Bahnstreik ´21: ein Politikum. Mit einem Interview der Streikzeitung mit Claus Weselsky (Vorsitzender der GDL)

von Winfried Wolf

Der GDL-Streik beim Konzern Deutsche Bahn AG ist erstens sozial gerechtfertigt. Er ist zweitens für alle gewerkschaftlich Aktiven und für die Linke von enormer Bedeutung. Und er ist drittens ein Politikum.

GDL-Streik = Sozial gerechtfertigt: Entgegen den Aussagen der DB-AG-Chefs Richard Lutz, Martin Seiler und Ronald Pofalla fordert die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) exakt das, was im Frühjahr 2021 im Verdi-Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst beschlossen wurde. Und das ist gerade mal Lohnausgleich und eine gewisse Anerkennung für das Den-Kopf-Hinhalten in der Pandemie (600 Euro Sondervergütung). Es ist allerdings rund doppelt so viel wie das, was der Bahnkonzern und die Gewerkschaft EVG im Herbst 2020 abgeschlossen haben – was auf einen deutlichen Reallohnabbau hinausläuft. 

GDL-Streik = für alle Gewerkschaften und für die gesamte Linke von Bedeutung: Die Deutsche Bahn AG will in ihrem Bereich erstmals in Deutschland das Tarifeinheitsgesetz (TEG) anwenden. Dieses wurde nicht ganz zufällig im Frühjahr 2015 im Bundestag von CDU/CSU und SPD beschlossen – am Ende des letzten großen GDL-Bahnstreiks. Das TEG läuft darauf hinaus, dass den sogenannten kleinen – und oft kämpferischen – Spartengewerkschaften (wie GDL, Marburger Bund, Cockpit) der Spielraum massiv verkleinert, wenn nicht ihre Existenz bedroht wird. In einem „Betrieb“ soll nach dem TEG nur noch ein Tarifvertrag gültig sein – und dann derjenige der relativ größten Gewerkschaft. Wobei die Definition was ein „Betrieb“ ist, ebenso offen ist, wie die Feststellung, was denn die jeweils relativ größte Gewerkschaft in diesem Betrieb sei, für Manipulationen Tür und Tor öffnet. Der im Frühjahr 2015 vereinbarte GDL-Tarifvertrag beinhaltete, dass für die Laufzeit dieses Vertrags das TEG keine Gültigkeit hat.  Anfang 2021 kündigte der Bahnkonzern an, ab sofort das TEG anzuwenden. Das wiederum bewirkte, dass die GDL inzwischen in allen Bereichen der „Produktion“  – also auch bei Stellwerkern, in den Werkstätten, auf den Bahnhöfen – um Mitglieder zu werben.

GDL-Streik = ein Politikum: Der Streik findet wenige Wochen vor der Bundestagswahl statt. Er richtet sich formal gegen den Konzern Deutsche Bahn AG. Doch Eigentümer dieses Konzerns ist der Bund, den wiederum die Bundesregierung, gestellt von CDU/CSU und SPD, vertritt. Der Dachverband der GDL ist der Deutsche Beamtenbund (dbb), der als CDU-nah gilt. Weselsky selbst ist CDU-Mitglied. Allein diese Konstellationen verdeutlichen, wie politisch dieser Streik faktisch ist, auch wenn es bei ihm um einigermaßen schlichte soziale Forderungen geht. Hinzu kommt: Die Bahn müsste im Kontext einer ernsthaften Klimapolitik eine zentrale Rolle spielen. Dennoch muten die DB AG, also die Bundesregierung, gerade den hier Beschäftigten einen erheblichen Reallohnabbau zu. Und wenn der Bahn-Eigentümer Bund bei den Bahnbeschäftigten knausert, dann hat er dort die Spendierhosen an, wo es um verkehrspolitisch zerstörerische Projekte wie Stuttgart 21 oder um größenwahnsinnige Engagements im Ausland geht. Dass die GDL auch diese Aspekte der verkehrten Verkehrspolitik thematisiert, macht den Streik zusätzlich zum Politikum.

Quelle: Streikzeitung pro GDL von Winfried Wolf

*Mit einem Interview mit Claus Weselsky (Vorsitzender der GDL)
„Tricksen, täuschen, Taschen füllen“

Geht es nach dem Bahnkonzern, so soll es für die Bahnbeschäftigten weder
Inflationsausgleich noch Corona-Prämie geben. Ein Interview der
STREIKZEITUNG mit dem Bundesvorsitzenden der GDL, *CLAUS WESELSKY.*

Frage 1:

*Die Urabstimmungsergebnisse liegen vor. Wie interpretieren Sie und der
GDL-Vorstand diese; entsprechen sie Ihren Erwartungen? Und: Was kommt in
der Abstimmung zum Ausdruck; wie ist die Stimmung an der Basis der GDL?*

Schon der hohe Rücklauf an Abstimmungsunterlagen, aber auch die
deutlichen Signale aus der Belegschaft haben im Vorfeld eine hohe
Zustimmung zum Arbeitskampf erwarten lassen. Das nun erzielte Ergebnis
von 95 Prozent übertrifft unsere Erwartungen. Es bestätigt zugleich das
herrschende Stimmungsbild unter den Eisenbahnern. Die direkt
systemrelevanten Beschäftigten sind wütend und frustriert angesichts
eines DB-Managements, das ihnen weder einen Inflationsausgleich noch
eine Corona-Prämie zugesteht, während sich die Führungskräfte im
Homeoffice weiterhin ungerührt die Taschen füllen. Sie haben im
vergangenen Jahr 2021 51 Prozent ihrer Boni erhalten, trotz miserablem
Finanzergebnis des Bahnkonzerns. Allein diese variablen Vergütungen
zusätzlich zum ohnehin schon üppigen Fixgehalt übersteigen trotz der
Halbierung immer noch das gesamte Jahresgehalt eines wertschöpfend
tätigen Eisenbahners. Das ist unanständig, unsozial und eine Verhöhnung
der Menschen, die während der Pandemie unter erschwerten Bedingungen
tagtäglich den Kopf hingehalten haben. Gemessen an der Stimmung in der
Belegschaft könnten wir schon lange im Streik sein und der Streik selbst
könnte angesichts dieser Stimmungslage gar nicht lange genug dauern.

Frage 2:

*In den Medien heißt es immer wieder: Die Forderungen der GDL seien
„unverhältnismäßig“. Der Personalvorstand der DB, Martin Seiler, spricht
gar von „rechtswidrigen Forderungen“; inhaltlich gebe es „Nullkommanull
Grund zu streiken“ (FAZ vom 9.8.2021). Dabei wird mal auf die
Corona-Krise und den Einbruch bei den Fahrgästen verwiesen. Neuerdings
werden auch die Hochwasserschäden der Deutschen Bahn ins Spiel gebracht.
Woran orientiert sich die GDL bei ihren Forderungen?*

Unsere Forderungen orientieren sich am Tarifabschluss im öffentlichen
Dienst. 1,4 Prozent Entgelterhöhung und 600 Euro Corona-Prämie 2021, 1,8
Prozent 2022 und das alles über eine Laufzeit von 28 Monaten sind
maßvoll und gerechtfertigt. Die GDL lässt nicht zu, dass die
systemrelevanten Eisenbahner mit einer Null- oder gar einer Minusrunde
abgespeist werden. Außerdem gilt es, die kleinen Betriebsrenten zu
schützen. Wir lassen sie uns nicht, wie der DB-Vorstand das fordert, als
Volumen anrechnen. Die Zusage dieser Betriebsrente ist bei der
Einstellung erfolgt und niemand hat das Recht, sie zu kürzen oder gar
einzustellen.

Frage 3:

*Der Arbeitgeber Deutsche AG stellt sich als arm wie eine Kirchenmaus
dar. Es gäbe hier keine Ressourcen zur Befriedigung der GDL-Forderungen.*

Das ist nur eine weitere Schutzbehauptung, mit der die DB vom eigenen
Versagen ablenken will. Die DB hat ihre Bilanz 2020 mit einem Minus von
5,7 Milliarden Euro nach Steuern abgeschlossen, der Umsatz sank
gegenüber dem Vorjahr um mehr als zehn Prozent auf 39,9 Milliarden Euro.
Sie behauptet, das Minus sei eine unausweichliche Folge der
Corona-Pandemie, weil deutlich weniger Fahrgäste mit der Bahn unterwegs
gewesen seien. Doch tatsächlich ist der größte Teil der Misere
hausgemacht. Die wahre Ursache für die fehlenden Milliarden sind
Leuchtturmprojekte in Deutschland wie Stuttgart 21, weltweite
Einkaufstouren, mit denen sich der DB-Vorstand schon oft verzockt hat,
wie die milliardenschwere Übernahme des Bahnkonzerns Arriva sowie ein
grotesk aufgeblähter Verwaltungsapparat. Die Abenteuerspielplätze auf
der ganzen Welt, in den Geschäftsberichten versteckt unter dem
Oberbegriff „Beteiligung/Sonstiges“, erzeugten allein in der Bilanz 2020
einen finanziellen Verlust von mehr als 1,5 Milliarden Euro. Schon mit
einem Bruchteil dieser Summe könnte man den Mitarbeitern das zukommen
lassen, was ihnen nach Verdienst gebührt. Im Übrigen ist der Eigentümer
Bund immer dann großzügig, wenn es um die Finanzierung dieser
Abenteuerspielplätze geht – und dabei noch derart großzügig und
einseitig allein die DB AG begünstigend, dass er damit immer wieder aufs
Neue eine Intervention seitens Brüssels provoziert.

