaltung am 5. September 2020 Dr. Eugen Drewermann.
Wie von dem bekannten Theologen, Friedenskämpfer, Psychoanalytiker und Schriftsteller nicht anders zu erwarten war, sprach er teils hochemotional eindringliche Worte der Mahnung. Zum Gedenken am Obelisken hatten sich etwa 300 Menschen, Bundes- und Landtagsabgeordnete, Kommunalpolitiker, Vertreter der Parteien SPD, DIE LINKE und der DKP, sowie der stellvertretende russische Generalkonsul Walerie Iwanowitsch Sidorow eingefunden. Das Gedenken begann mit Kranzniederlegungen. Der Toten wurde mit einer Schweigeminute gedacht.
Eine kluge, rührende, berührende, hochemotionale und aufrüttelnde Rede des Friedenskämpfers Eugen Drewermann
Man erinnere mit diesem Gedenken an ein Ereignis, so hob Drewermann an, „das nie mehr wiederkommen darf und soll, verbunden mit dem Wunsch, dass das, was wir hier tun, bundesweit zu einer Pflicht wird.“
Eugen Drewermann mahnte, das wir Deutsche 27 Millionen zu Tode gekommene Sowjetbürger zwischen 1941 und 1945 zu verantworten haben:
„Für keinen einzigen hat die Bundesrepublik bis heute irgendetwas an Wiedergutmachung oder Bedauern gegeben oder geäußert.“
Die BRD sei 1949 als Aufmarschgebiet im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gegründet worden. „Es war kein Ort des Friedens. Wir waren vereinnahmt als Befreite – im Grunde den Krieg zu Ende zu führen, damit Stalin gestürzt würde.“
Drewermann appellierte:
„Aus dieser Klammer müssen wir uns befreien. Und daran denken, was die Wirklichkeit war.“ Stukenbrock sei nur ein kleiner Ausschnitt des Verbrecherischen in Tat und Gesinnung, das „über Gesamtsowjetrussland herfiel und mit System zur Unterdrückung der slawischen Rasse und zu Okkupation ihrer Landfläche als Lebensraum im Osten für das faschistische Deutschland geplant und durchgesetzt werden sollte“.
Die sowjetischen Menschen seien in der Verteidigung gegen die Hitler-Armee nicht für Stalin gestorben, sondern, um eine Würde zu behalten, machte Dr. Drewermann klar.
Er erinnerte auch daran, dass der Obelisk, an welchem man sich nun versammelt habe, ursprünglich in einer Darstellung der gläsernen sowjetischen Fahne mit Hammer und Sichel „gegipfelt“ habe. „Das durfte nicht sein“, so Drewermann „und gibt es bis heute nicht“. Die Fahne der Roten Armee bedrohte uns nicht, wenn wir sie interpretierten: „Wir erinnern uns an Menschen, die ihren Stolz nicht verlieren wollten, die nicht Sklaven werden wollten. Und für Werte eintraten, die sie in ihren Herzen fühlten.
„Russland ist ein Teil Europas“
Eugen Drewermann unterstrich ohne Wenn und Aber: „Russland ist ein Teil Europas.“ Man könne das bezüglich der Frage debattieren, ob die Pipeline Nordstream 2 zu Ende gebaut werden soll und ob wir uns wirklich wirtschaftlich abhängig werden oder machen sollten von Russland. „Die Nawalny-Affäre nimmt man zum Vorwand, das Ganze zu stoppen.“
Es wären doch gemeinschaftlichen wirtschaftliche Interessen – ein gemeinsamer Korridor, der uns verbinden könnte und „die simpelste Vernunft“. „Aber darf das sein?“
Weshalb er daran erinnere, „dass Russland und Westeuropa kulturell eine Einheit sind“. Die deutsche Literatur sei nicht zu denken ohne Puschkin, ohne Dostojewski, ohne Tolstoi, ohne Gorki. Es sei nicht möglich zu begreifen, wie man spricht, „ohne sich dieser Geister zu erinnern“.
„Es kann Frieden nur geben im Einklang mit Russland!“
Aus tiefster Seele heraus mahnte Eugen Drewermann: „Es kann Frieden nur geben im Einklang mit Russland!“
Drewermann erinnerte an verpasste Chancen: 1989 sei es der Russe Michail Gorbatschow gewesen, der den Vorschlag der Entmilitarisierung und Abrüstung vom Ural bis zum Atlantik ins Gespräch brachte. Frieden in ganz Europa sei möglich gewesen: „Wir hätten nur zugreifen müssen!“ Doch mit Busch dem Älteren sei das nicht zu machen gewesen. US-Außenminister James Baker habe Gorbatschow versprochen, die Nato werde sich nicht einen Zentimeter nach Osten bewegen. Drewermann: „Eine glatte Lüge! Wir sehen Tag für Tag das Gegenteil.“
Eine Alptraum: Sicherheit sei, wenn wir mit Atombewaffnungen einen Schrecken verbreiten könnten, der die ganze Welt vernichten könnte. Nur dann wären wir sicher. Bei millionenfachen Mordpotential könnten wir ruhig schlafen? Dr. Drewermann fragte: „Was für einen Sprung in der Schüssel haben eigentlich Leute, die sich diese Art von Sicherheit ausdenken?! Die sind gemeingefährlich!“
Eugen Drewermann führte die Behauptung des Westens, Putin bedrohe uns, ad absurdum und zieh sie der Lüge, indem er die enormen Rüstungsausgaben von Nato und USA denen vergleichsweise mickrigen von Russland – die freilich auch für bessere Zwecke genutzt werden könnten – gegenüberstellte.
Der Friedenskämpfer Drewermann erinnerte auch daran, dass Putin „auf sogenannten Sicherheitskonferenz in München davor warnte, in den Kalten Krieg zurückzufallen“. Mittlerweile seien wir dabei ihn zu favorisieren.
Drewermann: „Aus den Teufelskreis des Wahnsinns müssen wir herauskommen, oder wir ziehen ewig die falsche Lehre aus dem 2. Weltkrieg und aus Stukenbrock!“
Wir könnten ungeheure Mittel zur Lösung der Probleme einsetzen auf dieser Erde. Wir müssten vom Militär freilich Abschied nehmen. Die dritten Lektion sei dies, die wir lernen müssten neben diesen: „Russland gehört zu Europa, die Militarisierung der Außenpolitik muss beendet werden.“ Und: „Wir sollten heute lesen Kants Ideen zum ewigen Frieden – etwas ganz einfaches“, empfahl Eugen Drewermann. Abrüsten sei das Gebot der Stunde.
Die US-Airbase Ramstein müsse geschlossen werden, um die Drohnenmorde zu beenden, wie Büchel geschlossen werden müsse, um die dort lagernden US-Atomwaffen loszuwerden. Immerhin, brachte Drewermann in Erinnerung, habe Guido Westerwelle als Außenminister genau das Letztere vorgeschlagen.
Mit Bundeskanzlerin Merkel aber sei das nicht gegangen, weil sie – „amerikahörig“ – dies nicht gewollt habe.
Und, sagte der Friedenskämpfer, „dass wir uns eigentlich dagegen sträuben sollten, darüber zu debattieren, ob man mit oder ohne Maske in die Schule geht. Bundeswehroffiziere, die im Auftrag von Frau Annegret Kramp-Karrenbauer sechzehnjährigen Mädchen beibringen, dass das Töten von Menschen im Militär ein ganz normaler Beruf ist, gehören in überhaupt keine Schule! Weder mit noch ohne Maske.“
Es bleibe, meinte Drewermann, zu fragen, was die politische Verantwortung und das politische Richtmaß für einen Politiker sei.
„Er steht in der Öffentlichkeit. Also gibt einen einzigen Imperativ: er muss so handeln, dass die Absicht seines Handelns jederzeit öffentlich gemacht werden könnte. Wenn das nicht ist, wenn die Lüge normal ist, die Spionage, die Geheimdiplomatie, das Agententum – kann Politik moralisch nicht verantwortet werden.“
„Wir weigern uns ganz simpel den Lügen noch zu glauben. Auslandseinsätze der Nato, der Bundeswehr sind keine Friedensmissionen. Krieg ist nicht Frieden! Und humanitäre Verantwortung kann nicht darin bestehen, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien, in Somalia – wo immer Sie hingucken – deutsche Beiträge zu leisten, um Länder zu okkupieren und umzuformen, weil sie gerade da liegen, wo die Rohstoffe sind, Durchfahrtswege für die Handelszonen sind. Weil wir uns bedienen. Das Zeitalter des Kolonialismus hat zu Ende zu sein!“
Eine kluge, rührende, berührende, hochemotionale und aufrüttelnde Rede des Friedenskämpfers Eugen Drewermann. Ihm, der nun bereits zum zweitem Male seine Verbundenheit mit der Gedenkarbeit in Stukenbrock unter Beweis stellte, wurde an diesem 5. September eine Gedenkmünze des Arbeitskreises „Blumen für Stukenbrock“ überreicht.
Die Rede von Eugen Drewermann (via Linkes Forum Paderborn/You Tube)
Hubert Kniesburges: Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, muss bundesweit zu einem gesetzlichen Feiertag werden!

Hubert Kniesburges forderte einen bundesweiten gesetzlichen Feiertag: 8. Mai Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus.
Hubert Kniesburges vom Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ brachte die Frage auf, warum nach den furchtbaren Erfahrungen aus dem 2. Weltkrieg und dem Leid, dass durch deutsche Schuld den Menschen in der Sowjetunion zugefügt wurde, die Freundschaft zu den Menschen in Russland nicht zu einer Staatsdoktrin unseres Landes wird, wie es nach dem Morden an 6 Millionen Juden durch Deutsche mit jüdischen Volk der Fall sein.
