Rundfahrt im modernen Elektrobus zu Dortmunds Zukunftsprojekten

Am vergangenen Mittwoch hatte Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau zu einer Rundfahrt zu beispielgebenden Projekten eingeladen. Hafenquartier, Westfalenhütte, Phoenix West, Westfalenhallen, Wohnungsbau – in Dortmund wird aktuell in erheblichem Umfang investiert und auch in den kommenden Jahren werden weitere öffentliche und private Millionenbeträge in
Projekte fließen, die die Stadtentwicklung vorantreiben und zudem neue
Arbeitsplätze generieren werden. Politiker und Journalist*innen wurden mit einem modernen Elektrobus zu den einzelnen Stationen gefahren.

Am Hafen entsteht ein neues Quartier

Zunächst wurden die Teilnehmer*innen von Hafenchef Uwe Büscher auf dem Hafengelände in einer großen, ehemaligen Produktionshalle begrüßt.

Hafenchef Uwe Büscher.

Die übrigens zu einem Teil erhalten und genutzt werden wird. OB Ullrich Sierau, Planungsdezernent Dortmund Lutger Wilde, Thomas Westphal, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung sowie Dr. Ludwig Jörder, Bezirksbürgermeister Innenstadt-Nord und der Vorstand der Dortmunder Hafen AG und Geschäftsführer von D-Port21, Uwe Büscher informierten anhand einer Karte über die geplante Städtebauliche Entwicklung des Projekts Hafenquartiers/Speicherstraße/D-Port.

Büscher versprach eine „hohe urbane Aufenthaltsqualität“ für das künftige Quartier. In der Mitte des Quartiers werde es ein Berufskolleg geben. Viele kleine und mittelständische Unternehmen sollen eine Möglichkeit erhalten, sich zu entwickeln.

Am Hafen entsteht ein neues Quartier. Einladende Uferpromenade, Terrassen mit Cafés und kleinen Restaurants, markante Speichergebäude neben modernen
Neubauten und viel Grün. Die Speicherstraße soll sich in den kommenden Jahren zu einem attraktiven Quartier der Stadt mit vielen neuen Arbeitsplätzen rund um die Digitalität (z.B. Lensing Media Port und Akademie für Theater und Digitalität) – „Digitalhafen genannt“, so Ullrich Sierau – entwickeln, ohne die Aktivitäten der
Unternehmen im Hafen zu beeinträchtigen. Auch die Gartenanlage „Hafenwiese“ wird unberührt bleiben. Ebenso der Schmiedinghafen mit dem Binnenschiffverkehr. Eine Drehbrücke soll reaktiviert werden, damit die Leute auch von Westen aus ins Quartier strömen können.

Beide im Hafen befindliche, unter Denkmalschutz stehenden Kräne, so berichtete Lutger Wilde, würden erhalten bleiben, aber eine andere Stelle

Thomas Westphal, Geschäftführer für Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund am Plan für das Hafenquartier. Fotos: Claus Stille

versetzt werden. So werde die Hafenatmosphäre im Kaibereich gestärkt. Uwe Büscher stimmte zu: „Kräne sind immer ein gutes Zeichen für einen Hafen.“ Auch eine alte Uhr werde nicht beseitigt, sondern nur umgesetzt und „somit eine Landmarke im Quartier sein, die daran erinnert wie es früher einmal im Hafen ausgesehen hat“.

Die Pläne gehen einher mit den inzwischen erfolgreich auf den Weg gebrachten (Neubau-) Vorhaben an der südlichen Speicherstraße und sollen einen Brückenschlag zur Nordstadt bilden.

Zukunftsprojekt Westfalenhütte

Das Gelände der ehemaligen Westfalenhütte in Dortmund ist eine große innenstadtnahe Industriereservefläche der Stadt und ein Projekt für die Konversion zu Gewerbe, Logistik, Naherholung und Wohnen sowie der gleichzeitigen Erweiterung von hochtechnologischer, industrieller Produktion. Zusätzlich zu den bereits entstandenen Arbeitsplätzen werden
mehrere Tausend neue erwartet. Von einem erhöhten, aufgeschütteten Punkt im Gelände aus bot sich den Tourteilnehmer*nnen eine gute Übersicht über das riesige Areal.

