Am 11. April 2019 wurde der Wikileaks-Gründer Julian Assange aus
der ecuadorianischen Botschaft, wo er Asyl gefunden hatte, in ein
britisches Hochsicherheitsgefängnis verschleppt. Und das nicht weil
er kriminelle Taten begangen hat, sondern weil er solche enthüllt
hat. Der Ausgang des Verfahrens von Julian Assange wird zeigen, wie
es um die Presse- und Meinungsfreiheit wirklich steht. Trotz dieser
mehr als bedrohlichen Sachlage halten sich viele Medien bedeckt. Wie
kann es sein, dass der Prozess des vielleicht „wichtigste
Journalisten der vergangenen zehn Jahre“ kaum in die Öffentlichkeit
gelangt?
Darüber haben auf der Buchmesse Sevim Dagdelen (Abgeordnete der Partei Die LINKE), Dietrich Krauß (ZDF-Redakteur) und Mathias Bröckers (Autor des Buches „Freiheit für Julian Assange!“) auf der Bühne der Buchkomplizen diskutiert.
Pressemitteilung – Initiative in Gedenken an Oury Jalloh
– 28.10.19
Neues forensisch – radiologisches Gutachten im Fall Oury
Jalloh
“Nach Begutachtung der Bilddateien der Computertomographie vom 31.03.2005 des Leichnams des Oury Jalloh sind Knochenbrüche des Nasenbeins, der knöchernen Nasenscheidewand sowie ein Bruchsystem in das vordere Schädeldach sowie ein Bruch der 11. Rippe rechtsseitig nachweisbar. Es ist davon auszugehen, dass diese Veränderungen vor dem Todeseintritt entstanden sind.” 1 Sowohl die schwere Kopfverletzung, als auch die klar erkennbare und durch punktuelle Gewalteinwirkung gebrochene 11. rechte Rippe, legen den dringenden Verdacht nahe, dass Oury Jalloh von Polizeibeamten vor seinem Tod körperlich schwer misshandelt worden sein muss. Als Oury Jalloh am Morgen des 7. Januars 2005 von den Frauen der Stadtreinigung angetroffen wird, weist er keine offenkundigen Verletzungen im Gesicht oder am Oberkörper auf. Auch im Rahmen der Untersuchung durch den Polizeiarzt Dr. Blodau zwischen 9:15 und 9:30 Uhr werden keinerlei solche Verletzungen oder Symptome der nunmehr festgestellten Verletzungen am Körper oder im Gesicht von Oury Jalloh beschrieben. Deshalb ist davon auszugehen, dass sowohl der Nasenbein- und Schädelbasisbruch als auch die gebrochene 11. Rippe rechts im Zeitraum zwischen der Untersuchung durch Dr. Blodau und dem Ausbruch des Feuers in Zelle Nr. 5 entstanden seinmüssen. Die Einwirkungen der Gewalt waren sowohl im Gesicht, als auch im Bereich der 11. Rippe in einer Art und Weise punktuell bzw. fokussiert heftig, dass eine Selbstverletzung oder ein Sturz weitestgehend ausgeschlossen werden können. Eine Beifügung dieser Verletzungen durch Dritte ist damit naheliegend wahrscheinlich. Der Zeitraum in welchem Oury Jalloh die beschriebenen Verletzungen durch externe Gewalteinwirkung zugefügt worden sind, ist eindeutig eingrenzbar und liegt zwischen: 9:30 Uhrund 12:05 Uhr. Auch der Kreis möglicher Täter*innen ist eindeutig einzugrenzen – er beschränkt sich auf die im Polizeirevier Dessau anwesenden Personen mit Zugang zu den Zellen im Gewahrsamstrakt.
1Prof. Dr. Bodelle, “Fachradiologisches Gutachten”, 18.10.2019, S.13.
Die Digitalisierung führt zu einem
rasanten Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft. Dies zeigt sich
besonders deutlich in der Entwicklung der Plattformökonomie. Dort
manifestieren sich auch die sozialen Herausforderungen des digitalen
Kapitalismus, der in seiner jetzigen Ausgestaltung in Form eines
knallharten Neoliberalismus enorme Machtasymmetrien schafft. Was vor
allem den Shareholdern der Monopol-Plattformen, wie Google, Amazon
und Facebook, zugutekommt. Vergangenen Donnerstag hatte die
Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel
„Genossenschaften in der Plattformökonomie. Für mehr Solidarität
im digitalen Kapitalismus“ in den Westfälischen Industrieklub nach
Dortmund eingeladen. Der Termin war gut gewählt, findet doch nächste
Woche der Digitalgipfel der Bundesregierung in Dortmund statt.
Schwerpunkt werden dort digitale Plattformen sein.
Von links: Claudia Henke, Dr. Jan-Felix Schrape, Dr. Christian Tribowski, Markus Sauerhammer und Christina Kampmann. Fotos: C. Stille
Wenn entstehende Plattformen mehr
als Kopien bekannter Tech-Giganten sein wollen, braucht es eine
gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit Alternativen
In ihren einleitenden Worten zur
Podiumsdiskussion machte Henrike Allendorf von der
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) darauf aufmerksam, dass digitale
Plattformen mittlerweile eine große wirtschaftliche Bedeutung haben.
Es sei in den letzten Jahren ein enormes Wachstum damit erreicht
worden. Unter den fünf größten Unternehmen der Welt seien
inzwischen drei digitale Plattformen – Facebook, Amazon und Google –
vertreten. Die erzielten enormen Profite kämen allerdings den
wenigen Plattformen und den Shareholdern zugute. Was nicht nur
politisch problematisch sei, sondern auch soziale Ungleichheiten
schaffe. Beleuchtet werden sollten an diesem Abend alternative
Organisationsformen für digitale Plattformen – Kooperativen oder
Genossenschaften. Die Diskussion um kooperative Plattformmodelle zum
jetzigen Zeitpunkt, so Allendorf, „ist umso wichtiger, da deutsche
und europäische Akteure im Vergleich mit den USA in der
Plattformökonomie noch eine marginale Rolle spielen“. Damit
künftig entstehende Plattformen mehr sind als Nachahmungen der
bekannten Tech-Giganten, brauche es eine gesellschaftliche und
politische Auseinandersetzung mit Alternativen. Allerdings sehen sich
solche Kooperativen oft politisch schwierigen Rahmenbedingungen
gegenüber.
Auswüchse in der Plattformökonomie
bringen Leute darauf, diese von den Bedürfnissen der Menschen her zu
denken
Den Impulsvortrag unter der Überschrift
„Solidarische
Plattformökonomie aber wie?“ wurde von Claudia
Henke, Mitbegründerin der Genossenschaft h3-o, aus Hamburg gehalten.
Sie verwies auf den Taxidienst Uber und deren App, die man in
unterschiedlichen Städten und Ländern nutzen könne. Auch auf
Amazon, wo man ja praktisch quasi fast alles bestellen könne.
Allerdings, merkte sie an, werde vergessen, dass wir als Nutzer
dieser Angebote gar nicht die Kunden sind: „Sondern wir sind das
Produkt. Wir sind die Ware.“ Schließlich würden unsere
persönlichen Daten gesammelt. Und wir wüssten weder was mit ihnen
passiere, noch hätten wir Einfluss darauf. Ebenfalls sei es auch
nicht so toll, wenn man in der Plattformökonomie arbeite. Etwa könne
Uber seine Bestimmungen ständig ändern, ohne das die
Uber-FahrerInnen etwas dagegen tun könnten. Auch falle es schwer
sich untereinander solidarisieren. Denn man wisse doch überhaupt
nicht wer noch für Uber fahre. Diese Plattformökonomien
verursachten massive Einwirkungen auf unsere Gesellschaft. Amazon
verändere unsere Innenstädte ungemein. Der Wohnungsvermittler
Airbnb habe negative Auswirkungen auf den kompletten Wohnungsmarkt.
Diese Auswüchse brächten jedoch Leute auch auf Ideen, wie man
Plattformökonomie auch anders denken könne. Henke: „Und
tatsächlich wieder von den Bedürfnissen der Menschen her. Und: Wie
könne man sie fairer gestalten?“ Eine demokratische Organisation
sollte es sein.
Als Beispiel nannte Henke Fairbnb, das
eine Alternative zu Airbnb sein will. Da soll darauf geachtet werden,
dass eine Wohnung nur im Falle der eigenen Abwesenheit vermietet
wird. Und Wohnraum nicht dem Wohnungsmarkt entzogen wird, wie das
mittlerweile via Airnbnb geschieht. Und Fairbnb will fünfzig Prozent
der Einnahmen sozialen Initiativen, die sich mit fairem Tourismus
auseinandersetzen, zur Verfügung stellen.
„Das gleiche Geschäft, aber in
fair“
Ein anderer Fall, so Claudia Henke, ist
der britische Online-Lieferdienst Deliveroo. Ende August entschied
sich der Lieferdienst ad hoc aus Deutschland zurückzuziehen. Wohl
hauptsächlich deshalb, um Betriebsräte zu verhindern. Die
Fahrradkuriere waren davon Ende August förmlich überrumpelt worden.
Doch sie hätten sich z.B. in Berlin auf unterschiedliche Weise
zusammengetan, um weiterzumachen. Diejenigen, erzählte Claudia
Henke, die schon gestartet sind, hätten tatsächlich Aufträge
bekommen. Organisiert vorerst über Kurznachrichtendienste.
Alternativen seien also durchaus möglich: „Das gleiche Geschäft,
aber in fair.“ Das möglicherweise ein Modellprojekt für andere
Plattformen sein könnte, findet Henke.
Herausforderungen
Auf solche Alternativen kämen jedoch
Herausforderungen bezüglich des Wachstumsmodells Plattformökonomie
zu. Es bräuchte natürlich eine Rechtsform. Ein Teil der
Essensauslieferer auf Rädern habe sich zusammengesetzt und sei dabei
auf die Rechtsform Genossenschaft gekommen. Doch letztendlich
entschieden sie sich dagegen und stattdessen für eine
Unternehmergesellschaft (UG, haftungsbeschränkt).
Henke hat festgestellt, dass die
Rechtsform Genossenschaft in Deutschland geradezu vergessen ist.
Selbst die Finanzämter seien zuweilen damit überfordert. Zum
Vergleich: In Italien gibt es 80.000, in Deutschland nur 8000
Genossenschaften, von denen 1500 inaktiv sind.
Claudia Henke: Ein „historisches
Zeitfenster für Innovation ist momentan geöffnet
Claudia Henke spricht bezüglich des
Aufbaus einer solchen Plattform von einer „sozialen Innovation“.
Was heiße, dass sie der Gesellschaft nütze und andere Dynamiken
erzeuge. Zunächst bräuchte Experimentierräume und einen Prototyp.
Und erklärte: „Das Internet ist zum Beispiel eine soziale
Innovation.“
Claudia Henke machte darauf aufmerksam,
dass wir es momentan mit einem „spannenden Zeitraum“ zu tun habe
– es „ein historisches Zeitfenster“ für Innovation geöffnet
sei. Und diese Innovation könne „unglaublich viel verändern“.
Wir hätten die Akteure und das Knowhow. Was uns hindere seien die
Rahmenbedingungen in Deutschland.
Podiumsdiskussion mit kompetenten
Gästen
Für die Podiumsdiskussion hatte man
interessante und kompetente Gäste gewonnen, welche Moderator Dr.
Christian Tribowski (Handelsblatt Research Institute) vorstellte:
Von links: Claudia Henke, Dr. Jan-Felix Schrape, Dr. Christian Tribowksi, Christina Kampmann und Markus Sauerhammer.
Die bereits erwähnte Claudia Henke,
Dr. Jan-Felix Schrape, Akademischer Mitarbeiter an der Universität
Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften, Christina Kampmann,
MdL NRW, Sprecherin im Ausschuss für Digitalisierung und Innovation,
in der NRW-Landesregierung Kraft Familienministerin sowie Markus
Sauerhammer (Vorstand Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.
V.) mit spannender Biografie: von der Hauptschule zum Landwirt, dann
über Umwege zum Startup-Business und anschließendes Studium.
Christina Kampmann: Die Politik muss
Machtasymmetrien reduzieren und digitales Prekariat verhindern
Christina Kampmann lobte die
Ursprungsideen vieler hier bereits erwähnter digitaler Plattformen.
Doch der Politik falle die Aufgabe zu die negativen
Begleiterscheinungen – wie die Machtasymmetrien – so zu
reduzieren, dass die Vorteile überwiegen, die Macht fairer verteilt
und digitales Prekariat verhindert werde.
Markus Sauerhammer: „Wir brauchen
vernünftige Rahmenbedingungen, um frei experimentieren zu können
Markus Sauerhammer meinte, es bräuchte
dringend auch Pioniere und Leute, die ein Risiko nicht scheuten, um
solche Plattformen ins Werk zu setzen und gab zu bedenken: „Wer
leugnet, dass die Welt gerade im Umbruch ist, der schaut nicht die
globale Entwicklung an. Wir brauchen vernünftige Rahmenbedingungen,
um frei experimentieren zu können.“
Claudia Henke ergänzte: „Wir
brauchen auch für Genossenschaften eine digitale Agenda.“
„Wir hören einander nicht mehr zu.
Jeder glaubt er weiß es besser zu wissen. Wir müssen die Probleme
beim Namen nennen, um gemeinsam auf Lösungen hinzu zu arbeiten und
die Leute sie ausprobieren können“, setzte Markus Sauerhammer
hinzu.
