Dortmund: Würdigung von einstmals in Hombruch wirkenden und wohnenden Antifaschisten

Kranzniederlegung an der Gedenktaftel im Stadtteil Hombruch: von links: Günter Bennhardt, Ulrich Sander (VVN-BdA), Ernst Söder (Gedenkstätte Steinwache – Internationales Rombergparkkomitee), Klaus Ulrich Steinmann (stellv. Bezirksbürgermeister) und Hans Semmler (Bezirksbürgermeister). Fotos: C. Stille

Vor fünfundsiebzig Jahren, am 24. Juli 1944, ermordeten die Faschisten die in Dortmund-Hombruch politisch wirkenden und wohnenden Antifaschisten Hans Grüning und Wilhelm Knöchel.

An deren aktiven Widerstand gegen das Naziregime und das Wirken weiterer Widerstandskämpfer aus dem Stadtbezirk Hombruch – stellvertretend dafür gesetzt Wilhelm Oberhaus und Fritz Husemann – wurde am vergangenen Samstag erinnert. An der Gedenktafel am Eingang zur Sparkassenfiliale Hombruch – dem früheren Standort des Hombrucher Amtshauses – wurde in Anwesenheit des Bezirksbürgermeisters Hans Semmler sowie dessen Stellvertreter Klaus Ulrich Steinmann ein Blumengebinde niedergelegt. Ernst Söder würdigte die Ermordeten für ihren Mut und ihre Haltung. Menschen wie sie seien ein Maßstab, an dem wir Nachgeborenen uns messen lassen müssten, wenn unsere Haltung gefragt ist.

Stellvertretend für viele andere wurde erneut an vier Hombrucher Widerstandskämpfer erinnert

Ernst Söder vom Förderverein Gedenkstätte Steinwache – Internationales Rombergpark-Komitee e. V. begrüßte die zum Gedenken erschienen BürgerInnen. Er erinnerte an die Worte von Obrbürgermeister Ullrich Sierau beim diesjährigen Bittermark-Gedenken, der dort Bertold Brecht zitiert habe: „Der Mensch ist erst dann wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“

Stellvertretend für viele andere solle, so Ernst Söder, nun erneut an vier Hombrucher Widerstandskämpfer erinnert werden. Sie stünden für unzählige Frauen und Männer, „die während der NS-Zeit von den Nazihorden ermordet wurden“. Es sind dies Hans Grüning, Wilhelm Knöchel, Wilhelm Oberhaus und Friedrich Husemann.

Diese vier Menschen – von deren Mut und ihrem Tun gegen das faschistische Deutschland man wisse – seien nicht vergessen, obwohl man sie ja nie persönlich gekannt habe. Immerhin, so Söder , habe man Nachfahren getroffen. Und die hätten mehr erzählt, als man sonst aus irgendwelchen Büchern erfahren könne. Das faschistische Deutschland sei von Völkermord, Denunziation und dem Wüten der Gestapo gekennzeichnet gewesen.

Wilhelm Knöchel

Wilhelm Knöchel ist der einzige Name, welcher nicht auf der Hombrucher Gedenktafel verewigt ist. An Wilhelm Knöchel erinnere man dennoch,

erklärte Ernst Söder, weil er am 24. Juli 1944, dem gleichen Tag wie Hans Grüning, mit dem Fallbeil hingerichtet wurde.

Durch vorherige Folterungen war er nicht in der Lage zu seine Hinrichtung zu gehen. Er wurde auf einer Trage dorthin gebracht. Knöchel wuchs in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie auf.

Als Mitglied der SPD kam er ins Ruhrgebiet. Später wechselte er in die KPD. Von 1924 bis 1930 war er Mitglied der KPD-Leitung in Dortmund. Verhaftet wurde er 1943. Er hatte die kommunistische Widerstandsarbeit in den Zechen des Ruhrgebiets organisiert.

Jüdische Frauen, Kinder und Männer wurden schon früh ins Ghetto nach Riga deportiert

Schon früher, daran erinnerte Ernst Jörder, hatten die Nazis jüdischen Frauen, Kinder und Männer von Dortmund in das Ghetto nach Riga deportiert. Dort hätten Hunger und Zwangsarbeit auf sie gewartet. Viele von ihnen hätten Deportation und Aufenthalt im Ghetto nicht überlebt.

Das Leben der Menschen in der Nazizeit war von Misstrauen und Einschüchterung geprägt

Die Nazis hätten das öffentliche Leben beherrscht. Die Angst der Menschen vor Denunziation habe jede öffentliche Kritik verstummen lassen. Das Leben der Menschen sei von Misstrauen und Einschüchterung geprägt gewesen.

Wilhelm Oberhaus

Wilhelm Oberhaus.

Wilhelm Oberhaus, sagte Söder, habe sich seinen Mund nicht verbieten lassen. Oberhaus war Priester in der St. Clemens-Gemeinde in Hombruch. In seinen Predigten habe er sich für das Erziehungsrecht der Eltern eingesetzt, indem er sagte: „Die Kinder, liebe Eltern, gehören nur euch nach Gott – erst dann dem Staat.“

Damit hatte sich Oberhaus zum Feind des Regimes gemacht. Gemeindemitglieder denunzierten ihn bei der Gestapo. Ernst Söder im Nebensatz: „Ich

würde gerne wissen wer das war.“

Eine Verurteilung wegen des Vergehens gegen das sogenannte „Heimtücke-Gesetz“ durch das Dortmunder Sondergericht habe ihm nicht nur fünf Monate Haft, sondern auch das Ende seiner Tätigkeit in Hombruch eingebracht. Er wurde an einen anderen Ort versetzt. Auch dort wurde er wegen eines weiteren Vorfalls verhaftet und am 10. Oktober 1941 ins Konzentrationslager Dachau überführt. Am 20. September 1942. Er starb an Hunger und einer nicht behandelten Erkrankung. Seine sterblichen Überreste wurden im KZ-Krematorium eingeäschert und seinen Eltern in einer Urne zugeschickt. Unter großer Anteilnahme wurde sie 24. Oktober 1942 in Herford beigesetzt. Die Beerdigung habe einer Protestversammlung gegen das faschistische Unrecht geglichen. Nach dem Krieg habe die Stadt Dortmund den Priester mit der Benennung einer Straße im Stadtteil Hombruch gewürdigt. Die katholische Pfarrei St. Clemens benannte das im Jahre 1958 fertiggestellte Pfarrheim nach Wilhelm Oberhaus. In Herford trägt eine katholische Grundschule seinen Namen.

Hans Grüning.

Hans Grüning

Weiter erinnerte Ernst Söder an den jungen Hans Grüning, der Mitglied des kommunistischen Jugendverbands in Dortmund-Barop gewesen war. Grüning, bei der Machtergreifung Hitlers 16 Jahre alt, habe erleben müssen, wie sein Vater 1933 von der Gestapo verhaftet und als Staatenloser ausgewiesen wurde. In den 1940er Jahren pflegte Grüning Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen und übernahm Kurierdienste nach Holland, um den Informationsfluss zwischen den Parteigremien sicherzustellen. Die Gestapo verhaftete ihn. Grüning wurde am 9. Juni 1944 wegen Verbreitung feindlicher Rundfunkhetze via Flugblätter vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Am 24. Juli 1944 starb er in Brandenburg unterm Fallbeil.

Fritz Husemann

Sozialdemokrat Fritz Husemann war Vorsitzender des Bergarbeiterverbandes und Mitglied des Preußischen Landtags (1919 bis 1933) und später des Deutschen Reichstags (1924 bis 1933). Er lebte eine Zeitlang in Witten und Hombruch. Auch er wurde von den Nazis verfolgt und am 11. März 1933 mit vielen anderen Bochumer Sozialdemokraten vorübergehend verhaftet. Am 2. Mai 1933 wurde Husemann nach der Besetzung des Hauses des Bergarbeiterverbandes in Bochum fristlos entlassen. Bis zum 3. Juli 1933 wurde er mehrfach verhaftet. Obwohl ihm der US-amerikanische Bergarbeiterverband zur Emigration riet, lehnte er ab. Am 18. März 1935 verklagte er

Fritz Husemann.

die Deutsche Arbeitsfront auf Entschädigungszahlungen. Daraufhin wurde Fritz Husemann am gleichen Tag erneut im Polizeigefängnis Bochum inhaftiert und am 13. April 1935 in das KZ Esterwegen überführt. Bereits einen Tag nach seiner Einlieferung schoss ihm die KZ-Mannschaft bei einem angeblichen Fluchtversuch in den Bauch. Er starb am darauffolgenden Tag an einer Bauchfellentzündung im Kreiskrankenhaus Sögel. Die Einäscherungs- und Begräbnisfeierlichkeiten, an der damals tausend Menschen teilnahmen und waren, wie Söder sagte, „beeindruckende Kundgebungen für die persönliche Popularität Husemanns“.

Ernst Söder: Die Männer haben unseren Respekt verdient und sollten uns Vorbild sein

„Diese Männer haben, wie viele tausend andere auch, Mut und Haltung bewiesen. Sie haben unseren Respekt verdient. Und sie sollten uns Vorbild sein. Menschen wie sie sind ein Maßstab an dem wir uns messen lassen müssen, wenn unsere Haltung gefragt ist. Unsere Aufgabe ist es, Ereignisse und Verbrechen wie sie 1933 bis 1945 zugetragen haben mit allen uns zugänglichen Mitteln zu verhindern. Wir müssen uns klar aufstellen gegen die rechtsextremen Parteien und Organisationen in der Tradition des Nationalsozialismus. Und wir müssen uns auch deutlich abgrenzen von völkisch-nationalen Angliederungen einer AfD.“, sagte Ernst Söder.

Möge die Geschichte uns verpflichten. Wehret den Anfängen!“, postulierte Söder

„Möge die Geschichte uns dazu verpflichten. Wehret den Anfängen! Auch jetzt wieder.“, so Söder eindringlich. Unsere Demokratie sei zwar stabil, aber auch schnell durch Neonazis und rechte Populisten in Gefahr. Die Menschen müssten endlich damit aufhören, die „geistigen und mittlerweile auch praktischen Brandstifter in unserer Republik als Protestwähler oder Mitläufer zu verharmlosen“. Sie seien Demokratie- und Menschenfeinde. In ihren Köpfen wäre nur noch Hass und Dummheit.

Ernst Söder: „Sie haben sich in ihrer Parallelgesellschaft so radikalisiert, dass ihnen mittlerweile nur noch mit juristischen Mitteln beizukommen ist. Und wer angesichts des Schulterschlusses rechtsradikaler Kräfte noch von berechtigten Bürgerprotesten spricht, wer immer noch die AfD unterstützt,

um denen da oben eins auszuwischen, der muss wissen was er tut. Er öffnet alten und neuen Nazis die Türen.

Es fing nicht an mit Gaskammern …“

Eindrücklich gab Söder zu bedenken: „Es fing nicht an mit Gaskammern, es fing an mit einer Politik, die von wir gegen die sprach. Es fing an mit Intoleranz und Hassreden. Es fing an mit der Aberkennung von Grundrechten. Es fing an mit brennenden Häusern. Es fing an mit Menschen, die einfach wegschauen. Wehret den Anfängen, jetzt, morgen und in den Zeiten danach.“ Und er endete mit folgenden Worten, die den Beifall der Umstehenden fand: „Wir wollen keinen Faschismus mehr, Faschismus ist kein Glaubensbekenntnis, sondern ein Verbrechen.“

Rezension: „Angst und Macht“ von Rainer Mausfeld

Der Neoliberalismus ist m.E. die Krankheit unserer Zeit. Fast alle Bereiche unserer Gesellschaft – und es werden ständig neue davon erfasst – sind von dessen Geist, besser: Un-Geist, befallen. Das Perfide daran: Die mit dem Neoliberalismus in Verbindung stehenden Mechanismen, präziser: dessen Ideologie, wird den Menschen geradezu als Medizin verkauft, gepredigt, die uns vorgeblich voranbringt. Paradox: Eine Krankheit wird uns als Allheilmittel verordnet. Die zu Apologeten dieses „Allheilmittels“ gemachten oder gar – entsprechenden, wie auch immer gearteten Einflüssen erlegen – aus eigenem Antrieb dazu gekommenen Politiker sowie die ihnen kritiklos, liebedienernd zur Seite stehenden, ihnen nachplappernden, Papageienjournalisten – statt als Vierte Macht in der Demokratie zu handeln! – in unseren Mainstream- und „Leit“-Medien verkaufen diesen Neoliberalismus.

Wer es nicht schafft, ist selber schuld

Sie lassen die schon immer falsche „Volksweisheit“ aufscheinen: Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Und wer’s halt nicht schafft? Der ist nicht nur raus, hat Pech gehabt, sondern – stärker als nie zuvor wird ihm heute vermittelt: Du bist selber schuld. Hast dich eben nicht genug angestrengt. So jemand begehrt in den seltensten Fällen auf. Er ist förmlich erschlagen von den Verhältnissen. Wem sollte er die Schuld für sein Versagen geben? Er sieht ja keine.

Die Mächtigen – ich meine hier nicht die uns regierenden, sondern die wahrhaft Mächtigen, welche ja die Ideologie des Neoliberalismus immer weiter vorantreiben, sind ja weitgehend unsichtbar. Sie haben keine Adresse. In früheren Zeiten hatten etwa die Ausgebeuteten, wenn der Guts- oder Fabrikherr den Bogen in Sachen Ausbeutung überspannt hatte diese Adresse. Und dann zogen sie schon mal mit Mistforken vor die Villa des Ausbeuters.

Manchmal entschlüpft den anscheinend Mächtigen auch einmal die Wahrheit

Und unter den anscheinend Mächtigen gibt es sogar manchmal welche, denen auch mal die Wahrheit entschlüpft. Einer von ihnen sagte das dann sogar offen in der ARD-Satiresendung „Pelzig“ am 21. Mai 2010 in der ARD. Der damalige bayerische CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer sagte frank und frei von der Leber weg:

„Diejenigen die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden … und diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt.“

Oder der nun bald scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

WENIGE profitieren – VIELE verlieren

Freilich – das soll hier nicht verschwiegen werden – gibt es auch Menschen und Menschengruppen, welche vom Neoliberalismus profitieren – und das nicht zu knapp. Doch die Mehrheit – die Gesellschaft (etwas, von dem die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher zynisch behauptete, „There ist no such thing as society“ – „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) verliert dabei. Die Gesellschaft und mit ihr die Demokratie (oder was noch davon übriggeblieben ist) wird regelrecht zerbröselt – letztlich womöglich sogar zerstört. Und der Thatcherismus existiert unter verschiedenen Masken und unterschiedlichen manchmal auch grellbunten, auf den ersten Blick fröhlich scheinenden, Gewändern heute munter weiter.