Neben 800 Wohnungen soll das Quartier Grünflächen, einen Supermarkt sowie eine Grundschule und Kita bieten. Mit städtischen Investitionen und Förderung gilt es hier die technische und grüne Infrastruktur (Bau Hoeschallee, Westfalenhüttenallee – erfreulich: die sie säumenden alten Platanen

Von links: Dortmunds Planungsdezernent Lutger Wilde mit tyssenkrupp-Manager auf dem Gelände der einstigen Westfalenhütte.

bleiben erhalten -, Verlängerung der Stadtbahn, Errichtung eines grünen Ringes rund um die Westfalenhütte) für diese Entwicklung zu schaffen. Ebenso erhalten bleibe der Hoesch-Park, der sich weiterentwickeln soll, so Lutger Wilde. Verbindungen in andere Stadtteile sind angedacht.

Neben Planungsdezernent Lutger Wilde informierten vor Ort Ingo Herbrand, thyssenkrupp, Head of Transaction Management/Expert Services Service Line Real Estate (SL RE) und Oliver Helfrich, thyssenkrupp, Head Sitemanagement/ Services Social Affairs SE/SOC.

Zukunftsprojekt Messe- und Veranstaltungszentrum Westfalenhalle/Strobelallee

Seitens der Geschäftsführung der Westfalenhallen AG wurde während eines kleinen Rundganges über die aktuelle Rahmenplanung „Messe- und Veranstaltungszentrum Strobelallee“ informiert. Sie stellt eine zeitgemäße Anpassung der Rahmenplanung aus dem Jahr 2002 dar und formuliert eine zukunftsorientierte, langfristig ausgelegte Entwicklungsperspektive. Im Rahmen einer langfristig geplanten Flächenentwicklung im Messebereich werden auch für die Freiflächen nördlich und östlich der Messe Dortmund und Westfalenhalle perspektivische Aufwertungsmaßnahmen vorgesehen.

Die Strobelallee bildet das zentrale Rückgrat der nördlich und südlich angrenzenden Messe-, Sport- und Veranstaltungseinrichtungen. Durch umfangreiche adressbildende
Umgestaltungsmaßnahmen, die sowohl den öffentlichen Raum als auch die angrenzenden Nutzungseinheiten einbeziehen, wird die besondere Bedeutung des regional einzigartigen Standortes für Messe, Kongress und Event auf der einen Seite und Sport, Freizeit und Erholung auf der anderen Seite herausgearbeitet.

Von links: Thomas Westphal mit Lutger Wilde über dem Nordeingang der Westfalenhalle.

Der große Messeingang auf der Nordseite der Westfalenhalle mit seinem modernen Vestibül habe sich bewährt und bislang viel Lob – auch international – erhalten, erfuhren die Presseleute von der Geschäftsleitung, dem Planungsdezernenten Wilde, sowie dem Oberbürgermeister. Die Fußball-Europameisterschaft 2024 habe man im Visier. Und sogar, so Ullrich Sierau: „Achtung, Achtung!“, auch die Hoffnung auf die Olympischen Spiele 2032 sei nicht aufgegeben. Es gehe stets darum, diesen Standort zukunftsfähig zu machen und zu erhalten.

Auf die größte Tabakmesse der Welt, die INTERTABAC, will Dortmund indes auch

Plakat vom Forum Rauchfrei 2014 mit Kritik an OB Sierau. Foto: Stille

künftig nicht verzichten, betonte Sierau. Dagegen, so der demnächst aus dem Amt scheidende Oberürgermeister der Stadt Dortmund, habe ja wohl nur „ein Herr Spatz etwas“. Gemeint war Johannes Spatz vom Forum Rauchfrei, das schon lange einen Kampf gegen den blauen Dunst führt (hier, hier, hier und hier auf diesem Blog).

Der Standort und sein Umfeld – gute Verkehrsanbindung, Hotels, Kneipen in unmittelbarer Nähe – sei schon jetzt sehr attraktiv und als Messestandort auf neuestem Stand. Bei künftigen Messen sollen die Markierungen für die Messestände digital und mit Laserprojektion gesetzt werden, was den Ausstellerin mindestens einen Tag Zeit spare.

Erläutert wurde das Konzept der neuen Lindemannbrücke für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen. Für die derzeitige Fuß- und Radwegbrücke Lindemannstraße, die den Max-Ophüls-Platz mit dem Vorplatz der Westfalenhallen und der Messe Dortmund verbindet, ist ein barrierefreier Ersatzneubau geplant. An ein neues Kongresshotel ist ebenfalls in gedacht.