Vonnöten ist eine längerfristige
Förderung, eine gesellschaftliche Debatte „ohne Scheuklappen“ zu
führen und ein „Revival der Genossenschaft“ begrüßenswert
Dr. Jan-Felix Schrape sah eine
dauerhafte längerfristige Förderung über die typischen
Förderperioden hinaus dringend vonnöten. Dabei müsse eben auch in
Kauf genommen werden, dass neun von zehn Projekten vielleicht nicht
funktionierten.
Christina Kampmann regte an, einmal
eine gesellschaftliche Debatte „ohne Scheuklappen“ darüber zu
führen, was wir zwischen den Polen Kapitalismus und Sozialismus für
eine Wirtschaft wir eigentlich haben wollen, „die sich wirklich an
den Menschen orientiert“. Kampmann würde sich über ein „Revival
der Genossenschaft“ freuen.
Forderungen an den Digital-Gipfel
der Bundesregierung
Die vom Moderator den Gästen
abverlangten Forderungen an den nächste Woche in Dortmund
stattfindenden Digital-Gipfel der Bundesregierung lauten: Wenn die
Bundesregierung ständig von der Digitalisierung rede, so Markus
Sauerhammer, dann müsste endlich auch die digitalen Plattform als
Baustein dabei sein, „sonst lügen sie“. Auch für Christina
Kampmann ist klar, dass Genossenschaftsgedanke diesbezüglich dort
auch wieder „sexy gemacht“ werden müsse.
Der Digital-Gipfel könne einen Beitrag
dazu leisten.
Sicher ist sich auch Jan-Felix Schrape,
dass sich der Digital-Gipfel nicht nur mit der Regulierung von großen
Plattformen sondern auch mit der Förderungen von Alternativen
auseinandersetzen muss, weil ansonsten der Verbraucher auch nicht
wählen könne.
Er fände es auch begrüßenswert, wenn
die SPD das Thema in ihr nächstes Bundestagswahlprogramm aufnähme.
Fragen und Anregungen aus dem
Publikum
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion
konnten aus dem Publikum noch diverse, in der Sache interessante,
Fragen rundum das Thema Genossenschaften und digitalen Plattformen an
die Gäste gestellt werden. Belichtet wurde ebenfalls der kritische
Gedanke, dass durchaus nicht alle Genossenschaften empfehlenswert
sind. Eine Genossenschaft ist immer nur so gut, wie die Leute, die da
drin sind“, merkte Claudia Henke an. Und es freilich auch Fälle
gegeben hat, wo sich Menschen in Genossenschaften bereichert hätten.
Gemeinwohlorientierung benötige auch Kontrolle. Durchaus, hieß es,
hätten grundsätzlich auch öffentlich-rechtliche Regelungen ihren
Platz in der Gesellschaft. Auch einige Anregungen kamen aus dem
Auditorium, welche die Gäste auf dem Podium dankbar aufnahmen.
Digital-Gipfel der Bundesregierung nächste Woche in Dortmund.
Am
19. September 2019 ist Dortmund in Bonn mit dem Label „StadtGrün
naturnah“ in Silber ausgezeichnet worden. Das Projekt wurde im
Bundesprogramm Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für
Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Am
vergangenen Mittwoch wurde der Preis von Vertreter der Stadt
Dortmund, die mit „Grün“ zu tun haben gemeinsam auf dem
Hauptfriedhof Vertretern der Presse präsentiert. In drei Jahren wird
der Preisträger überprüft. Fest steht, dass das Konzept StadtGrün
naturnah nicht nur weitergeführt, sondern auch noch erweitert wird.
Die Entsorgung Dortmund GmbH, die einen Teil der Pflege des
Straßenbegleitgrüns übernommen hat, schließt sich der Ideee an.
Zur Präsentation gab sich Stadtrat Arnulf Rybicki bezüglich des
Preises hoffnungsvoll, künftig ein noch höherwertiges Edelmetall
erringen zu können. In drei Jahren wird die nächste Auszeichnung
vergeben.
Laudatorin
Prof. Beate Jessel: „Mit dem Label StadtGrün naturnah schafft das
Projekt zusätzliche Anreize, ausgetretene Pfade zu verlassen und
mehr Grün statt Grau in die Städte und Gemeinden zu bringen“
Die
Laudatio für die Preisträger in Bonn hatte Prof. Beate Jessel,
Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz gehalten und gesagt:
„Stadtgrün ist unverzichtbar, denn es schafft nicht nur
Lebensräume für Tiere und Pflanzen, sondern auch gesunde und
attraktive Lebensbedingungen für uns Menschen.“ Deshalb sei es
wichtig, „dass sich immer mehr Kommunen für eine naturnahe
Gestaltung und Aufwertung von Grünflächen starken machen“. Und
weiter: „Mit dem Label StadtGrün naturnah schafft das Projekt
zusätzliche Anreize, ausgetretene Pfade zu verlassen und mehr Grün
statt Grau in die Städte und Gemeinden zu bringen. Dass dies
gelingt, zeigen die 14 Projekte, die wir heute auszeichnen.“
Beworben hatten sich zunächst 51 Kommunen, von denen letztlich 14
nach einem gut einjährigen Verfahren mit einem Label ausgezeichnet
wurden. Honoriert wurden die Kommunen für die Entwicklung
artenreicher Wildblumenwiesen, das Pflanzen heimischer Sträucher und
das Entwickeln einer zeitgemäßen Grünflächenstrategie, die sich
zum Ziel setzt, die Artenvielfalt von Flora und Fauna in der Stadt zu
fördern und langfristig durch geeignete Maßnahmen zu sichern.
Ein
attraktives und gesundes Wohnumfeld schaffen und die Biodiversität
ist der Stadt verbessern
Es
geht darum, in naturnahen Parkanlagen und kommunalen Wälder,
zusammenhängenden Grünzügen, durch Baumgruppen oder gemischte
Baumalleen, heimische Sträucher und Staudenpflanzungen sowie
artenreiche Wiesenflächen ein attraktives und gesundes Wohnumfeld zu
schaffen. Notwendig dabei ist eine ökologisch ausgerichtete Pflege,
die z.B. mit veränderten Mähverfahren und Angeboten für
Rückzugs-Brutmöglichkeiten, um die Biodiversität in der Stadt
nachweislich zu verbessern.
Besonders
beeindruckt war der Labelgeber von den zahlreichen Aktivitäten auf
dem Dortmunder Hauptfriedhof
Dortmund
konnte sich im Labelingverfahren durch den Einsatz zahlreicher
BürgerInnen, Naturschutzverbände, Verein und der beteiligten
Fachämter mit seinen eingereichten Projekten im Vorderfeld der
ausgezeichneten Kommunen platzieren. Die positiven Auswirkungen der
veränderten Grünpflege lassen sich bereits an vielen Stellen im
Dortmunder Stadtbild erkennen. So sind bereits 30 Prozent der
öffentlichen Wiesenflächen in ein ökologisches und Artenvielfalt
steigerndes Pflegeprogramm überführt worden. Besonders beeindruckt
zeigte sich der Labelgeber bei einem Vor-Ort-Besuch von den
zahlreichen Aktivitäten auf dem Dortmunder Hauptfriedhof. So werden
dort z.B. Grabfelder mit alten (insgesamt 127 verschiedenen)
Obstsorten (die von den Hinterbliebenen abgeerntet werden) gestaltet
oder potentielle Zukunftsbäume gepflanzt, um sie auf ihre Eignung
zur Minderung von Klimawandelfolgen zu testen. Dortmund hat diese
Bedeutung frühzeitig erkannt und mit der Labelauszeichnung ein
plakative Bestätigung ihres Engagements zur Steigerung der
Artenvielfalt erhalten.
Stadtrat
Arnulf Rybicki bedankte sich bei allen Beteiligten herzlich
Am
Mittwoch kamen viele der Beteiligten auf dem Dortmunder Hauptfriedhof
zusammen, um das Label zu präsentieren: Der Dezernent für Bauen und
Infrastruktur, Arnulf Rybicki, Vertreter aus dem Tiefbauamt, dem
Umweltamt, den Sport- und Freizeitbetrieben Dortmund, den Friedhöfen
Dortmund und der Stadtentwässerung Dortmund. Bei allen Beteiligten
bedankte sich Stadtrat Rybicki herzlich für das großartige
Engagement.
Kurzrasenflächen
werden in Blühwiesen umgewandelt
Gute
Beispiele in Sachen Steigerung der Biodiversität können auf dem
Hauptfriedhof besichtigt werden. Etwa sind Kurzrasenflächen in
Blühwiesen umgewandelt worden. Das trifft auch auf Flächen im
Stadtgebiet (Hörde, Derne, Hombruch, an der Bornstraße, am Pumpwerk
Fredenbaum, an der Ardeystraße, auf dem Borsigplatz, oder die
Baumscheibe Berghofen) zu. Eine Wiese braucht etwa fünf Jahre bis
sie „steht“, wie die Fachleute sagen. Tiere wie etwa Hummeln und
Heuschrecken siedeln sich nach und nach an. Etwa 190 Hektar Fläche
sind im Stadtgebiet bereits umgestellt worden. Dazu bedarf es auch
einer Umstellung des Fuhrparks. Schon lange bevor an Fridays for
Future zu denken war, sei an diesen Projekten gearbeitet worden,
merkte Sylvia Uehlendahl, die Amtsleiterin des Tiefbauamtes an.
Private
Firmen sind bislang noch nicht am Projekt beteiligt. Man arbeite aber
daran, welche mit ins Boot zu bekommen.
Ohne
zusätzliche Mittel kann schnell ein Biotop geschaffen werden
Auf
dem Hauptfriedhof gibt es verkehrssicher heruntergeschnittene
Tothölzer, an denen sich Schadpilze zeigen, die anderswo im
Stadtgebiete dazu führen, dass Bäume gefällt werden müssen. Auf
dem Hauptfriedhof dienen sie Anschauungs- und Schulungszwecken. Gerd
Hettwer (Friedhöfe Dortmund) wies auch auf eine Wiese auf dem
Hauptfriedhof hin, die von Schafen beweidet wird. Das sei beim
Labelgeber sehr gut angekommen, weil so etwas auf Friedhöfen nicht
selbstverständlich sei. Auch gibt es Wasserflächen, auf denen
Holzbretter („Rettungsinseln“) installiert wurden. Dort können
sich Vögel sicher niederlassen, um zu trinken. Baumscheiben und
Wurzelteller sind stehengelassen worden. So könne ohne zusätzliche
Mittel schnell ein Biotop geschaffen werden.
Information
für die BürgerInnen und die FriedhofsmitarbeiterInnen
Es
ist vorgesehen, Informationstafeln sollen aufgestellt werden. Denn
immer wieder fragten Friedhofsbesucher, wann diese Tothölzer
abtransportiert würden. Nicht immer verstünden BürgerInnen, dass
bestimmte Maßnahmen gewollt sind. So würden nämlich absichtlich
bei manchen Wiesen im Stadtgebiet nur die Außenkante
(„Sauberkeitsstreifen“) gemäht. Das ließe manche Menschen
denken, die Stadt schludere dort. Naturverjüngung werde nun schon
seit 28 Jahren betrieben. Das heißt, Wildwuchs, der von allein
gekommen ist, lässt man weiter wachsen. Bäume, die erhalten werden
sollen, bekommen eine Manschette zur Information der gärtnerisch
tätigen MitarbeiterInnen verpasst.
Kostenneutral
erreichte Biodiversität und „ökologische Pflege“
All
diese Bemühungen hinsichtlich Biodiversität, warf Stadtrat Rybicki
ein, seien kostenneutral. Da habe er schon kritischen Fragen aus dem
Rat mit ruhigem Gewissen begegnen können. Manchmal ziehe man sogar
einen kleinen Nutzen daraus. Und manches, das vielleicht nachlässig
aussehe, sei gewollt, weil es zum Konzept gehöre und Gedanken
dahinterstünden. Es werde eben auch „geplant sozusagen
ausgewildert“. Auch sei eine sogenannte Saatgutübertragung
möglich. So könne Saatgut in andere Flächen in der Stadt
eingebracht oder künftig sogar an die BürgerInnen abgeben werden.
Georg
Hettwer fügte auf Anfrage an, dass er Unkraut grundsätzlich nicht
mehr Unkraut nenne. Vieles würde auf dem Friedhof stehengelassen.
Gegen invasive Arten allerdings gehe man indes an. Ebenso werde
Wildkraut beseitigt, wo das zwecks Verkehrssicherung vonnöten sei,
ergänzte Sylvia Uehlendahl. Es wurde klargemacht: Man lässt nicht
Verwildern. Man habe ein Konzept, das „ökologische Pflege“,
heißt.
Man
gebe sich viel Mühe, so Jürgen Hundorf, die Bevölkerung sozusagen
„mitzunehmen“. Denn bestimmte auf dem Friedhof oder im übrigen
Stadtgebiet angewandte Maßnahmen könnten auch im eigenen Garten
praktiziert werden.
Nun gehen alle Beteiligten, durch den erhaltenen Preis zusätzlich angespornt daran, auf den Preis „StadtGrün naturnah“ in Gold hinzuarbeiten.