Wenn doch aber von diesem Neoliberalismus nur so WENIGE profitieren, aber so VIELE verlieren – weshalb begehren die ins Hintertreffen gedrängten Menschen denn nicht dagegen auf? Ich schrieb es bereits: Die Adresse, wohin sie mit ihren „Mistforken“ ziehen könnten, haben sie nicht. Und sie haben Angst. Angst, die ihnen ständig gemacht, auch medial eingetrichtert wird. Angst – kein neues Mittel, wie Rainer Mausfeld („Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“; mehr auch hier, hier und hier) in seinem neuen Buch „Angst und Macht“ schreibt.

Rainer Mausfeld: Auf längere Sicht lässt „sich das neoliberale Projekt auf demokratischem Wege nicht ohne eine massive Manipulation des Bewusstseins durchsetzen“

Längerfristig, meint Rainer Mausfeld, „haben neoliberale Transformationsprozesse unmittelbar spürbare negative Folgen vor allem für diejenigen, die zum unteren Bereich der Einkommens- und Vermögensskala gehören; ihre längerfristigen Folgen betreffen uns alle, da diese Prozesse unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören.“

Auf längere Sicht ließe „sich das neoliberale Projekt auf demokratischem Wege nicht ohne eine massive Manipulation des Bewusstseins durchsetzen.“

Die systematische Erzeugung gesellschaftlicher Ängste spielt eine ganz besondere Rolle

Mausfeld hält auf Seite 11 fest: „Eine systematische Erzeugung gesellschaftlicher Ängste spielt dabei eine ganz besondere Rolle. Aus machttechnischer Sicht haben Ängste den Vorteil, dass sie leicht zu erzeugen sind und sehr viel tiefergehende psychische Auswirkungen auf unser Handel und unser Nichthandeln haben als beispielsweise Meinungen.“ Angst ließe sich so „auch manipulativ zur Sicherung von Herrschaft nutzen.“

„Jedoch müssen auch die Herrschenden Angst haben, durch Aufstände und Revolutionen ihrer Untertanen ihre Macht zu verlieren“ (S.14), gibt Rainer Mausfeld zu bedenken. Setzt dem allerdings entgegen, was David Hume, der Philosoph der Aufklärung bereits 1741 festgestellt hat: „Nichts ist überraschender als die Leichtigkeit, mit der sich die Vielen von den Wenigen regieren lassen, … denn die GEWALT ist immer auf der Seite der Regierten.“

Mausfeld weiter: „Dieses ‚Wunder‘ bedürfe einer Erklärung – und Hume sah sie in einer geeigneten Manipulation der Meinungen. Für die Zwecke einer Machterhaltung ist freilich ein anderes Mittel, das sehr viel tiefere Wirkungen im psychischen Gefüge hat, unvergleichlich wirksamer: die Erzeugung von Angst“ (S. 14 unten).

Noam Chomsky: „Der Begriff kapitalistische Demokratie ist ein Widerspruch in sich

Mausfeld weist daraufhin (S. 15), dass gerade, „um eine radikale zivilisatorische Einhegung von Macht“ (…) ins Werk zu setzten, die Idee der Demokratie“ erwachsen sei.

Demokratie wurde aber dann bald schon als Risiko ausgemacht. Auf Seite 20 zitiert Mausfeld aus „Taking the Risk out of Democracy“ des Sozialpsychologen Alex Carey: „Das zwanzigste Jahrhundert war durch drei Entwicklungen von großer politischer Bedeutung gekennzeichnet: das Wachstum der Demokratie, das Wachstum der Unternehmensmacht und das Wachstum der Unternehmenspropaganda als Mittel zum Schutz der Unternehmensmacht vor der Demokratie.“

Nicht umsonst verweist Rainer Mausfeld auf Noam Chomsky: „Der Begriff kapitalistische Demokratie ist ein Widerspruch in sich. …. das ist eine Zwangsverbindung – beides passt nicht zusammen.“

Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien

Ab Seite 25 seines Buches beschreibt Mausfeld ausführlich „Traditionelle Wege der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien“. Die da wären: „1. die Entformalisierung des Rechts durch systematische Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe“ (’nach pflichtgemäßem Ermessen’„Verwendung unbestimmte Rechtsbegriffe – wie beispielsweise ‚Befürwortung von Gewalt‘, ‚öffentliche Sicherheit‘, ‚Gefährder‘),

die Ideologie der Meritokratie (was wörtlich bedeute: „dass diejenigen zur Ausübung von Macht legitimiert sind, die sich durch Leistungen ein Verdienst erworben haben – also die Besitzenden und herrschenden – welcher Verdienst könnte größer sein? sowie

die Psychotechnik der propagandistischen Erzeugung von vorgeblichen Bedrohungen. (aktuell etwa der Aufbau eines russischen Feindbildes)

Auch der sogenannte „Kampf gegen den Terror“ (ab S. 57), schreibt Mausfeld, habe immer wieder dazu gedient, „das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu verdecken: „Seit jeher richtet sich dieser ‚Kampf gegen den Terror‘ innenpolitisch gegen jede Art fundamentaler Opposition und außenpolitisch gegen praktizierte Alternativen zum US-Kapitalismus.“

Dass eine „Systematische Erzeugung gesellschaftlicher Angst im Neoliberalismus“ statt hat, erfahren wir Leserinnen ab Seite 64. Übrigens findet Mausfeld, dass der Begriff „Neoliberalismus“ „weder eine kohärente ökonomische Theorie noch ein klar bestimmbares System von politischen Praktiken“ bezeichne. „Für eine Beschreibung und für ein theoretisches Verständnis tatsächlicher neoliberaler Transformationsprozesse ist es sinnvoller, vom ‚real existierenden Neoliberalismus‘ zu sprechen.“ (S. 65 oben). Der Autor erklärt: „Der real existierende Neoliberalismus ist ein äußerst wirkmächtiges Transformationsprojekt öknomischer Eliten, das seit mehreren Jahrzehnten global das Beziehungsgeflecht von Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum grundlegend neu gestaltet.“

Angst werde, so Mausfeld, durch „systematische Erzeugung von Gefühlen der gesellschaftlichen Undurchschaubarkeit und Unbebeeinflussbarkeit“ (S.77) erzeugt. Und durch Prekarisierung. Man denke nur an die „3,38 Millionen Arbeitnehmer die trotz Vollzeitjob einen Verdienst von weniger als 2000 Euro brutto im Monat“ haben, welche Mausfeld auf Seite 79 ins Feld führt.

Allein „mehr als 13 Millionen Menschen müssen nach dem jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu den Armen gezählt werden (…)“

Man denke sich nur noch Angst der Menschen – erst recht die im Alter – hinzu, die fürchten ihre Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen zu können.

Mausfeld: „Die neoliberale Ideologie führt dazu, dass die Verlierer des Neoliberalismus Scham über ihre eigene Situation empfinden“

Über „Die Traumatisierungsspirale für die Opfer neoliberaler Transformationsprozesse“ wird exakt ab Seite 88 referiert. Mausfeld: „Die neoliberale Ideologie führt dazu, dass die Verlierer des Neoliberalismus Scham über ihre eigene Situation empfinden. Dies erzeugt bei ihnen innerpsychische Spannungen, die ihren äußeren Ausdruck darin finden, dass die Betroffenen eine verstärkte Neigung aufweisen, sich mit den Erfolgreichen und Mächtigen zu identifizieren und sich zugleich zu Lasten derjenigen, die sozial noch niedriger stehen, psychisch zu stabilisieren.“

Rainer Mausfeld geht auf Wilhelm Heitmeyer ein, „der von ihm erfassten ‚rohen Bürgerlichkeit‘ den ‚Nährboden für eine elitäre Menschenfeindlichkeit‘ sieht. Mausfeld: „Diese Menschenfeindlichkeit wohnt freilich, wie das dem Neoliberalismus zugrunde liegende Menschenbild bereits erkennen lässt, dem Neoliberalismus wesenhaft und konstitutiv inne. (S. 95)“

Der Neoliberalismus hat es vermocht, auf den dunklen Seiten des Menschen eine ganze Gesellschaft zu errichten“, stellt Rainer Mausfeld nüchtern fest

Im letzten Kapitel von „Angst und Macht“, das mit „Wie kann eine größtmögliche Freiheit von gesellschaftlicher Angst gewonnen werden“, stellt Rainer Mausfeld nüchtern urteilend fest: „Der Neoliberalismus hat es vermocht, auf den dunklen Seiten des Menschen eine ganze Gesellschaft zu errichten.“

Und er verweist zugleich, wenn wir auf Veränderung des schlimmen Zustandes unserer Gesellschaft aus sind, auf Noam Chomsky.

„Wenn wir uns aus den Fesseln systematisch erzeugter gesellschaftlicher Angst befreien und emanzipatorische Fortschritte in Richtung einer menschenwürdigeren Gesellschaft ermöglichen wollen, so müssen wir, wir Noam Chomsky nicht müde wird uns zu ermahnen, entschlossen an die Wurzeln der Machtverhältnisse gehen, die einem solchen Ziel im Wege stehen:

‚Solange die Wirtschaft unter privater Kontrolle steht, ist es egal, welche Formen das System annimmt, weil sich mit der Form nichts erreichen lässt. Selbst wenn es politische Parteien gäbe, an denen sich die Bürger engagiert beteiligen und Programme ausarbeiten, von denen sie überzeugt sind, hätte das bestenfalls marginalen Einfluss auf die Politik, weil die Macht anderswo verortet ist.’“

Ein kleines Pflänzchen Hoffnung

Dennoch pflanzt uns Rainer Mausfeld am Ende seines Buches doch ein kleines Pflänzchen Hoffnung:

„Ein wirksames zivilisatorisches Gegenmittel kann nur von unten kommen und muss von unserer Entschlossenheit und unserer unbeirrbaren Überzeugung geleitet sein, dass es keine Form gesellschaftlicher Macht geben darf, die nicht demokratisch legitimiert ist.

Ein Projekt, das die „mit dem Neoliberalismus zum Extrem getriebene soziale Fragmentierung und Atomisierung“ überwinde, müsse „auf der Grundlage eines egalitären Humanismus – also einer Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche ungeachtet ihrer faktischen Differenzen – Solidarität und Gemeinschaftssinn als Fundamente gesellschaftlichen Handelns zurückzugewinnen.“

Das Einfache, das schwer zu machen ist.

Ein wichtiges Buch, das ich von Herzen empfehle!

Anbei gegeben: Ein Interview zu Mausfeld Buch, das Chefredakteur Pascal Luig für Weltnetz.TV mit dem Autoren geführt hat

Rainer Mausfeld

Angst und Macht

Erscheinungstermin: 02.07.2019
Seitenzahl: 128
Ausstattung: Klappenbroschur
Artikelnummer: 9783864892813

Vor 30 Jahren kam Michail Gorbatschow auf Einladung deutscher Betriebsräte nach Dortmund und sprach vor 9000 begeisterten Hoeschianern

Zeitzeugen von damals: Ulrich Schnabel, Werner Nass, Willi Hoffmeister und Hans-Otto Wolf (v.l.) Foto: C. Stille

Vor 30 Jahren – am 15. Juni 1989 – sprach der Generalsekretär der KPdSU Michail Sergejewitsch Gorbatschow vor der Hoesch-Belegschaft in Dortmund. Vor zirka 9000 Leuten! Der Kreml-Chef kam mit seiner Frau auf Einladung deutscher Betriebsräte nach Dortmund und wurde in einer Halle des Walzwerkes von Oberbürgermeister Günter Samtlebe, Ministerpräsident Johannes Rau und Politikern wie Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Hans-Jochen Vogel empfangen. Bei einer Sonntagsmatinee im Hoesch-Museum berichteten der damalige Betriebsratsvorsitzende Werner Nass (79) und weitere Zeitzeugen wie es zur Einladung Gorbatschows gekommen war und über persönliche Erinnerungen von diesem für sie einmaligem Erlebnis. Eine kleine Ausstellung mit Objekten zu diesem Thema ist von nun an zwei Wochen im Hoesch-Museum zu sehen. Werner Nass und dessen Mitstreitern ging es damals um den Frieden. Dafür kämpft auch heute wieder.

Wie es zum Besuch Michail Gorbatschows in Dortmund gekommen ist, erzählten drei Hoeschianer

Bevor es zum Besuch von Michail Gorbatschow kam, habe es eine längere Vorgeschichte gegeben, informierte die Leiterin des Hoesch-Museums Isolde Parussel am vergangenen Sonntag das zahlreich erschienene Publikum. Neben dem einstigen Betriebsratsvorsitzeden Werner Nass konnte sie Ulrich Schnabel, ebenfalls seinerzeit dem Betriebsrat angehörend und Hans-Otto Wolf, einstiger Betriebsratsvorsitzender des Werks Phoenix – alles Hoeschianer – auf dem Podium begrüßen.

Überwältigt vom herzlichen Empfang der Hoeschianer legte Gorbatschow die vorbereitete Rede beiseite

Als unglaublich euphorischen Augenblick erinnert Werner Nass den Empfang des mächtigen Staatsmanns Gorbatschows durch die Belegschaft in der Conti-Glühe des Walzwerkes. Überwältigend wohl auch für Gorbatschow. Der, so Nass, „angesteckt von dem, was sich während seines viertägigen

Werner Nass berichtet über das außerordentliche Ereignis. Foto: C. Stille

Staatsbesuchs in der BRD „zwei Tage vorher in Stuttgart abgespielt hat, sich in Bonn abgespielt hat und besonders in der Conti-Glühe des Westfalenhütte“ an Herzlichkeit ihm entgegenschlug“, das vorbereitete Manuskript weggelegt habe. Stattdessen sei er auf die Menschen eingegangen und habe sich gefreut über deren Unterstützung für seine Politik von Glasnost (Umgestaltung) und Perestroika (Offenheit). Letztlich habe er eine ganz andere Rede gehalten, als die, welche später abgedruckt erschienen sei. Der Dolmetscher, warf Hans-Otto Wolf ein, sei damals sichtlich ins Schwimmen gekommen sei.

Der große Staatsmann Gorbatschow kam am kleinen Eisenbahnhaltepunkt Kirchderne an

Zuvor war der große Staatsmann – wohl aus Sicherheitsgründen und der geografischen Nähe zur Westfalenhütte geschuldet – mit einem Zug am kleinen Eisenbahnhaltepunkt Kirchderne angekommen. Den hatte man herausgeputzt so gut es eben ging.

Höchste Sicherheitsstufe herrschte an allen Stellen, wo einer der mächtigsten Staatsmänner der Welt entlangging oder fuhr: Kanaldeckel wurden verschweißt, im Werksgelände wurde penibel kontrolliert.

Werner Nass: Die Belegschaft von Hoesch war schon immer eine politische Belegschaft

Das enorme Engagement der Hoesch-Belegschaft bezüglich dieses Besuchs sei nicht verwunderlich zu nennen, sagte Werner Nass, denn diese Belegschaft sei schon immer eine politische Belegschaft gewesen. Geprägt durch viele Auseinandersetzungen in Sachen Lohn, Arbeit und Investitionen.