Frage 4:

*Es gab in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere – erfolgreiche –
Arbeitskämpfe der GDL. Derjenige von 2007/2008 hat nach Aussage des
damaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn auch dazu beigetragen, dass der
Bahnbörsengang erfreulicherweise geplatzt ist. Welche Bedeutung haben
diese vorausgegangenen Kämpfe für den aktuellen GDL-Arbeitskampf? Was
ist 2021 anders als beispielsweise 2014/2015?*

Seit wir unsere ersten eigenständigen Tarifverträge mit der DB im März
2008 abgeschlossen haben, hat sich so gut wie nichts geändert. Wir
kämpfen stark, unbestechlich und erfolgreich für bessere Entgelt- und
Arbeitsbedingungen unserer Kolleginnen und Kollegen. Dass unsere
Mitglieder das Herz am rechten Fleck haben und solidarisch sind, das
haben die Ergebnisse der Urabstimmung erneut gezeigt. Sie sind unser
größtes Pfund, ohne sie läuft gar nichts. Auch, dass die DB am liebsten
allein mit ihrer braven Hausgewerkschaft die Tarifverträge aushandeln
möchte, ist nicht neu. Hat diese sich doch immer mit niedrigeren
Abschlüssen abspeisen lassen.

Eine neue Waffe der DB ist jedoch das 2015 im Bundestag verabschiedete
Tarifeinheitsgesetz (TEG), das die DB seit Anfang 2021 erstmals zur
Anwendung bringt. Scheinheilig behauptet die DB, sie könne als
gesetzestreuer Arbeitgeber gar nicht anders, als das Tarifeinheitsgesetz
anzuwenden. Das ist reine Heuchelei. Natürlich erkennt die GDL das TEG
und seine faktischen Auswirkungen an. Doch so tendenziös, wie der
Arbeitgeber die Tarifeinheit gegen die GDL-Mitglieder richtet, ist deren
Anwendung nicht rechtens. Unter bewusster Falschauslegung der
TEG-Regelungen will sie die einzig kritische Gewerkschaft im
Eisenbahnmarkt vernichten. Das mutwillige und sachfalsche
Herunterrechnen der GDL-Betriebe im DB-Konzern auf 16 gegenüber 55
EVG-geführten Betrieben ist hierbei nur die Spitze des Eisbergs.

Frage 5:

*Mitte Juli brachte die Deutsche Bahn AG neu das Angebot – Scheinangebot
– ins Spiel, eine Absprache wie 2015 sei möglich, bei der das
Tarifeinheitsgesetz keine Anwendung findet. Auch der
Bundesverkehrsminister, Andreas Scheuer, äußerte am 8. August in der
„Welt am Sonntag“; „Gerade jetzt brauchen wir ein Miteinander“. Ist das
realistisch?*

Auch das läuft unter der Überschrift „Tricksen, Täuschen, Taschen
füllen“. Bereits im Februar 2021 haben wir mit DB-Personalvorstand
Martin Seiler die Frage einer trilateralen Vereinbarung ausgelotet. Die
EVG hatte gleich abgewunken. Trotzdem haben wir uns am 25. Februar über
mehrere Stunden die Bedingungen angehört, die uns die DB als
Tarifvertragspartei gestellt hat. Anschließend haben wir Herrn Seiler
eine klare Absage erteilt, denn ein Verzicht auf die Gestaltung der
Arbeitszeitbedingungen für das Zugpersonal und eine vertraglich fixierte
Abhängigkeit von der Zustimmung der EVG und beziehungsweise seitens der
DB AG ist gleichzusetzen mit der Abgabe unserer Tarifautonomie am
Garderobenhaken. Also war die Scheinofferte im Juli 2021 nichts anderes
als alter Wein in neuen Schläuchen. Dem Lügenbaron geht es in erster
Linie darum, in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild von uns zu
erzeugen, was ihm allerdings immer schlechter gelingt.

Wir haben schriftlich mitgeteilt, dass die TEG-Frage nicht Gegenstand
der Tarifauseinandersetzung ist. Hier geht es um mehr Einkommen und den
Schutz der Betriebsrente. Erst nachdem wir den Tarifkonflikt erfolgreich
bewältigt haben und der Kompromiss mit der DB in neuen Tarifverträgen
für alle systemrelevanten Berufe verankert wurde, ist der Zeitpunkt für
eine echte Tarifkollision gemäß TEG gekommen. Erst dann macht es Sinn,
nochmals auszuloten, ob trilateral – also in Form einer Vereinbarung
zwischen Arbeitgeber DB, der EVG und uns – überhaupt etwas geht. Bis
dahin haben wir hoffentlich auch eine gerichtsfeste Form der
Mehrheitsfeststellung in den einzelnen Betrieben. Dann wird sich zeigen,
wer in welchen der insgesamt 174 Betriebe im Eisenbahnsystem des
Bahnkonzerns in Deutschland die größere Anzahl an Mitgliedern hat. Dabei
zählen nur Fakten, keine Wunschvorstellungen der EVG oder der DB.

Frage 6:

*Die GDL kündigte Anfang 2021 an, bei der Gewinnung von Mitgliedern sich
nicht mehr nur auf die Bereiche Lokführer und das übrige fahrende
Personal wie Zugbegleiter und Gastrobeschäftigte zu beschränken. Was
sind die Gründe für diese Neuorientierung – und welche Ergebnisse gibt
es dabei bisher?*

Schon lange wollen auch Mitarbeiter in den Werkstätten und den
Stellwerken Mitglied bei uns werden, obwohl wir bis Herbst letzten
Jahres gesagt hatten, dass wir für sie keine Tarifverträge schließen
können. Jetzt ist der beste Zeitpunkt für eine Erweiterung unseres
Organisationsbereichs, denn das direkte Personal will sich nicht länger
mit Almosen abspeisen lassen, während sich die Führungskräfte die
Taschen vollstopfen. Und die 3.000 Neumitglieder, die seit dem
vergangenen Jahr zur GDL kamen, sind dafür die beste Bestätigung. Wenn
die DB eben nur mit einer Gewerkschaft im Betrieb den Tarifvertrag
schließen will, dann sollte das schon die GDL sein.

Frage 7:

*Die STREIKZEITUNG wird in erster Linie von Leuten gemacht, die
Mitglieder in DGB-Gewerkschaften sind. Ich bin beispielsweise seit
Jahrzehnten Mitglied in Verdi (früher ÖTV; dabei immer auch Mitglied im
VS). Gleichzeitig richten wir uns mit dieser Publikation besonders an
Aktive in den DGB-Gewerkschaften und werben für Solidarität mit der GDL.
Was ist da eure Botschaft*?

Gewerkschaftsmitglieder wollen, dass ihre Interessen zielgenau von einer
starken, unbestechlichen und erfolgreichen Gewerkschaft vertreten
werden. Das geht nur mit einem hohen Organisationsgrad und standhaften,
solidarischen Mitgliedern. Diese bekommt man nicht geschenkt. Wir müssen
unseren Mitgliedern jeden Tag aufs Neue zeigen, dass wir ihre Probleme
in der Arbeitswelt kennen, sie ernst nehmen und alles tun, damit sie
bessere Entgelt- und Arbeitsbedingungen bekommen. Das Wichtigste ist:
Wir schätzen unsere Mitglieder, erfassen ihre Probleme und Nöte, setzen
diese in Tarifforderungen um und drücken diese dann auch wirklich durch.
Das schätzen sie an uns. Im Übrigen haben die vorausgegangenen
erfolgreichen Kämpfe der GDL gezeigt, dass von diesen positiven
Auswirkungen auf den gesamten Bereich der lohnabhängig Beschäftigten
ausgingen. Insofern ist unser Kampf auch ein solcher, der allen
Bahnbeschäftigten und darüber hinaus allen gewerkschaftlich Aktiven
zugutekommt. Umgekehrt ist für uns die Solidarität, die uns aus anderen
Bereichen entgegengebracht wird, wichtig und hochwillkommen.