Beitragsbild: Claus Stille
Von links nach rechts: Annette Kulozik, Geschäftsleitung der Sport- und Freizeitbetriebe Dortmund), Claudia Vennefrohne (TeamleitungLandschafts- u. Umweltplanung im Umweltamt), Georg Sümer (Teamleitung Gewässer bei der Stadtentwässerung), Martin Rüthers (Technische Dienste Grün im Tiefbauamt), Gerhard Hettwer (Hauptfriedhof Dortmund), Jürgen Hundorf (Technische Dienste Grün im Tiefbauamt), Arnulf Rybicki (Dezernent für Bauen und Infrastruktur) , Sylvia Uehlendahl ((Leiterin Tiefbauamt), Ralf Dallmann (Betriebsleitung Friedhöfe Dortmund)
„Sagen, was ist.“ – Dieser
Leitspruch des Gründers des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“,
Rudolf Augstein stammt noch aus Zeiten, da für diese Publikation
noch die Bezeichnung „Sturmgeschütz der Demokratie“ passend war.
Tempi passati! Böse Zungen bezeichnen den „Spiegel“ heute
inzwischen verächtlich als Bildzeitung für Intellektuelle. Doch das
Augstein-Motto „erinnert“ (noch heute), so SPIEGEL ONLINE am 4.
November 2012 auf Facebook, den 89. Geburtstag Rudolf Augsteins, „uns
jeden Tag beim Betreten des Hauses an die eigentlich einzige und
wichtigste Aufgabe von Journalisten.“ Ist das so? Einen gewissen
Claas Relotius hinderte es nicht daran, Lügengeschichten zu
schreiben.
Wenn Journalismus zur Glaubenslehre
wird
Der Westend Verlag fragt betreffs des Buches auf dessen Rückseite: „Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“ Marcus B. Klöckner: „Sagen Medien wirklich, „was ist“?“ und liefert die Antwort gleich hinterdrein: „Eindeutig nein! In den tonangebenden Medien ist ein kanonisierter Meinungskorridor entstanden, in dem unliebsame Fakten viel zu oft keinen Platz finden. Das Versagen der Qualitätskontrolle des Spiegel im Fall Relotius, die fehlgeleitete Berichterstattung zur Skripal-Affäre und die NATO-Reklame großer Nachrichtensendungen sind nur die prominentesten Beispiele einer grundlegenden Fehlentwicklung im Journalismus, die bereits bei der Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis der großen Medienkonzerne beginnt. Anhand vieler konkreter Fälle zeigt Marcus B. Klöckner, wie Medien eine verzerrte Wirklichkeit schaffen, die ähnlich der viel gescholtenen Filterblasen der „sozialen“ Medien mit der Realität oft nur noch wenig zu tun hat. Die Konsequenzen sind weitreichend – für unsere Demokratie, für uns alle.“
Mein Eindruck vor Jahren: Vieles
stimmte da nicht. War zumindest schräg
Für mich persönlich begannen
bestimmte „Produkte“ des Journalismus besonders im Zuge der
Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine an zu riechen –
oder ganz wie man will: ein Geschmäckle zu entwickeln.
Da stimmte vieles nicht. War zumindest
schräg. Da wurde einseitig und antirussisch berichtet. Und es wurde
seither nicht besser.
Wachhund sein im Sinne der Vierten
Macht – Fehlanzeige!
Aber es begann schon vor der
Ukraine-Krise. Immer weniger wurde Journalismus dem gerecht, was mit
„Vierter Gewalt“ gemeint ist. Heißt, den Wachhund machen, den
Politikern gehörig auf die Finger schauen und eben: Sagen, was ist.
Schon in der Einleitung zu seinem Buch
schreibt Klöckner: „Ein Weltbildjournalismus bestimmt in weiten
Teilen der Mainstreammedien die Berichterstattung. Zwischen
Journalisten und Politikern herrscht weitestgehend ein
Nichtangriffspakt – Konflikte, die über eine Scharmützel
hinausgehen, finden sich allenfalls auf Nebenschauplätzen. Medien
loben wahlweise Merkels ‚Augenringe des Vertrauens‘ oder stimmen
(gemeinsam mit einem Teil der Politiker) in den Chor des
‚Uns-geht-es-doch-gut-Liedes‘ ein (S./10)“. Kritik von Rezipienten
an einzelnen Beiträgen wird abgebügelt und offenbar als Bedrohung
empfunden, Kommentarfunktionen zuweilen ausgeschaltet.
Zensur?
Gleich im ersten Kapitel geht es ab
S.17 um „Zensur“. Medienvertreter reagierten auf einen solchen
Vorwurf „gereizt“, heißt es dort. „Schnell wird beteuert, dass
einzelne Journalisten, aber auch komplette Redaktionen frei in ihren
Entscheidungen seien. Weder rufe Merkel persönlich an und diktiere,
welche Informationen in den Medien auftauchen dürfen, noch gäbe es
sonst eine ‚mächtige Gruppe‘, die ihnen vorschreibe, wie ihre
Berichterstattung auszusehen habe. Ist das nicht interessant? Auf der
einen Seite stehen Medienvertreter, die durchaus glaubhaft
versichern“, schreibt Klöckner, „dass sie keiner Zensur
unterworfen sind, während sich auf der anderen Seite ein Publikum
bemerkbar macht, das ebenso fest vom Gegenteil überzeugt ist.“
Uns doch, meint Buchautor Klöckner:
Zensur ist in unserem Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die
Regel
Freilich ist klar: Zensur als solche
wird nicht ausgeübt. Dennoch: Marcus B. Klöckner führt uns
LeserInnen dahin, „(…) zu erkennen, dass Zensur in unserem
Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. (S.12)“ Er
führt weiter aus: „Wir werden eine spezielle Form der Zensur
kennenlernen“, verspricht er, „die sich zwar in manchem von einer
staatlichen, einer von oben verordneten Zensur unterscheidet, aber in
ihrer Auswirkung kaum nachsteht. Es handelt sich dabei um eine
Zensur, die tief in unser Mediensystem eingeschrieben ist. In den
Medien ist das zu erkennen, was wir als eine
sozialstrukturell ausgeformte Zensur
sprachlich erfassen wollen.“
Medienwirklichkeit,
Schieflagen in der Berichterstattung und „Wirklichkeitsentgleisungen“
Ein
weiteres Kapitel befasst sich mit der Medienwirklichkeit. Und zwar
anhand von zahlreichen Beispielen, die veranschaulichen, „dass
Schieflagen in der Berichterstattung nicht einfach nur durch Fehler
bei der journalistischen Arbeit entstehen (die menschlich sind und
jedem passieren können) und dürfen), sondern auf
Wirklichkeitsentgleisungen mit Ansage zurückzuführen sind.“
Foto: Christian Evertsbusch, via Pixelio.de
Die
LeserInnen würden sehen, so Klöckner, „wie schwer und folgenreich
die Wirklichkeitsbrüche in der Berichterstattung sind, und
verstehen, dass wir gut daran tun, uns eine alte Erkenntnis des
deutschen Soziologen Niklas Luhmann in Erinnerung zu rufen“. „In
seiner berühmt gewordenen Auseinandersetzung zur Realität der
Massenmedien sagt Luhmann gleich zu Anfang: ‚Andererseits wissen wir
so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen
können.’“
Journalisten
und Politiker
In
weiteren Kapiteln des Buches betrachtet Klöckner die Beziehungen
zwischen Journalisten und Politikern und betrachtet, „was es
bedeutet, wenn Journalisten über Macht verfügen, Rederecht
abzusprechen oder anzuerkennen.“
Die
Oberfläche der Medienkritik durchdringen
Dem
Autor geht es hauptsächlich darum, „die Oberfläche der
Medienkritik zu durchdringen, um die mehr oder weniger verschleierten
sozialen Wirkprinzipien offenzulegen, die für eine Berichterstattung
mitverantwortlich sind, die dazu führen, dass viele Mediennutzer
glauben, die Medien müssten von irgendeiner verborgenen Macht
gesteuert werden.“
Faktoren,
die auf den Journalismus auch eine Wirkung haben
Andere
Faktoren, die auf den Journalismus freilich auch eine Wirkung haben,
wie Besitzverhältnisse in den Medien, Pressekonzentration,
hochproblematische Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung von
Journalisten, Zeitdruck, fehlende Möglichkeit und Finanzierung von
investigativen Recherchen und Auswirkungen, die sich aus den
Gesamtproduktionsbedingungen und Herrschaftseinflüsse (S.14) sind
bewusst außen vor gelassen worden, so Klöckner – will sie aber
keineswegs kleinreden.
Die
Medien einer genaueren Betrachtung zu unterziehen ist gelungen
Mit
dem vorliegenden Buch ist gut gelungen, die Medien einer genaueren
Betrachtung zu unterziehen und „ihr Sein und einige ihrer
Funktionsweisen vor allem aus einem kritisch soziologischen
Blickwinkel“ heraus zu „betrachten“.
Die
beschriebenen Vorgänge dürften dem Laien verständlich werden
Stellenweise
ist das Buch zwar durchaus komplex. Es habe Nachteile und Vorteile,
wie der Autor selbst schreibt. Die Nachteile haben damit zu tun, dass
ein breiter Leserkreis erreicht und zu diesem Behufe nicht zu tief in
sozialwissenschaftlich Theorien hinein getaucht werden sollte. Denn
das Buch ist immer so verfasst, dass darin beschriebene Vorgänge
auch dem Laien – der überwiegenden Mehrheit also der
Medienrezipienten – immer verständlich werden.
Jedenfalls
ist es m.E. gelungen, wenigstens einige Gründe, „die für die
schweren Verwerfungen im journalistischen Feld verantwortlich sind“,
wie Klöckner noch in der Einleitung dargelegt hat, „anschaulich“
zu machen. Vorteil ist, dass den LeserInnen dennoch Möglichkeiten an
die Hand gegeben werden, sich auch in etwas bezüglich komplexeren
wissenschaftlichen Theorien kundig zu machen und sie zu verstehen,
ohne zu tief in deren Breite und Vielschichtigkeit einzudringen.
Und
ich stimme unbedingt dem letzten Satz in der Einleitung zu: „Die
Schäden an unserem demokratischen System, die durch die Medien
verursacht werden, die weitestgehend ihrer Wächterfunktion nicht
mehr nachkommen, sind bereits gewaltig.“
Journalisten
mit Stallgeruch und Überzeugungstäter
Nebenbei
bemerkt: Es sind vielmehr andere Faktoren, die Journalisten
dazu bringen, so zu schreiben, dass manch Rezipient auf die Idee
kommt, da wurde Zensur auf den Schreibenden ausgeübt. Das geht
subtiler. Einerseits hat es mit der Herkunft von Journalisten zu tun:
Viele kommen aus Akademikerhaushalten und haben einen bestimmten
Stallgeruch verbunden mit einem vorgeprägten Denken, das mit einem
bestimmten Weltbild zu tun hat. Dann gibt es auch eine Reihe von
Überzeugungstätern, wie etwa Claus Kleber (ZDF-heute journal), der
als Kuratoriumsmitglied der Atlantikbrücke überzeugt ist gewiss
hundertprozentig von dem, was er von sich gibt. Der kann gar nicht
anders und fühlte sich offenbar pudelwohl dabei, während vielen
Zuschauern der Hut hochgeht, wenn sie hören müssen, was Kleber so
von sich gibt und wie er mit bestimmten Interviewpartnern umspringt.
Autor Marcus B. Klöckner hat ein
Kommentar zum Erscheinen seines Buches „Sabotierte
Wirklichkeit“verfasst:
„Zensur ist in unseren Medien keine Ausnahme, nichts worüber
es erst einmal zu diskutieren gälte. Sie ist Realität. Journalismus
ist zudem vor allem in den Zentren der diskursbestimmenden Medien zu
einer Art Glaubenslehre geworden. Zuerst das eigene Weltbild
bedienen, dann kommen die Fakten.“
Folgt man den Darstellungen und Einlassungen hochrangiger Akteure
aus den Medien zu ihrer eigenen Zunft, dann lässt sich sehr oft
folgender Eindruck gewinnen: Ja, individuelle Fehler passieren, ja,
es gibt Fehlentwicklungen im Journalismus, aber im Großen und Ganzen
liefern Medien eine ausgezeichnete Berichterstattung ab. Zensur? Ein
ideologisch kontaminierter Journalismus? Eine Berichterstattung, die
herrschaftsnah ist? Gerade auch in den Qualitätsmedien? Nichts davon
gibt es, so der Tenor. Mit dieser skizzenhaften Zeichnung jener
Grundhaltung, die verstärkt vor allem in den Zentren der
diskursbestimmenden Medien zu finden ist, wird sichtbar, warum es
Mediennutzer so schwer haben, mit ihrer Kritik im journalistischen
Feld Gehör zu finden. Ein Problem zu beheben, setzt voraus, das
Problem auch zu erkennen. Wenn aber Alphajournalisten mit Nachdruck
selbst schwere und schwerste Verwerfungen und Schieflagen innerhalb
ihrer Branche nicht einmal ansatzweise erkennen wollen oder erkennen
können, dann wird sich im Journalismus und in den Medien nichts
ändern.