Besichtigung der Fläche für das neue Wohnquartier Luisenglück – inklusive weitere Infos zum Wohnungsbau „Alte Gleisfabrik“ Quartier Luisenglück im Stadtbezirk Hombruch

Susanne Schamp vom Architektenbüro Schamp&Schmalöer am „Hombrucher Bogen“.

Das neue Quartier wird auch „Hombrucher Bogen“ genannt. Einst ein ehemaliges Fertigbetonwerk, in naher Zukunft ein Quartier mit Seniorenwohngruppen, Wohngruppen mit Betreuung und
Mehrfamilienhäusern. Selbstverständlich gibt es auch eine Kita (momentan wird bereits die Küche eingebaut), vorgesehen sind zudem Arztpraxen, ein Café und Gewerbeflächen. Zum Komplex gehört auch das künftige neue Polizeirevier Hombruch (wir berichteten kürzlich). Auch Sozialwohnungen wird es geben.

Die Geschäftsführer vom verantwortlich zeichnenden Architektenbüro Schamp & Schmalöer, Susanne Schamp und Richard Schmalöer, sowie für die Bauausführung zuständig, Harald Evers, Geschäftsführer H.H. Immobiliengesellschaften informierten über das Projekt. Evers betonte, dass künftig alle Generationen im Viertel vertreten sein werden. Quasi sei das ganze Lebensspektrum dort künftig abgebildet.

Bezirksbürgermeister Hans Semmler machte ergänzende Anmerkungen zur Entwicklungsgeschichte des Projektes. Zudem erwähnte er Schwierigkeiten, welche

Harald Evers (HH Imobiliengesellschaften

ihm ein Stadtbahnübergang an der Eierkampstraße, hinüber zum Parkplatz der Einzelhandelsmärkte einst bereitet hatte.

Hombruchs Bezirksbürgermeister Hans Semmler.

In unmittelbarer Nähe wird das Wohnquartier „Alte Gleisfabrik“ auf dem Gelände der ehemaligen Gleisfabrik Schreck-Mieves am Krückenweg 11 entstehen. Neben Stadtvillen sind auch öffentlich
geförderter Wohnungsbau und Appartements auch für studentisches Wohnen
geplant. Die Appartements sollen in der großen Werkshalle realisiert
werden, erklärte Planungsdezernent Ludger Wilde. Bis zu 340 Wohneinheiten im Geschosswohnungsbau sollen geschaffen werden. Der Pkw-Verkehr soll weitgehend aus dem Neubaugebiet herausgehalten werden.

Zukunftsprojekt PHOENIX West

Der Technologiepark PHOENIX West ist ein Standort der Mikro- /Nanotechnologie sowie der Produktions- und Informationstechnologie. Und bietet zugleich Raum für ergänzende Dienstleistungen und Freizeitwirtschaft. Hier erfolgen Weiterentwicklungen durch bedeutsame
Neuansiedlungen, z.B. durch die World of Walas-Unternehmensgruppe und andere Großansiedler.

Am Ort informierten OB Ullrich Sierau und Gerben van Straaten (world of walas) zusammen mit zwei Mitarbeitern seiner Unternehmen. Der erhaltenen

Gerben van Straaten (world of walas) auf Phoenix West.

alten Gebäude seien ihm wichtig, so Gerben van Straaten und der „Hochofen wird der Dortmunder Eiffelturm sein“. Van Staaten ist der Hoffnung, dass auf der andere Seite des Hochofens das erste Weltinnovationszentrum geschaffen wird. Allerdings arbeiteten auch andere Städte daran und seien an einer Zusammenarbeit interessiert. Man habe schon mit Vancouver, Chicago, Xi’an und Bangalore darüber gesprochen. Die Basis soll aber Dortmund werden, somit Original sein und viele Chancen bieten.

Ullrich Sierau hält es für realistisch, dass auf PHOENIX West später einmal 15.000 Menschen arbeiten werden.

Sierau erzählte, van Straaten sei auf der weltweiten Suche nach möglichen Standorten für Technologiezentren in Dortmunds Partnerstadt Xi’an auf Dortmund aufmerksam gemacht worden.