Quelle: Für die STREIKZEITUNG: Winfried Wolf





Vorsitzender der GDL Claus Weselsky. Foto: via GDL

Vom ganztägigen Warnstreik heute in Dortmund. Stellvertretende ver.di-Bundesvorsitzende Behle an die Arbeitgeber: „Jetzt seid ihr dran, uns eine anständige Vergütungserhöhung zu zahlen!“

Für den Donnerstag dieser Woche hatte die Gewerkschaft ver.di zu einem weiteren ganztägigen Warnstreik in Dortmund aufgerufen. Angesprochen waren die Beschäftigten der DSW21 (ÖPNV), der DEW21 und DoNetz, der EDG, der gesamten Stadtverwaltung (inkl. aller Eigenbetriebe und Fabido), der Sparkasse, des Jobcenters und der Agentur für Arbeit. Zudem waren Kollegen*innen aus Castrop-Rauxel, Lünen und Schwerte angekündigt, um an der Hauptkundgebung auf dem Südwall teilzunehmen. Die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes wollten noch einmal ihre Forderungen in der diesjährigen Tarifrunde bekräftigen. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA) hatte sich bislang kein Stück bewegt. Die dritte Runde der Verhandlungen ist für den 22./23. Oktober 2020 erneut in Potsdam angesetzt. Streikmaßnahmen, so kündigte die stellvertretenden ver.di – Bundesvorsitzende Christine Behle auf der Kundgebung in Dortmund an, sollen in Deutschland noch von Montag bis Mittwoch stattfinden. Fridays for Future bzw. das Bündnis „Dortmund vereint“ standen den Streikenden ein weiteres Mal solidarisch zur Seite.

Auf dem Südwall in Dortmund. Fotos: C. Stille

Warnstreik setzte deutliche Zeichen bezüglich der Forderungen der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes im Rahmen eines genehmigten Hygienekonzeptes

Mit Blick auf die Pandemieentwicklung in Dortmund und den umliegenden Städten und Kreisen wurden die verschiedenen Demonstrationszüge und die Abschlusskundgebung auf dem Südwall mit umfänglichen Abstandsmöglichkeiten organisiert. Das Tragen eines Mund-Nasenschutzes war obligatorisch. Das Hygienekonzept für diesen Tag war mit den Ordnungsbehörden der Stadt abgestimmt und genehmigt.

„Die Beschäftigten zeigen deutlich, dass sie auch in der aktuellen Krise bereit sind, sich für ihre Interessen einzusetzen. Trotzdem gehen wir die Warnstreiks maßvoll an und halten vorgeschriebene Sicherheitsmaßnahmen ein. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Zeitgleich gehen wir davon aus, dass sich die Maßnahmen in der nächsten Zeit noch weiter intensivieren werden“, hatte Gabriele Schmidt, Landesleiterin von ver.di NRW, im Vorfeld des ganztägigen Warnstreiktags in Dortmund erklärt. Geplant waren für den Vormittag drei Demonstrationszüge und fünf Fahrradkorsos quer durch die Stadt.

Dortmud Vereint stand einmal mehr solidarisch zu den Streikenden.

Michael Kötzing: Perfides Angebot der Arbeitgeber. Von Wertschätzung oder Dankbarkeit gegenüber den Leistungen vieler Kolleginnen und Kollegen in den letzten Monaten keine Spur

Michael Kötzing, Bezirksgeschäftsführer von ver.di Westfalen ergänzte: „Das Verhalten der öffentlichen Arbeitgeber ist perfide. ver.di hatte im Sommer angeboten die Tarifverhandlungen pandemiebedingt zu verschieben. Dieses Angebot haben die kommunalen Arbeitgeber (VKA) und der Bund abgelehnt, sie sehen sich während der Pandemie in der besseren Verhandlungsposition und setzen auf öffentliches und mediales Unverständnis. Anstatt dann in zwei Verhandlungsrunden ein Angebot vorzulegen, vergeuden sie Zeit und fordern stattdessen zahlreiche Sonderopfer der Beschäftigten. Von Wertschätzung oder Dankbarkeit gegenüber den Leistungen vieler Kolleginnen und Kollegen in den letzten Monaten keine Spur. Dieses Verhalten ist verantwortungslos. Verantwortungslos gegenüber den eigenen Beschäftigten und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Denn die Konsequenzen von Warnstreiks bekommen im öffentlichen Dienst nun mal immer die Bürger zu spüren und nicht die Verantwortlichen in der Politik selbst. Für uns sind die Warnstreiks daher weiter alternativlos, denn Tarifverhandlungen ohne das Druckmittel des Streiks sind nicht mehr als kollektives Betteln. Die Bevölkerung leidet damit nicht unter den Streikmaßnahmen von ver.di, sondern unter der Arroganz und Ignoranz der öffentlichen Arbeitgeber. Wir fordern die Arbeitgeber laut und deutlich auf, bewegt euch endlich! Die Beschäftigten werden nicht diese Krise bezahlen!“

Michael Kötzing.

Dritte Runde der Tarifverhandlungen am 22. und 23. Oktober dieses Jahres in Potsdam

Der Gewerkschaft ver.di fordert für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen eine moderaten Anhebung der Einkommen um 4,8 Prozent, mindestens aber 150 Euro pro Monat, bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Ausbildungsvergütungen und Praktikantenentgelte sollen um 100 Euro pro Monat angehoben werden. Erwartet wird zudem die Ost-West-Angleichung der Arbeitszeit. Die dritte Runde der Verhandlungen ist für den 22./23. Oktober 2020 erneut in Potsdam angesetzt. 

Leistungen besonderer Berufsgruppen im Öffentlichen Dienst Ehrennadel gewürdigt. Die Ausgezeichneten schritten über einen roten Teppich auf die Bühne

Die Bühne für die zentrale Kundgebung stand auf dem Südwall kurz vor der Einmündung der Kleppingstraße. Von der Bühne herab führte über eine Treppe ein langer roter Teppich hinunter auf den Südwall. Wenn die öffentlichen Arbeitgeber den eigenen Beschäftigten schon keine Wertschätzung entgegenbringen, dann tun wir das selbst. Wir werden auf dem Südwall die „Helden*innen“ der Pandemie ehren. „Stellvertretend für tausende von Kollegen*innen“, hatte sich ver.di nämlich gedacht, „werden wir die Leistungen besonderer Berufsgruppen im öffentlichen Dienst würdigen und auf einem roten Teppich – vor welchen sich die Kundgebungsteilnehmer*innen aufgestellt hatten – hervorheben. So wurden dann exemplarisch Mitarbeiter*innen aus verschiedenen Bereichen im Öffentlichen Dienst – auch aus den Krisenstäben – tätiger Menschen mit einer Ehrennadel bedacht und deren wichtige Arbeit gewürdigt. Viele von diesen Menschen, sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Behle später, hätten auch außerhalb von solchen Krisenzeiten ein ganz geringes gesellschaftliches Ansehen und müssten zudem noch mit einer unterdurchnittlichen Entlohnung zurechtkommen. Vorgesehen war, wie Martin Steinmetz sagte, auch eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter zu ehren. Die Polizei aber eine diesbezüglich Ehrung hatte mit Verweis auf deren Neutralitätspflicht dankend abgelehnt.

Martin Steinmetz bittet die Auszuzeichnende auf die Bühne.
Rettungsanitäter der Feuerwehr kommt zur Ehrung,
Kollegin aus dem Gesundheitswesen schreitet zur Ehrung über den roten Teppich,

Stellvertretenden ver.di-Vorsitzende Christine Behle nannte die Reaktionen der Arbeitgeber auf die berechtigten Forderungen „echt unverschämt“

Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle freute sich angesichts der erfreulichen Zahl der gekommenen Warnstreikteilnehmer*innen: „Auf Dortmund ist Verlass. Auch in der Pandemie.“

Behle räumte – wie das zuvor auch Michael Kötzing getan hatte – ein, dass der Streik in den ohnehin schon schwierigen Corona-Zeiten Menschen zusätzlich belaste. Aber man habe ja bei den Arbeitgebern schon rechtzeitig vorgefühlt, „ob man diese Verhandlungen nicht ins nächsten Jahr schieben könne“. Doch der Vorschlag, eine sogenannte „Corona-Prämie“ zu zahlen sei vom VKA mit der Begründung, das sei nicht bezahlbar in diesen Zeiten, abschlägig beschieden worden. Während Bundesinnenminister Horst Seehofer „mit einer ganz großen Selbstverständlichkeit eine Zustimmung signalisiert hatte“, sagte Christine Behle.

Christine Behle.