Wer Medien über einen längeren Zeitraum beobachtet, wer sich
genauer mit dem journalistischen Feld kritisch auseinandersetzt, kann
nur zu einem sehr düsteren Befund kommen. Der französische
Soziologe Pierre Bourdieu wurde einmal im Hinblick auf die Medien in
Frankreich gefragt, ob er das journalistische Milieu für
reformierbar halte. Seine Antwort darauf: „Die Lage spricht sehr
dagegen.“ Das war, wohlgemerkt, bereits im Jahr 1995. Bourdieu
verstand die mehr oder weniger verschleierten sozialen
Wirkmechanismen, aber genauso auch die Dimensionen von Macht und
Herrschaft, die sich gerade auch in einem so wichtigen Feld wie dem
journalistischen finden lassen, sehr genau. Viele seiner Einlassungen
zu den Medien können wir, mit Abstrichen hier und da, auch auf die
Medien in unserem Land und auch auf die Medien in vielen anderen
demokratischen Ländern übertragen. Wer mit Bourdieus
Herrschafts- und Gesellschaftsanalysen Medien, Journalismus und das
Verhalten von Journalisten näher betrachtet, kann erkennen, dass, um
es salopp zu sagen: Hopfen und Malz verloren ist. Eine
sozialisationsbedingte Blindheit aufseiten nicht unbeträchtlicher
Teile der Journalisten gegenüber real vorhandenen Macht- und
Unterdrückungsverhältnissen, die auch in demokratischen
Regierungsformen existieren; ein mehr oder weniger naiver Glaube an
die Lauterkeit von Institutionen und Mandatsträgern; real
existierende Herrschaftseinflüsse auf die Medien;
Konzentrationsprozesse genauso wie prekäre Arbeitsbedingungen für
nicht wenige Journalisten. All das führt zur Untergrabung eines
Journalismus, wie er eigentlich sein sollte und wie er für eine
gesunde Demokratie lebensnotwendig ist.
Festzustellen ist: In unserem Mediensystem hat sich eine Zensur
verfestigt, die ohne externen Zensor funktioniert und aus dem
journalistischen Feld selbst kommt. Die soziale Zusammensetzung
innerhalb der Medien, der Ausschluss nahezu ganzer Schichten und
Milieus aus dem journalistischen Feld, die Dominanz bestimmter
Weltanschauungen in der Berichterstattung, haben dazu geführt, dass
bestimmte Perspektiven, Meinungen, Thesen und Ansichten mindestens
innerhalb der diskursführenden Medien nahezu völlig atomisiert
sind. Wir haben es in unserem Mediensystem mit einer
sozialstrukturell ausgeformten Zensur zu tun, die tief in den
Wahrnehmungs- und Denkschemata eines beträchtlichen Teils der
Feldakteure verankert ist. Zensurhafte Einzelentscheidungen
potenzieren sich, eine medienübergreifende, dauerhafte Zensur
entsteht. Die Unterdrückung all jener Perspektiven, die für
Irritationen bei der Fraktion der „Weltbildjournalisten“ sorgt,
ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Je politischer ein Thema
ist, umso stärker werden die wertvollen journalistischen
Kriterien der Auswahl und Gewichtung von Nachrichten und
Informationen pervertiert – im Sinne der im journalistischen Feld
vorherrschenden politischen Glaubensüberzeugungen.
Es ist davon auszugehen, dass viele Journalisten selbst nicht
einmal erkennen, wie tief das Zensurhafte in ihren Entscheidungen
mitschwingt. Unter anderem auch deshalb, weil ihnen die positiven
Rückmeldungen aus dem Feld vermitteln, dass ihre Auswahl und
Gewichtung von Informationen und Themen genau „richtig“ sind.
Der Journalismus unserer Zeit trägt Züge einer Glaubenslehre.
Die reinsten aller Wahrheiten findet sich vorgeblich in den
Wirklichkeitsdarstellungen der großen Medien. Nur wer diese
Wahrheiten akzeptiert und verinnerlicht, darf „sprechen“,
sich zu Wort melden. Die Hinterfragung der Medienrealitäten, ja, gar
die Fundamentalkritik an den in der Berichterstattung vorherrschenden
Überzeugungen, kommt einem Akt der Ketzerei gleich.
Viele Bürger, viele Mediennutzer erkennen, dass mit unseren
Medien etwas nicht stimmt. Sie beobachten Tag für Tag, dass Medien
gerade dann, wenn es wirklich darauf ankommt, immer wieder nicht so
funktionieren, wie sie es sollten.
Sie erkennen, dass die Ansichten und Meinungen von Journalisten zu
oft mit denen der Eliten und Machteliten konform gehen.
Wer sich näher mit der Sozialisation von Journalisten
auseinandersetzt, die soziale Zusammensetzung des journalistischen
Feldes betrachtet und Gedanken über den Rekrutierungsmodus der
Medien macht, kommt zu dem Ergebnis, dass das Medienfeld aufgrund der
in ihm vorhandenen sozialen Realitäten gar nicht in der Lage ist,
dauerhaft und durchgehend diesen von Bürgern so sehr geforderten
herrschaftskritischen Journalismus abzuliefern.
Der nüchterne Befund lautet: Das journalistische Feld ist in
seiner Breite nicht dazu ausgelegt, „die da oben“ so zu
kritisieren, wie es angebracht wäre (man denke als positives
Gegenbeispiel an den Auftritt
https://www.youtube.com/watch?v=zxS4JJ17h1c
des niederländischen Journalisten Rob Savelberg bei der
Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages der neu
gewählten Bundesregierung im Jahr 2009). Kritische Mediennutzer
erkennen, dass es unsichtbare, implizit ausgehandelte rote Linien
zwischen Journalisten und Politikern gibt, die als Grenzen festlegen,
was als legitime Kritik erlaubt ist und was nicht. Anders gesagt: Das
Versagen des Journalismus, wenn es darum geht, den Mächtigen richtig
auf den Zahn zu fühlen, hat maßgeblich mit dazu beigetragen, dass
politische Weichensteller über Jahrzehnte eine Politik betreiben
konnten, deren Auswüchse sich nun immer deutlicher abzeichnen.
Armut und speziell auch Kinderarmut in Teilen unserer Gesellschaft,
katastrophale Fehlentwicklungen im sozialen Wohnungsbau, die
Ausbreitung neoliberaler Denkkategorien bis ins Innerste von Politik
und Gesellschaft, und, nicht zuletzt: Ein Umgang mit unserer Umwelt,
der für uns alle nun zu einer Bedrohung geworden ist.
Man muss es so deutlich sagen: Medien tragen an diesen
Entwicklungen Mitschuld. All die unterlassenen kritischen Fragen, all
die Beschönigungen, die wir unentwegt aus den Medien hören („uns
geht es gut“), die offene oder mehr oder weniger verschleierte
Unterstützung der Herrschenden von Journalisten, durch die selbst
die größten Schweinereien noch flankiert werden (Kriege,
Kriegsstimmung schüren, Stichwort: Russland): Der herrschaftsnahe
Journalismus ist die täglich zu beobachtende Realität.“
Quelle: Westend Verlag
Nicht einmal Journalisten selbst
wollen den Kern der Probleme in ihrer Branche verstehen
Das Erschreckende für mich: Spricht
man mit Journalisten – wie ich das kürzlich während eines Treffs
von Medienleuten tat – über den realen üblen Zustand des
Journalismus in diesem unserem Lande, gestehen die zwar zu, dass da
einiges im Argen ist. Mitnichten aber erkennen sie anscheinend die
Grundprobleme. Wollen nicht mitbekommen haben, dass die Tagesschau
kaum noch ihrer Aufgabe nachkommt, Nachrichten so zu überbringen,
dass ich mir als Rezipient selbst eine Meinung bilden kann –
sondern im Gegenteil mir quasi verklickert wird, was ich zu denken
habe! Und nicht nur allein bei der Tagesschau ist das so. Da wird
Meinung gemacht. Das wird immer öfters Papageien-Journalismus
betrieben. Da wird nicht nur die Meinung der Bundesregierung oder der
Nato herausgetrötet. „Papageien-Journalismus“ leitet sich
wohl von einer Typisierung von „Verlautbarungsjournalismus“
(Definition: kritiklose Berichterstattung in den Medien zu mehr oder
weniger vorgegebenen Themen in mehr oder weniger vorgegebener
Darstellung) ab, wie sie bereits Kurt Tucholsky prägte, der von den
„Papagei-Papageien“ gesprochen hatte, die einfach nur etwas
nachplappern, was man ihnen vorsetzt – wie verwendet in einem
Beitrag
von Wolfgang Lieb, einem früheren Herausgeber der „NachDenkSeiten“.
Eine bedenkliche Entwicklung
Ja, im Journalismus ist einiges im
Argen. Und immer mehr Menschen erkennen dies. Doch nicht genug. Es
sollten mehr werden. Eine wirklich äußerst bedenkliche Entwicklung
gerade in Zeiten, da unsere Demokratie bedroht und auch schon schwer
angekratzt ist. Mich als gewesener DDR-Bürger, der nicht nur in
diesem verflossenen Land oft mit Kopfschütteln und Magengrummeln
Medien rezipiert, sondern als Volkskorrespondent selbst auch für sie
ehrenamtlich schreibend tätig war, schmerzt dieser Zustand des
Journalismus umso mehr. Für gewöhnlich bin ich nicht naiv. Doch in
der Umschwung- und Wendezeit Ende 1989 schrieb ich aufgekratzt –
zuvor über Ungarn in den Westen gedüst- an meine hauptamtlichen
JournalistenkollegInnen in meiner zuständigen Redaktion in Halle an
der Saale von der Festung Ehrenbreitstein über dem Deutschen Eck aus
Koblenz auf einer Ansichtskarte optimistisch, sie könnten wohl nun
endlich freien und kritischen Journalismus machen. Ein bisschen
schäme ich mich heute dafür.
„Wir brauchen ein neues
Mediensystem“ obwohl mit Bordieu gesagt die Lage „sehr dagegen“
spricht
Ich zitiere nochmal Pierre Bourdieu
(wie ihn der Autor Marcus B. Klöckner oft in seinem Buch zu Wort
kommen lässt): Frage an Pierre Bourdieu: „Kann sich dieses Milieu
[das der Journalisten]
reformieren?“ Antwort Bourdieu (im Jahr
1995: „Die Lage spricht sehr dagegen.“ (S. 215)
Klöckner hebt in seinem Fazit so an:
„Der erste Schritt hin zu einem fundamental herrschaftskritisch
ausgerichteten Journalismus besteht darin, die journalistischen
Produkte radikal zu hinterfragen.“
Das geschieht. Lösungsmöglichkeiten
müssen dann folgen. „Wir brauchen ein neues Mediensystem“ hat
Klöckner sein „Fazit“ überschrieben. Und wohl auch andere
Personen an den Schlüsselpositionen in den Medien – Ketzer!
Klöckner zitiert Rupert Lay (katholischer Theologe, Psychotherapeut
und Unternehmensberater) bezüglich der Definition dieses Wortes:
Ketzer seien Menschen, „die an der Peripherie, weitab vom
ideologischen Zentrum stehend, neue Antworten auf alte Fragen geben;
neue Fragen stellen, die Antworten einfordern, die unangenehm, die
beängstigend sind und nicht konform gehen mit der allgemeinen
Selbstverständlichkeit“.
Um zuzuspitzen, so Klöckner, könnte
man nun rufen: „Ketzer in die Redaktionen!“ Was vielleicht zu
einfach wäre.
Recht aber hat Klöckner: Wir brauchen
ein neues (herrschaftskritisches) Mediensystem. Aber gleichermaßen
auch damit: dass dann gerade in der Hochzeit des brutalen,
gesellschaftszerstörenden Neoliberalismus auch mit harte Gegenwehr
zu rechnen ist.
Und ebenfalls damit, dass wir uns
gerade deshalb „darüber im Klaren sein“ müssen, „dass eine
tatsächlich funktionierende Presse für unsere Gesellschaft von
elementarer Bedeutung ist. Und gibt der Autor zu bedenken: „Je
herrschaftsnaher Medien sind, je weniger Medien bereit sind,
politische Weichenstellungen fundamental zu kritisieren, umso
wahrscheinlicher wird es, dass Politik sich mehr und mehr an den
Interessen der Eliten und Machteliten in unserer Gesellschaft
ausrichtet.“
Verschwindet die Wächterfunktion
journalistischer Medien, bricht eine zentrale Säule der Demokratie
weg
Mit dem zunehmenden Wegbröckeln bzw.
Verschwinden der Wächterfunktion journalistischer Medien, werde es
so sein, „als wäre eine zentrale Säule der Demokratie
weggesprengt worden.“ Viele Bürger würden erkennen, stellt
Klöckner fest, „dass weder Politik liefere, was sie solle, noch
Medien lieferten, was sie versprächen. Ergo würden sich auch immer
mehr Bürger im Klaren darüber sein, „wie groß die Gefahren sind,
die sich aus einem Journalismus ergeben, der zu einer fundamentaler
Herrschaftskritik kaum noch in der Lage ist“.
Zu Recht stünden die Medien in der
Kritik, resümiert Marcus B. Klöckner. Ich schließe mich seiner
Hoffnung an, dass „noch mehr Bürger begreifen, wie groß die
Gefahren, die sich aus einem dysfunktionalen Mediensystem ergeben,
sind.“
„Wo aber Gefahr
ist, wächst / Das
Rettende auch“, heißt es in der ersten Strophe der
15strophigen Hymne „Patmos“ von Friedrich Hölderlin. Ist
das so?
Ich halte es mit Klöckner: „Die
Kritik an den Medien muss noch lauter werden.“
Das hier besprochene Buch wird
zweifellos kompetent dazu beitragen. Es gesellt sich aus meiner Sicht
verdienstvoll zu einer Reihe ebenfalls hervorragender im Westend
Verlag erschienener medienkritischer Bücher hinzu. Es sagt, was ist!