Museumsleiterin Isolde Parussel und Werner Nass. Foto: C. Stille

Auch seien die Menschen von der Ostpolitik Willy Brandts und von dessen unvergesslichem „Kniefall von Warschau“ hoffnungsvoll beeinflusst gewesen. Und Nass verwies mit Blick auf die „Nummer eins der Ostermärsche“, Willi Hoffmeister, der am vergangenen Sonntag im Hoesch-Museum in der ersten Reihe Platz genommen hatte, dass man Anfang der 1980er Jahre zu 400 000 Menschen – im Bonner Hofgarten – auf die Straßen gegangen sei für Abrüstung und Frieden, gegen die Pershing II, Cruise Missiles und den Nato-Doppelbeschluss.

Der erste Arbeiterzug der DKP fuhr 1984 in die Sowjetunion. Werner Nass ist noch heute tief ergriffen vom Besuch des Mamai-Hügels in Wolgograd, wo 700.000 Sowjetbürger den Tod fanden

1984 sei der erste sogenannte Arbeiterzug der DKP für vierzehn Tage in die Sowjetunion gefahren. Noch heute tief betroffen zeigte sich Werner Nass vom Besuch Wolgograds, vormals Stalingrad, und den Gang auf den Mamai-Hügel (auch Mamajew-Hügel), der an die Schlacht von Stalingrad und die dort durch den verbrecherischen Krieg Hitlerdeutschlands getöteten 700.000 Menschen auf sowjetischer Seite erinnert. Wenn man dort gewesen sei, dann könne man in die Seele eines russischen Menschen sich hineinversetzen, ist sich Nass sicher. Nass brachte in Erinnerung, dass die Sowjetunion insgesamt 27 Millionen Tote durch das Wüten Nazideutschlands in ihrem Land zu beklagen hat.

Dortmunder Erde, die an die in der Stadt umgekommen ZwangsarbeiterInnen und Soldaten erinnern soll, wurde übergeben

Ulrich Schnabel wusste sich daran zu erinnern, dass damals dort Dortmunder Erde als Zeichen des guten Willens überreicht wurde. Es handelte sich

Willi Hoffmeister (links) überreicht Werner Nass (rechts) eine Tafel mit Zeitungsausschnitten und Fotos. Foto: C. Stille

um Erde vom Ausländerfriedhof, wo auch ZwangsarbeiterInnen und sowjetische Soldaten, die in Nazideutschland zu Tode geschunden worden waren, begraben sind. In der Sowjetunion habe das damals einen großen Widerhall gefunden. So habe man gewiss auch etwas in Sachen Friede und Freundschaft mit der Sowjetunion vorangebracht. Ulrich Schnabel gab sich darin überzeugt: „Man muss nicht unbedingt eine Eliteuniversität besucht haben, um Diplomat zu sein. Das können auch Malocher.“

Nach den vielen Jahren des Kalten Kriegs wurde Michail Gorbatschow mit seinen Vorstellungen von Perestroika und Glasnost als hoffnungsvoll stimmendes Zeichen gesehen

Als dann der 54-jährige Michail Gorbatschow 1985 ins Amt des KPdSU-Vorsitzenden gekommen sei, mit seinen Vorstellungen von Perestroika und Glasnost, sei das nach den vielen Jahren des Kalten Kriegs ein hoffnungsvoll stimmendes Zeichen – alles bisherige auf den Kopf stellend – gewesen, sagte Werner Nass. So viele Jahre habe es so gut wie keine Verbindung zwischen den „bösen“ Russen im Osten und den „guten“ Amerikanern auf der anderen Seite gegeben.

Und dann seien Reagan und Gorbatschow ist kürzester Zeit in Dialog getreten!

Betriebsräte prägten den Begriff „Demokratie von unten“

Und dann kamen wir“, berichtet Werner Nass, „35 Betriebsräte an der Zahl von Thyssen, Mannesmann und Krupp-Hoesch zusammen und haben den Begriff geprägt ‚Diplomatie von Unten’“. Nass: „Weil es nicht sein konnte, dass nur auf der obersten Ebene versucht wurde. Politik zu machen. Wir wollten von der Basis aus Druck machen.“ Die Idee stammt von 1987. Man habe dann einen Brief an Gorbatschow geschickt.

Die drei Zeitzeugen Werner Nass, Ulrich Schnabel und Hans-Otto Wolf (v.l.)  während der Matinee. Sie haben viel zu erzählen. Foto: C. Stille

Gradlinig und selbstbewusst habe man immer gehandelt, meinte Ulrich Schnabel.

Der Betriebsrat der Hoesch-Hüttenwerke habe ein ganz besonderes und breites Fundament gehabt. Die gewerkschaftliche Einheitsliste der IG Metall habe zur Betriebsratswahl Sozialdemokraten, Kommunisten, Parteilose und Christen umfasst – darauf sei man sehr stolz gewesen, sagte Schnabel

Die Idee Michail Gorbatschows vom gemeinsamen Haus Europa wurde von den Betriebsräten versucht in die Tat umzusetzen und wurde dafür belächelt

Hans-Otto Wolf sagte, man habe damals das von Michail Gorbatschow stammende Gedankengebäude vom „gemeinsamen Haus Europa“ (jeder ist in seiner Wohnung, wir sind aber in einem gemeinsamen Haus) aufgegriffen und versuchte es in die Tat umzusetzen. Von so manchen auch in der eigenen Belegschaft sei man dafür belächelt worden. Nach dem Motto: Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass es euch gelingt, dass Gorbatschow zu uns nach Dortmund kommt?!

Als dann Gorbatschow tatsächlich gekommen sei, so Wolf, „dann konnte die erste Reihe nicht groß genug sein“. Besonders einer habe „uns belächelt“, trug Werner Nass bei: „Ausgerechnet Vorstandsvorsitzender Dr. Detlev Karsten Rohwedder.“

Der habe gemeint, die Malocher sollten sich doch besser aus der Politik heraushalten. Als dann der Gorbatschow-Besuch anstand, zitierte Nass den inzwischen verstorbenen Betriebsrat Jochen Walbersdorf, „wollten dann tausend Mann in der ersten Reihe auf dem ersten Stuhl sitzen.“

Aufpasser von der IG Metall

Besonders wehgetan habe ihm, Werner Nass, dass der „Vorsitzende der großen IG Metall, der noch größere Franz Steinkühler“ ihm seinerzeit gedroht habe – der Briefwechsel liegt im Museum vor – wie er eigentlich dazu kommen könne, in der Sowjetunion für die IG Metall zu sprechen. Dies allerdings hat Nass nie getan. Sondern immer nur als Gesamtbetriebsratsvorsitzender agiert. Von da an bekamen sie – wenn sie wieder in die Sowjetunion fuhren stets Aufpasser von der IG Metall mit.

Als Werner Nass Gorbatschow als Friedensnobelpreisträger vorschlug, „war natürlich in der Halle die Hölle los“

Ausgerechnet beim Gorbatschow-Besuch habe dann Franz Steinkühler an Werner Nass‘ Stelle sprechen wollen! Doch daraus wurde nichts. Nass durfte

Kollegin Hella Borgstädt wird noch heute von Werner Nass hochgeschätzt. Sie arbeitete auch tagelang an der Rede von Nass mit, die er zum Gorbatschow-Besuch gehalten hat. Foto: C. Stille

laut Protokoll fünf Minuten sprechen. Und er sei heute noch der am vergangenen Sonntag ebenfalls anwesenden Kollegin Hella Borgstädt für ihre akribische tagelange Mitarbeit an „der sehr sehr guten Rede“ (Isolde Parussel) außerordentlich dankbar.

Als Werner Nass Michail Gorbatschow dann als Friedensnobelpreisträger (der er dann im Dezember 1990 tatsächlich geworden ist) vorschlug, „war natürlich in der Halle die Hölle los“. Nass selbst hat das einen bösen Brief vom Friedensnobelpreiskomitee eingetragen. Er übersetzt ihn für sich so: „Wie kann so ein Malocherkind sich herausnehmen, so einen Vorschlag zu machen.“

Den Betriebsräten ging es um einen „fairen Warenaustauschprozess“ zwischen der BRD und der Sowjetunion

Grundsätzlich sei es ihnen damals um einen „fairen Warenaustauschprozess“ zwischen der BRD und der Sowjetunion gegangen, merkte Hans-Otto Wolf an. Wenn darüber nur die Wirtschaftsführer verhandelt hätten, wäre das gewiss nicht beachtet worden. Wolf betonte: „Die Menschen beider Seiten sollten tatsächlich auch etwas davon haben.“

1987 schrieben 35 Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre an den Generalsekretär der KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow – und erhielten Antwort!

Die Antwort Michail Gorbatschows. Foto: C. Stille

Im Jahre 1987 ging dann ein Schreiben, unterzeichnet von 35 Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären von Stahlunternehmen des Ruhrgebiets „An den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow, Moskau, UdSSR“. Der wurde so beantwortet: Sehr geehrte Freunde, ich danke Ihnen für Ihren Brief …“ Und endet mit den Worten: „Ich wünsche der Bevölkerung des Ruhrgebiets Erfolg in ihrem persönlichen und Berufsleben, in Ihren Anstrengungen die Heimat zu bewahren und ihr Gedeihen zu gewährleisten.“ Diese Antwort ist in der kleinen Ausstellung in russischer Sprache zu sehen.

Die Einladung

Vom Ruhrgebiet wiederum erging im Februar 1988 eine Antwort zurück nach Moskau. Sie endet so: „Wir gehen davon aus, dass die von uns beschriebenen Aufgaben nicht nur eine Sache der Regierungen sind. Sie sollten ihre Verankerung in breiten Teilen beider Völker finden. Aus diesem Grunde möchten wir Sie, Herr Generalsekretär, herzlich einladen, die Sorgen der Stahlkocher des Ruhrgebiets und einer dieser Stahlbetriebe kennenzulernen. So könnten wir unseren Dialog fortsetzen.“

Klinken putzen

Natürlich sei „den Herren“ klar gewesen, so Museumsleiterin Parussel, dass man nicht einfach so den Kreml-Chef einladen konnte. So schrieb man an den damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau und informierte ihn über die genannten Schreiben und die Einladung an Gorbatschow. Die Betriebsräte putzen unheimlich viele Klinken, wie sich Werner Nass erinnerte. Auch Norbert Blüm, der seine IG-Metallbeiträge zu dieser Zeit in Dortmund bezahlte, ist eingebunden worden. Und selbst Horst Teltschik, Außenbeauftragter der Kohl-Regierung im Kanzleramt, wurde involviert. Den seinerzeitige DKP-Vorsitzenden von Dortmund Werner Groß wurde ebenfalls mit einbezogen.

Ebenfalls der Botschafter der Sowjetunion in der BRD, Kwisinski. Den großen sowjetischen Diplomaten Valentin Falin hatte man getroffen.

Nach einem verheerenden Erdbeben in der Sowjetrepublik Armenien zeigten sich die Dortmunder Arbeiter solidarisch und sammelten 43.000 DM für die Erdbebenopfer. Solche Punkte hätten, so Werner Nass, alle auf ihre Weise dazu beigetragen, dass „wir als Stahlarbeiter des Ruhrgebiets eine Hausnummer waren in Moskau“.

Geschickt nutzte man die Gunst der Stunde in Moskau. Später informierte man den Vorstandsvorsitzenden Rohwedder und die lokale Presse im Ruhrgebiet

Auch einen weiterer Besuch 1988 der Betriebsräte in Moskau, der zufällig auf die Woche fiel, wo Bundeskanzler Helmut Kohl auf Staatsbesuch in der sowjetischen Hauptstadt weilte, nutzten die „Diplomaten von unten“ aus dem Ruhrgebiet. Man wohnte im gleichen Hotel wie viele bundesdeutsche Journalisten. Da bekam man mit, dass Vorbereitungen für einen Gegenbesuch Gorbatschows getroffen wurden. Im Kreml selbst habe man persönlich eine Einladung ausgesprochen. Wenn es zum Staatsbesuch von Gorbatschow in der BRD käme, dass er im Ruhrgebiet herzlich willkommen sei.

Pfiffig wie die Betriebsräte waren, haben sie zuhause die lokale Presse und den WDR über ihre Einladung informiert. Vorstandsvorsitzender Rohwedder wurde in Kenntnis gesetzt. Werner Nass: Es war in der Welt.“

Schließlich kam um den 25. Mai 1989 herum die frohe Nachricht vom Chef der Staatskanzlei in Düsseldorf, Wolfgang Clement, die Nachricht: „Ihr habt es geschafft, er kommt tatsächlich.“

Werner Nass fährt noch heute regelmäßig nach Russland

Werner Nass ist seit 1984 dreißig Mal in Novo Lipezk (Stahlkombinat) in der Sowjetunion bzw. Russland gewesen.

Schwierigen Zeiten waren in der Sowjetunion/Russland anfangs der 1990er Jahre und nach der erniedrigenden Demontage Gorbatschows angebrochen. Hoesch-Betriebsräten organisierten mehrere Fahrten mit Hilfsgütern, erzählte Nass.

Willi Hoffmeister: Deutsch-russische Freundschaft unbedingt wieder befördern

Willi Hoffmeister dringt auf gute Beziehungen zu Russland. Foto: C. Stille

Willi Hoffmeister sagte angesichts der verschlechterten Beziehungen zum heutigen Russland, es wäre aktuell wieder eine Diskussion über die Rolle Russlands in der Welt angebracht und ein Dialog mit Russland sowie die deutsch-russische Freundschaft müsse unbedingt wieder befördert werden.

Werner Nass: Die Chance zu einem gemeinsamen Haus Europa zu kommen, wurde nicht genutzt

Werner Nass kam zum Ende der Veranstaltung auf das Ende des Warschauer Paktes zu sprechen: „Der Westen hat gesiegt. Das andere System sei kaputtgegangen.“ Leider habe man die Chancen zu einem gemeinsamen Haus Europa nach der Idee von Michail Gorbatschow zu kommen nicht genutzt. Er, so Nass, verstehe die Polen und die baltischen Völker, dass die Sicherheit haben wollten. „Aber wir müssen uns doch auch in die Köpfe der anderen Seite, der Russen, versetzen – die doch auch Sicherheit wollten. Und die Nato hätte sich immer weiter nach Osten ausgedehnt. Hans-Otto Wolf merkte an, ein großer Fehler Gorbatschows sei es gewesen, beim Fall der Mauer nicht völkerrechtlich verbindlich zu vereinbaren, dass die Nato nicht an die russische Grenze

heranrücke.