Man arbeite an einem agrarischen Innovationszentrum. Es wird darum gehen, Nahrungsmittel für Städter (Restaurants, Läden) in der Stadt zu produzieren. Über nachhaltige Systeme (Wasser, Energie, Abfallwirtschaft) denke man nach. Ein urbanes Gebiet solle entstehen. Er denke man werde im Sommer 2021 mit 30 bis 40 Innovationspartnern aus ganz Europa im „Schalthaus“ anzufangen.

René Papier, Operations Manager für alle Walas-Projekte in Deutschland und Udo Greif, Architekt für Walas Concepts-Projekte, vermittelten einen Einblick in einzelne Vorhaben.

Beispielsweise ist an hochwachsende Gemüsepflanzen (in Singapur etwa gebe es so etwas längst) gedacht, wo auch durch nicht im Erdreich versickerndes Wasser Einsparungen möglich seien. Und das produzierte Gemüse könne im Umfeld von Hörde verkauft und privat oder in der Gastronomie verwertet werden. Auch sei daran gedacht weiter dem Strukturwandel Rechnung zu tragen. Auch, indem man Menschen mit Migrationshintergrund auf vielfältige Weise mit einbeziehe.

Das TMM FORUM bietet eine hochwertige und flexible Büroumgebung

Prof. Dr. Michael Hoffmann (TMM Forum) kann stolz auf das moderne, im Bauhausstil gebaute Gebäude sein.

Auch auf Phoenix West – mit einem perfekten Blick auf den alten Hochofen befindet sich an der Adresse Carlo-Schmid-Straße 13 das TMM-Forum. Mit innovativer Büroumgebung auf modernstem Stand erfüllt die TMM- Familiengesellschaft mit produktiver Atmosphäre für hohe Ansprüche. Das TMM FORUM – die letzten Arbeiten im Inneren sind bald abgeschlossen. In Kürze werden auf vier Etagen maßgeschneiderte Arbeitsumgebungen für innovative Unternehmen zur Verfügung stehen. Zu recht stolz auf diesen Bau kam der Hausherr Prof. Dr. Michael Hoffmann den Teilnehmer*innen der Bustour über die Treppe zum Eingang entgegen, um über den modernen Bau zu referieren. Der Sohn ergänzte und führte durchs Haus. Im Inneren des in Anlehnung an den Bauhausstil errichtete Gebäude gibt es Konferenzräume, ein Bistro mit einer echten Mooswand und vielem anderen mehr. Sogar ein bestens ausgestattetes Fitnessstudio befindet sich im Haus. Im Foyer sind

Im Fitnessstudion des TMM-Gebäudes.

sogar kleine Konzerte möglich.

Fazit

Vater Hoffmann und Sohn (TMM Forum) im Vestibül des Hauses.

 

Dortmund ist mit diesen sechs Zukunftsprojekten auf gutem Wege. Die Stadt ist mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft um das Fördern von Innovationen bemüht, die denn Anforderungen unserer Zeit entsprechen und darüber hinaus auf die möglichen kommenden so gut es geht eingestellt.

Beitragsbild: Der Elektrobus startet am Friedensplatz am Dortmunder Rathaus.

Interessante Ausstellung von Sophia und Jan Firgau in der Steinwache Dortmund: „Dora war nicht im Widerstand“

 

Sophia Firgau in der Ausstellung. Fotos (3): C. Stille

Wir wissen relativ viel über Täter und Opfer des NS-Regimes. Kaum aber etwas über Mitläufer*innen und Durchschnittsdeutsche. Jan und Sophia Firgau haben sich für ihre Abschlussarbeit im Studiengang „Szenografie und Kommunikation“ an der Fachhochschule Dortmund am Beispiel ihrer Urgroßmutter mit der Rolle der zahlreichen Mitläufer*innen und dem Fortbestehen der NS-Ideologie in der Nachkriegszeit beschäftigt. Die interessante Ausstellung „Dora war nicht im Widerstand“ ist noch bis zum 13. August in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache zu sehen.