Das sei geschichtsvergessen und des Revanchismus verdächtig, wenn nun neue Weltmachtgelüste die deutsche Politik bestimmen und Aufrüstung und Militärmanöver von Russland erneut als Bedrohung empfunden werden müsse.
Kniesburges skandalisierte das Aufkommen eines neuen Revanchismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Antiziganismus und, dass alle möglichen Ideologien zur Begründung von sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung Konjunktur hätten. „Die soziale Spaltung der Gesellschaft hat ein Ausmaß erreicht, indem das die Angst vor dem Abstieg, Anpassungsdruck und Ausgrenzung erhöht. Wir erleben, dass Grundrechte immer weiter eingeschränkt werden. Die Erfolge der rechten Parteien haben den politischen Diskurs nach rechts verschoben.“
Hubert Kniesburges: „Der Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus, der achte Mai, sollte uns allen – vor allen den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft – Anlass zu erhöhter Wachsamkeit sein. Der achte Mai muss bundesweit zu einem gesetzlichen Feiertag werden!“
Jochen Schwabedissen verlas eingelangte Grußworte
Jochen Schwabedissen vom Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ verlas zwei Grußworte von Menschen, die dem Gedenkort seit Jahrzehnten sehr verbunden sind. Zunächst eines von Walburg Schröder, der Ehrenvorsitzenden der Deutsch-Russischen Gesellschaft Rhein-Ruhr, die dem Arbeitskreis
für die friedenspolitische Arbeit dankt.
Ein zweites Grußwort hatte den Arbeitskreis aus Moskau erreicht. Es stammt von russischen Zusammenschluss der Veteranen des letzten Weltkrieges, einer großen offiziellen Organisation. Unterschrieben von Professor Wladimir Naumow, der von der deutschen Wehrmacht als Kind verschleppt worden ist in die Nähe von Stukenbrock mit seiner ganzen Familie. Und der als minderjähriger Zwangsarbeiter in Stukenbrock hatte arbeiten müssen. Naumow schrieb: „Wir, die letzten lebenden Zeugen der Tragödie des zweiten Weltkrieges, die ehemaligen minderjährigen Häftlinge des deutschen Faschismus, die gewaltsam in die Konzentrationslager und Arbeitslager des faschistischen Deutschlands verschleppt und in ihnen gelitten haben, wenden uns mit diesem Aufruf an Sie.“
Man danke mit Hochachtung dafür, dass auch junge Menschen in Stukenbrock die Erinnerung an das Leid der Sowjetmenschen weiter hochhielten und sich für die deutsch-russische Freundschaft und die Völkerfreundschaft insgesamt einsetzen.
Einmal mehr eine gelungene Gedenkveranstaltung in Stukenbrock, der diesmal auch das Wetter hold war.
Weitere Fotos vom Gedenken
Stephan Hebel – Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft. Rezension
Der Journalist und Autor Stephan Hebel hat es wieder getan. Nach „Mutter Blamage: Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht“ und „Mutter Blamage und die Brandstifter: „Das Versagen der Angela Merkel – warum Deutschland eine echte Alternative braucht“ hat er abermals ein Buch in Sachen Angela Merkel geschrieben. Soeben bei Westend herausgekommen trägt es den Titel: „Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft“.
Angela Merkels Politik ist nicht mehr so beliebt wie einst. Aber viele WählerInnen wollen Merkel behalten, weil sie wohl meinen mit ihr zu wissen, woran sie sind
Warum nun das dritte Merkel-Buch? Stephan Hebel ist gewiss kein Anhänger dieser unserer oft als „Mutti“ titulierten Bundeskanzlerin. Und er bekennt, dass es unter seinen Freunden „nicht viele Fans von Angela Merkel“ gebe. „Aber“, so der Autor weiter gleich im Vorwort zum Buch (S. 7), „einen Stoßseufzer habe ich während der Arbeit an diesem Buch immer wieder gehört“: „Na ja, wenn man bedenkt, was danach kommen könnte …“
Das könnte eine Erklärung dafür liefern, warum inzwischen immer mehr Menschen die Politik von Merkel ablehnen (was wohl nicht zuletzt durch die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und der Kritik daran befeuert wurde), aber etwa um die 40 Prozent bei Umfragen die Person Angela Merkel positiv bewerten.
Mit einem Wechsel tun sich viele WählerInnen offenbar schwer. Mit Merkel, sagen sie sich wohl, wissen wir woran wir sind.
Was eigentlich machte eigentlich Angela Merkels Kanzlerschaft aus?
Aber was hat Angela Merkel in 13 Jahren ihrer Kanzlerschaft überhaupt gemacht – und was nicht?Das würden – fragte man sie – gewiss viele Menschen gar nicht ohne Weiteres sagen können. Selbst „bei politisch interessierten Menschen“, verleiht Hebel auf Seite 8 seinem Erstaunen Ausdruck“ sei „der Blick für das, was Angela Merkel und ihre Regierungen tatsächlich bewerkstelligt haben“ verschwunden. Eindruck bei vielen Menschen hinterließ da wohl mehr die unprätentiöse Art der Kanzlerin, die einst „Kohls Mädchen“ war.
Jana Hensels Eloge auf Merkel treibt einen die Röte des Fremdschämens ins Gesicht
Selbst zwei im Buch zitierte Intellektuelle konnten sich betreffs der Wirkung von Angela Merkel kaum mehr einkriegen. Die von Hebel zitierte Eloge der Schriftstellerin Jana Hensel auf Merkel treibt einen die Röte des Fremdschämens ins Gesicht. Hier nur ein Ausschnitt (S. 16 oben):
„(…) Ich mag ihre Augenringe, die manchmal größer, manchmal kleiner sind, für mich sind es Augenringe des Vertrauens.“ [sic!] Au Backe!
Der große Martin Walser ist untertänigst verführt von „von der stillen Wucht“ von Merkels „Schönheit“
Und selbst der große Schriftsteller Martin Walser kann sich der einer offenbar wundersamen Ausstrahlung von Angela Merkel nicht entziehen und infolgedessen das Wasser nicht mehr halten. Hebel zitiert Walser aus seinem Text im Spiegel vom 10. November 2018: „Instinkt und Erfahrung haben mich zum Verehrer dieser Politikerin gemacht.“ Was hat Walser genommen? Hebel gesteht Merkel in seinem vielfach kritischen Buch (auf S. 108) betreffs ihrer Ära zu, dass es „auch Fortschritte gegeben“ habe. Schränkt allerdings ein: „Aber im Angesicht der Gesamtbilanz erscheint es geradezu skurril, wie ein berühmter Schriftsteller sich zu einer vor Untertänigkeit und eine Politikerin auf ‚Schönheit‘ reduzierenden Lobes-, ja Liebeshymne auf die scheidende Kanzlerin versteigt (…)
Auch von diesem Erguss, von dem Hebel meint, dass „wahrscheinlich auch Angela Merkel herzlich gelacht“ (S. 109) habe, hier nur ein kleiner Ausschnitt der Walser’schen Liebeserklärung:
„(…) Und nichts ist verführerischer als der Erfolg. Deshalb gebe ich zu: Ich bin verführt. Von ihr und von der stillen Wucht ihrer Schönheit.“
Dem Westend-Verlag und dem Autor Stephan Hebel sei gedankt für dieses Buch
Dem Westend-Verlag kann nicht genug gedankt werden, dass er Stephan Hebel Ende Oktober 2018 fragte, ob er bereit wäre eine erste Bilanz der Kanzlerschaft Merkels zu ziehen.
Ebenso dem Autor, der der Bitte ein entsprechendes Buch zu verfassen gerne nachkam. Es ist unbedingt auch Merkel-Besoffenen freundlich ans Herz zu legen. Es kühlt bei Bedarf sachlich herunter und erhellt dank auf des auf dem Cover angekündigten und auch gelieferten Faktenchecks den Verstand. Selbst diejenigen, welche Angela Merkel in ihren 13 Jahren Kanzlerschaft stets nüchtern, aufmerksam und kritisch begleitet haben bietet dieses Buch etwas: Es fördert vielleicht verschüttgegangenes aus dem Langzeitgedächtnis noch einmal zutage.
Mit Gewinn zu lesen
Wie Stephan Hebel im Westend-Interview mit NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller sagte, ist es ein „schnelles Buch“ geworden. Auch hat des nicht den Umfang der vorangegangenen Merkel-Bücher. Dennoch, liebe Leserinnen und Leser, das verspreche ich, werden Sie das neue Buch mit Gewinn lesen und manche Erkenntnis daraus gewinnen.
Der Autor dämpft etwaige Hoffnungen, die in Merkels Erbin des Amtes der Parteichefin gesetzt werden: AKK ist keine Merkel-Kopie, aber eine Abkehr von Merkels-Kurs werde es mir ihr nicht geben
Gleich im ersten Kapitel „Die Erbin“ (ab S. 9) analysiert Stephan Hebel Angela Merkels Nachfolgerin im Amte der CDU-Chefin. Darin bescheinigt er Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) zwar, dass sie in der Lage sei eigene Akzente zu setzen und eben nicht eine bloße Merkel-Kopie zu sein. Hebel dämpft jedoch sogleich etwaige Hoffnungen betreffs Kramp-Karrenbauers voraussichtlicher Politik (S. 13 unten): „Aber nichts deutet darauf hin, dass es eine echte Abkehr geben wird von Merkels Kurs, weder in die eine noch in die andere Richtung.“
Die CDU dürfte auch Merkels Nachfolgerin, zeigt sich Hebel sicher, weiter auf konservativen und neoliberalen Kurs halten.