Ulrich Schnabel beklagte: „Nach 1989 ist die Welt unsicherer und kriegerischer geworden“

Aber der frühere Betriebsrat zeigte sich wiederum zuversichtlich, dass es„uns, dem Volk Deutschlands gelingen werde, denjenigen, die an Kriegen interessiert sind, die Waffen aus der Hand zu schlagen.“ Das sollte aus den Ereignissen vor und nach dem Gorbatschow-Besuch in Dortmund am 15. Juni 1989 zu lernen sein: „Dass eine Diplomatie von unten möglich ist. Wir wollen Frieden und Freundschaft mit dem heutigen Russland.“

Werner Nass bleibt kämpferisch: „Es muss neue Leute geben, die daran gehen, den Frieden zu sichern!“

Nass gab, auf die Worte Willi Hoffmeisters anspielend, zu bedenken: „Egal was passiert, es sind immer automatisch die Bösen im Osten. Und die ganz Guten im Westen, dass sind ja die ganz Guten.“

Als gutes Zeichen beurteilte Werner Nass, dass es zum Petersberger Dialog wieder zu Gesprächen zwischen Russland und Deutschland gekommen ist. Gott sei Dank seien die beiden Außenminister, Maas und Lawrow, dort zusammengekommen. „Angesichts von 200 Jahren Geschichte mit Höhen und Tiefen Russland-Deutschland“, drang Werner Nass inständig darauf: „Wir müssen ihnen wieder die Hand reichen! Lasst uns doch daran erinnern, dass es Leute wie Brandt gegeben hat. Es muss neue Leute geben, die daran gehen, den Frieden zu sichern!“ Er erinnerte daran, dass er selber im Krieg geboren worden ist. Als Gewerkschafter seien sie dafür angetreten: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Dafür haben wir gekämpft und machen es weiter.“

Anbei gegeben: Ein kurzer Filmbeitrag der WDR-Lokalzeit Dortmund (interessant die Reaktionen einiger Arbeiter) zum Besuch Gorbatschows bei den Dortmunder Stahlarbeitern. Auch Werner Nass kommt darin zu Wort.

Beitragsbild: thyssenkrupp Konzernarchiv Duisburg

Fotostrecke mit Repros (C. Stille) von Bildern, Dokumenten und Zeitungsausschnitten von Werner Nass, Ulrich Schnabel und der Witwe von Betriebsrat Walbersdorf, Brigitte Sonnenthal-Walbersdorf sowie Fotos von ausgestellten Gastgeschenken, die Werner Nass in Russland erhielt

Gastgeschenk aus Russland an Werner Nass.

Hochkarätige Gäste …

Gastgeschenk aus Russland.

Eine Schatulle war das Gastgeschenk Michail Gorbatschows an die Hoesch-Belegschaft. Foto: Stille

Werner Nass (links) wird nach der Sonntagsmatinee von Kay Bandermann für den WDR interviewt. Foto: Stille

Nach der Sonntagsmatinee vorm Hoesch-Museum: Willi Schnabel, Werner Nass, Wille Hoffmeister und Hans-Otto Wolf (v.l.) Foto: C. Stille

Verschiedene Anstecker für bestimmte Personengruppen zu bestimmten Sitzgruppen und Sicherheitsbereiche beim Gorbatschow-Besuch im Hoesch-Werk.

Arbeitsschutzhelm mit entsprechendem Aufkleber für den Gorbatschow-Besuch. Foto: Stille

Wanderausstellung des „Deutschen Städtebaupreises“ gastiert in Dortmund. Die Stadt hat zum zweiten Mal den „Oscar des Städtebaus“ bekommen

Zur Ausstellungseröffnung: Silke Schulz, Margrete Bonneberg (beide Stadtplanungs- und Bauordnungsamt der Stadt Dortmund; stellvertretend für alle beteiligten MitarbeiterInnen), Klaus Fehlemann (Geschäftsführer der DASL-Landesgruppe) und Lutger Wilde (Dezernent für Umwelt, Planen und Wohnen der Stadt Dortmund (v.l.) Foto: C. Stille

Der Deutsche Städtebaupreis des Jahres 2018 der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) ging bekanntlich an das Projekt „PHOENIX – Eine neue Stadtlandschaft in Dortmund“. Der Sonderpreis wurde dem Projekt „Technische Universität Darmstadt – Campus Stadtmitte“ zuerkannt.

Der Deutsche Städtebaupreis wird alle zwei Jahre mit maßgeblicher Unterstützung der Wüstenrot Stiftung verliehen. Im Zuge einer Wanderausstellung, die Stadtrat Ludger Wilde kürzlich gemeinsam mit Klaus Fehlemann, dem Geschäftsführer der DASL-Landesgruppe NRW, in der
Berswordthalle eröffnet hat, werden nun die Ergebnisse des gesamten Wettbewerbs in Dortmund präsentiert. Die Exposition ist vom 17. Juli bis zum 12. August 2019 in der
Berswordthalle zu sehen. Im Anschluss daran, vom 14. August bis 9. September 2019, gastiert sie in der Sparkassenakademie NRW in Hörde.

Der mit 25.000 Euro dotierte Deutsche Städtebaupreis stand 2018 unter dem Motto „Orte der Bildung und Kultur im städtebaulichen Kontext“

Der mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Deutsche Städtebaupreis hat die Förderung einer zukunftsweisenden Planungs- und Stadtbaukultur zum Ziel. Es werden in der Bundesrepublik Deutschland realisierte städtebauliche Projekte prämiert, die sich durch nachhaltige und innovative Beiträge zur Stadtbaukultur sowie zur räumlichen Entwicklung im städtischen und ländlichen Kontext auszeichnen. Dabei sollen die Projekte in herausragender Weise den aktuellen Anforderungen an zeitgemäße Lebensformen ebenso Rechnung tragen wie den Herausforderungen an die Gestaltung des öffentlichen Raumes, dem sparsamen Ressourcenverbrauch sowie den Verpflichtungen gegenüber der Orts- und Stadtbildpflege. Der Preis wird stets in zwei Sparten verliehen. Neben dem „klassischen“ Städtebaupreis gibt es einen Sonderpreis, der der Akzentuierung besonders dringlicher Anwendungsfelder im Städtebau und in der Stadtplanung dient. Im Jahr 2018 stand er unter dem Motto „Orte der Bildung und Kultur im städtebaulichen Kontext“.

Dortmund errang zum zweiten Mal des Deutschen Städtebaupreis. Das erste Mal wurde 1981 ein Baublock des Sozialen Wohnungsbaus im Sanierungsgebiet Dortmund Nord II ausgezeichnet

Dortmund bekam nach 38 Jahren zum zweiten Mal den Preis. Das erste Mal im Jahre 1981, Da war es der zweite Städtebaupreis, der überhaupt vergeben wurde. Ausgezeichnet wurde in Dortmund Nord der Baublock des Sozialen Wohnungsbaus nördlich des Hauptbahnhofs (Sanierungsgebiet Dortmund Nord II). Verantwortlich war das Büro für Architektur & Stadtplanung Stephan Goerner, Köln, erinnerte Klaus Fehlemann. Das Projekt mit den auffälligen tonnenförmigen Dachgauben befindet sich in der Heiligegartenstraße (zwischen Andreasstraße und Krimstraße).

Klaus Fehlemann ist „richtig glücklich, dass dieser Preis wieder nach Dortmund gekommen ist“

Klaus Fehlemann ist Geschäftsführer der Landesgruppe NRW der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (in der heutigen Form

Aufsteller der Ausstellung. Foto: C. Stille

gegründet 1920) und Vertreter des Auslobenden des Deutschen Städtebaupreises. Nächstes Jahr wird dieser Preis 40 Jahre alt sein. Fehlemann sprach über die Geschichte der Akademie und stellte als wesentlich heraus, dass man sich für diese Akademie nicht bewerben könne. Man werde vorgeschlagen bzw. geworben. Die Akademie hat 400 Mitglieder (und ist auf diese Zahl beschränkt) im deutschsprachigen Raum. In Dortmund gehören der Akademie drei Personen an: Lutger Wilde, Ullrich Sierau und Klaus Fehlemann.

Der Preis, so Fehlemann, sei in dieser Art und Dimension der einzige in der BRD: „Seine Jury ist total unabhängig.“ Klaus Fehlemann zeigte „sich richtig glücklich, dass dieser Preis wieder nach Dortmund gekommen ist“.

Stadtrat Lutger Wilde ist stolz und glücklich, dass Dortmund den Oscar des Städtebaus bekommen hat

Stadtrat Lutger Wilde („Dezernent für Umwelt, Planen und Wohnen“) sagte, man sei ganz froh, Klaus Fehlemann als Geschäftsführer in der Stadt zu haben. Dadurch würden auch viele Impulse der DASL in die Stadt hineingetragen. Auch sei Fehlmann im Förderverein des Baukunstarchivs aktiv und sozusagen auch „ein Motor des Umbaus des ehemaligen Ostwallmuseums zum Baukunstarchivs“ gewesen.

Der Preis, schätze Wilde ein, sei schon etwas ganz Besonderes. Und wenn man das einmal mit dem bekannten Filmpreis vergleichen wolle, „dann ist das sozusagen der Oscar des Städtebaus“. Lutger Wilde: „Und wir sind immer noch stolz und glücklich, dass wir ihn bekommen haben.“

Der Stadtrat zitierte eingekürzt aus dem Text der Jury:

„Hohe stadträumliche Qualität, die durch selbstständige Verzahnung und neue Nutzungscodierung der beiden ehemaligen Industrieareale Phoenix West und Phoenix Ost mit dem Stadtteil Hörde und darüber hinaus mit der Gesamtstadt geschaffen wurde. Die Kombination aus urbanem historisch gewachsenen Kern, einem Gewerbe-, Freizeit- und Kulturstandort sowie einem hochattraktiven Wohn-, Arbeits- und Dienstleistungsstandort am See ist überregional einzigartig. Aufgrund der vielschichtigen Qualitäten erreicht Phoenix regionale Strahlkraft über das Stadtgebiet hinaus. Die Die kontinuierliche Zusammenarbeit aller Beteiligten an der neuen Dortmunder Stadtlandschaft Phoenix kann zurecht als Musterbeispiel für einen exzellenten Strukturwandel vom Industriezeitalter zur postindustriellen Stadt gewertet werden.“

„Alle Projekte“, ergänzte Klaus Fehlemann, „seien nicht etwa nur von Drohnen überflogen, Aufnahmen angefertigt und die Bilder dann elektronisch übermittelt, sondern von den Jurymitgliedern persönlich bereist und ausgiebig besichtigt worden“. Prämiert werden ausschließlich fertig gebaute Projekte.

Ein weiteres Zitat aus der Jurybeurteilung:

„2018 war mit über hundert eingereichten Arbeiten für die zwei ausgelobten Sparten eine sehr große Fülle an Projekten gegeben, aus der die Preise ebenso wie die ausgezeichneten und belobigten Projekte auszuwählen waren. Sie alle leisten auf höchst unterschiedliche Weise sehr qualitätsvolle Beiträge zu einer zukunftsweisenden Planungs- und Stadtbaukultur. Sie zeugen nicht nur von außerordentlicher Verantwortung gegenüber den komplexen städtebaulichen Herausforderungen, sondern auch von Leidenschaft und Ausdauer. Auch in diesem Sinne sind sie Ermutiger für Städte und Gemeinden“.

Eingereicht waren insgesamt 103 Projekte. Dortmund stand mit 73 Projekten in Konkurrenz

Aufsteller in der Ausstellung. Foto: C. Stille

Insgesamt wurden insgesamt 103 Projekte (74 in der Kategorie Deutscher Städtebaupreis) eingereicht, davon 29 für den Sonderpreis. Dortmund stand mit 73 Projekten in Konkurrenz. Aus einer “engeren Wahl“ sprach die Jury für sechs Projekte (zwei im Sonderpreis) eine Belobigung aus. Sechs Projekte, davon eins im Sonderpreis, erhielten eine Auszeichnung. Die Ausstellung präsentiert sie allesamt auf großen Roll-Out-Plakat-Wänden. Die Stadt Dortmund hat die prachtvoll bebilderte und mit vielen Informationen versehende Publikation „Phoenix – Eine neue Stadtlandschaft in Dortmund – Deutscher Städtebaupreis 2018“ mit einer Auflage von 4500 Exemplaren herausgebracht. Sie soll an diversen Orten ausgelegt sein bzw. verteilt werden.

Bis zum 12. August ist die Ausstellung in der Berswordthalle zu sehen, dann vom 14. August bis zum 9. September 2019 in der Sparkassenakademie NRW in

Aufsteller in der Ausstellung. Foto: C. Stille

Hörde

Die Ausstellung ist vom 17. Juli bis 12. August 2019 in der Berswordthalle, Südwall 2 – 4, zu sehen, im Anschluss daran vom 14. August bis 9. September 2019 in der Sparkassenakademie NRW
in Hörde, Hörder Burgplatz 1.

Über die Ausstellung hinaus wird eine Dokumentation in gedruckter Form in der Reihe „STADT BAUEN“ erscheinen.

Beitragsbild: Via Deutscher Städtepreis KNSY-Photographie Essen

Dortmund: Ausstellung zum Thema Gemeinwohl. BesucherInnen sind eingeladen sich in die Gestaltung des Kunstwerks „Gemeinwohl“ einzubringen

Wieder einmal hat sich die bekannte Dortmunder Künstlerin Bettina Brökelschen auf ein Experiment eingelassen, welches diesmal im Rahmen ihrer vom 16. bis 22. Juli 2019 dauernden Ausstellung „Gemeinwohl“ stattfinden wird. Zusammen mit den BesucherInnen ihrer Ausstellung will sie während dieser Zeit für den Bundesverband Gemeinwohldemokratie ein Symbol/Bild anfertigen, in welchem sich der Begriff „Gemeinwohl“ widerspiegelt.

Gemeinsam ein Kunstwerk zum Thema „Gemeinwohl“ erschaffen

Die BesucherInnen sind dabei herzlich eingeladen, sich in die Gestaltung dieses Werkes mit Anregungen einzubringen, um für den Begriff „Gemeinwohl“ein vielschichtiges und damit möglichst realistisches Symbol/Bild entstehen zu lassen._

Zur Vernissage der Kunstausstellung von Bettina Brökelschen im Torfhaus im Westfalenpark Dortmund am 16. Juli 2019 um 18 Uhr sind alle interessierten Menschen herzlich eingeladen. Die Gäste werden mit einführenden Worten von Günther Ziethoff begrüßt.

Am Sonntag, dem 21. Juli 2019, ab 15 Uhr sind dann alle Interessierten eingeladen an einer offenen Diskussionsrunde teilzunehmen, die sich mit den Begriffen „Gemeinwohl“ und „Gemeinwohldemokratie“ auseinandersetzt.

Ausstellungsdauer: 16. – 22. Juli .2019
Öffnungszeiten: Montag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr

Auf dem 10. Afro Ruhr Festival: „Bald 60 Jahre Unabhängigkeit. Immer noch in den Fängen des Kolonialismus? – Podiumsdiskussion mit Experten

Moderator, Dr. Boniface Mabanza Bambu, Martial Ze Belinga und Dr. Dereje Alemayyehu (v.l.). Fotos: C. Stille

Ein interessanter Programmpunkt neben vielen kulturellen Höhepunkten auf dem 10. Afrika Ruhr Festival (28.6 bis 30.6.2019) im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund waren Vorträge und eine sich anschließende Podiumsdiskussion unter dem Titel „Bald 60 Jahre Unabhängigkeit. Immer noch in den Fängen des Kolonialismus?“. Ins Visier genommen waren diesbezüglich afrikanische Staaten

Die brillant und kenntnisreich vortragenden und bis in kleinste Detail überzeugend argumentierenden Experten, die Impulsvorträge hielten, waren Dr. Boniface Mabanza Bambu (Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika KASA), der Wirtschaftswissenschaftler Martial Ze Belinga und Dr. Dereje Alemayehu (Executive Coordinator der Global Alliance for Tax Justice).