Die Ausstellung stellt in der Steinwache einen interessanten Kontext her

Die Idee zu dieser Ausstellung, erzählt mir Sophia Firgau während eines Pressetermins am Ort der Ausstellung, sei ihr zusammen mit ihrem Cousin, Jan Firgau, etwa vor eineinhalb Jahren gekommen. Sie fanden, dieses Thema wäre ein passendes – weil bisher nicht groß beackert – für ihrer beider Abschlussprojekt. Cousin Jan war während des Pressegesprächs am vergangenen Dienstag nicht anwesend, da bereits im Urlaub. Eigentlich sollte die Ausstellung ja schon im März zu sehen sein – aber dann kamen die Corona-Maßnahmen …

Markus Günnewig, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, zeigte sich stolz, dass diese Exposition gerade in seiner Einrichtung ausgestellt werden konnte. Ein interessanter Kontext werde so hergestellt. Denn schließlich gehöre das spannende Thema ebenfalls zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dazu.

„Die Nazis, das waren im Zweifelsfall die Anderen“

Einen eigentlich als Vortrag zur ursprünglichen Eröffnung vorgesehenen Text trug Sophia Firgau nun anlässlich des Pressegesprächs vor.

Firgau merkte darin an, dass nur jeder fünfte Deutsche glaube (laut MEMO-Studie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft) dass es unter seinen Vorfahren Täter*innen zu Zeiten des Nationalsozialismus gegeben und nur 40 Prozent der Deutschen meinten, dass sich unter ihren Vorfahren Mitläufer*innen befunden haben. Firgau: „Die Nazis, das waren im Zweifelsfall die Anderen.“ Und: „Wer weiß, was wir heute von Dora, unserer Urgroßmutter denken würden, wenn es das Tagebuch nicht gäbe.“

Die Ausstellungskonzeption war eine ständige Gratwanderung

Der Prozess der Ausstellungskonzeption sei eine ständige Gratwanderung gewesen. Obwohl die beiden Firgaus ihre 1973 verstorbene Urgroßmutter nie persönlich kennengelernt hatten. Natürlich habe man sich auch gefragt, ob es berechtigt sei, diese Ausstellung über eine Person mit nationalsozialistischem Gedankengut aus der eigenen Familie zu machen. Die Familie habe aber zugestimmt.

Gedenk- und Erinnerungskultur sind wichtig. Aber auch die Mitläufer*innen dürfen nicht aus dem Blick geraten

Gedenk- und Erinnerungskultur schätzte Sophie Firgau als wichtig ein. Sie erinnerte an den einstigen dunklen Zweck der Steinwache, die zu NS-Zeiten Gestapo-Gefängnis gewesen war. Was für die Gedenk- und Erinnerungskultur betreffs der Vergangenheit anlange, träfe freilich auch für heute zu. Sie erinnerte zu diesem Behufe an den unweit von der Steinwache vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık und das Denkmal vor der Steinwache, das ihm und allen anderen NSU-Opfer gedenke.

Wenn man sich ausschließlich und zu undifferenziert mit den Opfern beschäftige, so Sophia Firgau, gerieten die Täter*innen, die Mitläufer*innen und Zuschauer*innen, die Mehrheitsgesellschaft – „die vielen Doras“ – aus dem Blick.

Besagte Dora, Urgroßmutter der beiden Firgaus, war eine Überzeugte, was das Naziregime und dessen Ideologie anbetraf.

In der Nachkriegszeit war sie eine von Millionen „durchschnittlichen Deutschen“. Sie war 45 Jahre alt, dreifache Mutter und alleinige Versorgerin.

Die Ausstellungsmacher lassen in düsterer Atmosphäre das Tagebuch der Dora sprechen

Inmitten ihres zerfallenden Weltbildes gibt sie Einblicke in Alltag und Ideologie, in letzte Hoffnungen, erzürnte Ungläubigkeit und tiefe Enttäuschung. Davon kündet das wiederentdeckte Tagebuch der Dora. Es ist rares Zeugnis der deutschen Nachkriegsmonate und führt wie nur selten in eine von der NS-Propaganda überzeugte Gedankenwelt. Von der sie auch nach der Befreiung vom Faschismus nicht lassen will.

Das auf Knopfdruck in einem Raum – „das Herzstück der Ausstellung“, wie ihn Markus Günnewig nannte (eine einstige Gefängniszelle) – hörbar werdende, weil vertonte Tagebuch, legt davon Zeugnis hab. Dora ist darin der Meinung, die Deutschen seien wohl einfach noch nicht reif gewesen für ein Deutschland wie es Hitler und dessen Gesinnungsgenossen hatten schaffen wollen.