Eine Politik also, wie Stephan Hebel Angela Merkel ankreidet, die direkt an Gerhard Schröders neoliberalen Ansatz anschloss und diesen weiterführte und weiterführt. Eine Politik, die viele Menschen auf der Strecke bleiben lässt und die Spaltung in Arm und Reich vergrößerte. Daran, so erhellt uns Hebel habe Merkel nichts zugunsten der vielen Verlierer geändert. Sieht man von kleinen Maßnahmen wie etwa der Einführung des Mindestlohns ab.
Stephan Hebel: „’Mitte‘ ist für Merkels Ideologie und Politik der Ehre zu viel“
Als Leser fragt man sich, wie so viele BürgerInnen und auch die Mainstream-Medien unseres Landes in der Merkel’schen CDU-Politik eine Sozialdemokratisierung zu erkennen vermeinten. Nicht einmal das Etikett „Mitte“ lässt Stephan Hebel gelten (S. 108 oben): „’Mitte‘ ist für Merkels Ideologie und Politik der Ehre zu viel. Die ‚Mitte‘ zwischen den Interessen des Kapitals und den sozialen, ökologischen und demokratischen Notwendigkeiten hat sie nie gesucht – man betrachte nur ihre geradezu industriehörige Haltung, was die Innovations-Verweigerung und die Betrugsmanöver der Automobil-Konzerne betrifft.“
Wer meine, Angela Merkel habe keine Überzeugungen, gibt der Autor zu bedenken, „liegt daneben“
Mediale Zuschreibungen, Merkel habe gar keine eigene Agenda, sie folge nur gesellschaftlichen Stimmungen, ihrem eigenen Machtinstinkt oder habe Entscheidungen mit Rücksicht auf den Koalitionspartner getroffen, lässt Stephan Hebel allenfalls in Sachen Mindestlohn oder wegen „dramatischer Ereignisse (Atom-Ausstieg) sowie „mal wegen zwingender Notwendigkeiten im internationalen Rahmen (Abschaffung der Wehrpflicht)“ gelten.
Doch wer meine, Angela Merkel habe gar keine Überzeugungen, gibt der Autor ebenfalls im Fazit auf Seite 108 zu bedenken, „liegt daneben“.
Vorherrschenden Meinungen hält Hebel entgegen: „Angela Merkel hatte sehr wohl zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere eine politische Agenda. Es war die Agenda des Neoliberalismus, der sich, wenn es um Mehrheiten und Machterhalt ging, allenfalls in Einzelfällen als ‚Neoliberalismus light‘ präsentierte.“
Höchstwahrscheinlich – der Eindruck drängt sich einen auf) muss Angela Merkels Impetus, zu handeln wie sie handelt, durchaus auch als Widerpart zur in der DDR (der sie ironischerweise eine Karriere verdankte, die nicht jedem seiner Bürger vergönnt war) erlebten staatstragenden Ideologie verstanden werden. Offenbar wollte sie fortan zeigen, dass sie auf der richtige Seite steht.
Merkel weder Heldin noch Schurkin, stellt Hebel fest
„Merkel ist weder eine Heldin noch eine Schurkin. Sie war und ist eine Politikerin, die in 13 Jahren Kanzlerschaft auf entscheidenden Politikfeldern versäumt hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft entschieden zu stärken und die Lage der Menschen im Land zu verbessern. Jedenfalls die Lage derjenigen, für die Politik da zu sein hätte, weil sie die Unterstützung des Staates brauchen. ‚Es war nicht alles schlecht‘, um eine Plattitüde aus anderem Zusammenhang zu zitieren. Aber Angela Merkel hinterlässt dem Land viele – zu viele Hypotheken.“ (Zitat aus dem Inhalt des Buches)
Was wohl von Merkel dereinst bleiben wird
Wer sich dies klar macht – und die zahlreichen aufgeführten Fakten in diesem Buch untermauern diese Einschätzung -, dürfte sich klar darüber sein, dass wir womöglich gar nicht lange nach ihrem Abtritt auch als Bundeskanzlerin von der politischen Bühne nur äußerst ungern oder nur mit größtem Grummeln im Bauch an sie zurückdenken werden. Von der 13 Jahre währende Merkel’schen Kanzlerschaft dürfte ein unschöner Fleck auf der geschichtspolitischen Landkarte der Bundesrepublik zurückbleiben. Auch vielen EU-BürgerInnen wird der Name Angela Merkel noch lange ein ziemliches Unwohlsein verursachen. Zulange und zu sehr hat Merkel die EU dominiert und auf deutsche Linie gebracht (da wurde vorwiegend Deutsch gesprochen, wie es wohl Volker Kauder gefiel), Griechenland gedemütigt und die Bevölkerung weiter in die Verarmung geführt (zusammen mit Schäuble als Finanzminister). Merkel eine große Europäerin? Diesen Titel würde selbst Helmut Kohl seinem einstigen Mädchen verweigern. Nein: Merkel wird als Totengräberin der bereits jetzt strauchelnden EU in die Geschichte eingehen.
Ein akribisch recherchiertes Buch mit erhellenden Zahlen
Mag sein, dass dieses schnell – vielleicht zu schnell – geschriebene neue Hebel-Buch zu Merkels Bilanz hier und da Lücken aufweist – was dem Autor sicher selbst am meisten wurmen mag: es zeichnet das Allerwichtigste auf Angela Merkels Weg durch 13 lange Jahre ihrer Kanzlerschaft, akribisch und gut recherchiert nach. Die Themenbereiche Arbeit und Arbeitslosigkeit, Bildung, Frauen und Familie, Gesundheit, Innere Sicherheit, Internet, Klima, Reichtum und Armut, Rüstung und Sicherheit, Schulden, Schulden, Wirtschaft und Handel sowie Wohnen werden ergiebig beleuchtet und sind mit erhellenden Zahlen untermauert. Hatte, hat Angela Merkel Visionen, wie sich sich ein gerechtes, friedliches, ein ökologisch wie ökonomische nachhaltiges Deutschland, in dem die Menschen gut und gerne leben, vorstellt? Davon wird so gut wie nichts auf ihrem von Stephan Hebel nachgezeichnetem Weg erkennbar. Die Bilanz der Ära Merkel fällt eher dürftig aus.
Angela Merkels „vielleicht gefährlichste Erblast“
Ist es gelungen ein Bollwerk gegen den zunehmenden Rechtsnationalismus in diesem Lande zu errichten unter Angela Merkels Führung, indem sie möglichst die „Mitte“ verteidigt – gemeinsam in vielleicht wechselnden Koalitionen mit CDU, SPD, Grüne und FDP? Eine doch eher als schwammig zu bezeichnende „Mitte“, die (wer gehört eigentlich noch dazu?), die längst im Bröckeln befindlich ist. Hebel im Fazit (ab S. 105/106):
„Das ist ja die Tendenz, die sich stetig verstärkt hat, seit die Fremdenfeindlichkeit sich offen auf der Straße zeigt und die AfD dem extrem rechten Lager Ausdruck verleiht. Aber genau darin liegt, was die Zukunft der Demokratie betrifft, vielleicht die gefährlichste Erblast der Ära Merkel. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Wenn links von den Rechten nur noch die Mitte ist, entsteht auf der Linken ein gefährliches Vakuum. Oder noch kürzer: Der Kampf gegen Rechts ist nur mit Links zu gewinnen. Mit einer Politik, die den sozialen Brüchen, welcher der Neoliberalismus verursacht hat, wieder ein entschieden soziales Handeln entgegensetzt.“
Betreffs dessen sieht Stephan Hebel Angela Merkels Versagen. Merkel habe nicht gesehen, „wie tief die sozialen und kulturellen Brüche, wie tief die Angst vor sozialer Ent-Sicherung sich schon in der ‚Mitte der Gesellschaft gefressen hatte.“
Dem Buch sind viele LeserInnen zu wünschen. Unverklärt und sachlich hat Stephan Hebel die Kanzlerschaft Angela Merkels seziert, kritisch beleuchtet und eine Bilanz ihrer Ära vorgelegt.
Seitenzahl: | 128 |
---|---|
Ausstattung: | Klappenbroschur |
Artikelnummer: | 9783864892547 |
Buch
- eBook
Hier das Interview, das Albrecht Müller für den Westend-Verlag mit dem Autor Stephan Hebel führte
Gastkommentar von Prof. Albrecht Goeschel: „Sozialpartnerschaft“, „Parität“, „Solidarität“: Matrix-Parolen aus Angela Orwells Sozialstaat
Prof. Albrecht Goeschel (*)
zur
100jährigen Wiederkehr des „Stinnes-Legien“-Bündnisses von
Unternehmern und Gewerkschaften vom 15. November 1918
Dieser deutsche Herbst 2018 ist der Herbst der Selbstoffenbarungen. Das Merkelregime gesteht schluckweise bei “Flüchtlingschaos“, “Dieselskandal“, „Wohnungsmangel“, „Altersarmut“ etc. seine Gesellschafts– und Umweltschädlichkeit; das Linksmilieu positioniert sich unter dem Motto „Solidarität statt Heimat“ gegen die in Asien und Afrika Daheimgebliebenen und gegen die in Deutschland Beheimateten und jetzt gesteht der Deutschen Gewerkschaftsbund, dass die sozialdemokratischen Gewerk-
schaften schon immer „Sozialpartner“ von Staat und Großkapital waren und mehr denn je sind.