60 Jahre Unabhängigkeit – Haben 17 afrikanische Ländern nächstes Jahr Grund zum feiern?

Im Jahre 2020 können 17 afrikanische Länder 60 Jahre Unabhängigkeit von ihren einstigen Kolonialstaaten feiern. Viele Afrikaner dürften allerdings der Meinung sein, dass diese Jubiläen weniger einen Anlass zum Feiern als vielmehr zum Nachdenken bieten. Wenn schon gefeiert wird, hätten gewiss einige afrikanische Staaten

Dr. Boniface Mabenza Bambu. Fotos: C. Stille

mehr als andere zu feiern, merkte eingangs der Moderator der Veranstaltung an.

Dr. Boniface Mabanza Bambu sprach davon, dass etwa Botswana ab der Unabhängigkeit einen Weg genommen habe, der möglicherweise Grund zum Feiern gibt. Der Umgang mit Ressourcen sei vonseiten der Eliten Botswanas von Anfang an klug geregelt worden. Sie schrieben fest, dass das Land an den Gewinnen etwa aus dem Abbau von Diamanten beteiligt wird und die multinationalen Konzerne besteuert werden.

Dagegen gebe es auf den afrikanischen Kontinent jedoch Länder die rohstoffreicher sind als Botswana, aber unterproportional wenig Nutzen für sich daraus ziehen könnten.

Was Kolonialismus bedeutete

Es sei aus seiner Sicht, so Dr. Mabanza, daran zu erinnern, was Kolonialismus bedeutete. Er zitierte zu diesem Behufe einen Staatsekretär des deutschen Reichskolonialamtes, der 1907 über Kolonialisierung gesagt habe:

Kolonisation heißt, die Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze, der Flora, der Fauna und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonialisierenden Nation. Und diese ist dafür mit der Gegengabe ihrer höheren Kultur, ihrer sittlichen Begriffe und ihrer besseren Methoden verpflichtet.“

Dr. Mabanza: „Wir kommen aus dem Kontext einer deklarierten Überlegenheit. Und aus dieser Überlegenheit wird ein Recht abgeleitet, andere auszubeuten.“

Dieser „Logik“ hätten Dekolonialisierungsbewegungen versucht ein Ende zu setzen. Doch schon am Vorabend der Unabhängigkeit hätten die Kolonialmächte Mechanismen entwickelt, die ihnen ermöglichen sollten, den Zugriff sowohl auf die Ressourcen als auch auf Menschen aufrechtzuerhalten. So sei die Unabhängigkeit für die so viele gekämpft hatten, – u.a. Patrice Lumumba (im Gedenken an ihn trug Dr. Mabanza ein T-Shirt, dessen Aufdruck an ihn erinnerte) im Kongo – von vornherein auf formelle Verfahren reduziert worden. Boniface Mabanza:

Die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen ist die gleiche geblieben, nur die Formen haben sich geändert.“

Anstelle der Kolonialverwaltungen seien Konzerne getreten, die die Vorherrschaft übernahmen.

Betreffs des Handels seien die afrikanischen entkolonialisierten Staat stets benachteiligt gewesen. Das setze sich heute erst wieder mittels der seit 2020 verhandelten „Freihandelsabkommen“ der EU und den Ländern Afrikas (EPA). Alles diese Instrumente hätten eines gemeinsam, so Mabanza: Sie sollten den Zugriff auf die Rohstoffe dieser Länder sichern. Gleichzeitig wurde und wird eine Industrialisierung (um die Rohstoffe vor Ort zu verarbeiten) in den afrikanischen Staaten verhindert. Momentan hätten sich die Elfenbeiküste und Ghana mit einem Exportstopp für Kakao zu Wort gemeldet. Mabanza: „Was hätte passieren können, wenn diese Länder von Anfang an die Möglichkeit gehabt hätten diese Rohstoffe und andere Rohstoffen vor Ort zu verarbeiten?“ Das habe man aber verhindert durch tarifäre und nichttarifäre Maßnahmen.

Hausgemachte Probleme und die Verhinderung einer Industrialisierung afrikanischer Länder seitens der Länder des Westens

Freilich wären damit noch nicht alle Probleme der Länder Afrikas gelöst gewesen, weiß Mabanza. Auf dem afrikanischen Kontinent gebe es hausgemachte Probleme, aber eben auch welche, die mit den postkolonialen Entwicklung der jeweiligen Ländern zu tun hätten.

Auch sei die wirtschaftliche Entwicklung in manchen dieser Länder zu wenig diversifiziert, weil sie sich auf Druck ehemaliger Kolonialstaaten auf bestimmte Produkte spezialisiert hätten (Blumen, Kaffee, Tee usw.). Für alles was verarbeitet werden müsse, seien sie auf die Staaten angewiesen, an welche sie ihre Rohstoffe liefern. Die verarbeiteten Produkte kämen dann zum teureren Preis zurück auf den afrikanischen Kontinent. Die entsprechenden afrikanischen Länder seien zu Absatzmärkten der Länder des Westens reduziert worden. Man denke nur an von der EU subventionierte und beispielsweise nach Ghana exportierten Tomaten, an Schweinefleisch oder Hähnchenteile. Die afrikanischen Bauern können mit diese Preisen nicht mithalten und gingen pleite. Was wiederum Flüchtlinge produziere.

Grundlegende Reformierung der Bildungssysteme blieb aus

Hinzu käme, gab Dr. Mabanza zu bedenken, dass ein koloniales Bildungssystem in afrikanischen Ländern nach wie vor zum Blick nach außen erziehe. Eine generelle grundlegende Reformierung der Bildungssystem – wenngleich es auch löbliche Ausnahmen gebe – sei ausgeblieben.

Allerdings wäre eine solche Entwicklung auch nicht möglich gewesen durch, wenn nicht bestimmten afrikanische Eliten da mitgemacht hätten, sagte Mabanza.

Den Menschen in Afrika müsse endlich vermittelt werden, dass nicht alles was von außen, aus dem Westen gut und passend für sie ist. Genauso aber auch, dass nicht alles, was zu den Traditionen gehört, automatisch gut ist.

Kritiker sagen: Der CFA-Franc spielt eine negative Rolle. Er induzierte ein System „freiwilliger Knechtschaft“, ist ein „imperiales Machtinstrument“ und hält afrikanische Länder bis heute in Abhängigkeit

Der Ökonom und Soziologe Martial Ze Belinga hielt seinen Vortrag mit dem Titel „Der CFA-Franc, eine hyperkoloniale Währung“ auf Französisch. Ze

Martial Ze Belinga.

Belinga spricht zwar Deutsch. Aber, sagte er entschuldigend, er habe es sehr lange nicht mehr benutzt. Er stützte sein Referat auf die Veröffentlichung des Buches „Kako Nubukpo, Martial Ze Belinga, Bruno Tinel & Demba Mussa Dembele (Hg.): Sortir l‘Afrique de la servitude monétaire. À qui profi te le franc CFA?“ (leider nur auf Französisch erhältlich: hier).

Ein anwesender Herr von der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund erklärte sich freundlicherweise bereit, den Vortrag auf Deutsch zu übersetzen. Zusätzlich wurden Ausdrucke auf Deutsch von wesentlichen Teilen des Vortrags zum Mitlesen ans Publikum ausgeteilt.

Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit blieben bis heute viele afrikanische Staaten in Abhängigkeit der einstigen Kolonialherren. Ein negative Rolle dabei spielt der CFA-Franc, erfuhren die interessierten ZuhörerInnen im voll besetzen Raum 204 des DKH. 14 ehemalige französische Kolonien benutzen seit 1945 eine Währung, die in der Kolonialzeit von französischen Kolonialherren eingeführt worden war. Kritiker sprechen von einen System „freiwilliger Knechtschaft“ und verurteilen den CFA-Franc als „imperiales Machtinstrument“. Wirtschaftswissenschaftler Martial Ze Belinga erklärte, wie der CFA-Franc afrikanische Länder, einstige Kolonien, bis dato in Abhängigkeit gefangen hält.

Die entscheidende Frage in Afrika sei: Wer ist abhängig von wem? Andererseits sei auch die Welt von Afrika abhängiger geworden als man annehme. Weiterhin seien, Ze Belinga, im Westen weiterhin negative Diskurse über Afrika im Umlauf.

Der CFA-Franc bedinge es, dass von den afrikanischen Ländnern erwirtschaftete Devisen in Frankreich deponiert werden: Afrikanische Länder haben exportiert, Devisen kassiert – diese müssen aber dann nach Frankreich (als Sicherheit für den Wechselkurs) geschickt werden.

Martial Ze Belingas Fazit: „Alternativen zum CFA-Franc müssen kreativ bleiben und offen für Optionen auf gemeinsame Währungen, lokale Währungen und Steuerwährungen sein. Das wichtigste ist die industrielle, sozial nachhaltige und ökologische Transformation. Dies bedeutet eine Abkehr von den klassischen Kriterien der nicht-interventionistischen Makroökonomie, die Annahme einer Dosis wirtschaftlichen Schutzes.“ Und weiter: „Die Afrikaner müssen auch die Werte, die ihnen wichtig sind, wie Ubuntu*, in ihre Institutionen integrieren, denn Geld vermittelt Werte. So wie der CFA-Franc die Kolonialbeziehungen (Zwangsarbeit, Rohstoffe usw.) vermittelt hat, müssen sich die Post-CFA-Währungen auf die alten monetären Vorstellungen des Kontinents (Nzimbu, Shat usw. und auf andere Erfahrungen der Welt stützen, um an afrikanischen Werten und Projekten in der heutigen Welt angepasten Währungsinstitutionen aufzubauen.“

Über den CFA-Franc lesen Sie bitte hier und hier mehr.

*Über Ubuntu hier mehr

Dr. Dereje Alemayehu: Die Länder des globalen Südens leiden am stärksten unter der Gewinnverschiebung multinationaler Konzerne

Dr. Dereje Alemayehu ist derzeit Executive Coordinator der Global Alliance for Tax Justice, war ander Gründung des Steuergerechtigkeitsnetzwerks

Dr. Dereje Alemayehu.

Afrika beteiligt und Vorsitzender des Globalen Bündnisse für Steuergerechtigkeit.

Dereje Alemayehu spricht sehr gut Deutsch. Dennoch bat er das Publikum vor eventuellen Fehlern in seinem Vortrag im Vorhinein um Verständnis. Mit seinem Bonmot „Deutsche Grammatik war immer ausländerfeindlich“, sorgte Dr. Dereje Alemayehu für zustimmende allgemeine Heiterkeit im Raume.

In seinem Vortrag erinnerte Alemayehu an den 100. Jahrestag der Berlin-Konferenz (auch Kongo-Konferenz genannt) im Jahre 1985, auf welcher der afrikanische Kontinent an westliche Kolonialmächte verteilt wurde. Damals sei Willy Brandt (Vorsitzender der Nord-Südkommission) gewesen.

Während einer Podiumsdiskussion habe deren Moderator den Präsidenten von Tansania Julius Kambarage Nyerere, Vorsitzender der Süd-Kommission („Nyerere-Kommission“)

gefragt, für was alles dem Kolonialismus die Schuld gegeben werden könne. Dereje Alemayehu erinnert sich noch heute genau an die Antwort: Julius Kambarage Nyerere, der wie ein guter Onkel wirkte, habe sinngemäß Folgendes geantwortet: Von hundert Jahren habe der Kolonialismus 70 Jahre regiert und 30 Jahre das unabhängige Tansania. Die Verantwortung liege demnach bei 70 zu 30.

NGOs, so Alemayehu, hätten einmal gefragt, wer für Geldabflüsse, resp. Ressourcenabflüsse, aus Afrika verantwortlich sei. Ressourcenabflüsse Die Masse dürfte antworten: korrupte afrikanische Länder. Dass Korruption ein ernstzunehmendes Problem sei, wolle er nicht bestreiten, räumte der Referent ein. Da gebe es auch nichts daran zu verteidigen. Allerdings stünde Korruption bei weitem nicht an erster Stelle, der Geldabflüsse. 2013 sei die UN-Kommsission für Wirtschaft dieser Frage nachgegangen. Das Ergebnis: Zu 60 Prozent resultierten Ressourcenabflüsse aus Afrika aus Handelstätigkeiten und wirtschaftlichen Tätigkeiten. Vierzig Prozent gingen auf das Konto von Korruption und Kriminalität. OSZE-Generalsekretär habe einmal in einem Bericht zu bedenken gegeben, dass für jeden Dollar, der als Entwicklungshilfe in die Entwicklungsländer kommt, drei Dollar als illegale Ressourcenabflüsse die Länder verlassen.

Ein Beispiel, das wir auch in Europa betreffs der Steuerzahlungen großer Konzerne kennten, wurde genannt: Ein Kiosk in Accra zahle mehr Steuern als ein großer Brauereikonzern in Ghana.

Ein weiteres Beispiel, dass einen die Haare zu Berge stehen lasse, sei die Tatsache, dass die britische Kanalinsel Jersey als größter Bananen-Exporteur nach Europa gelte. Und das, obwohl dort keine einzige Bananenpalme gedeihe!

Und noch etwas, dass bezeichnend ist und dem Fass den Boden ausschlage: Im Steuerparadies Cayman Islands seien an einer Adresse 18 000 Firmen registriert.

Es müsse doch gefragt werden, warum es solche Strukturen gibt.

Ginge es nach Transperency International wäre die Schweiz eines der saubersten Länder der Welt. Indes, wir wüssten es besser, warf der Referent in den Raum.

Bestechung sei nur ein Teil von Korruption. Wenn ein Polizist in Afrika bestochen werde, sei das sichtbar. Unsichtbar dagegen seien die Praktiken der großen Bonzen weltweit.

Die Schweiz verdiene mehr Geld an Kupfer als der Kupferexporteur Sambia, obwohl im Land der Eidgenossen kein Kupfer vorkäme. Steuerflucht, Steuerhinterziehung und vielfältiger Betrug seien ein weltweites Problem. Dr. Dereje Alemayehu mit seiner schmunzelnd hervorgebrachten Feststellung:

„Korrupte afrikanische Eliten haben die Schweiz nicht gegründet.“

Afrikanische Staaten seien mehr von Steuern abhängig als reiche Länder. Afrika sei heute ein Gläubigerkontinent gegenüber Westen.