Die VKA habe gemeint, den Beschäftigten ginge es doch gut. Es gebe keinerlei Veranlassung eine Wertschätzung dieser Art, so die Arbeitgeber zynisch. Arbeitgeber trügen den „ach so sicheren Öffentlichen Dienst“ wie ein Gral vor sich her. Dabei hätte der mit den höchsten Grad an sachgrundloser Befristung unter den Arbeitsbereichen. Christine Behle dazu: „Das ist echt unverschämt gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen!“

Den kommunalen Arbeitgebern sei es vor allem um eines gegangen: „Sie sind schlicht davon ausgegangen, dass wir nicht in der Lage sind, unsere berechtigten Forderungen durchzusetzen. Und sie wollten diese schwierige Situation zu ihren Gunsten ausnutzen.“

Den Arbeitgebern rief die Gewerkschafterin zu: „Falsch gedacht! Wir sind auch in Corona-Zeiten handlungsfähig.“ In den letzten Wochen hätten fast 5000 Kolleg*innen aus allen Bereichen des Öffentlichen Dienstes in ganz Deutschland gestreikt. „Das Streikrecht gehört nämlich zu unseren Grundrechten. Und eine Pandemie, hat das „Handelsblatt“ noch kürzlich getitelt, darf keine gewerkschaftsreduzierte und arbeitsrechtlich verdünnte Zeit sein“, unterstrich Christine Behle.

Angleichung der Arbeitszeiten Ost an West muss erfolgen. Alles andere ist dreißig Jahre nach der Einheit inakzeptabel, befand Christine Behle

Als wichtige Forderung nannte Behle die Arbeitszeit Ost an West. Wer in den östlichen Bundesländern arbeite zahle nämlich drauf. Im Osten Deutschlands arbeite in der Regel sieben Arbeitstage bei einer 40-Stundenwoche mehr auf ein Jahr, die dort mehr gearbeitet würden als im Westen, wo 38,5 Stunden pro Woche gelten.

Im Laufe einer Berufstätigkeit summiere sich das. Christine Behle: „Das ist nicht nur ungerecht. Sondern dreißig Jahre nach der Einheit ist das inakzeptabel. Deshalb muss es jetzt zu einer Änderung kommen!“

Behle skandalisierte auch die schlechte Bezahlung im Gesundheitswesen und der Pflege. Für die Beschäftigen fordere man eine Zulage von 300 Euro.

Die Arbeitgeber seien auch „die Mitverursacher des Pflegenotstandes“ – was diese aber einfach ignorierten. Schließlich habe der Personalnotstand auch mit der unzureichenden Entlohnung zu tun.

Bis 2030 werden im Öffentlichen Dienst 100.000 Beschäftigte gebraucht. Jeder zweite geht in den nächsten Jahren in Rente

Christine Behle wies in ihrer Rede auf die prekären Zustände im öffentlichen Nahverkehr hin: „Seit zwanzig Jahren wird im Nahverkehr beim Personal gespart. Die Belastung ist. Zweistellige Krankenstände sind keine Seltenheit. Die Arbeitsverdichtung trifft die Beschäftigten in allen Bereichen. Der Personalabbau der letzten Jahre ist spürbar. Mit 49 Jahren ist das Durchschnittsalter in der Branche ungewöhnlich hoch. Grund dafür ist der langjährige Einstellungsstopp.“ Neue Leute zu finden sei ohnehin schwer, weil man es „unattraktiven Arbeitsbedingungen“ zu tun habe. Bei Bus- und Straßenbahnfahrer*innen seien im Jahr oft gerade einmal 15 Sonntage frei. Der Fahrplan sei oft so dicht gestrickt, dass kaum Zeit bleibe auf die Toilette zu gehen. Bis 2030 würden 100.000 Beschäftigte gebraucht. Jeder zweite Beschäftigte gehe in den nächsten Jahren in Rente.

Christine Behle: Streiken nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch für eine Verkehrswende

Noch immer verweigerten die Arbeitgeber einen Bundesrahmenvertrag. Man streike, so Behle, nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch für eine Verkehrswende. Nächste Woche Donnerstag und Freitag, informierte die stellvertretende ver.di-Bundesvorsitzende, gehe es in die finale Verhandlungsrunde im Öffentlichen Dienst. Man erwarte für den Freitag nächster Woche noch ein Angebot der Arbeitgeber. Wahrscheinlich dürfte es ein Angebot mit einer Laufzeit von 36 Monaten und einer Einmalzahlung für 2020 sein. Von Montag bis Mittwoch nächster Woche sollten „noch mal alle gemeinsam Gas geben“, um den Arbeitgebern noch einmal deutlich die Entschlossenheit der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes zu zeigen, ein vernünftiges Ergebnis zu erkämpfen.

Christine Behle.

Die Botschaft an die Arbeitgeber: „Jetzt seid ihr dran, uns eine anständige Vergütungserhöhung zu zahlen!“

Bevor Michael Kötzing die Kundgebung beendete, wiederholte er noch einmal, was er schon vor einer Woche im Betriebshof formuliert hatte. Nämlich was die vier Buchstaben ÖPNV ihn bedeuten: „Öffentliches Personal Nicht Verarschen.“ Werde nächste Woche seitens der Arbeitgeber abermals die rote Linie gerissen, was die Wertschätzung der Kolleg*innen angehe, dann werde sich das, was an diesem Donnerstag stattgefunden nochmals wiederholen, postulierte Kötzing.

Alle Informationen dazu gibt es hier: https://unverzichtbar.verdi.de/

Paukenschlag vor 50 Jahren im Dortmunder Norden: Die Septemberstreiks 1969 kamen von unten ohne Beteiligung der Gewerkschaften. Zeitzeuge Werner Nass berichtete

Von links: Dr. Wilfried Kruse, Wiltrud Lichte-Spanger und Werner Nass. Foto: C. Stille

„Ein Paukenschlag ging vor 50 Jahren durch den Dortmunder Norden, der ganz Deutschland bewegte“, so Wiltrud Lichte-Spanger, die Vorsitzende des Evinger Geschichtsvereins. Spontane Streiks, ohne Unterstützung durch Gewerkschaften oder Parteien, begannen im September 1969 auf der Westfalenhütte, setzten sich über die Zentralwerkstatt der Zeche Fürst Hardenberg auf die Dortmunder Schachtanlagen und die Dortmunder Stadtwerke fort. Auch Betriebsräte hielten sich zurück, verschlossen sich in ihren Büros. Erfolge hefteten sie sich später an die Brust. Bald breitete sich die Streikwelle, der „Heiße Herbst 69“ über ganz Deutschland aus – Geschichte, die heute noch aktuell ist. Am Montagabend war dies Thema bei einer Veranstaltung des Evinger Geschichtsvereins. Als Zeitzeuge berichtete Werner Nass, später einer der einflussreichsten Betriebsräte in der Stahlindustrie, wie er den Streik erlebte.

Zur Situation im September 1969

Wiltrud Lichte-Spanger erinnerte an die Geschichte vor den Streiks. Zuvor hatte es nach dem Krieg in Westdeutschland die Aufbaujahre auch im Ruhrgebiet gegeben. Dann jedoch sei die erste Wirtschaftskrise 1966 eingetreten. Später sei eine Erholung erfolgt. Die Studentenbewegung stellte alles in Frage, was die Zeit des 2. Weltkriegs überlebt hatte. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms waren Gewerkschaften, wie sie meinten, durch die Friedenspflicht an langfristig abgeschlossene, niedrige Tarifverträge gebunden, während die Hoesch-Konzernleitung den Aktionären eine drastische Erhöhung der Dividenden ankündigte, sahen die Arbeiter weiter in die Röhre.

1969 sei dann die Forderung aufgestellt worden den Stahlarbeiter zwanzig Pfennig mehr pro Arbeitsstunde zu zahlen. Das wurde von den Verwaltungen brüsk angelehnt.

Wilfried Kruse: In den Jahren 1969 und folgende ging mit der Nachkriegszeit die Adenauer-Zeit zu Ende, die „grauenvoll war“

Dr. Wilfried Kruse, ehemals Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund, gab den ZuhörerInnen einleitend einen Einblick in die „lange Vorgeschichte“ der Streiks. Wenn bezüglich der Septemberstreiks von 1969 von spontanen Streiks geredet werde, so Kruse, entstehe der Eindruck, sie seinen „plötzlich und aus heiteren Himmel“ gekommen. Was nicht der Fall gewesen sei. Es stimme weder gesellschaftlich noch betrieblich. Kruse sagte, er habe eigentlich ein kurzes Video aus der Deutschen Schlagerparade 1969 zeigen wollen. Dies war aber an technischen Problemen gescheitert. Der Titel der Veranstaltung lautete ja „September 1969: Als die heile Welt zerbrach“. Deshalb der Blick auf die Schlager jener Zeit: denn die heile Welt ging ja auch 1969 noch weiter, wusste Kruse. Zwar habe es Elvis und Woodstock in den USA und die Beatles in Großbritannien gegeben – in der BRD aber hatte ein Schlagerstar den größten Erfolg überhaupt im Lande. Das sei Heintje gewesen, der Inbegriff von heiler Welt, mit „Heidschi Bumbeidschi“ Anfang 1969 der größte Hit.