Gestern erst erreichte mich die traurige Nachricht via Facebook: „Die Prima Ballerina Assoluta Alicia Alonso ist verstorben“ – eine Meldung der deutschen Ausgabe der kubanischen Zeitung „Granma“. Ich habe den Beitrag hier verlinkt. Bei mir allerdings funktioniert der Link nicht. Möglicherweise wird diese Adresse seitens der USA blockiert? Sollte es LeserInnen dieses Beitrags gelingen, die Seite zu erreichen, bitte ich um eine kurze Nachricht, auf welche Weise dies gelang. Immerhin funktioniert ein Link zum Nationalballett Kuba.
Alicia Alonso im Jahre 1955. Foto: Wikipedia
Alicia Alonso wurde 98 Jahre alt. Sie starb am 17. Oktober 2019 in einem Krankenhaus in Havanna.
Im Nachruf der Compagnie
heißt es (Auszug; via Google Übersetzung aus dem Spanischen):
Alicia Alonso. Foto via Nationalballett Kuba.
„Heute, am 17. Oktober 2019, hat Alicia Alonso uns verlassen. Ihr Vermächtnis ist riesig, ebenso wie ihre Kunst. Alicia ist eine jener Künstlerinnen, die im Herzen der Menschen stehen. Dr. Miguel Cabrera, Historiker des Nationalen Balletts von Kuba, hinterlässt diese aufgeregten Worte.
Im
CIMEIQ-Krankenhaus in Havanna starb am Donnerstag, den 17. Oktober,
um 11 Uhr morgens die große Kunst, das Ansehen seiner Heimat auf den
höchsten Platz in den vier Winkeln der Welt zu setzen. (…)
(…)Aber die Größe der Alonso, für
uns seine Landsleute, besteht nicht nur darin, uns in 65 Ländern
triumphierend vertreten zu haben und die meisten donnernden Ovationen
zu empfangen, die unmöglich zu erklären sind, von Helsinki nach
Buenos Aires, von New York nach Tokio oder Melbourne, sondern zu
setzen Im Dienst seines Landes erhielten alle Ehrungen, darunter die
266 internationalen Preise und Auszeichnungen, 225 mit nationalem
Charakter und die 69 von ihm verfassten choreografischen Kreationen –
romantisch, klassisch und zeitgenössisch (…)“
Ein Deutsche-Welle-Text vom
17. Oktober 2019 ist folgendermaßen überschrieben:
„Über Jahrzehnte begeisterte Alicia Alonso als Tänzerin, Ballettdirektorin und Choreografin weltweit als eine der besten ihres Fachs. Auch ihre Sehbehinderung stand ihrem Erfolg nicht im Weg. Nun starb sie mit 98 Jahren“
Und
weiter heißt es bei der Deutschen Welle:
„Die
„Primaballerina Assoluta“ hinterlasse eine gewaltige Lücke, aber
auch ein unübertreffbares Vermächtnis, twitterte der Staatschef des
sozialistischen Karibikstaates, Miguel Diáz-Canel, zum Tod von
Alicia Alonso. Sie ist die einzige lateinamerikanische Tänzerin, die
mit dem dem Titel „allerbeste Balletttänzerin ihrer Zeit“ geehrt
wurde – eine Auszeichnung, die nur sehr wenigen Tänzern
vorbehalten ist.
Dabei
war Alonso schon sehr früh in ihrer Karriere stark sehbehindert:
Nach einer doppelten Netzhausablösung konnte sie nur noch Schatten
unterscheiden. Seitdem orientierte sie sich auf der Bühne mit Hilfe
von Lichtmarkierungen. Außerdem unterstützte sie ihre
Vorstellungskraft. „Ich tanze in meinem Kopf“, sagte sie immer
wieder.
Mit
ihrer enormen Disziplin gelang es Alicia Alonso auch danach, das
Publikum mit ihren eleganten und gleichzeitig temperamentvollen
Sprüngen zu verführen. Mit 40 Jahren schaffte sie immer noch die 32
raschen Drehungen des schwarzen Schwans in Schwanensee.
Kuba stets verbunden
Nach
dem Sieg der Revolution auf Kuba wurde Alonsos eigene Kompanie zum
Nationalballett Kubas. Mit ihrer Schule schuf sie einen
unverkennbaren Tanzstil. Als Gast tanzte sie weiter an den besten
Häusern der Welt, darunter an der Pariser Oper und dem Moskauer
Bolschoi Theater. Erst mit 74 Jahren hörte sie auf zu tanzen. Als
Choreografin aber machte sie auch dann noch weiter.
An
Kuba hing Alonso bis zum Schluss. Allen finanziell verlockenden
Angeboten und ihrem hohen Ansehen im Ausland zum Trotz blieb sie
ihrer Heimat treu, wo sie tief verehrt wird.
Dem
von ihr gegründeten kubanischen Nationalballett zufolge starb
Alonso im Alter von 98 Jahren in einem Krankenhaus in der kubanischen
Hauptstadt. Die Todesursache blieb zunächst unklar.
ust/ml (afp, dpa, ap, rtr)“
Meine persönliche Begegnung mit Alicia Alonso in Halle
Ich hatte im Oktober 1979 die Ehre Prima Ballerina Assoluta Alicia Alonso anlässlich eines Gastspiels des kubanische Nationalballett am Landestheater Halle im „Theater des Friedens“ zu treffen und als Volkskorrespondent der „Freiheit“ interviewen zu dürfen. Von dem Interview erschien dann letztlich nur ein kleiner Bericht (siehe Repro). Der Bericht erschien ausgerechnet am 17. Oktober 1979 – vierzig Jahre vor dem Tod von Alicia Alonso.
Bericht nach meinem Interview mit Alicia Alonso in der „Freiheit“. Repro: Claus Stille
Ich war unglaublich aufgeregt. Wir saßen uns im Theatercafé gegenüber. Sie trug eine große Brille mit dunklen Gläsern. Die Alonso nahm mir rasch die Aufregung. Wir plauderten – übersetzt von einer Dolmetschererin – über Kuba, die Revolution, Fidel Castro und das Ballett, ihre langjährige Arbeit und die durch die Revolution veränderte Rolle der Frau in der kubanischen Gesellschaft. Ab und zu wurden wir von Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie unterbrochen, die die Alonso etwas fragten und dann wieder zur Probe auf die Bühne verschwanden.
Die Auftritt des kubanischen Nationalballetts am Abend war dann ein großartiges Ereignis. Ebenso wie die Begegnung mit Ballettlegende Alicia Alonso hinter und auf der Bühne.
Damals
schon fast 60 Jahre alt, tanzte sie noch den Schwarzen Schwan.
Einfach genial, in diesem Alter! Am Orchestergraben waren
Beleuchtungsrampen ausgelegt worden, an denen sich die stark
sehbehinderte Tanzlegende orientierte.
Ich
denke gerne an diese Begegnung und das wunderbare Nationalballett
zurück.
Möge
Alicia Alonso in Frieden ruhen. Im Balletthimmel wird sie gewiss
einen Ehrenplatz einnehmen.
Am Donnerstagnachmittag kamen
anlässlich de UNO-Welttags zur Beseitigung großer Armut
VertreterInnen von Dortmunder Hilfseinrichtung an den Rathaustreppen
zusammen. Vertreten waren das Gast-Haus, die Kana Suppenküche, die
Suppenküche Wichern und der Verein bodo e.V. Sie beteiligten sich
gemeinsam an der Kundgebung vorm Dortmunder Rathaus, um auf die
Situation der Wohnungslosen in Dortmund aufmerksam zu machen.
Die KundgebungsteilnehmerInnen. Fotos: Claus Stille
Dortmund zählt aktuell rund 1.400
Wohnungslose: Menschen, die keine eigene Wohnung haben, weil es keine
bezahlbare Wohnung für sie gibt. Dazu kommen noch einige hundert
Menschen, die ohne Obdach komplett auf der Straße leben. Die Stadt
will die Wohnungslosenhilfe zwar weiter ausbauen, doch noch immer ist
manches Zukunftsmusik. Zum Beispiel fehlen neue Unterkünfte.
Wohin im Winter? Alexandra Gehrhardt
(bodo) zur aktuellen Lage
Mit dem Nahen der kalten Jahreszeit
stehen viele Menschen ohne eine Wohnung auch in diesem Jahr wieder
vor der Frage: Wohin im Winter?
Alexandra Gehrhardt von bodo e.V.
informierte die vorm Rathaus versammelten Menschen über die
aktuelle Lage. Demnach gibt derzeit in Dortmund 1.400 Wohnungslose
(die im Hilfesystem überhaupt ankommen), welche sich auf dem Markt
keine Wohnung besorgen können. Alexandra Gehrhardt beklagte einen
starken Anstieg der Wohnungslosen. Noch vor zwei Jahren seien es
weniger als die Hälfte gewesen. Zum einen läge das an der
Statistik, weil seit diesem Jahr auch geflüchtete Menschen in diese
einflössen. Welche nach ihrer Anerkennung eigentlich eine Wohung
haben müssten, sich aber am Wohnungsmarkt nicht versorgen können.
Vor zwei Jahren seien das schon fast tausend gewesen.
Nichtsdestotrotz müsse festgestellt werden, dass die Gesamtzahl der
Wohnungslosen auch ohne die Flüchtlinge anwachse.
Die Stadt hat ein Konzept zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe, doch vieles davon ist „noch Zukunftsmusik
Im Jahr 2018, so Gerhardt, habe die
Stadt ein Konzept über eine Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe
beschlossen. Demnach solle es mehr und auch neue Unterkunftsplätze
geben und eine bessere Begleitung von wohnungslosen Menschen
erfolgen. Lange Zeit sei ein Kritikpunkt die veraltete
Männerübernachtungsstelle mit viel zu wenig Übernachtungsplätzen
(sechs bis acht Männer in einem Zimmer) gewesen. Seit Anfang des
Jahres gibt es nun ein neues etwas komfortableres Gebäude. Die
Frauenübernachtungsstelle sei über viele Jahre hinweg „aus allen
Nähten“ geplatzt. Sie soll nun im kommenden Jahr an einen neuen
Standort nach Hörde umziehen und ebenfalls einige zusätzlich Plätze
bekommen. Ändern solle sich auch etwas am System der
Wohnungslosenhilfe. Ziel der Stadt sei es, die Menschen, die früher
zum Teil Monate in den Notunterkünften verbracht hätten, in einer
recht kurzen Zeit in Wohnungen gebracht werden. Die Stadt habe einen
großen Pool an Notwohnungen – ungefähr 700 an der Zahl – über
die sie verfügen kann. Allerdings, schränkte Alexandra Gerhrhardt
ein, sei vieles davon eben „noch Zukunftsmusik“. Die neue
Frauenübernachtungsstelle werde erst nächstes Jahr fertiggestellt
sein. Die zwei geplanten Übernachtungsstellen, einmal für
suchterkrankte Menschen und einmal für junge Erwachsene gebe es auch
noch nicht. Die für Suchterkrankte soll erst 2020 fertig sein. Wie
mit der für junge Erwachsene aussehe, sei überhaupt noch nicht
klar. Keiner wisse, wer die betreiben soll und wie viel Plätze die
haben werde.
Alexandra Gehrhardt (bodo)
Eigentlich, kritisierte Gerhardt,
bräuchte man diese Plätze jetzt, denn der Winter stehe jetzt vor
der Tür.
Außerdem bestünden in diesem
städtischen Wohnungshilfesystem Ausschlüsse: „Die Angebote sind
für Dortmunderinnen und Dortmunder.“ Und nicht für Menschen,
welche aus einem anderen EU-Land kommen und in Deutschland keinen
Leistungsanspruch haben. Auch seien in den Notunterkünften keine
Hunde erlaubt. Aber oft hätten Wohnungslose, die draußen lebten,
Hunde. Diese Menschen täten sich verständlicherweise schwer damit
ihren Hund abzugeben. Man erhebe die Forderung, dass die Angebote so
gestaltet würden, wie die Menschen sie brauchten.
Eine Studie der Fachhochschule
ergab: Es gibt noch viel mehr Wohnungslose
Steffi Szczepanek und Tim Sonnenberg
von der Fachhochschule Dortmund erstatteten Bericht über die
wichtige, von 80 freiwilligen ihrer StudentInnen, angehende
SozialarbeiterInnen, erstellten Studie vom Mai diesen Jahres. Die
StudentInnen hätten es nämlich unternommen, diejenigen
Wohnungslosen zu zählen, welche nicht in den Hilfeeinrichtungen bzw.
dem Hilfesystem auftauchen. Zusätzlich zu diesen 1.400 Menschen
seien noch einmal 600 Wohnungslose festgestellt worden. Allerdings
sei abzuschätzen, dass es darüber hinaus noch wesentlich mehr
seien. Tim Sonnenberg geht von einem vierstelligen Bereich aus. Kaum
erreicht habe man Menschen mit Roma-Hintergrund und auch wenig
Personen mit bestimmtem Migrationshintergrund aufgrund der
Sprachbarriere. Die ausführenden StudentInnen, berichtete Steffi
Szczepanek, haben festgestellt, dass die von ihnen befragten
Wohnungslosen sehr viel zu sagen gehabt hätten.
Von links: Alexandra Gehrhardt, Steffi Szczepanek und Tim Sonnenberg.
Wohnungslosen auf Augenhöhe
begegnen und ihnen Anerkennung entgegenzubringen. Tim Sonnenberg:
„Das ist mehr als nur ein Schlafplatz“
Die StudentInnen seien sehr ge- und
betroffen von diesem Begegnungen gewesen. Viele von denen seien
inzwischen ehrenamtlich in dem Bereich tätig. Einer der größten
Wünsche, die die Wohnungslosen gegenüber den StudentInnen geäußert
hätten, habe der Menschenwürde gegolten. Die Menschen wollten, dass
man ihnen zuhöre. Dafür hätten sie sich gegenüber den
StudentInnen sehr dankbar gezeigt. Fazit von Tim Sonnenberg: Es gehe
nicht darum den Menschen nur etwas zu essen zu geben. „Es geht
darum sie auf Augenhöhe zu sehen und sie als Menschen wahrzunehmen.