Dr. Dereje Alemayehus Fazit:

Korruption ist eine Krankheit, aber bei weitem nicht die einzige. Hinzu kämen Steuerflucht und Steuervermeidung. Das System werde global von reichen Ländern beibehalten. Ressourcen würden abgesaug, was die Reichen immer reicher mache und die Kluft zwischen Arm und Reich stetig besorgniserregend vergrößere. Die Länder des globalen Südens leiden am stärksten unter der Gewinnverschiebung multinationaler Konzerne – auch aus Deutschland – und illegitimen Finanzströmen in Richtung der internationalen Finanzmärkte. Geld, das dringend für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung benötigt wird.

(Dazu passend ein Interview mit Dr. Dereje Alemayehu via africavenir2009/You Tube)

Max Czollek („Desintegriert Euch!“) zu Gast beim „Talk im DKH“ in Dortmund

Max Czollek (li) und AladinEl-Mafalaani (re). Fotos: C. Stille

Am vergangenen Freitag gab es in der Reihe „Talk im DKH“ ein Novum. Erstmals fand die Veranstaltung nämlich als Freiluftveranstaltung auf einem Platz hinter dem Dietrich-Keuning-Haus statt. Gast war Dr. Max Czollek. Gastgeber und Moderator Aladin El-Mafaalani, der diesmal ohne seine Ko-Moderatorin Özge Çakirbey auskommen musste – sie war erkrankt -, stellte Czollek als „den schlauesten Dreißigjährigen den ich kenne“ vor. Die weiteren von El-Mafalaani aufgeführten Kennmarken zum Gast aus Berlin: „Jüdisch, ostdeutsch, in der DDR geboren, Künstler, promovierter Politikwissenschaftler. Desintegration ist für Max Czollek der Versuch der radikalen Vielfalt, welche die deutsche Gesellschaft heute schon ausmacht, gerecht zu werden. Bünde untereinander werde man aber hier und da schon schließen müssen.

Aladin El-Mafalaani: Den Aufruf „Desintegriert Euch!“ meint Czollek durchaus ernst. Bei Lehrern an einem Dortmunder Gymnasium löste er Beunruhigung aus

Czollek, erinnerte sich der Moderator, habe den „wunderschönen Satz“ gesagt: Dass die größte Integrationsleistung, die Deutschland bisher jemals vollbracht hat, die Integration der Nationalsozialisten nach 1945 gewesen sei.

Czollek stünde dem gesamten Integrationsprozess – wie er heute begriffen werde – sehr skeptisch gegenüber, erklärte El-Mafalaani. Was ihm auch der Antrieb dafür war, dass er das Buch „Desintegriert Euch!“ geschrieben habe. Mafalaani, der Czollek schon länger kennt, versicherte, der Buchautor meine diesen Aufruf zu einem Großteil durchaus ernst.

Verständlicherweise, erstattete El-Mafalaani Bericht, habe dieser Titel beim Besuch an einem Dortmunder Gymnasium an diesem Freitag bei den Lehrkräften Beunruhigung ausgelöst. Setzten die doch alles daran, dass sich die jungen Leute integrierten.

Zwei Bücher – zwei konträre Ansichten

Mit Max Czollek wollte Moderator Aladin El-Mafalaani darüber sprechen, wie er seine Polemik „Desintegriert Euch!“ meint und inwieweit seine Thesen mit dem Integrationsparadox zusammenpassen. Von El-Mafalaani stammt nämlich das Buch „Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“. Eine Ansicht des Autoren daraus: „Deutschland war noch nie fairer als jetzt.“ Beide Autoren werden nicht selten mit ihren beiden konträren Büchern zusammen zu Veranstaltungen eingeladen. Dr. Max Czollek (geb. 1987) ist Lyriker, Essayist und Bestseller-Autor aus Berlin

Max Czollek: Der Begriff „Migration“ lässt sich deutschen Talkshow ohne den Begriff „Integration“ gar nicht thematisieren

Integration, hob Max Czollek in seinem Impulsreferat an, sei ein zentraler Begriff, gekoppelt an das Thema Migration. Migration ließe sich ohne Integration in deutschen Talkshows eigentlich gar nicht thematisieren. Damit einher gehe die Zuschreibung einer bestimmten Rolle, die von der migrantischen Seite bestimmte (positive) Informationen (Antworten) erwarte in Sachen Demokratiefähigkeit, zum Thema Frauenverachtung, sowie zum Thema Terror und Islam.

Czollek sei zu diesem Nachdenken darüber eigentlich über ein sehr jüdisches Nachdenken über die Rollen und Funktionen, die die jüdische Position in Deutschland nach 1945 spielte, gekommen. Es gebe ein Modell des Soziologen Michal Bodemann namens „Gedächtnistheater“. Er beschreibe darin die (symbolischen) „Jüdinnen“ und „Juden“, welche eine ideologische Arbeit leisten – eine bestimmte Funktion dabei erfüllen –, dass sich eine Position nach 1945 wieder positiv entwerfen kann.

Die plötzliche Bezugnahme auf Schwarz-Rot-Gold als „positiver deutschen Nationalismus“

Diesbezüglich kam Czollek über einige Stationen der bundesdeutschen Geschichte im Jahre 2006 an. Wo es bei der Fußballweltmeisterschaft plötzlich eine exzessiven Bezugnahme auf Schwarz-Rot-Gold als „positiver deutschen Nationalismus“ bis weit hinein in einen linksliberalen Mainstream gegeben habe. Man habe 2006 behauptet bis dato sei das eigentlichen Begehren, das Stolz-sein auf Deutschland unterdrückt – gar verboten – gewesen. Dabei gab es solche Verbote überhaupt nicht. Czollek selbst habe das nie unterdrückt (es habe ihm auch nicht gefehlt) und sich gefragt: Woher kommt das eigentlich? Was macht das möglich?

Quasi spätestens ab den 1980er Jahren mit der „zunehmenden Fokussierung auf Erinnerung an den Holocaust“ – es sei ein „Erinnerungstheater“ inszeniert worden – bei dem die JüdInnen eine ganz bestimmte Rolle gehabt hätten: Die der Überlebenden, die über Antisemitismus, Schoa und Israel reden. Czollek kam wieder auf Bodemanns „Gedächtnistheater“ zu sprechen Auf dem Skript stünde: Die guten Deutschen oder die „Wiedergutwerdung“ der Deutschen. Man inszeniert sich sozusagen als „Erinnerungsweltmeister“, um so etwas wie einen positiven Bezug auf Deutschland wieder möglich zu machen.

Weshalb JüdInnen nie gefragt werden, ob sie gut integriert seien

Dabei bestehe die überwiegende Zahl der JüdInnen gar nicht mehr aus Überlebenden des Holocaust. Sondern zu 90 Prozent aus JüdInnen, welche aus der Sowjetunion einwanderten. Das entspreche gar nicht mehr der realen Vielfalt, welche JüdInnen eigentlich hätten. Damit überschneide sich jüdische Perspektive mit der Perspektive einer Postmigrationsgesellschaft. Da finde Czollek eine Situation vor in der nur bestimmte Menschen mit einem Migrationshintergrund über Integration sprechen. Er habe nie erlebt, das JüdInnen gefragt werden, ob sie gute integriert seien. Was damit zu tun habe, dass diesen hinzugekommenen JüdInnen die symbolische Rolle zugewiesen wurde, die alten jüdischen Gemeinschaften zu ersetzen.

Dr. Max Czollek: „Ich glaube, dass das Integrationsmodell als Paradigma an sein Ende gelangt. Die deutsche Gesellschaft ist heute schon eine radikal vielfältige Gesellschaft“

Der Integrationsbegriff suggeriere, dass es ein gesellschaftliches Zentrum gibt, in das etwas hineinbewegt werde und, dass es eine Hegemonie gibt, die entscheidet, wer gut oder wer nicht integriert sei. Und der Integrationsbegriff sei begleitet von einer Phantasie von Harmonie.

Integration tendiere im politischen deutschen Denken schon zu Assimilation, so Czollek und behauptete: Dieses Konzept entspricht nicht mehr der politischen, gesellschaftlichen Realität in Deutschland: „Ich glaube, dass das Integrationsmodell als Paradigma eigentlich an sein Ende gelangt. Die deutsche Gesellschaft ist heute schon eine radikal vielfältige Gesellschaft.“ Ein Viertel der Gesellschaft habe, dass, was im Beamtendeutsch als Migrationshintergrund nenne. Spräche man ihnen Integration ab, würde man sie unter einen systematischen Verdacht stellen. „Weil sie erst mal beweisen müssten, dass sie demokratisch sind.“

Die Zustimmung zum Grundgesetz setzt Czollek allerdings schon als selbstverständlich für alle hier lebenden BürgerInnen voraus.

Dr. Max Czollek zu diesem systematischen Verdacht: „Das kann sich eine Gesellschaft die auf eine Weise unter Druck steht von Rechts, wie noch nie seit 1945, nicht erlauben.“

Den deutschen Nazis sage man unverständlicherweise nie, sie gehörten nicht zu Deutschland.

Wie ist eigentlich unser eigenes Denken beschaffen, dass so etwas wie die AfD innerhalb von wenigen Jahren möglich wurde?

Czollek wirft die Frage auf, wie eigentlich unser eigenes Denken beschaffen sei, dass so etwas wie die AfD innerhalb von wenigen Jahren möglich geworden sei. Czollek sieht in der AfD „eine Wiedergängerin des völkischen Denkens“

Er vermute, dass etwas in unserem eigenen Denken so eingerichtet war, dass man affin zu diesen Konzepten geblieben ist – eine Tendenz hatte, die reaktivierbar gewesen sei.

Dass das deutsche Selbstbild, dass man die Vergangenheit hervorragend bewältigt habe und jetzt wieder stolz auf Deutschland sein könne, nicht angemessen sei, um zu verstehen, was jetzt gerade passiere. Die angenommene Läuterung Deutschlands betrachtet Czollek als Irrtum. „Man hat es sich zu leicht vorgestellt.“ Czollek zitierte den Journalisten Heribert Prantl: Deutschland sei wie ein trockener Alkoholiker. Czollek: „Seit der WM 2006 hängen wir wieder an einer Flasche Korn am Tag.“ Ein Herr aus dem Publikum fragte später: „Hat das nicht auch mit der Frage zu tun: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen?“ Er beklagte im Allgemeinen „eine sprachliche Enthemmung.“

Die Gesellschaft muss eine andere werden, damit radikale Vielfalt möglich werde, findet Max Czollek

Desintegration bezeichne einen Versuch der radikalen Vielfalt, welche die deutsche Gesellschaft heute schon ausmacht, gerecht zu werden. Es versuche Gesellschaft nicht zu denken als ein Ort mit einem Zentrum, sondern als einen Ort mit vielen Zentren und ein Ort, der auf vielfältigen Ebenen Identifikation ermöglicht.

Desintegration probiere eine Gesellschaft zu denken, als einen Ort der radikalen Vielfalt. Radikale Vielfalt sei da ein „Kippbegriff“. Ein Begriff, der eine „konkret utopische Qualität“ habe, der einen Umbau der Gesellschaft und ihre Institutionen anpeilt. Heiße: Die Gesellschaft müsse eine andere werden, damit radikale Vielfalt möglich werde. „Das Versprechen der pluralen Demokratie muss vorangetrieben werden. Und zwar gerade jetzt. Das Viertel der Gesellschaft (Menschen mit Migrationshintergrund), dass über das Integrationsdenken systematisch ausgeschlossen wird, muss anders animiert und aktiviert werden. “ Andernfalls werde die Gesellschaft keine plurale Demokratie mehr sein.

Desintegriert euch!“ ist ein Schlachtruf der neuen jüdischen Szene und zugleich eine Attacke gegen die Vision einer alleinseligmachenden Leitkultur

Max Czollek ist dreißig, jüdisch und wütend. Und begegnet Vielem mit Ironie. Was auch an diesem Talk im DKH auffiel. Denn hierzulande herrschen seltsame Regeln, findet Czollek: Ein guter Migrant ist, wer aufgeklärt über Frauenunterdrückung, Islamismus und Demokratiefähigkeit spricht. Ein guter Jude, wer stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gibt. Dieses Integrationstheater stabilisiert das Bild einer geläuterten Gesellschaft – während eine völkische Partei Erfolge feiert. Max Czolleks Streitschrift entwirft eine Strategie, das Theater zu beenden: Desintegration. „Desintegriert euch!“ ist ein Schlachtruf der neuen jüdischen Szene und zugleich eine Attacke gegen die Vision einer alleinseligmachenden Leitkultur. Wobei ja allein schon der Begriff andeute, dass es daneben halt noch andere Kulturen gibt.

Czollek bringt eine jüdische Perspektive in den Integrationsdiskurs ein, den er auch als „Integrationstheater“ bezeichnet.

Dass Czollek einer „schlauesten Dreißigjährigen ist“ mochten die Zuschauer an diesem Freitag im Freien hinterm Dietrich-Keuning-Haus Aladin El-Mafalaani (der dies eingangs geäußert hatte) sicher im Großen und Ganzen abgekauft haben. Sie werden Dr. Max Czollek darüber hinaus aus eigenem Erleben gewiss ebenfalls als einen sehr klugen und in der Sache glasklar und deutlich argumentierenden Mann erlebt haben. Ein Gelehrter auch, der mit Ironie gehörig zu spielen weiß. Aber es steht zu vermuten, dass die Talk-Besucher am Ende des Abends mit vollgepackten, heißen Köpfen nach Haus gegangen sind. Das von Max Czollek Vorgetragene dürfte Wort für Wort gut verstanden worden sein. Der tiefere Sinn dürfen sich dem Publikum aber vielleicht erst erschließen, wenn es das Ganze ein wenig sacken lässt. Vielleicht kann man sich erst dann auch zur Akzeptanz dieser Polemik „Desintegriert Euch!“ erschließen. Weil man unter Umständen spüren könnte: anders geht es gar nicht.

Die nächsten Gäste beim „Talk im DKH“

Der nächste Gast beim „Talk im DKH“ ist Armin Nasehi. Er kommt am 30. August nach Dortmund. Ihm folgt im September während des Roma-Kultur-Festivals „Djelem Djelem“ Simonida Selimović, eine serbische Roma-Aktivistin. Für den November hat der deutsch-türkische Welt-Journalist Deniz Yücel zugesagt.

Link:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-erinnern-heisst-vergessen-11321183.html

Dortmund: Stolpersteine für Emmi und Gustav Eisenstein in Hombruch verlegt

Nachfahren von Emmi und Hans Eisenstein waren aus Israel, dem Kölner Umland und aus Bayern angereist. Fotos: C. Stille

Am Montag dieser Woche sind in Dortmund neue Stolpersteine verlegt worden. Unweit der früher verlegten Stolpersteine für die Rosenbaums. Diesmal für das Ehepaar Emmi und Gustav Eisenstein im Stadtteil Hombruch von dem Grundstück Harkortstraße 73. Dort hatte das Ehepaar ein Sportartikelgeschäft betrieben. Zur Stolpersteinverlegung reisten rund 15 Enkel, Urenkel und Ururenkel aus Israel, Bayern und dem Kölner Raum an. Emmy und Gustav Eisenstein haben 46 heute lebende, direkte Nachfahren. Die Stolpersteinverlegung war eindrucksvoll und tief bewegend. Bezirksbürgermeister Hans Semmler richtete das Wort an die Anwesenden. Kantor Arie Mozes sprach nach Einbringung der Stolpersteine ein jüdisches Gedenkgebet. Blumen und israelische Fähnchen wurden neben den Stolpersteinen abgelegt.