Das erschüttert den Zuhörer. In diesem sehr düster gehaltenem Raum steht ein Pult, worin unter Glas die von Dora handschriftlich verfassten Tagebücher liegen: drei Schulhefte. Des Weiteren befindet sich im Raum eine u-förmige Bank, worauf man sitzend dem sozusagen sprechenden Tagebuch lauschen kann. Darin Schubladen, die, wenn man sie herauszieht, Zitate aus dem Tagebuch der Urgroßmutter von Jan und Sophia Firgau offenbaren.

Das Tagebuch wurde nach Doras Tod gefunden, aber sei der späteren Urenkelgeneration nicht mehr präsent gewesen, erklärte Sophia Firgau. Auf dem Dachboden in einem Koffer zusammen mit Dokumenten hatte es viele Jahre gelegen.

Besucher*innen erfahren etwas über gesellschaftliche Stellung der Familie, deren Alltag und Lebenstationen

Bevor man als Besucher der Ausstellung im ersten Stock der Steinwache in das Zimmer kommt, passiert man eine Art Gasse – sozusagen eine Art Zahlenstrahl, bestehend aus an Leinen geklammerten Fotos oder Ansichtskarten, zugeordnet jeweils zu bestimmten Jahreszahlen. Dort auf den Fotos ist auch der Gatte von Dora zu sehen. Erich war in den Reichsarbeitsdienst eingetreten, wo er letztlich Karriere machte. Die Ablichtungen geben ebenfalls Auskunft über die gesellschaftliche Stellung der Familie.

Den Alltag repräsentieren sie und auch eine Faschingsfeier, Heirat, die Geburt der Kinder oder einen im Zusammenhang mit dem Nazi-Überfall auf Polen stehenden Umzug nach Posen (Poznan). Auf dem Etagenboden sind die Lebenstationen aufgezeichnet. Letztlich, so Sophia Firgau, 1945, sei die Familie in den Westen geflüchtet. Erich hatte gemeint, in Berlin sicher zu sein. Kurz vor Berlin sei er jedoch abgedreht und habe sich in Kriegsgefangenschaft begeben. Dora war ursprünglich Bankangestellte und später nach der Heirat nur noch Hausfrau.

Dreht sich der Besucher in dieser Bildergasse zum großen Fenster aus Glasbausteinen um, erblickt er das große Foto von Urgroßmutter Dora, transparent, weil durchleuchtet vom Tageslicht.

Ausstellungsmacher*innen hoffen auf weitere Möglichkeiten, ihre Arbeit zu präsentieren

Sophia Firgau mit Markus Günnewig.

Sie hoffe, so ihre Arbeit sich herumspräche, dass engagierte Menschen weitere Quellen zum Thema beisteuern könnten, erklärt Sophia Firgau. Abgebaut, solle die Ausstellung nicht „in der Garage vergammeln“. Die junge Akademikerin möchte weiter wirken (an geschichtlich bedeutsamen Orten, Gedenkstätten, Kulturzentren, Schulen etc.). Mit dieser Alltagsgeschichte aus ihrer, einer ganz normalen deutschen Familie. Jenseits eines Horizonts, in dem alle dem NS eigentlich nur widerstanden haben konnten. Die Ausstellung spricht eine andere, eindringliche Sprache.

Die Audio-Exposition der beiden Studierenden ist noch bis zum 13. August in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache zu sehen und zu hören. Der Eintritt ist kostenlos.

Weitere Informationen:

  • Zur Person Dora Firgau: geb. 1900 in Preußisch-Holland bei Danzig, Bankangestellte, später Hausfrau. Ehemann Erich Firgau, geheiratet 1928. Mutter von drei Kindern, oft umgezogen, ab 1945 in Grebenstein bei Kassel.

Hinweis

Die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache bietet am Sonntag, 2. August um 14 Uhr und 16 Uhr zwei Führungen an.

In der Gedenkstätte selbst gibt es eine Einführung in die Geschichte des Hauses sowie in die Dauerausstellung. Anschließend kann die Ausstellung besucht werden, und die Mitarbeiter*innen stehen für Fragen zur Verfügung. Eine klassische Führung durchs Haus ist derzeit aufgrund der geringen Raumgröße der ehemaligen Zellen nicht möglich.