„Sozialpartnerschaft“: Leitbild des kapitalistischen Sozialstaats
Die Gelegenheit für diese Selbstentblößung der Gewerkschaften in Deutschland bietet die 100jährige Wiederkehr des so genannten „Stinnes-Legien“-Abkommens vom 15. November 1918. Dieser Vertrag zwischen Sozialdemokratie in Gestalt des späteren Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und Unternehmerverbänden beinhaltete den Schutz der Unternehmen vor Verstaatlichung für den Preis der Aner-
kennung der Gewerkschaften als Tarifpartei. Es war dieses Bündnis, das die deutsche Arbeiterklasse nach der angeblichen „Revolution“ vom November 1918 wieder in den Schrebergarten des von der Sozialdemokratie als ihr Revier betrachteten Sozialversicherungsstaates pferchte.
Das 100jährige Jubiläum dieses nach dem Bauernkrieg und der Frankfurter Nationalversammlung erneute Ausbremsen einer fundamentalen Neuordnung in Deutsch-
land wurde Mitte Oktober 2018 von der Unternehmerseite und von der Gewerkschaftsseite gemeinsam gebührend gefeiert – mit dem „Bundespräsidenten“ als Gast und passend im Berliner „Historischen Museum“. Von den eigentlich fälligen Protesten gegen diese Staatsparty war nichts zu hören und zu sehen. Hoffentlich ungewollt war hingegen der zeitgleiche Berliner Aufmarsch „Solidarität gegen Ausgrenzung“ faktisch und thematisch eine Sympathiekundgebung für das Bündnis von Staat, Kapital und Arbeit – eben den „kapitalistischen Sozialstaat“. In seiner Merkel-Version trägt dieser längst orwellsche Züge in Hinblick auf Neusprech und Täuschung. So wird Nachschub an Billigarbeit und Gebildetenplünderung von Entwicklungsländern per Migration selbst bei einer so genannten „Links-Partei“ zu „Mitmenschlichkeit“ gematrixt.
„Parität“: Umverteilungsillusion des Sozialversicherungsstaats
Ein Paradebeispiel vor allem auch für die Verdrehung der Inhalte, Begriffe und Sprache in diesem Sozialstaat als politische Form der „Sozialpartnerschaft“ ist die zur
Ikone stilisierte „Parität“ in der Finanzierung der Sozialversicherungen. Diese scheinbar gleichgewichtige Form der Sozialversicherungs-Finanzierung hat Bismarck schon bei ihrer Einrichtung aus politisch-strategischen Gründen gewählt. Er wollte, wie Roland Vaubel schreibt, ganz bewusst eine „Umverteilungsillusion“ erzeugen. Dabei sind es im beitragsfinanzierten Sozialversicherungsstaat stets die Beschäftigten selbst, die ihre Sozialversicherung zur Gänze finanzieren.
Die an dieser Stelle gerne ins Feld geführten „Lohn-Nebenkosten“, also Sozialbeiträge und Lohnsteuern, sind gesamtwirtschaftlich Teil der „Brutto-Arbeitskosten“, die von der Kapitalseite ganz einfach durch entsprechend niedrigere Netto-Löhne ausgeglichen werden. Ein Weg dazu war der vom Regime des Parvenü Schröder und des Taxiprofessors Fischer, also durch Rot-Grün im Jahr 2005 per Hartz IV durchgesetzte millionenstarke Niedriglohnsektor, d.h. eine Lohn-Spreizung. Ein anderer Weg war die vom gleichen Regime und im gleichen Jahr auch noch eingeführte Aufspaltung der Krankenkassenbeiträge in Normalbeiträge für „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ und in Zusatzbeiträge, die nur die „Arbeitnehmer“ zu tragen haben.
Dabei ist hier anzumerken, dass die Sozialstaats-Begriffe „Arbeitnehmer“ bzw. „Arbeitgeber“ ebenfalls, ähnlich wie die „Lohn-Nebenkosten“ und die „Parität“, zu den zentralen Täuschungsbegriffen des deutschen kapitalistischen Sozialstaats gehören: Wer ist es, der tatsächlich seine Arbeitszeit und sein Arbeitsvermögen auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt verkauft („gibt“)… ? Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Brutto-Arbeitskosten auch noch dadurch gesenkt wurden, dass im Falle der 1993 eingeführten „Pflegeversicherung“ bestimmte Risiken aus der bisherigen Sozialversicherung herausgelöst wurden und in einem neuen Sozialversicherungszweig versichert wurden, der allerdings nur noch Teilkaskoleistungen abgibt.
Für die Kapitalseite ist ihr Sozialstaat mitsamt Sozialpartnerschaft und Parität also ein amüsantes Hütchenspiel, bei dem geschickt und geräuschlos sowieso immer gewonnen wird.
Das wäre anders,wenn die von den Eliten einschließlich der Gewerkschaften bejammerten Lohn-Nebenkosten zusammen mit den Nettolöhnen als Gesamtlohn ausgereicht würden. Dann würden die Lohnauseinandersetzungen sehr viel härter geführt werden müssen, da die gesamten hinter der sozialstaatlichen Kulisse florierenden Kosten des Gesundheits- und Sozialwesens dann „eingepreist“ werden müssten. Heiner Flassbeck begründet seine Forderung nach einer Rückkehr zu hohen Produktivlöhnen richtig auch mit der Formel: „Lohnnebenkosten sind Lohnkosten“. Dabei würde dies die Kapitalseite nicht besonders irritieren. Sie hat genug Möglichkeiten des Ausgleiches und der Überwälzung ihrer Arbeitskosten.
Für die Gewerkschaftsseite wäre mit einer konsequenten Schließung des Paritäts-Theaters allerdings die Zeit der bequemen staatlichen statt gewerkschaftlichen Lohnpolitik vorbei. Solange das Politische System bald die Hälfte der Brutto-Arbeitskosten per Gesetz oder Verordnung festlegt, brauchen dafür schon einmal keine Lohnstrategien entwickelt und keine Arbeitskämpfe geführt werden. In aller Ruhe kann sich die Gewerkschaftsbürokratie in der Sozialstaats-Hängematte um Mitgliederzahlen und Beitragseinnahmen kümmern. Die notwendigen „wissenschaftlichen“ Begründungen für diese gewerkschaftliche Lohnpolitik auf dem Umweg über die staatliche Neben-Lohnpolitik, flankiert durch die Arbeitgeberseite im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen „Parität“, liefern die beiden „gewerkschaftsnahen“ Forschungseinrichtungen „IMK“ und „WSI“ mit ihren sozialdemokratisch-vulgärkeynesianischen Sozialstaatsvorschlägen.
„Schubumkehr“: Der Sozialstaat als Feind von Land und Leuten
Kritische Ökonomen sehen vor allem auch in der kraftlosen Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften eine wesentliche Ursache für die Ungleichgewichtskrise der Euro-Zone und der EU. Nur mit solchen durch Sozialpartnerschaft korrumpierten und staatliche statt gewerkschaftliche Lohnpolitik sedierten Gewerkschaften konnten die Dumpinglohnstrategie und der Exportismus des Geschäftsmodell Deutschland gemacht und die Nachbarvolkswirtschaften und –gesellschaften zerstört werden. Mittlerweile gibt es auch eine Studie, die zeigt, dass und wie die europäische Sozialpolitik zu einem Instrument der „Klassengesellschaft der billigen Arbeit“ (Albrecht Goeschel) geworden ist.
Immer wieder sind auch in den letzten Jahren in Labournet, Makroskop, Telepolis, Tumult etc. Studien veröffentlicht worden, wie durch den Sozialstaatsprozess, insbesondere die so genannten „Sozialreformen“, die Regionalstrukturen beschädigt und zerstört worden sind. Die räumlichen Lebenswelten der Leute sind aber entscheidend dafür, ob gedrückte Netto-Löhne durch Daseinsvorsorge, d.h. Infrastruktur, Öffentliche Dienste etc. real angehoben oder noch weiter herunter gedrückt werden.
Gerade die „Gesundheitsreformen“ mit ihrer Zerstörung der autonomen regionalen Krankenkassen AOK, BKK und IKK und deren Umwandlung in Kassenkonzerne und die derzeit still und leise betriebene Zerstörung der flächendeckenden Krankenhausversorgung und deren Umwandlung in wenige Großklinikzentren wurde stets von Sozialdemokratie und Gewerkschaften mitbetrieben oder zumindest hingenommen. In Telepolis wurde hierzu in den zurück liegenden Monaten mehrfach publiziert.
Wie man sieht: „Sozialpartnerschaft“, „Parität“ und „Solidarität“ haben sich im orwellschen Merkel-Sozialstaat für Politik und Kapital lange Jahre ausgezahlt. Die Leute haben zwar mehr geahnt und gespürt als verstanden, dass und wie der Sozialstaat nicht mehr dazu da ist, die Gesellschaft vor den schlimmsten Kapitalismus-Exzessen zu bewahren. Die Leute haben nur noch keine Begriffe und Bilder dafür, dass und wie der kapitalistische Sozialstaat die heimtückischte Waffe des neuen Weltkapitalismus gegen sie ist. Der Merkelsche „Willkommensputsch“ war und ist hier für die
Leute so einer Art Erkenntnishilfe dafür gewesen, wie mit ihnen stillschweigend umgesprungen wird. Es ist nicht zufällig, dass populistische Parteien dort in Deutschland die höchsten Stimmanteile bei Wahlen erzielen, wo die Untaten des Sozialstaats die Lebensverhältnisse am weitreichendsten zerstört haben.