Er erzähle das, erklärte Kruse, weil wir uns davor hüten müssten, Schwarz-Weiß-Bilder zu erzeugen.

Es habe nämlich immer Widersprüche und Spannungen gegeben.

In den Jahren 1969 und folgende gehe es um das Ende der Nachkriegszeit. Präziser gesagt: „Das der Adenauer-Zeit.“ Eine Zeit in der es eine Kombination gegeben habe aus einem in den 1950er Jahren beginnenden sogenannten „Wirtschaftswunder“ (Sinnbild dafür war Ludwig Erhard mit der Zigarre im Mund) und gleichzeitig eine äußerst konservative Grundhaltung. Einerseits es sei eine Zeit voller Optimismus – nach dem Krieg ging es endlich wieder aufwärts – gewesen, die andererseits jedoch, was die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffe, „grauenvoll war“.

Der Faschismus war beschwiegen worden

Nach 1945 sei der Faschismus eigentlich nicht zum Thema gemacht, sondern verdrängt und beschwiegen worden. Weshalb Dr. Kruse den Beginn des Endes der Nachkriegszeit nicht bei den 69er Streiks, sondern beim Auschwitz-Prozess (1963-1965) verortet.

Mit Willy Brandt kam ein Politik- und Moralwandel

Als wichtiges Datum nannte Wilfried Kruse 1966. Da sei nämlich die erste Garde der westdeutschen Politiker aus den 1950er Jahre abgelöst worden. Es kam zur ersten Großen Koalition. Der Sozialdemokrat Willy Brandt (im Widerstand gegen die Nazis tätig gewesen) wurde in der Bundesregierung des Christdemokraten Kurt-Georg Kiesinger (einem Nazitäter) Vizekanzler. Willy Brandts Credo: „Mehr Demokratie wagen“. Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 – wenige Tage nach dem Septemberstreik – bekam die SPD knapp 42 (!) Prozent der Stimmen. Willy Brandt wurde Bundeskanzler der sozial-liberalen Koalition (mit der FDP). Es habe ein Kultur- und Moralwandel begonnen und ein verändertes Frauenbild gegeben. Was Willy Brandts Politikwandel ermöglichte.

Für den jungen Gewerkschafter Werner Nass war diese Zeit „ein Hammer“

Nachdem Dr. Wilfried Kruse zum besseren Verstehen den entsprechende gesellschaftlichen Hintergrund jener Zeit nachgezeichnet hatte, sprach Zeitzeuge Werner Nass darüber wie es zu den Septemberstreiks gekommen war. Er selbst erlebte sie als junger Vertrauensmann „im dritten und vierten Glied“. Diese Zeit, sagte Nass, sei damals „ein Hammer für einen jungen Gewerkschafter“ gewesen.

An diesem 2. September 1969 habe er zufällig Frühschicht im Walzberg als Schweißer gehabt: „Um neun Uhr ging das dann rund.“

Die Konjunktur brummte: Für Aktionäre hohe Dividenden. „Die Malocher sollten außen vor bleiben“

Mehrere Faktoren wären damals zusammengekommen. 1969 sei genauso ein heißer Sommer wie 2018 gewesen. Da habe der Vorstand gesagt, man müsse den Kollegen an den Hochöfen etc. wenigstens eine Flasche Wasser geben. Das Unternehmen habe horrende Gewinne gemacht, die Konjunktur war enorm nach oben gegangen. Die Aktionäre sollten höhere Dividenden bekommen. Nass: „Aber der Malocher sollte außen vor bleiben.“

Dann spielte die IG-Metall eine Rolle. Was vor fünfzig Jahren so war und heute noch so ist. Die Perspektive sei, stets Tarifverträge für 12 Monate abzuschließen. Was ganz selten eingehalten worden sei und längere Laufzeiten vereinbart wurden. 1969 brummte also die Konjunktur und der Tarifvertrag lief noch bis zum 1. Dezember dieses Jahres. Einen neuen Tarifvertrag zu verhandeln war nicht möglich. Die IG Metall habe gesagt: Uns sind die Hände gebunden.

Zwischen den drei Stahlstandorten in Dortmund habe es seinerzeit Stundenlöhne zwischen 5,30 DM und 5,40 DM gegeben, während in der Weiterverarbeitung die Löhne höher gewesen seien.

Die Vorstände lehnten die Forderungen des Betriebsrats ab

Die Betriebsratsvorsitzenden gingen damals daran am 15. August 1969 Forderungen zu stellen, die Tarifverhandlungen vorzuziehen und der Arbeitslohn pro Stunde sollte um 20 Pfennig rückwirkend steigen.

Die Betriebsdirektoren äußerten Verständnis. Die Vorstände aber lehnten ab. Die Vorstände von Union und Phoenix waren bereit am 1. Dezember 1969 fünfzehn Pfennige draufzulegen. Der Betriebsrat der Westfalenhütte lehnte einstimmig dieses Angebot ab. Man wollte 20 Pfennig mehr, sofort.

Um den Forderungen Ausdruck zu verleihen, sollten 100 Arbeiter auf die Treppe zur Hauptverwaltung kommen – doch schon bald waren es 1000 und dann fast 3000!

Der damalige Betriebsrat Albert Pfeifer habe dann im Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden der Vertrauenskörperleitung Fritz Wäscher gebeten,

Treppe zur Hoesch-Verwaltung in späteren Jahren. Foto: via Geschichtsverein Eving.

dass dieser 100 Kollegen bitte, auf die Treppe zur Hauptverwaltung zu kommen. Nun rumorte es überall in den Betrieben. Einige Vertrauensleute im Bereich des Hochofens wollten es aber nicht bei der Zahl von 100 Kollegen belassen. Sie wollten die Kaffeepause um 9 Uhr nutzen, um mit mehr Leuten zur Hauptverwaltung zu kommen. Werner Nass: „Man ist gestartet und wusste nicht wo man landet.“

Auf einmal waren 1000 Menschen vor der Hauptverwaltung. Der Betriebsrat begannt mit dem Vorstand Gespräche zu führen. Der Vorstand sagte 20 Pfennig mehr zu. Doch zwischenzeitlich war die gesamte Frühschicht – vielleicht fast 3000 Arbeiter an der Treppe. Bevor das Ergebnis von 20 Pfennig mehr bekannt wurde, wurde die Losung herausgegeben: 30 Pfennig mehr. Die Sache schaukelte sich hoch. All das kam von der Basis. Die IG Metall, so Nass, und der Betriebsrat waren außen vor. Der Betriebsrat lehnte ab weitere Gespräche zu führen. Nun forderte man – wenn heute nicht 30 Pfennig beschlossen würden – fordere man 50 Pfennige. Eine Strohpuppe wurde symbolisch an der Hoesch-Hauptverwaltung aufgehangen.

Was wiederum dazu führte, dass die bürgerliche Presse – etwa die FAZ und die Bildzeitung – schrieben, die Frau des Vorstandsvorsitzenden Fritz Harders hätte sich auf ihrem Grundstück in Ergste mit der Pistole verteidigen müssen gegen diese schlimmen Stahlarbeiter. Diese seien von Kommunisten oder was auch immer ferngesteuert. Nass: „Alles erlogen.“ Er machte deutlich, an diesem 2. und 3. September 1969 habe es keinerlei parteipolitischen Aktivitäten gegeben. „Es waren die normale Kumpel, die Vertrauensleute, die aus eigenem Antrieb handelten.

Solidarität von den anderen Werken in Dortmund: 20 000 Menschen trafen sich am Wall!

All dies habe sich mittags am 2. September abgespielt. Studenten hätten versucht die Macht zu übernehmen. Die Stahlarbeiter rochen jedoch Lunte und ließen sich nicht missbrauchen.

Die Westfalenhütte stand alleine da. Die beiden anderen Werke in Dortmund sollten davon abgehalten werden sich zu solidarisieren. Die Mittagsschicht der Westfalenhütte führte den Streik weiter. Bei Union und bei Phoenix ließ nun ebenfalls die Nachtschicht die Arbeit ruhen. Der Betriebsrat forderte die Arbeiter auf die Arbeit wieder aufzunehmen

. „Ein ganz gefährliche Sache“, merkte Werner Nass an: „Uneinigkeit auf der Arbeitnehmerseite.“ Der Vorstand war dennoch nicht bereit zu verhandeln. Man glaubte – auch weil die IG Metall außen vor – die Sache liefe sich tot.

Am Hoesch-Museum. Foto: Stille

Am zweiten Tag des Streiks, dem 3. September, kam von den beiden anderen Werken in Dortmund das Signal an die Arbeiter der Westfalenhütte: Wir kommen zu euch.