Emma und Gustav Eisenstein wurden am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert und am 8. Mai 1945 für tot erklärt

Nachdem Gustav Eisenstein bereits im Anschluss an die Reichspogromnacht im November 1938 in der Steinwache in Gestapohaft gewesen war, wurden das Ehepaar schließlich am 27. Januar 1942 aus Dortmund nach Riga deportiert. Sie gelten seitdem als verschollen und wurden mit Wirkung vom 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Zur Stolpersteinverlegung waren viele Familienangehörige nach Dortmund gereist. Bezirksbürgermeister Hans Semmler: Die Eisenbergs werden in Hombruch immer ein Gedenken finden

Der Bezirksbürgermeister von Hombruch Hans Semmler.

In seiner Ansprache an die aus Israel, aus dem Kölner Raum und aus Bayern nach Dortmund angereisten Angehörigen informierte Bezirksbürgermeister Hans Semmler über die Aufarbeitung der Nazizeit und das alljährliche Gedenken die Opfer des Nationalsozialismus an Sparkassenfiliale am 27. Januar im Stadtbezirk Hombruch. Semmler sprach von einem traurigen Anlass, aus welchem die Stolpersteinverlegung erfolgt. Aber es sei auch ein gutes Zeichen, dass die Familienangehörigen nun hier an ihre Vorfahren denken könnten. Semmler erwähnte das Buch „Hombruch unterm Hakenkreuz“, welches bereits vor dreißig Jahren erschienen sei. Darin sei auch der Name Eisenstein enthalten, der in Hombruch immer ein Gedenken finde. Exemplare dieses Buches wurden am Abend in einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Steinwache an die Familienangehörigen überreicht.

Ruth Eisenstein hielt eine für sie emotional schwierige Rede

Ruth Eisenstein.

Der Stolpersteinverlegung wohnte auch Ernst Söder vom Internationalen Rombergparkkomitee bei.

Eine 1956 in Israel geboren Enkelin von Emmi und Gustav Eisenstein hielt eine emotional für sie verständlicherweise schwierige Ansprache. Zugegen war auch der Leiter der Gedenkstätte Steinwache Dr. Stefan Mühlhofer. Durch eine Begegnung Mühlhofers vor drei Jahren mit der Enkelin des Ehepaars Eisenstein und deren beiden Söhnen, die den Wunsch nach Stolpersteinen für seine Ururgroßeltern geäußert hatten, kam das Vorhaben ins Rollen.

Die Enkelin der Eisensteins, Ruth Eisenstein, die ihre Großeltern nie kennengelernt hat sprach über die nun ins Werk gesetzte Stolpersteinverlegung von einem „rührenden Augenblick“ und dankte Dr. Mühlhofer und Markus Günnewig sowie allen anderen, die daran beteiligt waren für ihr Engagement, dass sie nun zustande kam.

Ruth Eisenstein richtete liebevolle Worte an ihre Großeltern: „Liebe Großmutter Emmi, lieber Großvater Gustav …“

Da die Enkelin nie mit ihren Großeltern sprechen konnte, holte sie dies nun nach: „Liebe Großmutter Emmi, lieber Großvater Gustav, ich Ruth

Ruth Eisenstein mit ihren Söhnen.

Eisenstein stehe hier in Dortmund neben dem Haus wo ihr gewohnt habt. Um mich herum stehen noch sehr viele Familienangehörige …“

Und sie fuhr fort: „Ich bin die zweite Ruth, die Tochter von Gunther Alexander Gavriel. Ihr habt ihn nach Palästina geschickt. Dort hat er eine schöne Familie gegründet.“

Ruth Eisenstein: „Wir sind alle heute hier hingekommen, um euch zu sagen, die Familie hat euch nicht vergessen. Und auch die Stadt Dortmund hat euch nicht vergessen“

Ruth Eisenstein berichtete ihren Großeltern von dieser Familie und weiteren Familienangehörigen.

Ihre Großeltern seien in jeder Hinsicht Deutsche gewesen, sagte sie: „Deutschland war eure Heimat.“

Sie hätten gewusst, dass sie Juden sind, aber nicht viel über das Judentum gewusst. Von ihrem Vater habe sie erfahren, dass die Großeltern die koscheren Gesetze nicht eingehalten haben. Obgleich sie Zionisten gewesen seien, wäre ein Wegzug für die Eisensteins aus Deutschland nie in Frage gekommen. Fotos kenne sie, die den Opa als stolzen deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg zeigen. Stets sei er bereit gewesen, seine deutsche Heimat zu verteidigen. Doch diese Heimat habe ihn verraten und den Großeltern alles genommen was sie geliebt hatten. „Diese Heimat hat euch gequält und euch am Ende brutal vertrieben und ermordet. Wie stark euch dieser Verrat getroffen hat, konnte ich an meinem eigenen Vater, euren Sohn Gavriel, emotional spüren und nacherleben.“

Wieder an Oma und Opa gerichtet, versicherte Ruth Eisenstein ihnen: „Wir sind alle heute hier hingekommen, um euch zu sagen, die Familie hat euch nicht vergessen. Und auch die Stadt Dortmund hat euch nicht vergessen. Ihr habt in dieser Welt lebendige Spuren hinterlassen. Zwei Kinder, die überlebt haben, sieben Enkelkinder, sechzehn Urenkelkinder und zweiundzwanzig Ururenkelkinder.“

Urenkelin Erga: Der Tag bringe zwar „eine Menge Trauer mit sich, aber gleichzeitig eine Menge Glück, da wir hier in Dortmund stehen, um unsere Familie in Gedenksteinen und in unserem Herzen gedenken“

Urenkelin Erga.

Neben Ruth Eisenstein sprach vor dem Haus Harkortstraße 73 nach ihr auch die Urenkelin Erga von Emmi und Gustav Eisenstein. Sie empfand es als eine Ehre und als Privileg an diesem Tag dabei zu sein. Das bringe zwar „eine Menge Trauer mit sich, aber gleichzeitig eine Menge Glück, da wir hier in Dortmund stehen, um unsere Familie in Gedenksteinen und in unserem Herzen gedenken“.

Abendveranstaltung in der Steinwache der mit Vorführung eines einzigartigen Filmdokuments aus dem Jahre 1938

Die Liebe zu seiner alten Heimat, zur deutschen Kultur und Literatur habe man ihm nie ganz wegnehmen können, das sagte Ruth Eisenstein auch am Abend in einem sehr persönlichen, enorm berührenden Vortrag vor einer Filmvorführung in der Steinwache.

Neben der spannenden Schilderung Ruth Eisenstein erzählte auch Jan F. Turner am Abend des 8. Juli um 19 Uhr in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache seine Familiengeschichte.

Ein Visum zu bekommen, um aus Deutschland herauszukommen war eine Lotterie fürs Leben

Ruth Eisenstein steuerte noch eine kleine Anekdote bei: Damit ihr Vater zu einem Visum nach Palästina kam, um aus Deutschland herauszukommen, sei damals mehr als eine Lotterie – eine Lotterie fürs Leben gewesen. Die jüdische Gemeinde wählte zehn junge Burschen aus. Dazu schließlich zehn Mädels, denn dann die wären diese als Ehepartnerinnen mit auf das Visum und ebenfalls heraus aus Deutschland gekommen. Der Rabbiner, so erzählte es ihr später ihr Vater, habe es so erklärt: Manche heiraten wegen Liebe, manche wegen Finanzinteressen – in eurem Fall um das Leben zu retten. Ruth Eisenbergs Vater, damals 19 Jahre alt, kam damals so zu einer 31-Jähriger Ehefrau. Später habe er sich dann wieder von ihr getrennt und einem Kibbuz eine andere Frau, Ruths spätere Mutter, kennengelernt und geheiratet. Die Eltern, hob Ruth Eisenstein hervor, hätten sie zu Menschenliebe und niemals zu Hass erzogen.

Informationen über das jüdische Leben in Dortmund und die fürchterliche Deportation von Dortmunder Juden nach Riga

Der Historiker Dr. Rolf Fischer führte zu Beginn der Abendveranstaltung kurz in die Geschichte des jüdischen Lebens in Dortmund sowie in den lokalen Verfolgungskontext bis hin zur fürchterlichen Deportation – bei eiskaltem Wetter und schlimmen hygienischen Zuständen – der Dortmunder Juden 1942 (4500 lebten damals in Dortmund) per Eisenbahn ins lettische Riga ein.

Bemerkenswertes Filmmaterial von 1938

Wie ein Wunder erscheint es daher, was die Nachfahren von Emmy und Gustav Eisenstein erleben durften. Durch eine glückliche Fügung sind Filmsequenzen aus dem Jahr 1938 – sie dürften einzigartige Zeitzeugendokumente dieser Art aus dieser Zeit sein – erhalten geblieben, die über einen der letzten Kindertransporte nach Großbritannien und in den 1950er Jahren in die USA gelangten. Jan Turner präsentierte dann das bemerkenswerte Filmmaterial von 1938, welches er selbst geschnitten und gekürzt hat. Es enthält viele Aufnahmen aus der Stadt, der Hohensyburg und aus dem Rombergpark.

Sie zeigen vor allem Privates, aber auch die letzten bewegten Bilder der 1938 abgerissenen Dortmunder Synagoge. Sie sind ein bedeutendes historisches Dokument mit einer tragischen Wendung: Fast alle Personen, die im Film zu sehen sind, wurden von Dortmund aus deportiert und ermordet.

Ein nicht nur für die angereisten Familienangehörigen, sondern auch die Gäste beider Veranstaltungen außerordentlich tief beeindruckender Tag war das, an welchen manche Träne floss, aber auch – wie etwa bei den Filmaufnahmen der Familie – auch schon mal gelacht werden konnte.

Familienangehörige und Gäste in der Gedenkstätte Steinwache.

Die Große Synagoge in Dortmund. 1938 wurde sie abgerissen.

Kantor Arie Mozes spricht ein Gedenkgebet.

1. Klima-Dialog Dortmund hatte einen gar nicht mal so üblen Start, der zuversichtlich stimmte

Vergangenen Samstag hatte in der Dortmunder Pauluskirche der 1. Klimadialog Premiere. Er stand unter dem Motto „Zukunft ist für alle“. Damit wurde in Dortmund die Dekade des Klimawandels sozusagen eingeläutet. Die InitiatorInnen finden: Die Menschheit steht vor den zehn entscheidendsten Jahren unserer Geschichte. Vornehmlich den SchülerInnen und Studierenden der „Fridays for Future“- Bewegung in der Dortmunder Innenstadt sei es zu verdanken, ließen die OrganisatorInnen im Vorfeld der Veranstaltung verlauten – die uns Freitag für Freitag darauf hinweisen, dass es längst 5 vor 12 ist -, hätten den entscheidenden Anstoß für den 1. Klimadialog gegeben.

Die Friday-for-Future-Bewegung lieferte den Rückenwind, den 1. Klima-Dialog aufs Gleis zu setzen

Foto: Hans Lantzsch

Diesen Rückenwind nutzte jetzt ein „Klimabündnis Dortmund“, zu welchen sich 23 Organisationen – und es werden ständig mehr – und Initiativen aus den Bereichen Energie, Mobilität und Naturschutz mit der Fridays-for-Future-Bewegung zusammengeschlossen haben. Thomas Quittek auf einer Pressekonferenz im Vorfeld der Veranstaltung, Sprecher des BUND Dortmund dazu: „Ein Bündnis so vieler Verbände und Initiativen mit insgesamt 8000 Mitgliedern – davon seien zwar nicht alle aktiv, jedoch alle stünden hinter den Zielen – ist in dieser Form einmalig für Dortmund. Quittek machte deutlich, dass dem Klimabündnis Dortmund alle beitreten könnten. Niemand müsse verbandsseitig gebunden sein.

Folgerichtig standen die Jugendlichen von „Fridays for Future“ (FFF) auch im Mittelpunkt der Auftaktveranstaltung in der Pauluskirche.

Pfarrer Friedrich Laker erklärte eingangs, dass man sich als Klima-Bündnis nun in den nächsten zehn Jahren Monat für Monat treffen werde, um eine Art „Klima-Parlament“ zu bilden.

Luna: „Ich sage, dass wir uns in einer Notlage befinden“

Luna für FFF kritisierte die kürzliche Entscheidung des Dortmunder Rates, den Klimanotstand nicht auszurufen (nebenbei bemerkt: kürzlich hat neben Münster, Dortmund und Düsseldorf inzwischen auch Köln den Klimanotstand ausgerufen; CS.). Unter anderen der SPD-Fraktionsvorsitzender im

FFF-Aktivistin Luna. Foto: Hans Lantzsch

Dortmunder Rat hätte bestritten, dass wir uns nicht in einer Notlage befänden. Luna dagegen haltend: „Ich sage, dass wir uns in einer Notlage befinden.“

Das Mädchen prangerte an, dass sich Dortmund mit FFF schmücke und sogar einen Sommerkongress (vom 31. Juli bis zum 4. August) organisiere: „Dennoch nimmt uns die Stadt nicht ernst. Und unsere Forderungen erst recht nicht.“

Luna versicherte, sie werde keine Protestpause einlegen. Denn die Klima-Krise mache ja auch keine Pause.

Interessante – zuweilen auch kontroverse – Diskussionen nach der Fishbowl-Methode mit bedenkenswerten Vorschlägen

Jeweils drei Stühle links und drei Stühle rechts luden dann zu Wortmeldungen und zu Diskussionsbeiträgen nach der sogenannten Fishbowl-Methode ein. Fishbowl ist laut Wikipedia eine Methode der Diskussionsführung in großen Gruppen. Die Methode hat ihren Namen nach der Sitzordnung: sie soll in etwa einem Goldfischglas gleichen, um das die Teilnehmer im Kreis herumsitzen.

Die Stühle wurden nach und nach besetzt. Anwesende BürgerInnen und Bürger nutzten die Möglichkeit sich zu Wort melden.

FFF-Aktivist mit Titanic-Beispiel: Müssen den Kurs ändern

Darunter u.a. ein Künstler, Aktivisten von Attac und dem Bündnis DEW-kommunal. Auch ein leitender Mitarbeiter von DEW21 (Dortmund Energie und Wasser – kommunale Tochtergesellschaft der Stadt Dortmund) betrat das Podium. Er meldete sich recht oft zu Wort. Weswegen im Verlauf der Veranstaltung im Publikum leichter Unmut Luft machte (Stichwort: Bitte keinen Werbeblock!). Freilich konnte aber niemand wissen, ob dieser Herr von seinem Betrieb zum Klima-Dialog geschickt wurde, um in gutes Licht zu setzen, oder sein Dasein rein eigenem Interesse geschuldet war.