Es geht nicht darum die Leute nur zu verwalten.“ Es gehe um deren
Würde. Und Anerkennung müsse ihnen entgegengebracht werden.
Sonnenberg: „Das ist mehr als nur ein Schlafplatz.“
Das Gast-Haus wird auch in diesem
Winter die Winternothilfe über warme Decken und Schlafdecken hinaus
anzubieten versuchen
Ganz schwer sei es, so Kathrin
Lauterbach vom Gast-Haus statt Bank e.V. , die Menschen im Winter in
die Kälte ziehen zu lassen, wenn ihr Einrichtung schlösse. Im
letzten Jahr hätten alle Dortmunder Initiativen über zehntausend
Schlafsäcke verteilt. Woran man den Bedarf sehe. Würden die
Schlafsäcke draußen nass, seien sie unbrauchbar. Bei Minusgraden
habe man im vergangenem Jahr erstmals das Gast-Haus geöffnet. In der
ersten Etage sei eine „bedingungslose Winternotübernachtung“ –
auch mit Hund – angeboten worden. Toilettenbenutzung und warmes
Duschen wurden ermöglicht. Im Vorhinein geäußerte Bedenken hätten
sich nicht bestätigt. In diesem Jahr habe man vor die Winternothilfe
über warme Getränke und Schlafdecken hinaus
abermals anzubieten.
Kathrin Lauterbach: Wir müssen auch
in unserer Stadt gemeinsam über eine große Winternothilfe – wie
es sie in Köln, Hamburg und Berlin gibt – nachdenken
Allerdings, regte Kathrin Lauterbach
an, müsse einmal gemeinsam darüber nachgedacht werden, warum es
unserer Stadt keine große Winternothilfe gibt, wie in anderen
Städten. Lauterbach nannte als Beispiel Köln, Hamburg und Berlin,
wo es im Winter etwa tausend Extraschlafplätze gibt.
Niedrigschwellige Angebote, die einfach dazu dienten, dass Menschen
bei Minusgraden nicht draußen schlafen müssen. Man wolle einfach
noch einmal das Bewusstsein dafür schärfen, „dass im Winter
unsere Gäste nicht gut versorgt sind“. Es gebe immer weniger
Leerstand in der Stadt und kaum noch wind- und wettergeschützte
Stellen, wo Wohnungslose einen trockenen Unterschlupf finden könnten.
Lauterbach machte klar, dass man diesbezüglich seine Stimme erheben
müsse: „Und wir sind die Stimme unserer Gäste.“
Kathrin Lauterbach (Gast-Haus).
Skandalöse Zustände angesichts
steigendem Reichtums in unserem Land, das sich der Menschenwürde
verpflichtet hat
Die Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt aufgrund aktueller Zahlen, dass im
Jahr 2017 etwa 440.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung waren.
Für 2019 zählt die aktuelle Wohnungsnotfallberichterstattung für
NRW 44.434 wohnungslose Menschen. Das ist ein Anstieg von fast 40
Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mehr als 48.000 Menschen leben
bundesweit ohne jede Unterkunft auf der Straße. Von ihnen starben im
vergangenen Winter mindestens 12 in Folge von Unterkühlung.
In der Erklärung (siehe unten) von
Suppenküchen und Tagestreffs in NRW zum „Welttag zur Bekämpfung
großer Armut“ am 17. Oktober 2019 heißt es: „Angesichts
steigendem Reichtums in unserem Land sind diese Zustände nicht nur
skandalös, sondern schlichtweg unnötig, vermeidbar und in einem
Land, das sich der Menschenwürde verpflichtet hat, nicht länger
hinnehmbar.
Peter Sturm.
Die Kundgebung am Dortmunder Rathaus
musikalisch begleitet hat Peter Sturm mit gesellschaftskritischen
Liedern zur Gitarre. Zum Ausklang wurde Kaffee und Kuchen angeboten.
Vertreter der Jungen Borussen (JuBos) übergaben an Bernd Büscher
(Kana-Suppenküche) vier Schlafsäcke als Spende. Bernd Büscher
moderierte die Kundgebung. Er bedankte sich herzlich dafür, dass
sich in diesem Jahr weitere Hilfeeinrichtungen beteiligten und
reichlich Interessierte erschienen waren.
Bernd Büscher (links) bedankt sich für die Schlafsack-Spenden der Jubos.
Erklärung von Suppenküchen und
Tagestreffs in NRW zum „Welttag zur Bekämpfung großer Armut“
am 17. Oktober 2019
Die Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt aufgrund aktueller Zahlen, dass im
Jahr 2017 etwa 440.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung waren.
44.434 wohnungslose Menschen zählt die aktuelle
Wohnungsnotfallberichterstattung 2019 für NRW, ein Anstieg von fast
40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mehr als 48.000 Menschen
bundesweit leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Von ihnen
starben im vergangenen Winter mindestens 12 in Folge von
Unterkühlung. Angesichts steigenden Reichtums in unserem Land sind
diese Zustände nicht nur skandalös, sondern schlichtweg unnötig,
vermeidbar und in einem Land, das sich der Menschenwürde verpflichtet
hat, nicht länger hinnehmbar. Am 17. Oktober 2019, dem von den
Vereinten Nationen ausgerufenen „Welttag zur Bekämpfung großer
Armut“, wenden wir uns deshalb mit dieser Erklärung an die
Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen. Wir werden
unseren Forderungen durch Aktionen in einigen Städten
Nordrhein-Westfalens Nachdruck verleihen. Wir Suppenküchen und
Tagestreffpunkte bilden ein „Netzwerk der Gastfreundschaft“. Wir
wollen Menschen in schweren, scheinbar ausweglosen Lebenssituationen
– ohne sie nach Herkunft, Alter, Geschlecht oder sonstigen äußeren
Merkmalen zu kategorisieren – einen Ort des respektvollen Willkommens
bieten. Bei uns bekommen Arme und Obdachlose nicht nur Essen,
Kleidung oder medizinische Versorgung, sondern fassen auch neuen Mut.
Sie erleben, dass sie in ihrer Menschenwürde wahrgenommen werden,
dass sich andere mit ihnen für eine gerechtere Welt einsetzen. In
diesem Sinne verstehen wir Initiativen uns als „Stachel im Fleisch“
der Gesellschaft. Wir wollen nicht zulassen, dass immer noch Menschen
in Not kein Dach über dem Kopf haben, dass in unseren Innenstädten
kein Platz ist für die Gesichter der Armut.
Wir fordern:
– Keine Vertreibung! Unsere
Gäste sind keine Menschen zweiter Klasse, nur weil sie arm und
obdachlos sind. Sie haben ein Recht auf Teilhabe am öffentlichen
Leben und auf den Aufenthalt auf öffentlichen Straßen und
Plätzen. – Öffnung von geschützten, trockenen öffentlichen
Räumen bei Minustemperaturen! Eine U-Bahn-Station ist keine Wohnung,
ein Schlafsack ist kein Bett – dennoch können großräumige,
niedrigschwellige Angebote wie z.B. Bahnhöfe, Turnhallen, Kirchen
oder Wohncontainer für obdachlose Menschen in kalten Winternächten
überlebensnotwendig sein. – Unterbringung an den Bedürfnissen
der Betroffenen ausrichten! Wer einen Schlafplatz braucht, muss einen
bekommen – ohne Ämtergänge, ohne Kostenträger. Neben bestehenden
Angeboten wie städtischen Übernachtungsstellen, Beratungs- und
Wiedereingliederungshilfen müssen erfolgreiche Ansätze wie „Housing
First!“ verstärkt entwickelt und verwirklicht werden. –
Bezahlbaren Wohnraum schaffen! Die Anzahl der Sozialwohnungen hat
sich seit 2006 halbiert. Eine soziale Wohnungspolitik muss angesichts
explodierender Mieten in den großen Städten diesen Trend stoppen
und sich auch an den Bedürfnissen der schwächsten Mitglieder der
Gesellschaft orientieren.
Der Beschluss des Bundestages vom 17. Mai, mit dem die BDS-Kampagne als ein Beitrag zur zunehmenden Bedrohung durch den Antisemitismus in Europa verurteilt wird, ist ein schwerwiegender Anlass zur Sorge. Er markiert die BDS, eine gewaltfreie palästinensische Initiative, als antisemitisch und fordert die Bundesregierung auf, nicht nur der BDS selbst, sondern einer jeden sie fördernden Organisation jegliche Unterstützung zu verweigern. Der Beschluss verweist auf die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden, und zwar ohne Israels anhaltenden Missbrauch des grundlegendsten Menschenrechts, der Selbstbestimmung, bezüglich des palästinensischen Volkes auch nur zur Sprache zu bringen. Ebenso wenig verweist dieser Beschluss auf die bedeutende Rolle, die eine frühere BDS-Kampagne, nämlich die gegen den Rassismus Südafrikas, bei der Herbeiführung einer gewaltlosen Beendigung des dortigen Apartheid-Regimes gespielt hat; auch fehlt jeder Hinweis darauf, dass selbst diejenigen, die aus strategischen oder pragmatischen Gründen gegen diese BDS-Kampagne gewesen waren, nie versucht hatten, deren Vertreter zu dämonisieren. Von Richard Falk & Hans von Sponeck
Das
Konzentrationslager
Buchenwald nahe Weimar bestand von 1937–1945. Bei
Annäherung der 3. US-Armee übernahmen am 11. April 1945 die
Häftlinge die Leitung des Lagers von der abziehenden SS, nahmen 125
der Bewacher fest, öffneten die Tore und hissten die weiße Fahne.
Bereits seit dem 8. April hatten viele Häftlinge durch Boykott und
Sabotage ihre von den Nationalsozialisten so genannte Evakuierung
verhindert und die US-Armee per Funk um Hilfe gerufen. Margaret
Bourke-White (1904-1971), erster weiblicher „staff photographer“
des populären Bildmagazins LIFE, erhielt im Frühjahr 1942
als erste Fotografin eine Akkreditierung als
Kriegsberichterstatterin. Kurz vor Kriegsende kam sie nach
Deutschland, um dort für die US Air Force Bombenschäden zu
dokumentieren. Am 15. April erreichte sie das Konzentrationslager
Buchenwald, wo sie die katastrophalen Zustände im Lager
fotografierte. Die Kunsthistorikerin Dr. Maria Schindelegger hielt am
vergangenen Freitag zu Bourke-Whites bekanntesten Bildern und Motiven
ein Vortrag in der Gedenkstätte Steinwache.
Von Links: Dr. Maria Schindelegger und Markus Günnewich. Fotos: C. Stille
Das Konzentrationslager Buchenwald
Im Juli 1937 lässt die SS auf dem Ettersberg bei Weimar den Wald
roden und errichtet ein neues KZ. Mit dem Lager sollen politische
Gegner bekämpft, Juden, Sinti und Roma verfolgt sowie
„Gemeinschaftsfremde“, unter ihnen Homosexuelle,
Wohnungslose, Zeugen Jehovas und Vorbestrafte, dauerhaft aus dem
deutschen „Volkskörper“ ausgeschlossen werden. Schon bald
wird Buchenwald zum Synonym für das System der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Nach Kriegsbeginn
werden Menschen aus ganz Europa nach Buchenwald verschleppt. Im KZ
auf dem Ettersberg und seinen 139 Außenlagern sind insgesamt fast
280.000 Menschen inhaftiert. Die SS zwingt sie zur Arbeit für die
deutsche Rüstungsindustrie. Am Ende des Zweiten Weltkrieges ist
Buchenwald das größte KZ im Deutschen Reich. Über 56.000 Menschen
sterben an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung.In
einer eigens errichteten Genickschussanlage werden über 8000
sowjetische Kriegsgefangene erschossen. Widerstandskämpfer bilden im
Lager eine Untergrundorganisation, um das Wüten der SS nach besten
Kräften einzudämmen. Gleichwohl wird das „Kleine Lager“
zur Hölle von Buchenwald. Noch kurz vor der Befreiung sterben
Tausende der entkräfteten Häftlinge.
Nach 1945 nutzte die sowjetische
Besatzungsmacht Buchenwald als Gefängnis
Als sogenanntes
Speziallager Nr. 2 wurde Buchenwald ab August 1945 ein Gefängnis
der sowjetischen Besatzungsmacht. Es diente zur Internierung von
Deutschen. Seit August 1945 führte der sowjetische Sicherheitsdienst
die vorhandenen Baulichkeiten des Konzentrationslagers Buchenwald
weiter. Vorrangig wurden dort lokale Funktionsträger der NSDAP, aber
auch Jugendliche und Denunzierte interniert. Jeglicher Kontakt nach
außen wurde unterbunden, ein auch nur im Ansatz rechtsförmiges
Verfahren fand nicht statt.
Von den 28.000 Insassen starben vor
allem im Winter 1946/47 über 7000 von ihnen an den Folgen von
Hungerkrankheiten. Im Februar 1950, kurz nach der Gründung der DDR,
wurde das Lager von den Sowjets aufgelöst.