Um 16 Uhr beginnt im Hof der Steinwache eine öffentliche Führung für zehn Teilnehmende, die an unterschiedliche Orte in der Innenstadt führt und deren NS-Geschichte vorstellt. Thematisiert werden dabei die „Machtergreifung“ in Dortmund, der blutige Terror der Nationalsozialisten 1933, Krieg, Holocaust und Zwangsarbeit.

Beide Veranstaltungen dauern etwa 90 Minuten. Vorab müssen sich die Teilnehmenden in Listen eintragen, um ggf. Infektionsketten nachvollziehbar zu machen.

Plätze für die Führungen können reserviert werden unter (0231) 50-25002 (dienstags bis sonntags, 10 bis 17 Uhr).

Beitragsbild: FH Dortmund

Die Westliche Wertegemeinschaft ist an der Fortdauer des Bürgerkriegs in der Ukraine interessiert – und die Tagesschau führend in Desinformation. Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam.

Ukraine? Gibt´s da was? Die umfangreichsten Berichte der Tagesschau über den osteuropäischen Krisenstaat handeln im Juli von einer glimpflich abgegangenen Geiselnahme im west-ukrainischen Luzk. „Unblutig beendet“, heißt das in der notleidenden Boulevard-Sprache, der sich auch die Redaktion ARD-aktuell bedient.[1] Desinformation und Angebote zur Befriedigung der Sensationsgier gehören im Krieg um Marktführerschaft und Deutungshoheit auch auf dem ARD-„Flaggschiff“ zur Standardbewaffnung. Hingegen herrscht Mangel an informativen Nachrichten über den ukrainischen Alltag, über den endlosen Bürgerkrieg mit seinen ungezählten, namenlosen Opfern. Wann hat die Tagesschau zuletzt Erhellendes darüber berichtet? Ohne billige, einseitige Propaganda?

Der jüngste Fall ihrer Nachrichtenunterschlagung: Kein Wort über das ergebnislose Treffen der sogenannten „Minsk-Kontaktgruppe“ am 3./4. Juli in Berlin. [2] Sie verhandelt gemäß dem „Abkommen Minsk II“ [3] über ein Ende des Krieges zwischen der Zentralregierung in Kiew und den Autonomisten der Ostprovinzen Lugansk und Donezk. Zwar fand das Treffen nur „auf Beraterebene“ statt. Aber seine Ineffizienz bestätigt das überdeutliche Interesse der Westlichen Wertegemeinschaft an der Fortdauer dieses Bürgerkrieges.

Solange er nämlich anhält, dient er den Transatlantikern als zwar objektiv haltlose, aber öffentlichkeitswirksame „Begründung“ dafür, Russland verantwortlich zu machen und zu sanktionieren. [4] Über das bittere soziale Elend, den politischen und ökonomischen Korruptionssumpf, über die Raffgier der transnational aktiven Plutokratie und die permanente westliche Agitation und Destruktion gibt es keine Tagesschau-Nachrichten. Schon gar nicht über Waffenschieber, den Menschenhandel und darüber, dass auch deutsche Unternehmen sich Land und Leute der Ukraine zur Beute machen wollen. Die Ukraine ist neu-demokratisch, Punkt.

Terror der Neofaschisten

Deshalb informiert die Tagesschau auch mit keinem Wort darüber, dass der Neofaschismus das Land wieder in Griff nimmt und dass seine Todesschwadronen die Bevölkerung nach Nazi-Methodik terrorisieren. Wieviele Menschen z.B. dem „Asow-Bataillon“ bereits zum Opfer gefallen sind – und nicht nur bei dessen Angriffen auf die Ostukrainer! – bleibt im Dunklen. [5] Die Umtriebe dieser Verbände eifern einem historischen Vorbild nach: dem Wehrmacht-Bataillon „Nachtigall“. [6] Im Internet häufen sich Informationen über die neu-ukrainischen Freikorps. Obwohl die ARD-aktuell sich mit ihrer „rund um die Uhr besetzten“ Fachredaktion für das Online-Portal Tagesschau.de dicke tut [7], muss man auch dort kritische Berichte über die Rolle der Neofaschisten mit der Lupe suchen.