„Jubiläum“: Die miese Geschichte der „Sozialpartnerschaft“
Anstelle der von den Eliten gerne gesehenen und begünstigten Stammeskriege zwischen „Links“ und „Rechts“ sollte sich die kritische Publizistik in Deutschland lieber vor allem der Zerstörung der „Sozialstaatsillusion“ (Wolfgang Müller; Christel Neusüß) widmen. Dazu soll nachfolgend noch ein kleiner Beitrag geliefert werden:
Am Ende des Ersten Weltkrieges, nach dem Matrosenaufstand, dem Waffenstillstand und der Kaiserabdankung, hat wegen der enormen Kriegsanstrengungen,der Gebiets-, Kolonien- und Exportmarktverluste des Deutschen Reiches, des Reparationsterros, der Nachkriegsinflation etc. die dringende Notwendigkeit eines umfas- senden Rekonstruktionsprogrammes mit Bodenreform, Außenhandelsregime, Bankenkontrolle, Branchenplänen und Arbeitsmarktregulierung bestanden..
Der sozialdemokratisch dominierte Rat der Volksbeauftragten beschränkte sich aber auf harmlose „Sozialpolitik im luftleeren Raum“, wie der exzellente Historiker Arthur Rosenberg spottet: Man führte den Achtstundentag ein und ließ ansonsten alles beim Alten. Das „Stinnes-Legien“- Bündnis war schon vorher geschlossen worden. In der kriegs- und reparationsbedingten Hyperinflation der Folgejahre wurde die zwar ehrenwerte, aber politisch naive sozialpolitische Wohltat der Sozialdemokratie, der Achtstundentag, wieder einkassiert. Die historische Schuld der Sozialdemokratie in diesen Jahren war, dass sie die Trennung und das Gegeneinander von Arbeit und Kapital mit ihrer Schrebergartenpolitik als Trennung von Sozial- und Wirtschaftspolitik noch verfestigt hat. Nachdem Mitte der 1920er Jahre Europa und vor allem Deutschland als Anlagesphä-
re für die enormen Kriegsgewinne der Vereinigten Staaten entdeckt worden waren, kam es in Deutschland zu einem regelrechten Kreditboom. In dieser Situation war es möglich,auch mit Zustimmung der Wirtschaft wieder mehr „Sozialpolitik“ zu betreiben. Als vierter Zweig der Sozialversicherung wurde eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet. Die dringend nötige Steuerung der Kreditverwendung und eine entsprechende Steuerabsicherung der Kreditbedienung wurden natürlich versäumt. Die kurz darauf ausbrechende Weltwirtschafts- und Kreditkrise traf die deutsche Wirtschaft auch deshalb besonders hart, weil die berüchtigte Regierung Brüning und ihre Nachfolge- regierungen die Nutzbarkeit der Sozialversicherungen als Krisenpuffer nicht erkannt hatten und durch rabiate Sozialkürzungen die Krise verschärften. Die eigentliche Ver- antwortung für diese aus heutiger Sicht idiotische Sparpolitik der Regierung Brüning lag aber bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die mit ihrer ausschließlichen Sozialpolitik in den Jahren davor keine Konzepte, Programme und Instrumente für eine umfassende Wirtschaftspolitik präpariert hatten.
Ja, und dann passierte, was ein Dauerthema der historisch-politischen Diskussion ist: Die jämmerliche Zukunftsfeigheit der Sozialdemokratie, die jahrzehntelang nichts besseres wusste, als die deutsche Arbeiterklasse seit Bismarck in ihr Spießbürgerghetto „Sozialpolitik“ einzupferchen, bekam in den Wahlen der 1930er Jahre die Quittung: Die nichtsozialdemokratischen Teile der Arbeiterklasse, die von den Sozialdemokraten stets ignorierten Bauern, der alte und der neue Mittelstand mandatierten die Nationalsozialisten ausreichend, um die Weimarer Republik zu übernehmen.
In unserem Zusammenhang ist dabei nur wichtig: Zwar servierten die Nazis die Sozialdemokraten und Gewerkschaften als politische Organisationen der Arbeiterklasse ab und verboten den „Klassenkampf“ als politisch-ökonomische Idee – faktisch aber entwickelte sich im Nationalsozialismus mit der „Deutschen Arbeitsfront“, der mitglieder- und wirtschaftsstärksten Massenorganisation des Dritten Reiches, ein für die Privatwirtschaft und auch die Staatsbürokratie unüberwindbarer Gegenspieler. Diese Organisation repräsentierte die Arbeiterklasse durch eine politisch-ökonomische Durchdringung beinahe aller ihrer Lebensbereiche. Dies reichte von der Frei- zeit- und Urlaubsorganisation „Kraft durch Freude“ bis zum Wolfsburger „Volkswagenwerk“ der Arbeitsfront.Dabei lag die eigentliche politische, ökonomische und soziale Macht der Deutschen Arbeitsfront darin, dass durch die rasante Aufrüstung zwischen 1933 und 1939 ein enormer Industriearbeitermangel entstand. Primitive Ausbeutungs- und Unterdrückungskonzepte seitens Industriekapital und Rüstungsbürokratie waren bei dieser Lage nicht machbar. Es gibt zu dieser sozusagen „dialektischen“ Ausformung des alten Klassenkonfliktes in einer neuen Harmonisierung von Ökonomie und Sozialem, von Wirtschafts- und Sozialpolitik während des Dritten Reiche eine exzellente Studie von Timothy W. Mason aus dem Jahr 1978 mit dem Titel „Sozialpolitik im Dritten Reich“.
Dieses Beispiel einer Integration von Ökonomie und Sozialem musste nach Kriegs- ende nach den Vorstellungen der aus ihren Nischen wieder aufgetauchten Konservativen, des Großkapitals und der Westalliierten schnellstens beseitigt werden. Daher wurden die teilweise von ihren Belegschaften besetzten Ruhrkonzerne mit alliierter Militärgewalt wieder geräumt und später die Erhardsche Politikshow „Soziale Marktwirtschaft“ aufgeführt – und schon waren Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder fein säuberlich getrennt. Das ganze Sozialtheater ging von vorne los und jetzt macht der Sozialstaat Front gegen die normalen Leute. Diese „Schubumkehr“ ist eine weitere Merkel-Wende.
*
Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes:
Prof. (Gast) Albrecht Goeschel, Staatliche Universität Rostov, Präsidiumsmitglied der Accademia ed Istituto
per la Ricerca Sociale Verona.
Mail: mail@prof-goeschel.com
Alle Rechte bei:
Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona 2018
Mail: mail@accademiaistituto.com
—————————————————————————————————————————————————————————————————–Hinweis: Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Beitragsbild: Claus-D. Stille
Zum Stinnes-Legien-Abkommen: hier
Dazu auch: Die NachDenkSeiten mit einem Beitrag: 100 Jahre „Stinnes-Legien-Abkommen“ – „Eine traurige Veranstaltung von DGB und Arbeitgeberverbänden“.
Gastbeitrag – Merkels Seehofer: Golem der Heimatzerstörung
Meinen Leserinnen und Lesern empfohlen:
Interview* mit Prof. Albrecht Goeschel**
Frage:
Herr Professor – Ihr Manuskript für die Sommerausgabe von TUMULT haben wir vor diesem Gespräch zum Lesen bekommen. Sie plakatieren darin „Heimatminister“ Seehofer als den schlimmsten Kommunen- und Regionenzerstörer Deutschlands. Warum und wieso das ?
Goe.:
Warum das sein muss ? Weil die Kritik von Rechts und von Links Horst Seehofer als eine Art Hanswurst mit Trachtenhut und Meinungsdrehorgel verkennt. Und das ist falsch und gefährlich. Merkel hätte für die weitere Zerstörung des Föderal- und Sozialstaates Deutschland von oben herab und von innen heraus keinen besseren „Golem“ finden können als H.S.
Frage:
Können Sie das bitte ein bisschen erläutern ?
Goe.:
Bin schon dabei. Seit dem Jahr 2008 war Seehofer nach drei Jahrzehnten Bundespolitik für zehn Jahre in der Parallelwelt der Bayerischen Staatskanzlei in München quasi abgetaucht. Jetzt ist er in Berlin subito wieder aufgetaucht, um die „Heimat“ vor der AfD zu retten. Was hat der Mann in diesen zehn Jahren in Bayern in Sachen Heimat gemacht, außer dass die CSU 2013 in den Landeswahlen wieder eine absolute Mehrheit bekommen hat ? Besonders großartig war es nicht. Die bayerischen Ballungsräume, vor allem München, hat er als Hexenkessel von Kapitalprofit und Immobilienspekulation ungestört brodeln lassen. Die ländlichen Räume vor allem in Ost- und in Nordbayern hat er weiter absacken lassen. Dafür hat er den miserabelsten Landessozialbericht in Deutschland bis dahin, den Bayerischen Sozialbericht von 2009, zu verantworten. In die Verantwortung Seehofers fällt ebenso die sich ständig verschlechternde Kinderarzt- und Kinderkrankenhausversorgung in Bayern. Seehofer war zudem auch für die Krankenhausüberversorgung in den bayerischen Großstädten und die Krankenhausunterversorgung in den bayerischen Landgebieten verantwortlich. Und bei ihm änderte sich auch nicht, dass die Pflegeversorgung im Einkommen schwachen Ost- und Nordbayern am dürftigsten ist. Wie man sieht. Relativ wenig „Heimat Bayern“ und dafür absolut viel „Christlich-Soziale Union Bayern“. Der Mann ist also für Berlin genau richtig.
Frage:
Das war jetzt aber letztlich nur Wahlpolitik. Worin besteht nun das Destruktive an dem Minister aus Ingolstadt ?