Es wurden seitens der BürgerInnen durchaus einige bedenkenswerte gute Vorschläge gemacht. Und durchaus auch kontrovers diskutiert. Ein Bürger empfand es als Manko und war enttäuscht, dass kein offizieller Vertreter der Stadt Dortmund zu diesem 1. Klima-Dialog gekommen war. Er gestand, von der Politik in Sachen Verkehrs- und Klimapolitik tief enttäuscht zu sein. Er stelle sich die Frage, wie die Verantwortlichen das Vertrauen von BürgerInnen wieder zurück zu gewinnen gedächten.

Pfarrer Friedrich Laker spricht zu den Gästen. Foto: C. Stille

Ein junger Vertreter von FFF urteilte, dass die Politik wüsste, dass wir in der Krise sind, dies jedoch verdrängten.Seit sechs Monaten währten nun die Klimastreiks und so gut wie gar nichts sei passiert. Er griff auf das Beispiel der Titanic zurück: „Die haben den Eisberg gesehen und dann noch dreißig Sekunden gewartet, bis sie abgedreht sind.“ Ein sofortiges Reagieren hätte die Katastrophe vielleicht noch abwenden können. Er glaube, symbolisch befänden wir uns auch in dieser Dreißig-Sekunden-Phase: „Wir müssen jetzt den Kurs ändern, damit was passiert – auch in Dortmund.“

Andere Diskutanten erklärten, dass doch alle Menschen für sich selbst etwas gegen den Klimawandel tun könnten – wenn das auch nicht immer ganz einfach sei und manches Mal auch am inneren Schweinehund scheitere.

FFF-Aktivistin Merle Bösing (1. v.l.)  Foto: Hans Lantzsch

Merle Bösing von FFF macht dies auch, sagte sie. Doch, wenn dies nicht alle täten sei das doch frustrierend. Ihr fehlt es an politischen Rahmenbedingungen, die ein klimafreundliches Verhalten fördern. Wie könne es denn sein, dass es billiger sei mit dem Auto zu fahren als mit der Eisenbahn? „Wieso ist auf einmal ein Flug günstiger als wenn ich mit dem Auto fahre? Wieso sind klimafreundliche Aktionen teurer als klimaschädliche?

Auch, merkte Merle Bösing an, dürfe klimafreundliches Verhalten aber auch nicht an der Sozialen Frage hängenbleiben.

Ein Herr kritisierte die Subvention des Dortmunder Flughafens jedes Flugzeugs mit zehn Euro pro Person: „Aber für die Armen in der Region habt ihr nicht mal ein Sozialticket, das angemessen ist?!“ Er forderte dazu auf, die Verantwortlichen in der Dortmunder Politik und auch in der Wirtschaft in der Klimafrage zu stellen und sich mit ihnen anzulegen. Die Eltern rief er dazu, ihre Kinder in ihrem Protest zu unterstützen und nicht alleine zu lassen.

Till Strucksberg von Attac betrachtete die von Dortmund auch so hochgelobte E-Mobilität kritisch. Und fragte, wer denn eigentlich den Strom für das Laden der E-Autos liefere. Steinkohlekraftwerke, die auch Dortmund belieferten erzeugten inzwischen elektrische Energie auch mittels schmutziger Kohle, die unter äußerst kritisch zu nennenden Bedingungen abgebaut werde (dazu hier mehr). Desgleichen gelte für den Abbau etwa von seltenen Erden, die für die Herstellung der Batterien notwendig seien.

Erster Aufschlag des Dortmunder Klima-Dialogs hatte gar nicht so üblen Start

Als erster Aufschlag, wie es eine Dame auf dem Podium bezeichnete, hatte dieser 1. Klima-Dialog ein zuversichtlich machenden gar nicht mal so üblen und Hoffnung auf Weiteres machenden Start. Das Klimabündnis Dortmund hat einen zehnjährigen Weg vor der Brust.

Erstmals wurde auf dem 1. Klimadialog das Musivideo „The Gardener“ (sh. auch Artikelanfang) von Nic Koray gezeigt.

Foto: Hans Lantzsch

Foto: Hans Lantzsch

Mit dabei auch Lorenz Redicker vom Verkehrs Club Deutschland. Foto: C. Stille

Diskutierte auch mit: Till Strucksberg von Attac (Bildmitte). Foto. C. Stille

LickLike-Festival 2019 Dortmund gelang es Kultur, Bildende Kunst und Leben mit Liedern für Herz und Seele in Einklang zu bringen

Moderator und Organisator des LickLike-Festivals Ulf Schrader begrüßt die Gäste in der Pauluskirche. Foto: Hans Lantzsch

Am 7. Juli fand im Rahmen der Internationalen Woche Dortmund in und um die Pauluskirche ein Musikfestival mit Kultur- und Kunstmarkt stattfinden. Mit dem LickLike-Sommerfestival trat erstmals der kürzlich gegründete Verein KULTUR UND LEBEN e.V. öffentlich in Erscheinung.

Das LickLike-Festival fand bereits im vergangenen Jahr statt. LICKLIKE ist eine eigene Wortkreation die sich zusammensetzt aus dem
Wort Lick = ein sich wiederholendes Thema in der Musik und Like = Mögen.

Beim diesjährigen LickLick-Festival gelang es prächtig Kultur und Leben zusammenbringen

Das Festival präsentierte eine Mischung aus unterschiedlichen Kulturwelten. Es traten mehrere SängerInnen/Songwriter in Verbindung mit Bildender Kunst, Bildung, Nachhaltigkeit und Umweltschutz auf. Ganz Sinne des oben genannten Vereins war es prächtig gelungen, Kultur und Leben in interessante Zusammenhänge zu bringen. Das spiegelte auch ein Kulturmarkt wider. Tolle KünstlerInnen mit sehr unterschiedlichen. ausgefallenen Projekten hatten sich im Kirchhof eingefunden. Grafiken und Malerei waren ausgestellt und konnten käuflich erworben werden. Persönliche Begegnungen untereinander waren erwünscht und wurden auch genutzt, um in einen Dialog einzutreten.

Das Programm fand abwechselnd in der Pauluskirche und wenn dort umgebaut wurde übergangslos weiter im Kirchgarten statt.

Künstlerin Anna Hauke begegnete mit ihr Kunst Tabuisierungen

Anna Hauke hat sich interdisziplinärer Kunst – zwischen Performance, Aktionskunst und Zeichnungen – verschrieben. Die Künstlerin stellte sich auf dem Festival mit Plastiken in Form von Seifen vor. Eine pfiffige Idee: Sie sind als Abdrücke weiblicher Geschlechtsteile, Vulven, von verschiedenen Frauen entstanden. Anna Hauke hat sie silikoniert, eine Form gefertigt und daraus handgesiedete Seifen gemacht. Als Seife wären die Objekte benutzbar. Der Künstlerin ging es bei diesem Projekt darum Tabuisierung und Schamgefühlen etwas entgegenzusetzen. Der Hintergrund: Anna

Anna Hauke (links) bereitet die Kärtchen für die Vulva-Seifen vor. Foto: C. Stille

Hauke ist im streng katholischen Polen aufgewachsen, wo alles was mit Geschlecht und Körper in Zusammenhang steht tabuisiert ist. Hauke fand das eine tolle Möglichkeit sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen: „Noch dazu sieht es gut aus.“ Und sie duften wunderbar. Es gibt die Plastiken mit Kräuterduft und der Geruchsrichtungen Rose/Geranie, Lavendel, Jasmin und Patschuli.

Stephan Schwabs Fotografie und die Spaßagentur „Bureau Hütchen“ war im Kirchgarten stellte im Kirchgarten aus

Mit dabei am 7. Juli war auch Stephan Schwab (Fotografie – Stilleben) mit einer Serie von Kunstwerken, die er sowie zusammen mit dem Illustrator Boris Bromberg unter der Marke „Bureau Hütchen“ (Spaßagentur) unters Volk bringt.

Nic Koray sorgt trotz einer schweren Verletzung mit ihrer Band für musikalische Höhepunkte. Im Kirchgarten brachte ihr Stand Menschen Achtsamkeit mit der Natur nahe

NIc Koray mit ihrem Handicap Sie kann schon wieder lachen. Foto: Hans Lantzsch

Auch Nic Koray hatte den Veranstaltern des Festivals am Samstag einen gehörigen Schrecken eingejagt. Eine schwere Verletzung an der linken Hand drohte zu einer Absage ihres Auftritts zu führen. Glück im Unglück: Nach dem Ende des Heilprozesses wird die Hand wohl wieder voll funktionstüchtig sein. Schließlich einigte man sich, nachdem klar war, dass sie körperlich auf dem Damm war, darauf, dass sie nicht mit ihrem Duo sondern nur zusammen mit ihrer Band, jedoch ohne ihre Gitarre, die sie ja unfallbedingt nicht spielen konnte, auftritt. Das machte einige kurzfristige Änderungen von Arrangements unter den Musikern nötig. Und auch Nic Koray musste sich gehörig umstellen. Aber es wurde letztlich ein großartiger und erfolgreicher Auftritt. Während des Spielens verständigten sich Musiker professionell und überwanden etwaige Irritationen sozusagen spielend. Und wer die gespielten Stücke nicht kannte, dürfte da nichts aufgefallen sein. Nic Korays einzigartige Stimme tönte wieder sensationell. Der Applaus fiel dementsprechend enthusiastisch aus.

Die Deutsch-Türkin Nic Koray kommt aus Herdecke vom Hof HerzBerg Herdecke, wo sie Tiergestützte Intervention und Umweltpädagogik anbietet.

Musikalische Eröffnung seitens der sympathischen und begabten LILOU (Indie – Pop -Folk)

Die Werke von Viola Welker. Foto: C. Stille

Aus den aufgeführten Gründen konnte Nic Koray verständlicherweise auch nicht die musikalische Eröffnung des LickLike-Festivals bestreiten.

Dies fiel nun LILOU zu, die der Kollegin gute Besserung wünschte und diesen Part glänzend zu erfüllen imstande war. LILOU erzählte berührende Geschichten zur Gitarre mit

Lilou. Foto: Hans Lantzsch

stimmungsvoll tönenden Melodien. Ihr melancholischer Gesang kam angenehm klar, herüber
während ihre Musik insgesamt befreiend wirkte. Schlechte Erinnerungen an Stuttgart – wo sie mal in einer Bande spielte – sang sie sich in einem ihrer begeisternden Songs quasi von der Seele.

Grafiken, Malereien, Illustrationen und Skulpturen von Viola Welker, Yeye Weller, Murat Kayi, Holga Rosen und Musik im Kirchgarten von

Gwendolyn & Ich. Foto: C. Stille

Gwendolyn&Ich

Die Dortmunder bildende Künstlerin Viola Welker zeigte auf dem Festival am vergangenen Sonntag Malereien, Illustrationen und Skulpturen.

Des Weiteren waren mit ihren Künsten vertreten: Yeye Weller, Illustrator neu gestalteter Produkte, Plakate und Kampagnen; Murat Kayi mit seiner ersten Ausstellung, Malerei, Zeichnung und Holga Rosen mit seinen satirischen Cartoons. Für Musik im Kirchgarten sorgte mit Gwendolyn&Ich (Offene Bühne)

Unvergessliche Höhepunkte mit Urbain N’Dakon

Ein weitere unvergesslicher Höhepunkt des Tages war zweifellos Urbain N’ Dakon. Der aus der Elfenbeinküste, vom afrikanischen Kontinent, der bekanntlich die Wiege der   Menschheit ist, stammt.

Urbain N‘ Dakon mit seinem Musikerkollegen Ablam Benjamin Akoutou aus Togo. Foto: Hans Lantzsch

Urbain N’ Dakon bestach mit seinem einfühlsamen Gesang, dabei perfekt mit unterschiedlichen Tonhöhe arbeitend, mit den Klängen seiner Akustikgitarre und seinen zwischendurch erzählten Geschichten über Afrika und sein Heimatland – die Elfenbeinküste.

Fesselnd und aus dem Leben gegriffen, die Geschichte von Ekèndèba, der Spinne mit dem dicken Bauch und der komischen Stimme, die von allem nicht genug bekommen kann. Ein Wesen, das kein Mitleid kennt und nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Eine bekannte Geschichte in Westafrika, wie Urbain N’Dakon erklärte. Sie wollte etwa die Weisheit der Welt sammeln. Und sie auf einen hohen Baum in einem Tonkrug nur für sich aufbewahren. Ekèndèba band sich den Tonkrug vor den Bauch und versuchte den Baum hinaufzusteigen. Doch der Krug war dick und Ekèndèbas Bauch ebenfalls. Es gelang nicht. Eine vorbeikommende Schildkröte schlägt ihm vor, den Krug doch auf den Rücken zu binden. Ekèndèba setzt den Vorschlag um und klettert den Baum hoch. Doch der Krug zieht ihn so sehr nach hinten, dass er abstürzt. Der Krug zerbricht. Die Weisheiten fallen heraus und fliegen in alle Himmelsrichtungen. Auch nach Deutschland, auch nach Dortmund, scherzte Urbain N’Dakon. Die Weisheit der Menschen in Dortmund, so der Sänger, habe er sofort gespürt. Und er gab den ZuhörerInnen einen Tipp: „Wählen Sie nie einen Ekèndèba zum Bürgermeister …“ Charaktere wie Ekèndèba, erinnerte der Künstler mit der sympathischen Austrahlung, scheiterten irgendwann immer. Doch tauchten sie stets auch wieder auf in unseren Gesellschaften.

Urbain N’Dakon, Jahrgang 64, hat in der Elfenbeinküste Germanistik studiert und war dort einige Jahre als Gymnasiallehrer für Deutsch und als Berufsberater tätig. Der Sohn einer Hobbysängerin und eines Sportlehrers hatte die Musik immer als Hobby gepflegt, ehe er 1993 nach Deutschland kam. Im Hauptberuf arbeitet Dr. Urbain N’Dakon, dieser außergewöhnliche, kluge Zeitgenosse, als Referent für Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe beim Caritasverband Fulda. Ein Glücksgriff, dass Urbain `N Dakon, den aus Togo stammendem Musiker Ablam Benjamin Akoutou, getroffen hat, welcher ihn einfühlsam auf unterschiedlichen Trommeln begleitete. Beide Musiker gaben noch einige Zugaben im Kirchgarten.

Eine Runde Sache, dieses LickLike-Festival 2019. Hut ab vor dem rührigen Organisator Ulf Schrader und allen anderen MitstreiterInnen im Hintergrund. Und Nic Koray sei von dieser Stelle aus zugerufen: Gute Besserung!

Kirchenfenster der Pauluskirche. Foto: C. Stille

Im Kirchgarten. Foto: C. Stille

Stephan Schwabe und seine Kunst. Foto: C. Stille

Der Stand von HerzBerg Herdecke. Foto: C. Stille