Die Arbeiter von der Westfalenhütten kamen ihnen entgegen. Werner Nass: „Dieses Bild habe ich immer noch im Kopf. Das war der erste Kampf mit zwanzigtausend, die sich in der Stadt getroffen haben. Da war auch der kleine Krämer dabei, der ja auch Sorgen hatte, wenn das schief geht.“

Zwanzigtausend Menschen trafen sich am Wall.

„Es war eine Stimmung, getragen von der Kraft, die von unten kam“, erinnerte sich Nass. Doch keiner habe gewusst wie und wo es enden werde.

Sieg! „So ein Tag so wunderschön wie heute“

Gegen elf Uhr an diesem Tag war der Vorstand wieder bereit, die Verhandlungen aufzunehmen.

Wohl um zwanzig vor eins sei es gewesen, das Vorstand und Betriebsräte verkündet habe, die 30 Pfennig werden bezahlt, die Ausfallzeiten vergütet und es wird in keiner Form Abmahnungen geben.

Nass: „Unterm Strich ein unglaublicher Erfolg. Praktisch gegen die Gewerkschaft. Der Betriebsrat war stellenweise außen vor.“ Zum Schluss sei das Lied „So ein Tag so wunderschön wie heute.“ Noch am selben Tag wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Für ihn als junger Gewerkschafter, sagte Werner Nass, sei das ein Schlüsselerlebnis gewesen.

Er gab auch zu bedenken, dass man nach diesem unglaublichen Erfolg in nachfolgenden Arbeitskämpfen auch habe Niederlagen einstecken müssen. Erfolge setzten sich nicht einfach fort.

Werner Nass gab darüber hinaus zu bedenken, wenn man in einen Streik gehe, muss man auch sehen, wo eine Tür ist wo man wieder zurückkann. Auf der Gewerkschaftsschule habe man gelernt quer zu denken. Und entsprechendes Rüstzeug dafür erhalten, das Wirtschaftssystem zu begreifen. Mit den 69er Tagen habe ein neues Denken eingesetzt.

Die Septemberstreiks waren eine Initialzündung

Dr. Wilfried Kruse schätzte ein, dass der Septemberstreik auf der Westfalenhütte eine Initialzündung war, der fast die gesamte westdeutsche Stahlindustrie und 150 000 Stahlarbeiter erfasste. 30 000 Beschäftigte hatte sich in Dortmund am Septemberstreik in der Stahlindustrie und bis zu achttausend im Bergbau beteiligt.

Der Streik im Bergbau war ein Misserfolg

Im Bergbau indes sei die Streiksituation anders und viel schwieriger gewesen, erklärte Wilfried Kruse. Dort sei es um Arbeitskleidung und mehr Urlaub

Eingang ehemalige Zeche Minister Stein. Foto: via Geschichtsverein Eving.

gegangen. Die Vorstände im Bergbau hätten Verhandlungen abgelehnt. Die IG Bergbau und Energie war nicht nur wie im Stahlbereich die IG Metall außen vor, überrumpelt und nicht handlungsfähig, sondern massiv gegen diesen Streik eingestellt gewesen. Streikführer im Bergbau wurden von ihrer Gewerkschaft hart angegriffen.

Der Streik im Bergbau brach aus diesen Gründen zusammen und war ein Misserfolg.

Wolfgang Skorvanek sieht bei allen Unterschiedlichkeiten Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks und der Klimaschutzbewegung

In der Einladung zur Veranstaltung war vermerkt: „Bei allen Unterschiedlichkeiten meint Wolfgang Skorvanek, ebenfalls stellvertretender Vorsitzender des Evinger Geschichtsvereins, gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks von 1969 und der heutigen Klimaschutzbewegung um Greta Thunberg. Skorvanek: „Damals wie heute entstand eine spontane Aktion junger Menschen, die ohne Rücksicht auf Sanktionen neue Ansprüche formulierten, bevor sie von Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften zunächst erkannt wurden.“

Fazit von Dr. Kruse

„Die Septemberstreiks waren der Höhepunkt, wo Arbeiter sichtbar wurden, aber gleichzeitig der Beginn vom Ende des Malochers. Des Malochers als schwer arbeitenden Bergarbeiter oder Stahlarbeiter.“

So könne man die Septemberstreiks als Höhepunkt und Abgesang des Malochers markieren.

Ein Kurzfilm zum Septemberstreik:

Tom Wellbrock führte für #neulandrebellen ein Interview mit dem GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky

Was bewirken Streiks heutzutage? Große Gewerkschaften - hier ver.di - holen aller zwei Jahre gerade mal einen Inflationsausgleich für ihre Mitglieder heraus. Foto: Claus Stille

Was bewirken Streiks heutzutage? Große Gewerkschaften – hier ver.di – holen aller zwei Jahre gerade mal einen Inflationsausgleich für ihre Mitglieder heraus. Foto: Claus Stille

Wir alle dürften uns noch an den Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer im Herbst 2014 erinnern. Vielleicht unmittelbar als davon Betroffene Fahrgäste der Eisenbahn. Oder als interessierte Bürgerinnen und Bürger. Hoch her ging es damals. Und die Medien spielten seinerzeit nicht gerade eine positive Rolle. Voreingenommen und schon gar nicht neutral berichteten die meisten über den Tarifkonflikt der GDL mit der Deutschen Bahn AG. Für den Spiegel durfte eine Journalistin namens Yasmin El-Sharif einen Beitrag verfassen, welchem die Redaktion des Nachrichtenmagazins die Überschrift „Deutschlands dümmste Gewerkschaft“ verpasst hatte. Der Untertitel war nicht weniger abwertend: „Die Lokführer schmettern das neue Tarifangebot der Deutschen Bahn ab – sie wollen lieber streiken. Das ist ihr gutes Recht. Dumm nur, dass sie damit ihre eigene Entmachtung betreiben“. Für die konservative FAZ verstieg sich Corinna Budras am 10.10.2014 völlig: „Stoppt diesen Mann! Claus Weselsky ist Chef der Lokführer-Gewerkschaft. Das ist ihm zu wenig. Nur deshalb legt er Deutschland lahm. Ein Wutausbruch“. Irre!

Um die Forderungen der GDL zu diffamieren, schreckten Medien nicht vor übelster Stimmungsmache gegen deren Vorsitzenden Claus Weselsky zurück

Um was es der GDL im Herbst 2014 gegangen ist, ist auf deren Website nachzulesen. Einig der Gewerkschaftsforderungen konnten die Mainstream-Medien letztlich zwar nicht völlig von der Hand weisen. Dennoch wurde kaum etwas unterlassen, um den Streik in der Öffentlichkeit zu diffamieren. Wohl wissend, die zunehmend verärgerten, vom Streik Betroffenen Fahrgäste hinter sich zu wähnen. Breitseite auf Breitseite wurde auf Claus Weselsky, den Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) abgefeuert. Nicht selten ist gar der Eindruck erweckt worden, Weselsky führe eine Art Privatkrieg gegen die Deutschen Bahn AG. Fein ging es da nicht zu. Eher übelst und auf die widerlichste Art. Weselsky wurde in ein Licht gerückt, das ihn als Egomanen – wenn nicht sogar als eine Art Psychopath erscheinen ließ. Nicht einmal vor der Privatsphäre des Gewerkschaftsvorsitzenden und der seiner Verwandtschaft wurde haltgemacht. Erinnern wir uns? Selbst im Bekanntenkreis verfing nicht selten die Medien- und Politikerhetze gegen den Vormann der GDL. Kaum jemand stellte sich in diesem heißen Herbst die Frage, warum es denn die GDL-Mitglieder zulassen sollten, dass Weselsky „seinen“ Privatkrieg – wie es manche Medien darstellten gegen die DB AG führt, um sich angeblich selbst zu profilieren. Zumal ja zum Vorstand der GDL noch mehr Personen gehörten. Aber das zählte eben nicht.

Fakt ist: Mit dem Streik der GDL im Herbst 2014 lösten Claus Weselsky und die GDL heftige Debatten aus

Es bot sich an, endlich einmal tiefer in Sachen GDL und Claus Weselsky, noch immer deren Vorsitzender, zu loten.