Referentin Dr. Maria Schindelegger wurde mit einer Arbeit über
die Fotografien der US-Amerikanerin Margaret Bourke-White promoviert
Dr. Maria Schindelegger hat sich im
Bereich Fotogeschichte mit der visuellen Repräsentation von Krieg
und Gewalt sowie dem Themenkomplex Fotografie und
Holocaust beschäftigt und wurde mit einer Arbeit über Margaret
Bourke-Whites Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg promoviert.
Sie arbeitet derzeit als Kunsthistorikerin bei der Stiftung
DASMAXIMUM.
Am vergangenen Freitag war Schindelegger zu Gast in der Gedenkstätte Steinwache. Ihr Referat stand unter dem Titel „To map the place with negatives.“ In ihrem Vortrag beschäftigte sich die Kunsthistorikerin mit Margaret Bourke-Whites Fotografien aus dem KZ Buchenwald.
Über die Masse an
existierenden Fotografien aus dem KZ Buchenwald war Maria
Schindelegger überrascht
Als sich Maria Schindelegger mit den
Fotografien des befreiten KZ Buchenwald beschäftigte, sagte sie vor
eine interessiertem Publikum in der Steinwache, sei sie im ersten
Moment überrascht gewesen von der Masse an Fotografien, die es gibt.
Aber im zweiten Moment auch überrascht davon, wie wenig davon
eigentlich veröffentlicht ist und wie wenig es an wissenschaftlicher
Aufbereitung gibt. Was ihrer Meinung daran liegt, dass die
Fotografien zu ihrer Entstehungszeit sehr stark ausgesiebt worden
seien und sehr wenig Aufnahmen Eingang in Publikationen fanden. Die
wenigen, die veröffentlicht und immer weiter fortgeschrieben worden
sind, hätten sich zu einer Art Ikone entwickelt, die sozusagen
stellvertretend den Holocaust repräsentierten. Erst viel später,
eigentlich erst in den 1990er und den 2000er Jahren seien sie als
historische Quelle betrachtet worden. Man habe dann versucht „durch
die Fotografien hindurch zu schauen, auf eine Welt, die vergangen
ist“, um diese zu rekonstruieren. Schindelegger interessierte an
diesen Fotografien, dass sie ein Kommunikationsmedium seien. Sie habe
sich gefragt: Wie wird etwas dargestellt? Warum wird etwas so
dargestellt? Was passiert mit den Bildern wenn sie in die
Öffentlichkeit kommen?
Dwight D. Eisenhower damals über
sein Eindruck vom KZ Buchenwald: „Nichts
hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.“
Nach der Entdeckung der
Konzentrationslager wären die Fotografien aus ihnen zu einem
gewaltigen Medienereignis geworden, sagte Schindelegger.
Wie man nachlesen kann, nahmen auch
Politiker und Militärs, wie Dwight D. Eisenhower, der
Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Anteil an den nun
sichtbar gewordenen Grauen. Eisenhower damals über sein Eindruck vom
KZ Buchenwald: „Nichts hat mich
je so erschüttert wie dieser Anblick.“
Von dem Gräuel
schockiert, befahl US-General Patton zwangsweise 1.000 Weimarer
Bürger ins KZ Buchenwald zur dessen Besichtigung
Am 15.
April 1945 kam US-General George S. Patton nach Buchenwald. Von dem
Gräuel schockiert, befahl Patton für den darauffolgenden Tag,
zwangsweise 1.000 Weimarer Bürger kommen zu lassen und sie mit der
Realität vor den Toren der Kulturstadt Weimar zu konfrontieren.
Außerdem forderte er Eisenhower auf, Pressevertreter nach Buchenwald
zu schicken, um Zeugnis von der „die Brutalität der Deutschen“
zu nehmen. Eine Gruppe amerikanischer Reporter erreichte am 24. April
1945 Buchenwald.
Dr. Schindelegger
zitierte Margaret Bourke-Wight aus deren Autobiografie betreffs ihrer
Eindrücke bei ihrer Ankunft im KZ Buchenwald: „Ich war der tiefen
Überzeugung, dass die Gräueltaten dokumentiert werden mussten. So
zwang ich mich diesen Ort mit Fotos kartographisch zu erfassen.“
Konfrontation
Interessant, so
merkte Maria Schindelegger an, die Orte und Situationen, welche
Bourke-Wight für ihre Kartographie auswählte.
Etwa, zeigt ein von
Schindelegger präsentiertes Bild, die Inszenierung der ins Lager
kommandierten Weimarer BürgerInnen. Die sind auf dem Schwarzweißfoto
als dunkle Masse im Hintergrund zu sehen. Im Vordergrund steht ein
Lkw-Anhänger im Innenhof des Lagerkrematoriums voll mit weiß in der
Sonne leuchtenden Leichen. Deutsche und US-Soldaten als Befreier
stehen sich frontal (Bedeutung des Motivs: Konfrontation) gegenüber.
Die Referentin zeigte zum Vergleich auch Fotos (aufgenommen von einer Mauer aus) von Walter Chichersky vom U.S. Signal Corps (Fernmeldetruppe des US-Heeres). Deutsche und Besatzer stehen sich gegenüber.
Was räumlich und
gleichzeitig moralisch von einander trenne, erklärte Dr.
Schindelegger.
„Als
Scharnier zwischen beiden Gruppen fungiert ein Soldat am linken
Bildrand. Möglicherweise als Vermittler zwischen beiden Gruppen
gedacht.“
Im Zentrum der
Konstellation steht eine Gruppe von Deutschen in der
Gegenüberstellung (der deutschen Bevölkerung) zu den Verbrechen der
Deutschen, um deren Reaktion darauf festzuhalten. Bourke-Wright sei
es um das Zu-Sehen-Geben, des beim Sehen Zusehens und um das Einsehen
gegangen.
Schindelegger: „Der
außerbildliche Betrachter wird über die Aufnahmen nicht nur selbst
mit dem Verbrechen konfrontiert, sondern fungiert als Zeuge der
Konfrontation der Deutschen.“
Ein anderes Foto
bildet Weimarer BürgerInnen ab, die offenbar auf mit Leichen
beladenen Anhänger. Eine Frau im Hintergrund blickt an der grausigen
Szenerie vorbei in die Kameralinse. Eine andere, gleich vorn, hält
sich ein Taschentuch wegen des gewiss bestialischen Gestanks der
Leichen vor Mund und Nase. Eine andere Frau senkt ihren Blick und
beschirmt ihre Augen.
Veröffentlicht
seien keine der Aufnahmen von Margaret Bourke-Wright. Schindelegger
vermutet: „Möglicherweise wurden sie als zu didaktisch angesehen.“
Andere Fotos
zeigen Häftlinge, die unter katastrophalen menschlichen und
hygienischen Bedingungen untergebracht waren
Des Weiteren zeigte
die Referentin Fotos von den Unterkünften der Häftlinge aus dem
sogenannten „Kleinen Lager“. Dort waren meist kranke und nicht
mehr arbeitsfähige Häftlinge unter katastrophalen menschlichen und
hygienischen Bedingungen untergebracht. In einer einzelnen Baracke
hätten bis zu 1.900 Männer eingepfercht auf hohen Holzpritschen
dahinvegetieren müssen. Bourke-Wrights Aufnahmen von dort folgten
einen frontalen und eine diagonalen Blickwinkel. In einem der Bilder
konzentrierte sich die US-Fotografin auf einen ausgemergelten
Häftlingen mit weit aufgerissenen Augen. Auf einen weiteren Bild
korrespondiert ein vor einem der Häftlinge auf der Pritschenkante
positionierter leerer Löffel mit dem darbenden Häftling dahinter.
Ein
interessanter, informativer, bedrückender Vortrag
Ein sehr
interessanter, informativer, aber ob seines Inhalts freilich
bedrückender Vortrag. Kritisch ist anzumerken, dass die Aufnahmen in
relativ kleinem Format projiziert auf der Leinwand erschienen und
besonders für das weiter hinten sitzende Publikum schwer zu erkennen
waren. Ganz zu schweigen von den Untertiteln der Fotos.
Markus Günnewig, wissenschaftliche Mitarbeiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache und seit 2015 deren stellvertretender Leiter ergänzte am Ende des Referats: „Noch im Februar 1945 rollte ein Häftlingstransport von Dortmund nach Buchenwald.“
Beitragsbild: Archiv Claus Stille/Repro des Fotos von 1970 vom Eingangstor des KZ Buchenwald
Im Anschluss an die diesjährige
Mitgliederversammlung des Unternehmensverbandes Östliches Ruhrgebiet
e.V. referierte der Rechtsanwalt und Politiker Dr. Gregor Gysi am
vergangenen Dienstag im Dortmunder Verbandshaus zum Thema „Zukunft
der sozialen Marktwirtschaft“. Der Vortrag kam an. Gysi referierte
gewohnt rhetorisch geschliffen. Sein Vortrag war humorvoll und
aufgepeppt mit jeder Menge Anekdoten. Am Ende gab sich
Vorstandsvorsitzender Arndt Dung begeistert: Er habe gemeint, in dem
Politiker der Partei DIE LINKE ein ganz anderes Parteimitglied erlebt
zu haben.
Von links: Arndt Dung, Vorstandsvorsitzender, Dr. Gregor Gysi und Ernst-Peter Brasse, Geschäftsführer. Fotos: C. Stille
Wieso der Unternehmerverband
ausgerechnet auf den Linken Gregor Gysi kam
Gregor Gysi ist Mitglied der Partei DIE
LINKE und Präsident der Europäische Linke (EL). Nordstadtblogger
wollte vom Unternehmerverband wissen, wie es dazu kam, ausgerechnet
Gysi zum diesjährigen Herbstvortrag anzufragen. Geschäftsführer
Ernst-Peter Brasse erklärte, die Unternehmensverbände seien
„grundsätzlich überparteilich“. Gegenüber Linken habe man
deswegen keine Berührungsängste. Brasse: Herr Gysi ist aus unserer
Sicht eine Person, die ihren Anteil an der Entwicklung Deutschlands
im Anschluss an die Wiedervereinigung gehabt hat und auch noch hat.
Rhetorisch geschickt und in der Sache klar vertritt er sein Meinung
auch in seiner eigenen Partei, was aus unserer Sicht nicht bei jedem
Abgeordneten in dieser Form der Fall ist.“
Aus Sicht der Unternehmensverbände sei
es, so Brasse, die soziale Marktwirtschaft, die einen gerechten
Ausgleich zwischen Kapitalismus und Umverteilung suche. „Herr Gysi
hat eine bestimmte und auch klare Vision zur Zukunft der sozialen
Marktwirtschaft, die gewiss nicht jeder Unternehmensvertreter teile.
Doch sei es wert sei gehört und diskutiert zu werden. Brasser
schränkte ein, diese beträfe jedenfalls den Teil, der sich nicht
mit Enteignungen beschäftigt.“
Der Beruf des Rinderzüchters nannte
Gysi die beste Voraussetzung, um in die Politik zu gehen: „Ich kann
mit Hornochsen umgehen“
Letzteres brachte freilich Gregor Gysi
dann doch am Rande unaufgeregt aufs Tapet. Er sprach allerdings von
Überführung in Gemeineigentum, die nötig werden könnte. Niemals,
versprach der Referent, würde er den gesamten Mittelstand enteignen
wollen.
Dr. Gregor Gysi.
Arndt Dung, der Geschäftsführer des
Unternehmensverbandes, hatte nach der herzlichen Begrüßung es
Gastes aus Berlin dessen gewesenen Funktionen aufgezählt, die von
heute bis in die letzten Tage der DDR zurückverfolgbar sind. Gysi
ergänzte noch, dass er mehrere Talkshows moderiere und erinnerte
daran, dass er zusammen mit dem Abitur den Facharbeiterabschluss für
Rinderzucht (in der DDR als Berufsausbildung mit Abitur auch in
anderen Berufen üblich) erwarb. Eine „Schwachsinnsregelung der
DDR“, wie Gysi meint, denn das sei herausgeworfenes Geld und
gewesen. Die meisten Menschen studierten ja dann und arbeiteten nicht
im Ausbildungsberuf. Sein Vater sagte damals zu ihm: „Wenn du je
mal Asyl in einem anderen Land beantragen musst, kannste deine
Ausbildung zum DDR-Juristen vollständig vergessen. Aber als Cowboy
bist du weltweit gefragt.“ Außerdem, findet Gysi, sei das beste
Voraussetzung um in die Politik zu gehen. Denn da sei Ausmisten ganz
wichtig. „Und ich kann künstlich besamen. Wenn Sie das nicht
können, gehen Sie nicht in der Politik. Und vor allem: Ich kann mit
Hornochsen umgehen.“
Gregor Gysi konstatiert eine
tiefgehenden Verunsicherung in der Gesellschaft, die sich in
politischer Instabilität äußere
Gysi wie er leibt und lebt! Da hatte er
sein Publikum mit ein paar Anekdoten aufgelockert damit sozusagen in
der Tasche.
Die derzeitige politische Situation
nach den letzten Landtagswahlen bezeichnete Gysi als Kern einer
tiefgehenden Verunsicherung. Die sich dann auch in einer politischen
Instabilität äußere. Die Union, die SPD und auch DIE LINKE hätten
zunehmend verloren. Gysi sprach darüber hinaus von einem „weltweiten
Trumpisierungsprozess“. Es begänne der Hang der Leute „zum
sogenannten starken Mann“. Das Problem dabei, so Gysi: „Der
starke Mann achtet nicht besonders die Demokratie und man werde ihn
unter Umständen nicht wieder los. Demokratie ist ja nicht nur das
Recht zum Wählen, sondern auch das Recht zum Abwählen.“
Das alte Parteiensystem geht zu Ende
„Die Zeit der alten Volksparteien ist
vorbei. Es geht zu Ende“, stellte der Referent fest. Das
Parteiensystem wandele sich grundlegend. All das habe seine Gründe.