Goe.:
Die Gefährlichkeit Seehofers liegt darin, dass er Schadstoffe in Geschenkpapier verpackt und damit Widerstände umgeht – wir kommen noch darauf. Und die Gefährlichkeit Seehofers besteht darin, dass er sich für seine Vorhaben Teile der möglichen Gegner als Mittäter aussucht und gewinnt oder dass er bereit ist, sich an Übeltaten der Gegner gezielt zu beteiligen. Zunächst als Erfolgsheld herausgehoben, verschwimmt er dann als Urheber, wenn die Sache für die Leute unangenehm oder untragbar wird.
Frage:
Haben Sie da Beispiele im Blick ?
Goe.:
Die zwei Glanzleistungen in Seehofers jahrzehntelanger Politikerbiographie waren das „Gesundheitsstrukturgesetz“ von 1992 und das „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ von 2004. Das „Gesundheitsstrukturgesetz“ mauschelte der damalige Bundesgesundheitsminister H.S. zusammen mit der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, einem besonders gruppenegoistischen Verein, zu Lasten der Kommunen und Regionen aus. Details später. Das „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ war eine von Rot-Grün ausgedachte Gemeinheit. An deren Realisierung beteiligte sich der damalige Ex-Gesundheitsminister, angeführt von der Rot-Grün-Gesundheits- und Sozialministerin Ulla Schmidt. Mit diesem Gesetz wurden Millionen Gut- und Besserverdiener, die auf staatliche Lockangebote zur Privatvorsorge hereingefallen waren, enteignungsgleich mit enormen Beitragsnachzahlungen belastet. Inzwischen protestieren die immerhin unter der Fahne der „Direktversicherungsgeschädigten“. Seehofer haben sie aber nicht so recht auf dem Radar.
Frage:
Vermutlich haben die meisten Leute von dem Jahrzehnte alten „Gesundheitsstrukturgesetz“ (GSG) noch nie etwas und von dessen Schädigungswirkungen für die Kommunen und die Regionen noch weniger gehört. Helfen Sie bitte ?
Goe.:
Beim GSG ging es um eine Organisationsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung mit der Aufgabe, durch vorgeschriebenen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen eine so genannte „Beitragssatzstabilität“ zu erreichen. Das Kapital sollte von Arbeitskosten „entlastet“, sprich die Bruttolöhne sollten gebremst werden. Dazu wurden die damals bestehenden ca. 1200 autonomen regionalen Krankenkassen (AOK, BKK , IKK) mittelfristig ausgelöscht und zur Bildung von Konzernen gezwungen. Sie mussten sich an die unverändert weiter bestehenden zentralen Ersatzkassen-Konzerne als ihre Konkurrenten angleichen. Die Wirkung dieser Reform bestand in einer unmittelbaren finanzwirtschaftlichen Schwächung der Kommunalebene, da die Regionalkassen ein bedeutender Geschäftspartner der Sparkassen und Volksbanken der Kreise waren. Man darf nicht vergessen, dass damals das Ausgabenvolumen der Gesetzlichen Krankenversicherung bereits bei ca. 90 Milliarden Euro lag. Durch die Kassenzentralisierung verloren die Geldinstitute in den Kreisen dieses Geschäft. Vor allem aber entstehen in zentralen Krankenkassen negative Finanzströme zu Lasten der Ländlichen Räume und zu Gunsten der Ballungsräume. Da auch für die mit Gesundheitsberufen und Gesundheitseinrichtungen schwächer ausgestatteten Ländlichen Räume die gleichen Beitragssätze gelten wie für die gesundheitswirtschaftlich stärkeren Ballungsräume, fließen dorthin überproportionale Anteile der Ge- samtbeitragseinnahmen in Form der in den Ballungsräumen höheren Gesundheitsausgaben. Die Ländlichen Räume hatten schon vor dem „Gesundheitsstrukturgesetz“ über die zentralen Ersatzkassen Millionen Beitragsmittel an die Ballungsräume verloren. Durch die Zentralisierung auch der Regionalkassen erhöhten sich noch einmal diese Finanzkraftverluste der Ländlichen Räume.
Frage:
Wo bleibt dabei bitte das „Geschenkpapier“, von dem Sie vorhin gesprochen haben?
Goe.:
Die von Horst Seehofer, seinen SPD-Helfershelfern, den Ersatzkassen-Konzernen und dem entsprechenden Medientross gesungene Fortschrittsarie bestand darin, dass sich nun die gewerblichen Arbeitnehmer, d.h. die „Arbeiter“ auch bei den Ersatzkassen versichern durften und nicht mehr nur die „Angestellten“.Eine tolle „Wahlfreiheit“ am Ende zwischen ein paar Konzernen – für den Preis von 1200 autonomen Regionalkassen. Noch heute laufen SPD-Gesundheitsreformer mit der Parole herum, dieser christlich-sozialdemokratische Arbeiterverrat, Tritt für die Kommunen und Schaden für den Ländlichen Raum durch die Seehofer-Reform habe einen „Hauch von Sozialgeschichte“ geatmet – so ein gewisser Hartmut Reiners in einem Jahrbuch für angeblich „Kritische Medizin“. Da wird offenkundig Mundgeruch mit Sozialgeschichte verwechselt. Horst Seehofer als Haupt-Übeltäter dieser Krankenkassenreform blieb bislang unerkannt – das könnte sich jetzt allerdings ändern.
Frage:
In einem Ihrer Beiträge der letzten Zeit haben wir auch noch einen Hinweis auf Seehofers eigenartige Rolle im Zusammenhang des so genannten „Gesundheitsfonds“gelesen. Der gehört ja auch noch, wenn auch eineinhalb Jahrzehnte später, zur Krankenversicherungsreform.
Goe.:
Ja, der „Gesundheitsfonds“! Für diesen Coup der ersten GroKo im Jahr 2007 hat sich H.S. als damaliger Merkel-Minister im krassen Gegensatz zu seiner Partei in Bayern besonders stark gemacht. Mit dieser Fonds-Konstruktion hat sich das seinerzeitige CDU/CSU/SPD-Machtkartell endgültig direkten Zugriff auf die Beitragszahlungen der Gesetzlich Krankenversicherten verschafft. Wolfgang Schäuble hat eini- ge Jahre später gezeigt, wie man den „Gesundheitsfonds“ dazu benutzen kann, um den Bundeshaushalt schuldenfrei zu bekommen. Etabliert wurde der Fonds mit dem „Wettbewerbsstärkungsgesetz“ von 2007. Darin wurde ein bundesweit einheitlicher Beitragssatz für alle Gesetzlichen Krankenkassen vorgeschrieben. Die Kassen müssen seitdem ihre Einnahmen beim Fonds abliefern und bekommen von diesem risikogruppengestaffelte Pauschalen für die Versicherten zurück. Bestimmte Regelungen zwingen die Kassen dazu, Leistungen an die Versicherten möglichst zurückhaltend zu gewähren und Überschüsse zu machen. Diese sind dann die Basis, auf der sich die Bundesregierung bzw. das GroKo-Machtkartell direkt oder indirekt finanziell bedient. Gerechtfertigt mit diesen Überschüssen wurde beispielsweise, dass die Gesundheitskosten der Merkel-Flüchtlinge aus dem „Gesundheitsfonds“, d.h. von den Beitragszahlern und nicht aus dem Bundeshaushalt, d.h.von den Steuerzahlern finanziert werden. Insgesamt treibt das Fonds-Konstrukt die schon beschriebene Umverteilungswirkung von bundeseinheitlichen Krankenversicherungsbeiträgen auf die Spitze. Es vergrößert die Unterschiede zwischen Ländlichen Räumen und Ballungsräumen noch weiter. Horst Seehofer erklärt zu seiner Aufgabe als „Heimatminister“ nicht nur die „Stärkung der Kommunen“,sondern auch die Sicherung bzw. Herstellung von„Gleichwertigkeit“ zwischen Ländlichen Räumen und Ballungsräumen. Wie er diese Aufgaben bisher gemeistert hat, weiß man jetzt.
Frage:
In Ihrem neuen Beitrag für TUMULT gehen Sie auch auf die Privatisierung der Krankenhausversorgung als Faktor der Kommunen- und Regionenschädigung ein. Welche Rolle hat der jetzige „Heimat“-Minister als z.B. Bundesgesundheitsminister dabei gespielt ?
Goe.:
Eine wie üblich hinterhältige Rolle. Es war der Wunsch der Mittäter aus der angeblich „oppositionellen“ SPD-Bundestagsfraktion, die Krankenhausversorgung in Deutschland möglichst zügig zu amerikanisieren. Mit dem „Gesundheitsstrukturgesetz“ von 1992 wurden daher erstmals so genannte „Fallpauschalen“ als Finanzierungsform der Krankenhausbehandlung eingeführt. Diese wurden in den Folgejahren zur einzigen Form der Behandlungsfinanzierung gemacht. Damit wurde die Privatisierung der Krankenhausversorgung massiv vorangetrieben und die Kommunen verloren durch ansteigende Zahlen von Krankenhaus- oder Fachabteilungsschließungen nicht nur ein zentrales Element der kommunalen Daseinsvorsorge, sondern in vielen Fällen auch einen wichtigen Wirtschaftsfaktor und insbesondere Arbeitgeber. Als Krönung dieser von Herrn Seehofer eingeleiteten Anti-Krankenhauspolitik beabsichtigt nun die neueste GroKo, die Liquidierung der Mehrzahl der wohnortnahen Allgemein-
krankenhäuser zugunsten einer kleinen Zahl von Konzernkliniken. Auch dies wird die Kommunen noch einmal schwächen und die Unterschiede zwischen den Ländlichen Räumen und den Ballungsräumen noch weiter vergrößern. Dieser Plan steht im Koalitionsvertrag des hoffentlich letzten Regimes Merkel, dem Seehofer erneut als Minister angehört. In seiner üblichen Täuschungsmanier geht er öffentlich mit keinem
Wort darauf ein, dass er die kommunal- und regionalschädliche Krankenhauspolitik des Kartells als „Heimat“-Minister eigentlich aufs schärfste bekämpfen müsste.