Telefoninterview mit Claus Weselsky

Für die #neulandrebellen führte Tom Wellbrock „zwischen einer kurzen Nacht und der nächsten Schlichtungsrunde“ ein Interview mit Claus Weselsky. Ich kann allen Gewerkschaftsmitgliedern und auch sonst allen interessierten Menschen nur empfehlen, anzuhören, was Claus Weselsky zu

https://soundcloud.com/user-894023152/interview-mit-claus-weselsky-vom-februar-2017

sagen hat. Vielleicht wird da auch wieder einigen Menschen klar, welchen Sinn und Zweck Gewerkschaften in der Gesellschaft erfüllen bzw. einmal erfüllt haben. Und was sie einst und deren Mitglieder – nicht selten gar blutig und unter Verlust des eigenen Lebens – für mehr Gerechtigkeit in der Arbeitswelt und damit für die Gesellschaft leisteten. Und eigentlich heute wieder leisten müssen, um zu verhindern, dass das Erreichte nicht wieder zurückgedreht wird (was ja in der Tat geschieht und weiter versucht wird zu tun) und erhalten bleibt. Und da leisten gerade Einzelgewerkschaften wie die GDL nicht wenig. Und zwar im ureigensten Sinne ihrer Mitglieder! Vor allem wenn wir dagegen bedenken, wie Großgewerkschaften regelmäßig nur alle zwei Jahre gerade mal um die zwei Prozent mehr Geld (knapp ein Inflationsausgleich) „herausholen“. Diese Einzel- und Kleinstgewerkschaften sind bestimmten Politikern und Unternehmensvertretern ein Dorn im Auge. Weil sie oft großen Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben imstande sind. Weshalb mit dem Tarifeinheitsgesetz die Existenz von Gewerkschaften infrage gestellt werden soll. Die Notwendigkeit von Gewerkschaften sollten wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft gerückt werden. Momentan sind (Stand 2016) nur noch um die 15 Prozent der Arbeitnehmerschaft in Gewerkschaften organisiert (hier). Das ist bitter.

Onlineplattform LabourNet Germany benötigt Solidarität und finanzielle Förderung

LabourNet informiert auch über Arbeitskämpfe. Foto: Claus Stille

LabourNet informiert auch über Arbeitskämpfe. Foto: Claus Stille

Laut Selbstdarstellung der Onlineplattform LabourNet Germany handelt es dabei um einen „Treffpunkt für Ungehorsame mit und ohne Job“. Gestern nun meldete „neues deutschland“, dass dringend Solidarität und Unterstützung finanzieller Natur benötige.

Und schreibt dazu: „Es gibt auch LabourNets in sieben anderen Ländern, beispielsweise in den USA und der Türkei. Parteiunabhängigkeit gehört ebenso zu den Grundsätzen der weltweiten Bewegung wie ihr Gewerkschaftspluralismus. Auf der deutschen Plattform finden sich Texte von DGB-Gewerkschaften, aber auch von Basis- und Branchengewerkschaften. Mittlerweile bietet die Plattform LabourNet Germany über 50 000 Dateien, die täglich aktualisiert werden.“ Weiter informiert das „nd“ über die wichtige Arbeit von LabourNet: „Aber auch eigene politische Interventionen werden entwickelt und verbreitet. Aktuell bekommt die von LabourNet Germany initiierte Kampagne für die Kündigung der Tarifverträge von DGB-Gewerkschaften in der Leiharbeitsbranche unter dem Motto ‚Niedriglohn per Tarifvertrag? Schluss damit‘ viel Aufmerksamkeit.“ Nicht selten stoßen die drei Mitarbeiter an ihre Grenzen. Eigentlich müsste diese Arbeit hauptamtlich erledigt werden. Für LabourNet Germany arbeiten hoch engagiert Mag Wompel (Journalistin und Industriesoziologin
CvD, Bereich Politik / Branchen), Helmut Weiss (Übersetzer Bereich Internationales) und Susanne Rohland (Redakteurin und Webmasterin Bereich Interventionen).

Wer ist LabourNet Germany? (via LabourNet)

Nein, hinter dem LabourNet Germany steckt kein Büro voller hauptamtlicher MitarbeiterInnen, wie es viele glauben! Redaktion, das sind wir, die diese Arbeit machen und auf Spenden und Förderung (in finanzieller Hinsicht) sowie auf Zusendungen und Hinweise (in redaktioneller Hinsicht) angewiesen sind…

LabourNet Germany ist der Treffpunkt der gewerkschaftlichen Linken mit und ohne Job im weitesten Sinne – und hierbei der Ungehorsamen. Wir sind Teil jener weltweiten Labournet-Initiativen, die die positiven Seiten der neuen Technologien für emanzipative Bestrebungen nutzen – in unserem Fall Schnelligkeit, Umfang und Kontinuität von gesellschaftlicher Information, Diskussion und Aktion ermöglichen.

Unser Themenspektrum: Die Wirklichkeit der Arbeitswelt und der Gesellschaft – und die Versuche, beide zu verändern. Debatten und Aktionen innerhalb und ausserhalb der Gewerkschaften, Arbeitskämpfe, betrieblicher und sozialer Aktivitäten. Aber: Gegeninformation ist nicht der einzige Zweck von Labournet – wir arbeiten dafür, dass Menschen sich einmischen, dass solche Bestrebungen bekannt werden, sich gegenseitig vernetzen und unterstützen können. Wir organisieren selbst Solidarität und Aktionen, sei es in Groß- oder Kleinbetrieben, mit Erwerbslosen oder MigrantInnen in Billigjobs. D. h., wir verstehen uns als den breiten Zielen der globalen Gewerkschafts- und Sozial-Bewegung verpflichtet.

LabourNet Germany ist bewusst nicht unparteiisch, aber parteiunabhängig und gewerkschaftsübergreifend.

Mit rund 200 (fast) täglichen Updates im Jahr, mehr als 50.000 Dateien (mit eigener Suchoption) und mehr als 300.000 monatlichen BesucherInnen sowie über 2.300 AbonnentInnen des Newsletters werden wir, was wir sein wollen: “Ein Haus der tausend Türen” für alle progressiven Bestrebungen. Wir ersetzen keine Tageszeitung – keine Tageszeitung ersetzt uns. Wir leben von der Mitarbeit all jener rund um den Globus, die uns Material, Informationen, Stellungnahmen, Aufrufe und Berichte zusenden. Wir hoffen stets auf LeserInnen, die sich als MitarbeiterInnen begreifen!

LabourNet unterstützen und fördern

LabourNet Germany ist eine der Aktivitäten des labournet.de e.V. und dessen politischer Bildungsarbeit – neben Vorträgen, Workshops und anderen Publikationen. labournet.de e.V. Siehe dazu: Verein und Unterstützung – werde Fördermitglied des gemeinnützigen Labournet.de e.V.! Es gibt übrigens auch LabourNet TV.

LabourNet kooperiert im Rahmen des so wichtigen Projektes „Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm“ mit dem pad-Verlag Bergkamen.

Öffentlicher Dienst: In Dortmund warnstreikten heute 8000 ver.di-GewerkschafterInnen, weil sie es wert sind

8000 GewerkschafterInnen marschierten heute zum Dortmunder Friedensplatz, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen; Fotos: C.-D. Stille

8000 GewerkschafterInnen marschierten heute zum Dortmunder Friedensplatz, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen; Fotos: C.-D. Stille

Heute morgen gingen in Dortmund zirka 8000 GewerkschafterInnen aus der Ruhrgebietsmetropole, sowie aus den ver.di-Bezirken Siegen/Olpe, Südwestfalen und des ver.di-Bezirks Lünen, Unna und aus Castrop-Rauxel auf die Straße, um ihren Forderungen in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes 2016 kräftig Ausdruck zu verleihen. Hintergrund des ver.di-Warnstreiks: Die Arbeitgeber hatten ein völlig inakzeptables Angebot auf den Tisch gelegt. In mehreren Demonstrationszügen marschierten die GewerkschafterInnen bei kaltem Wetter, wobei sich Nieselregen Hagelschauer und Sonnenschein abwechselten, zum Friedensplatz vor das Dortmunder Rathaus. Vornweg des vom Remydamm kommenden Demozuges fuhr ein Wagens, worauf die ver.di-Jugend, musikalisch ordentlich einheizend, Stimmung zu machen verstand.

Christine Behle (ver.di) zur derzeitigen Situation

Christine Behle, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes sprach zu den auf dem Friedensplatz Versammelten. Sie legte noch einmal dar, dass man in

Christine Behle vom ver.di-Bundesvorstand.

Christine Behle vom ver.di-Bundesvorstand.

diese Tarifrunde mit einer Vergütungsforderung in Höhe von 6 Prozent gegangen war. Hundert Euro mehr sollten die Auszubildenden bekommen. Wie erwartbar gewesen sei, so Behle, hätten die Arbeitgeber diese Forderung sogleich abgewehrt. Der Verhandlungsführer für den Bund, Innenminister Thomas de Maizére, habe die Gewerkschaft bereits im Vorfeld zur Mäßigung aufgerufen. „Thomas Böhle, Verhandlungsführer für die Kommunen, nennt unsere Forderung maßlos und überzogen vor den Hintergrund der finanziellen Spielräume der Kommunen“, berichtete Christine Behle.