Spätestens seit 2005 gebe es keinen politischen Richtungsstreit mehr
zwischen verschiedenen Gesellschaftskonzepten. Habe man ein
konservatives und ein sozialdemokratisches Lager, würden
Alternativen sichtbar. Gregor Gysi erinnerte an die Zeit von
Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt: „Das waren doch
Auseinandersetzungen! Sowohl in der Gesellschafts- als auch in der
Außenpolitik.“ Da sei noch mit Leidenschaft gekämpft worden.
Und die eine Hälfte der Gesellschaft
habe doch immer damit leben können, wenn die andere gesiegt habe.
Man ging ja mit seinen Rechten nicht unter.
Die Unterscheidung von Konservativen
und Sozialdemokratie wird immer schwieriger
Seit 2005 habe man nun eine Große
Koalition. Die Unterscheidung von Konservativen und Sozialdemokratie
werde immer schwieriger.
Heute müsse doch überlegt werden, was
man wolle. Sei man für Schwarze Null oder dagegen, für mehr Geld
für Rüstung oder dagegen, für Steuersenkungen für
Besserverdienende, für eine weitere Flexibilität des
Arbeitsmarktes, für weniger Mieterschutz und das Ausbleiben von
öffentlichen Investitionen oder für das Gegenteil. Zum Beispiel
pro Investitionen in Bildung und Infrastruktur, für
Steuergerechtigkeit und eine wirksame Bekämpfung der Alters- und
Kinderarmut und die Schaffung bezahlbaren Wohnraums?
Parteibindungen lösen sich auf
Über all das könne man ja
hervorragend streiten im Parlament oder auf den Straßen. Es könnte
über Alternativen diskutiert werden. Stattdessen lösten sich
Parteibindungen auf. Mit der immer tieferen sozialen Spaltung würden
die Klassengegensätze so hoch, „dass Parteien schlicht nicht mehr
in der Lage seien, die widerstreitenden Interessen in ein oder zwei
Volksparteien zu artikulieren – geschweige denn politische
Repräsentanz zu verschaffen. Langfristig gesehen hält es Gysi für
möglich, dass im Bundestag vier bis sieben Parteien mittlerer Größe
sitzen.
Glaubwürdigkeit geht verloren.
Parteien müssen Stil und Inhalt ihrer Politik ändern
Als Ding der Unmöglichkeit bezeichnete
Gysi – und nahm seine eigene Partei dabei nicht aus – wenn man in
der Politk etwa in Menschenrechtsfragen mit zweierlei Maß messe.
Dann verliere man an Glaubwürdigkeit. Gleiches gelte für
„Kungelrunden“ in den Parteien betreffs der
KandidatInnenaufstellung. Was ebenso für die Art und Weise gelte,
wie Ursula von der Leyen plötzlich zur EU-Kommissionspräsidentin
vorgeschlagen wurde. Sie sei doch im Wahlkampf für das EU-Parlament
überhaupt nicht aufgetaucht. Viele WählerInnen schrecke das ab.
Entweder sie wählten überhaupt nicht mehr oder rechtspopulistische
Parteien aus Protest. Was Deutschland betreffe, so werde die AfD mit
dergleichen immer stärker gemacht. Auch wenn man deren Konzepten
entgegenkomme, wie z. B. die CSU in Bayern, wählten die Leute dann
doch lieber das Original. Die Parteien, ist sich Gysi sicher, müssten
Stil und Inhalt ihrer Politik ändern, damit sich das Interesse die
AfD zu wählen, um ihnen einen Denkzettel zu verpassen, erledigt.
Statt schlanken Staat braucht es
eine Investitionsinitiative, stellt sich Dr. Gysi vor
Das Dogma vom schlanken Staat sei
womöglich auch von den anwesenden UnternehmerInnen begrüßt worden,
nahm Gysi einmal an. Doch nun sei der Staat zu schlank und habe sich
auch von bestimmten kulturellen und sozialen Verantwortungen
zurückgezogen.
In Wirklichkeit bräuchte es doch eine
Investitionsinitiative, stelle sich Gysi vor.
Was damit verbunden wäre, dass die
Privatwirtschaft Aufträge bekäme. Höhere Löhne, Renten und
Sozialleistungen wären ebenfalls vonnöten. Um die Kaufkraft und die
Binnenwirtschaft zu stärken. Gysi: „Das deutsche Exportmodell
stößt an seine Grenzen.“ Schließlich müssten sich die
Abnehmerländer verschulden, um unsere Waren zu erwerben. Die würfen
wir ihnen dann wiederum vor.
Gysi brachte einen Holzweg ironisch
auf den Punkt: „Wir haben zur Schwarzen Null ein sexuell-erotisches
Verhältnis“
Der Redner ironisierte: „Wir haben
zur Schwarzen Null ein sexuell-erotisches Verhältnis.“ Da käme
man mit Logik nicht dagegen an. Er erklärte: Er habe überlegt,
wann er in seinem Leben für Vernunft nicht zugänglich war: „Das
war in den wenigen sexuell-erotischen Momenten, die ich hatte.“ Da
sei der Mann eben außerhalb seiner selbst. Es müsse unbedingt
zwischen privaten Haushalten, beim ihm ergebe Sparen einen Sinn, und
Staatshaushalt unterschieden werden. Der Staat müsse nämlich, wenn
die Konjunktur lahme und die Steuereinnahmen sänken, mehr ausgeben,
um die Wirtschaft anzukurbeln.
Investitionen in die Zukunft müssten
möglich sein. Die kämen doch unseren Kindern und Enkelkindern
zugute. Gerade heute wären Darlehen, die die Bundesregierung
aufnimmt günstig – man käme doch statt Zinsen zu zahlen
zusätzlich noch Geld dafür, dass man es aufnehme!
Die Mitte bezahlt alles
Gregor Gysi skandalisierte, dass in
Deutschland die Mitte quasi alles bezahle. An die Großen trauten
sich die Regierenden nicht ran. Er würde einen neuen
Spitzensteuersatz (wie er unter Helmut Kohl noch galt) von 53
Prozent, aber nur für das, was über 100.000 Euro im Jahr verdient
würde – favorisieren. Das würde uns alle nicht ruinieren, zeigte
sich der Linkspolitiker sicher. Im Übrigen gab Gysi zu bedenken,
dass die berühmten Steuerschlupflöcher ja nicht von den Konzernen,
sondern vom Gesetzgeber geschaffen werden. Der Gesetzgeber sei
schuld. Dass die Konzerne sie freilich ausnutzten sei ja nicht
verwunderlich. Sie seien ja eben sogar den Aktionären gegenüber
dazu verpflichtet, machten sich sonst gar strafbar. Dr. Gysi dazu:
„Es gibt seitens des Gesetzgebers viel zu wenig Reparatur
diesbezüglich.“
Das Land nicht länger auf
Verschleiß fahren
Vehement mahnte Gysi an, das Land nicht
länger auf Verschleiß zu fahren. Die Bundesländer freuten sich
über höhere Einnahmen: „Aber unsere Infrastruktur: Straßen,
Brücken, Schienen, verfallen“, Schulen bröckelten vor sich hin
und LehrerInnen fehlen!
Der absolute Skandal sei: „Insgesamt
haben wir einen Investitionsrückstand laut Kreditbank für
Wiederaufbau von 126 Milliarden Euro!“ Was solle da die Schwarze
Null?!, fragte Gysi: „Wir müssen sinnvoll investieren!“
Wichtig: Überwindung der sozialen
Spaltung
Als extrem wichtige Aufgabe markierte
der Referent die Überwindung der sozialen Spaltung, die
hierzulande, in Europa und weltweit wachse.
Stabiler sozialer Frieden machte
unsere Wirtschaft zu dem was sie heute ist
Unsere Wirtschaft sei unter den
Bedingungen eines stabilen sozialen Friedens zu dem geworden was sie
heute ist. „Das war die soziale Marktwirtschaft“, rief Gregor
Gysi in Erinnerung. „Wir sollten dieses Pfunde, des sozialen
Zusammenhalts der Gesellschaft nicht leichtfertig für einen
eventuellen kurzfristigen Vorteil größeren Gewinnmargen aus der
Hand geben. Niemand weiß, was dann passiert.“
Das alte Sozialstaatsverständnis habe
geheißen Aufstieg für alle, oder zumindest für die meisten.
Ansonsten habe es Systeme zu sozialen Sicherung gegeben.
Die Löhne hätten sich an der
Produktivität orientiert.
Leiharbeit und prekäre Arbeit geißelte
Gysi hart. Und den Niedriglohnsektor, der der größte in der EU ist
ebenfalls: „Zwanzig Prozent der Beschäftigten arbeite zum
Niedriglohn!“
Gysi zum Kapitalismus: er hat 1990
nicht gesiegt, er ist nur übriggeblieben
Eines sieht der Linkenpolitiker sein
Verhältnis zum Kapitalismus und zur Wirtschaft so: „1990 hat der
Kapitalismus nicht gesiegt. Er ist nur übriggeblieben.“
Der Kapitalismus könne eine höchst
effiziente Wirtschaft, eine Top-Forschung und Wissenschaft und auch
eine Top-Kunst- und Kultur hervorbringen. Was er nicht kann, ist den
Frieden zu sichern. Es gehe immer wieder um Ressourcenzugang. Und an
Kriegen werde zu viel verdient. Wenn wir diese Strukturen nicht
überwänden, würden wir auch die Kriege nicht loswerden.
Außerdem könne der Kapitalismus keine
soziale Gerechtigkeit herstellen. Und mit der ökologischen
Nachhaltigkeit habe er Schwierigkeiten. Die Emanzipation des Menschen
könne er ebenfalls nicht herstellen.
Bei der öffentlichen
Daseinsvorsorge müssen wir „höllisch aufpassen“
Dennoch abschaffen will der
demokratische Sozialist Dr. Gregor Gysi den Kapitalismus nicht. Es
müsse aber überlegt werden was bewahrt und was schrittweise
überwunden werden muss. Bei öffentlicher Daseinsvorsorge, Energie,
Wasser, Bildung, Gesundheit, Mobilität und in puncto Wohnen müsse
man „höllisch aufpassen“. Die Daseinsvorsorge müsse entweder in
öffentlichem Eigentum stehen oder in einer öffentlichen
Verantwortung. Große Banken und Konzerne seien ihm zu mächtig. Gysi
würde sie verkleinern. Wenn das nicht gelänge, dann würde er sie
in Gemeineigentum überführen wollen.
Sich nicht dem Zug der Zeit
widersetzen
Im Anschluss an den erwartbar
kurzweilig gehaltenen Vortrag von Dr. Gregor Gysi wurden von einigen
der Anwesenden mehrere interessante Fragen – etwa betreffs der
Auswirkungen der Digitalisierung – gestellt. Gysi antwortete, die
müsse differenziert betrachtet werden. Dem Zug der Zeit jedoch dürfe
man sich nicht widersetzen: „Maschinenstürmerei bringt nichts“.
Und so Gysi: „Wir werden noch erreichen die Streichung der
Lohnnebenkosten.“ Es brauche eine Wertschöpfungsabgabe, die sie
ersetze.
Unternehmer Werner Wirsing bewundert
Gregor Gysi schon lange
Der anwesende „Genussmensch“
(Süddeutsche Zeitung) Werner Wirsing, einstiger
Selfmade-Unternehmer, outete sich als langjähriger Bewunderer von
Gregor Gysi. Er habe in den 1990er Jahren immer gehofft, eine andere
Partei würde Gysi ein Angebot machen zu ihr zu wechseln. Mit Gysi in
Regierungsverantwortung, meinte Wirsing, wäre es mit Deutschland
besser gegangen. Wirsing bot Gysi eine Wette darauf an, dass die
Lohnnebenkosten in beider Lebenszeit nicht abgeschafft werden.
Ansonsten habe ihm Gysi aus dem Herzen gesprochen. Sein Frust über
die Politik aber hätte sich beim ihm gleichzeitig auch verstärkt.
Wirsing kritisierte die heutige Politikergeneration. Er skizzierte
diese so: „Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal“. Solche Politiker
könnten ohne ihren Beruf nicht mehr existieren und klebten deshalb
an ihrem Abgeordnetenmandat.
Gregor Gysi ist ein Zweckoptimist:
„Wir schaffen das schon!
Gregor Gysi ist seit seinem 23.
Lebensjahr Rechtsanwalt. Zu einem Rechtsanwalt kämen nur Leute mit
Problemen, so Gysi: „Probleme ziehen mich an.“ Und er sei bemüht
sie zu lösen. Er sei ein Zweckoptimist. Damit erklärte er, was ihn
stets motivierte so viele Probleme und Schwierigkeiten auch mit
seiner Partei aus- und durchzustehen. Gysi: „Ich muss jetzt
höllisch aufpassen, die SPD hat so viele Probleme …“ Heiterkeit
allenthalben. Ein unterhaltsamer und rhetorisch geschliffen
vorgetragener Herbstvortrag war das, der allen gefallen haben dürfte.
Gregor Gysi munterte Werner Wirsing und das gesamte Publikum zum
Schluss dazu Optimismus zu wagen: „Sie dürfen nicht so
pessimistisch sein. Wir schaffen das schon!“ Abermals Heiterkeit
und herzlicher Beifall. Dr. Gregor Gysi düste weiter nach Düsseldorf
…