Frage:
Wie würden Sie den Politikcode Horst Seehofers bezeichnen?
Goe.:
„Regionenzerstörung durch Sozialreform“.
Frage:
Einen Matrix-Sozialstaat nach dem Seehofer-Code diagnostizieren Sie in Ihrem TUMULT-Beitrag für das vierte Regime Merkel insgesamt. Seehofer ist als Merkels Golem für diese Politik erkannt. Was kommt als nächstes?
Goe.:
Der Seehofer-Code massiver Verschlechterungen für das Land im Gewande von oder mit Begründung durch „Verbesserungen“ oder gar „Reformen“ für die Leute wird nach meiner Befürchtung vom Machtkartell gerade bei den Steuern vorbereitet: Kein Sterbenswörtchen war während des Bundestagswahlkampfes von 2017 zum Problem der Mehrwertsteuerbelastung der einkommensschwachen Bevölkerungsmehrheit verloren worden. Im Koalitionsvertrag wird nur allgemein davon gefaselt, dass es keine Erhöhung der Steuerbelastungen für die Bürger geben soll. Das macht misstrauisch. Und schon ist das Feuerzeug an die Benzinflasche gehalten: Zündler ist der als Rentenverschlechterer berüchtigte „Experte“ Axel Börsch-Supan. Er hat, mundgerecht für das Regime garniert, ausgerechnet, dass das Geld für die vereinbarten Rentenverbesserungen nicht ausreichen würde. Möglicherweise könne eine Mehrwertsteuererhöhung das Problem lösen.Für die einkommen- und strukturschwachen Regionen wäre diese Finanzierung der in den Ballungsräumen höheren Renten durch eine Mehrwertsteuererhöhung eine weitere Ausplünderung mittels Sozial-
politik.
Frage:
Haben Sie deshalb Ihren TUMULT-Beitrag mit „Liquidierung der Raumordnung durch den Sozialstaat“ überschrieben ?
Goe.:
Habe ich. Und Sie brauchen sich für dieses Gespräch auch nicht extra zu be-
danken!
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*
Das Interview führte eine Autorengemeinschaft der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona. Der vollständige
Interviewtext liegt in der Verantwortung von Prof. Albrecht Goeschel i.S.d. Pressegesetzes.
Mail: mail@prof-goeschel.com
**
Prof. (Gast) Albrecht Goeschel Alle Rechte bei:.
Staatliche Universität Rostov Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona 2018
Präsidiumsmitglied der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Mail: mail@accademiaistituto.com
Beitragsfoto: Claus-D. Stille
„Am Bett des krank gemachten deutschen Gesundheitssystems“
Ein Interview mit Prof. Albrecht Goeschel: „Ein 4. Regime Merkel ? Nur wenn diese Gang noch einmal regiert, kann sie erledigt werden“

Ein 4. „Regime Merkel“) Prof. Goeschel begrüßt es aus seiner Sicht. Foto: Tim Reckmann via Pixelio.de
Wieder einmal trudelte ein Interview mit Prof. Albrecht Goeschel ein. Ich gebe es meinen LeserInnen mit freundlicher Genehmigung von Prof. Goeschel gern zur Kenntnis.
Interview* (Überschrift im Titel von der Autorengemeinschaft, welche es führte) mit Prof. Albrecht Goeschel**
Frage:
Herr Professor – das ist jetzt ja schon das übliche Spiel. Wir drohen ein Interview
an und Sie geben uns erst einmal etwas zum Lesen. Diesmal war es ein Fachbeitrag aus dem Ökonomenmagazin MAKROSKOP. Bei einem der letzten Interviews war es
ein Fachbeitrag aus der Vierteljahresschrift TUMULT. In beiden Veröffentlichungen
haben Sie sich die Staatsfinanzierung der Bundesrepublik Deutschland vorgenom- men. So ganz nah an der drohenden erneuten Kanzlerschaft Merkels ist das aber nicht – oder ?
Goe.:
Ist es schon – dazu gleich mehr. Ich hätte jetzt aber eigentlich erwartet, dass Sie
mich fragen, ob und wie das zusammenpasst: Tumult und Makroskop. Die Viertel-
jahresschrift wird landauf und landab als Edelblatt der neuen Rechtsintellektuellen kritisiert oder applaudiert, das Ökonomenmagazin führt seit einem Jahr bravou-
rös die Jämmerlichkeit, aber auch Bösartigkeit der neo-liberalen Idiotien und Ideologien und ihrer Professor(inn)en vor und bezeichnet seine Linie als Progressiv.
Frage:
Ja, lieber Herr Professor, wenn Sie jetzt schon selbst die Interviewfragen stellen –
geben Sie uns doch bitte auch gleich die Antwort !
Goe.:
O.K. – also zum Mitschreiben: Tumult und Makroskop vertragen sich ganz vor-
züglich. Beide Publikationsorgane und ihre Redaktionen zeigen den festen Willen und die unerschrockene Bereitschaft zu schonungsloser und grundsätzlicher
Kritik auf hohem Niveau. Gesinnungsschreiberei , Meinungswissen und Wirk-lichkeitsverfälschung überlassen sie den Wahrheitsmedien des Systems und den genau so schwer zu ertragenden Bekenntnisorganen des Linksmilieus.
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Frage:
Und welche Wirkung erwarten Sie sich von Veröffentlichungen in Tumult und Ma-
kroskop?
Goe.:
Also diese Frage erinnert mich irgendwie an die im Studentenrebellionsjahr 1967
von überwollenden Journalisten, Diskussionsveranstaltern etc. gestellte und zu
Recht verlachte Frage „Was wollen die Studenten ?“. Unabhängig von dieser
Nebenbemerkung: Die große politische Aufgabe dieser Tage ist doch, die keines-
wegs mehr merkel-chloroformierten, sondern längst gemeinschafts-engagierten
Leute, nationale und konservative Leute ebenso wie progressive Leute, mit all den Erkenntnissen und mit all dem Wissen über den Weltkapitalismus und über die
US-imperialistische neue Weltordnung, aber auch über deren deutsche und euro-
päische, asiatische, lateinamerikanische etc. Satrapien auszustatten. Es gibt einen
enormen Fundus an Erkenntnissen und Wissen, der aber leider in den falschen
Händen ist . Von korrumpierten Regime-Soziologen oder traditionalistischen Links-
Ökonomen möchten die Leute halt lieber keine Belehrungen bekommen.
Frage:
Da haben Sie jetzt aber keine Sorge, dass Sie vielleicht als „Populist“ oder gar als „Querfront-Denker“ verdächtigt werden ?
Goe.:
Also: Wenn ich mir die Leute ansehe, von denen solche Blödeleien kommen können
und gerade in Bezug auf unsere fundamentale Kritik des kapitalistischen Sozial-
staats, der Monstranz der Linken, auch schon gekommen sind, dann muss ich denen
zu aller erst empfehlen, doch ruhig einmal ein paar lehrreiche Bücher zu lesen – dann kann man weiterreden. Auf den auch nicht unwichtigen Umstand, dass sich hier bevorzugt Leute mit gehobenen Spießer-Biographien vordrängen, muss ich dann gar nicht zu sprechen kommen.
Frage:
Für Tumult haben Sie in eine langen historischen Rückblick nachgezeichnet, dass und wie die Mehrwertsteuer als eine besonders heimtückische Konfiskationsart zur
heute wichtigsten Einnahmequelle für das Merkel-Regime geworden ist. In Makros-
kop haben Sie einen ähnlichen Rückblick darauf geboten, auf welchen Wegen und über welche Stufen die Staatsfinanzierung aus Einkommens-, Unternehmens- und Vermögenssteuern abgebaut und durch eine Finanzierung der Staatsaufgaben und Staatsausgaben aus den Sozialbeiträgen der so genannten Arbeitnehmer ersetzt worden ist.
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Goe.:
Genau um solche Analysen geht es, wenn man das Merkel-Regime und eventuelle
Nachfolge- oder Ersatzregime der gleichen Art dauerhaft erledigen will. Der Welt-
Kapitalismus und seine US-imperialistische Neue Weltordnung ist ja keine Weltre-
gierung, sondern ein Interessennetzwerk nationaler Satrapien nebst der profitieren-
den Eliten einerseits und der Weltkonzerne und ihrer nationalen Filialen andererseits.
Dabei herrscht zwischen Teilen dieses Netzwerks auch noch ein erbitterter Konkur-
renzkampf um die Höchstprofite. Es kommt daher darauf an, die spezifischen na-
tionalen und supranationalen Ausplünderungskonzepte (EU, NAFTA, TTIP, CETA
etc.) genau zu kennen, um sie erfolgreich bekämpfen zu können. Eine Vorausset-
zung hierfür ist, dass man weiß, wie die jeweiligen Satrapien finanziert werden. Für
Merkels Deutschland haben wir das in den Fällen Mehrwertsteuer und Sozialbeiträ-
ge jetzt erledigt. Als nächstes wäre die Lohnsteuer an der Reihe.
Frage:
In ihren zahlreichen Artikeln und Interviews der letzten Jahre haben Sie kein einzi-
ges Mal angeraten,die Parteien des Merkel-Regimes nicht mehr zu wählen.Warum ?