Öffentlicher Dienst betreffs Reallohnentwicklung abgehängt

Das ver.di-Vorstandsmitglied sieht das anders. Sie sprach auf die Reallohnentwicklung an. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes seien in den letzten zwanzig Jahren regelrecht abgehängt worden. Um die Inflationsrate bereinigt, hätten die Reallöhne lange Zeit stagniert. Ein leichter Anstieg sei nur durch die guten Abschlüsse in der letzten Lohnrunde und die Einführung des Mindestlohnes zu verzeichnen. „Ganz anders die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen. Die sind nämlich im gleichen Zeitraum um rund dreißig Prozent gestiegen. Deutschland ist so reich wie nie zuvor.“

Zehn Prozent unserer Bevölkerung verfügt über zwei Drittel des Vermögens

Das gesamte Vermögen der privaten Haushalte belaufe sich auf etwa 9 Billionen Euro. Statistisch gesehen müsse jeder von uns über hunderttausend Euro auf der hohen Kante haben.

In Wirklichkeit jedoch liege das Vermögen nur in den Händen weniger Menschen. Zehn Prozent unserer Bevölkerung verfügt über zwei Drittel des Vermögens. Die Hälfte der Bevölkerung hat fast gar nichts. Christine Behle verdeutlichte das Auseinanderlaufen der Einkommen: „2012 bekamen die Vorstandsvorsitzenden der börsennotierten Unternehmen im Schnitt 5,3 Millionen Euro ausgezahlt.“ „Jetzt“, so Behle, „sind wir mal dran mit deutlichen Einkommenssteigerungen!“

Damit die Arbeit überhaupt noch funktioniert, arbeiten viele KollegInnen über ihre Grenzen hinaus.

Allein um keinen Reallohnverlust zu haben, sei ein Plus von 4 Prozent erforderlich. Die momentane Forderung von sechs Prozent mehr Lohn und

Die Jugend ist wütend.

Die Jugend ist wütend.

hundert Euro für die Auszubildenden bezeichnete Behle als „absolut berechtigt“. Seit Jahren finde im öffentlichen Dienst ein Personalabbau statt. Seit 1991 seien rund 33 Prozent der Stellen abgebaut worden. Bei den Kommunen sogar 38 Prozent. „Damit die Arbeit überhaupt noch funktioniert, arbeiten viele KollegInnen über ihre Grenzen hinaus. Immer mehr zusätzliche Aufgaben müssen von immer weniger KollegInnen erfüllt werden. Ein Mangel an Fachkräften sei zu verzeichnen. Überdies gebe es eine Überalterung. „Fast jeder fünfte Beschäftigte im öffentlichen Dienst wird im kommunalen Bereich in den kommenden Jahren ausscheiden.“

Leistungskürzungen in der betrieblichen Altersversorgung sind mit uns nicht zu machen

Vehement wies Behle die Forderung der öffentlichen Arbeitgeber nach Einschnitten ins Leistungsrecht der betrieblichen Altersversorgung zurück. „Wenn man wisse, dass Deutschland in eine tiefe Rentenkrise zusteuert“ und Vielen Altersarmut drohe, „wir wissen, dass aufgrund politischer Fehlentscheidungen das Rentenniveau schrittweise bis auf 43 Prozent abgesenkt wird und aktuell nur noch bei 47,5 Prozent liegt, „dann werden wir zu keinem Zeitpunkt und unter keinen Umständen einer Forderung nach Leistungskürzungen in der betriebliche Altersversorgung nachkommen: das ist mit uns nicht zu machen!“

Die von den Arbeitergebern angebotene Dreiprozenterhöhung – eine Farce

Das nach ihren Worten „faire Angebot“ der Arbeitgeber schaut so aus: Sie hätten drei Prozent mehr geboten. Dies habe ver.di-Verhandlungsführer Frank Bsirske als „ein Akt der Missachtung, ein Akt der Geringschätzung und ein Akt der Ignoranz der Leistungen des öffentlichen Dienstes“ bezeichnet. Näher angeschaut, bedeute das Angebot, ab März drei Null-Monate, ab 1. Juni soll dann das Tabellenentgelt um ein Prozent erhöht werden. Für 2016 mache das eine Erhöhung von 0,6 Prozent! Das Gleiche soll für 2017 gelten. Auch hier soll es die angebotenen 2 Prozent erst ab 1. Juni geben. So, dass das Angebot tatsächlich nur 1,2 Prozent ist. Für den Zeitraum von zwei Jahren bedeute dies eine Erhörung von 1,8 Prozent!

Lohnverbesserungen nötig, um Binnenwirtschaft anzukurbeln

Man wisse um die kommunale Finanzsituation. Aber das sei nicht Schuld der Gewerkschaft, sondern Resultate politischer Entscheidungen. Andererseits gehe man momentan von hohen Steuerüberschüssen des Staates in Höhe von knapp 30 Milliarden Euro aus. Nicht nur im öffentlichen Dienst würden hohe Lohnsteigerungen gebraucht. Allein um die Binnenwirtschaft anzukurbeln sei dies nötig, erklärte Behle.

Sahra Maiwald: „ Auszubildende benötigen eine Perspektive“ – Eine Rede mit Knalleffekt

Für die Auszubildenden sprach Sahra Maiwald, Betriebsrätin beim Klinikum Dortmund und Mitglied der ver.di-Verhandlungskommission bei den Tarifverhandlungen in Potsdam. Sie setzte an den Anfang ihrer Rede ein Zitat von Rosa Luxemburg: „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft

Sahra Maiwald, Betriebsrätin Klinikum Dortmund.

Sahra Maiwald, Betriebsrätin Klinikum Dortmund.

hat schon verloren“. Für die Auszubildenden bedeute das Arbeitgeberangebot unterm Strich nicht einmal zehn Euro mehr im Monat. Dieses Angebot sei „eine Frechheit“. „Wir verdienen mehr!“, rief Sahra Maiwald unter lautem Beifall ihrer MitstreiterInnen. „Das Geld ist da, es muss nur richtig

Tolle "Knallaktion" der Jugend.

Tolle „Knallaktion“ der Jugend.

verteilt werden.“ Die Auszubildenden wünschten auf eignen Beinen zu stehen, ohne von anderen abhängig zu sein. „Wir sind gerne unbequem!“ Auszubildende benötigten eine Perspektive und die Übernahme in den Dienst. Maiwald schloss wieder mit einem Zitat: „Tarifverhandlungen, ohne das Recht zu streiken, wäre nichts anderes als kollektives Betteln“ (Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil aus dem Jahre 10.6.1980). „Lasst uns gemeinsam unerhört bleiben und den Arbeitgebern zeigen wie unbezahlbar wir sind!“ Dann stürmten Auszubildende die Bühne. Sie zogen eine wahre Knallaktion ab mit Luftschlangenkanonen und Trockeneispistole.

DGB-Vorsitzende Jutta Reiter: „Wir haben kein Geld, um es nach Panama zu bringen. Deshalb steht ihr hier zu Recht, um eurer Forderung Nachdruck zu verleihen“

Jutta Reiter (DGB-Vorsitzende Bezirk Dortmund-Hellweg) dazu: „Wer so eine Jugend hat, der braucht garantiert keine Angst zu haben, dass er seiner Forderung nicht Nachdruck verleihen kann!“

Jutta Reiter, DGB-Chefin Dortmund-Hellweg.

Jutta Reiter, DGB-Chefin Dortmund-Hellweg.

Momentan habe man den Eindruck, dass viele Arbeitergeber meinen, wir würden für Nippes arbeiten: „0,9 Prozent bei der Metall- und Elektroindustrie und 3 Prozent bei euch! Das ist eine Unverschämtheit und eine nackte Provokation!“ Die Gewerkschaften fordern gute Löhne für

Engagierte Auszubildende kämpfen für lohnende Perspektive.

Engagierte Auszubildende kämpfen für lohnende Perspektive.

gute Arbeit. „Und die leistet ihr im öffentlichen Dienst.“ Geld genug sei da. „Wir haben kein Geld, um es nach Panama zu bringen. Deshalb steht ihr hier zu Recht, um eurer Forderung Nachdruck zu verleihen.“ Der DGB wünsche viel Erfolg dabei.

Nächste Verhandlungsrunde morgen in Potsdam

Michael Bürger schloss dann die Kundgebung. Die kurzzeitig durchgebrochene Sonne verschwand wieder und die Streikende gingen um sich in die Streikgeldlisten einzutragen. Eine machtvolle Demonstration war das heute in Dortmund. Dass trotz widrigem Wetter 8000 ver.di-Gewerkschafter bereit waren Flagge für ihre berechtigten Forderungen zu zeigen verdient Resept. Ürigens wird ein Teil der Jugendlichen, die heute an der Knallaktion beteiligt waren morgen in Potsdam zugegen sein, wenn die nächsten Verhandlung stattfindet.