Goe.:
Nicht nur die Kanzlerinnenperson Merkel, sondern auch der GroKo-Clan und die
gesamte Parlaments-Gang der Kopfnicker-Opposition muss unbedingt noch einmal
ein paar Jahre Unheil anrichten. Die dann weiter gewachsene Wut auf das Regime und weiter gewachsene Gegenöffentlichkeit gegen die Systemmedien bieten erst so richtig die Basis dafür, dass das “Volk“ und seine „Klassen“ besser erkennen, ver- stehen und begreifen, was sich in den letzten Jahrzehnten hinter dem Firmenschild „Bundesrepublik Deutschland“ für ein menschenfeindlicher und lebensbedrohlicher Stützpunkt der „Neuen Weltordnung“ entwickelt hat.
Frage:
Sie würden sich also freuen, wenn es nochmals eine GroKo geben würde ?
Goe.:
Ja – aber Hallo. Nicht nur wegen der schon dargelegten Gründe. Sondern auch weil
dann endlich die Sozi-Partei auf der politisch-historischen Deponie verschwindet. Sie
und ihr ganzer Rattenschwanz von Stiftungen, Forschungseinrichtungen, Zeitungs-
verlagen, Tagungsstätten, nicht zu vergessen die Hilfstruppen der so genannten
Sozialverbände sind doch die falschen Hände, in denen sich wichtiges gesellschaftli-
ches und gesamtwirtschaftliches Wissen befindet . Allein dadurch, dass auf diesem
Wissen häufig der SPD-Stempel prangt, ist es für die Leute ungenießbar und daher
unverwendbar. Zusätzlich wird dieses Wissen den Leuten vorenthalten oder ver-
fälscht.
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Frage:
Ja – könnte sein, dass sich der Sozi-Verein, wenn er weg von den Pöstchen, Diäten und Budgets ist, wieder als Pseudo-Opposition reanimiert, dass er sich nur mittels erneuter GroKo wirklich endgültig eliminiert. Klingt aber irgendwie dürftig angesichts der Qualen, die allein schon der Anblick von Merkel weitere vier Jahre erzeugt.
Goe.:
Wenn uns vier Jahre „Weiter so“ in den Schoß fallen sollten, dann haben wir die
Chance, nicht nur das Regime auf die eine oder andere Weise endgültig loszuwer-
den, sondern auch das dahinter stehende System umzubauen.
Frage:
Haben Sie da einen Abriss- und/oder Umbauplan, Herr Professor ? Sie haben doch
jahrelang an der Architekturabteilung der Münchner Kunstakademie Vorlesungen
zur „Planungsökonomie“ gehalten ?
Goe.:
Sehr komisch ! Um Architektur, Städtebau und Urbanismus geht es beim Systemum-
bau ja eher nicht.Wiewohl: Die immer katastrophalere Wohnungssituation in den Bal-
lungsräumen, die Siedlungsform „Flüchtlingslager“, Verödungsregionen, Wackel-
brücken, Schlaglochautobahnen, unhygienische Schultoiletten etc. – das ist natürlich original „Merkel-Architektur“. Das wäre ein richtig spannendes Projekt für die Archi-
tekturstudierenden:Eine gut erläuterte Fotodoku „Merkel-landscape“ – käme vielleicht gleich nach einer Fotodoku „Allied Airforces Bombing-landscape“.
Frage:
Sollen wir nochmals fragen ?
Goe.:
Nein danke. Bei dem von mir gemeinten Umbau geht es zunächst einmal um einen anderen Blickwinkel der Leute auf das Land. Nicht mehr Froschperspektive, sondern Adlertopographie. Das wichtigste ist, dass die Leute sehen lernen, dass der ganze Laden ihnen längst gehört, dass sie mit Mehrwertsteuer, Lohnsteuer und Sozialbei-
trägen nicht nur das gegenwärtige Regime, sondern das dahinter stehende Politische System finanzieren.
Frage:
Vor diesem Interview haben wir Ihre Publikationen der zurückliegenden fünf Jahre
durchgesehen. Da ist nicht nur der Ton zunehmend schärfer geworden, Sie haben
Ihre Kritik auch auf den bewusst so apostrophierten „kapitalistischen“ Sozialstaat
konzentriert. Warum ?
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Goe.:
Der kapitalistische Sozialstaat, insbesondere der deutsche Sozialversicherungsstaat,
ist die ganz große Illusion, der die Leute heute, so wie einst die Religion bis vor ein
paar Jahrzehnten, davon ablenkt, ihre eigene Kraft zu erkennen und ihrem eigenen Willen zu folgen und selbst über das zu bestimmen, was ihnen auch selbst gehört. Das von den Sozis, dem Linksmilieu und den Gewerkschaften angezettelte Umvertei-
lungs- und Gerechtigkeitsgewäsch bezieht sich lediglich auf das, was „post festum“,
nach der Mahlzeit vom Tisch der Eliten in Wirtschaft und Politik herunter gewischt
wird, nicht aber auf das, was überhaupt auf den Tisch kommt, wer überhaupt am Tisch sitzt und wer letztlich gekocht und zuvor eingekauft hat.
Frage:
In einer der letzten Ausgaben Tumult haben Sie einen Beitrag zum Thema „Sozial-
staat: Giftige Frucht des Kapitalismus“ veröffentlicht. Ist die Fundamentalanalyse und Radikalkritik des Sozialstaats sozusagen das Planungskonzept Ihrer Abriss-
und Umbaupläne für Regime und System ?
Goe.:
Kann man so sagen. Schließlich ist der „Sozialstaatsprozess“, dieser Begriff ist tref-fender, der fortlaufende und meist unmerkliche Mechanismus, bei dem die Normal-
Löhne der großen Masse der abhängig Beschäftigten dafür benutzt werden, mit den daraus konfiszierten Sozialbeiträgen die Niedriglöhne der prekär Beschäftigen zu
subventionieren – d.h. insgesamt das Lohnniveau im Geschäftsmodell Deutschland
niedrig zu halten.
Frage:
Wie bitte ? Ginge das noch einmal ?
Goe.:
Nein – steht doch in der Tumult. Dafür gebe ich lieber noch einen anderen Hinweis
darauf, dass und wie der Sozialstaat der beste, und von den Leuten auch noch an-
gebetete, Garant eines niedrigen Lohnniveaus im Geschäftsmodell Deutschland ist.
In der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sorgen die Beiträge und die Lei-
stungen, die im „Umlage“-Verfahren aufgebracht werden, dafür,dass kein Arbeitnehmer und keine Arbeitnehmerin für Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter so viel zurücklegen muss, dass die vollen Kosten von ihnen oder der Familie bezahlt werden können. Wäre dies der Fall, dann wäre sofort Schluss mit dem „Geschäftsmodell Deutschland“, dann würden die unvermeidlich enorm viel höheren Normallöhne den Export- und Dumpinglohnterror der Konzerne mit Geschäftssitz in Deutschland gegen die anderen Volkswirtschaften sofort beenden.
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Frage:
Mit dieser makroökonomischen Sozialstaatskritik passen Sie natürlich gut in das
Magazin Makroskop, das ja die Fundamentalkritik am deutschen Exportextremismus
wirtschaftswissenschaftlich anführt.
Goe.:
Sag’ ich doch. Zum Schluss aber noch etwas, auf das wir bei einem 4. Regime Merkel, vor allem bei einer erneuten GroKo, höllisch aufpassen müssen: Ich spreche
jetzt bewusst nicht von der angestrebten EU-Regierung, von der Anti-Rußlandauf-
rüstung, von einer erneuten Umvolkungswelle, von Mehrwertsteuer- und Sozialbei-
tragserhöhungen etc. Ich bleibe ganz nah am Sozialstaat:
Den Eliten in Deutschland reicht es nicht, dass ihnen der Sozialstaat sich selbst ver-
billigende Arbeitsware liefert, dass man die Infrastrukturen des Sozialstaats durch
Privatisierung zu Profitquellen gemacht hat und dass mit den Sozialbeiträgen das
bezahlt wird, wofür normaler weise Einkommens-, Unternehmens- und Vermögens-
Steuern fällig sind. Nein: Die Eliten wollen auch noch diese Beiträge billiger machen.
Bevorzugt wird zu diesem Zweck die Gesundheitsversorgung verschlechtert. Und
genau das haben wir bei einem 4. Regime Merkel zu erwarten: Einen rabiaten
Kahlschlag bei den Krankenhäusern mit hunderten von Klinikschließungen. Die
Krankenkassenkonzerne betreiben schon eifrig Anti-Krankenhaushetze und die
üblichen gekauften „Expert(inn)en“ haben schon die benötigten Gutachten zusam-
mengeschrieben.
Hoffentlich ist aber der zu erwartende Merkel-„Krankenhausputsch“ nach dem
Merkel-„Willkommensputsch“ dann der eine Putsch zu viel für das Regime und seine Gang.
Frage:
War’s das ?
Goe.:
Das war’s – Danke –Bitte.
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*Das Interview führte eine Autorengemeinschaft der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona. Der vollständige Interviewtext liegt in der Verantwortung von Prof. Albrecht Goeschel i.S.d. Pressegesetzes
Mail: mail@prof-goeschel.com
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Prof. (Gast) Albrecht Goeschel Alle Rechte bei:
Staatliche Universität Rostov Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona 2017
Präsidiumsmitglied der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Mail: mail@accademiaistituto.com
Hinweis: Dieser Beitrag gibt die Meinung der Autorengemeinschaft, respektive des Interviewten wieder, nicht notwendigerweise die es Bloggers clausstille.com.