Das Orwellsche Muster, nach dem die “Westliche Wertegemeinschaft” zugunsten der Kapitalisten ihre Kriegs- und Unterwerfungspolitik gestaltet und sie mithilfe ihrer Staatsmedien als Friedensbemühung verkauft, ist in allen Fällen gleich und unverkennbar: Wirtschaftlich schwächere, von sozialen und ethnischen Unterschieden geprägte Staaten forciert destabilisieren, sich massiv in ihre inneren Angelegenheiten einmischen, einen Umsturz provozieren, finanzieren und gegebenenfalls mit eigens angeworbenen Mördern realisieren, um hernach völlige wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit herzustellen. Neudeutsch: „regime change“.

Gelingen die Angriffe auf die vorgeblichen „Schurkenregime“, so werden deren „Machthaber“ gegen willfährige Vasallen ausgetauscht. Den Vorwand, es gehe um Freiheit und Demokratie, übernimmt unsere Qualitätsjournaille gern. Ebenso die Feindbilder, die der Elite unserer Parteienoligarchie dazu dienen, Ängste zu schüren, Militär, Polizei- und Geheimdienstapparate aufzublähen und mit dieser Mixtur die eigene Machtposition abzusichern. Das Schicksal der von Umsturz und (Bürger-)Krieg heimgesuchten Menschen interessiert nicht. Institute wie die Tagesschau dienen der Funktionsfähigkeit dieses typisch westlichen Gewalt-Systems mittels Indoktrination des Zuschauers, nicht zu dessen Aufklärung und Emanzipation.

Am Ukraine-Konflikt lässt sich die menschenverachtende Vorgehensweise des “Wertewestens” im Zusammenspiel mit seinen Medien eindrucksvoll belegen. Die „Maidan-Demokratiebewegung“ war nichts weniger als das, sie war vielmehr ein Staatsstreich, überwiegend organisiert und durchgeführt von Rechtsextremisten und neonazistischen Terroristen sowie etlichen hundert ausländischen Söldnern. [8]

Pars pro toto: Die Kumpanei zwischen Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister, heute Bundespräsident, und dem rechtsextremistischen Antisemiten Oleg Tjagnibok von der Partei Swoboda [9][10] wurde der deutschen Öffentlichkeit weitgehend verschwiegen oder bagatellisiert. Unter tatkräftiger Mitwirkung einer ARD-aktuell-Redaktion, die sich ansonsten bei jeder Gelegenheit als Wächter gegen Rechts aufführt. Journalistische Handlanger vom Schlage Kay Gniffke, Golineh Atai, Thomas Roth, Birgit Virnich oder Udo Lielischkies drückten gegenüber dem schändlichen Vorgehen die Augen zu.

Verbale Schleiertänze

In der Ukraine gibt es selbst nach sechs Jahren westlicher Abhängigkeit weder „mehr Demokratie“ noch staatliche und wirtschaftliche Stabilität oder eine “gute Regierungsführung”. Daran hat sich auch mit dem neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nichts geändert.

Die ARD-aktuell tarnt das ukrainische Elend mit sprachlichen Nebelschwaden: Der neue Präsident sei inzwischen „in der Politik angekommen“, er habe es verstanden, „wichtige Reformen durchzusetzen“. [11] Seit dem „Maidan“ pflegt die Redaktion diese widerliche Ukraine-Berichterstattung, häufig faktenfrei, aber immer orientiert an der Berliner Politlinie. Solche „Nachrichten“ sind nichts weniger als ein Attentatsversuch auf die mentale Integrität des Zuschauers. Aussagekräftige Informationen, zum Beispiel darüber, dass und warum seit dem „Euro-Maidan“ mindestens 8 der vormals 52 Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen haben [12][13], gibt es in der Tagesschau nicht. Ukrainische Armutsemigranten? Kein Thema.

Im Wahlkampf hatte Selenskyj noch verkündet, er werde die Konflikte mit der Ostukraine lösen. Als Präsident hat er hernach zwar einige vorsichtige Schritte in diese Richtung getan, fortgesetzt hat er das aber nicht. Inzwischen hat ihn sein politisches Handeln meilenweit von seinem Befriedungsziel entfernt. Alexey Reznikov, stellvertretender Ministerpräsident und erster stellvertretender Leiter der ukrainischen Delegation bei der Minsk-Kontaktgruppe, verkündete jetzt in einem Interview, dass “die Wiedereingliederung des Donbass in die Ukraine 25 Jahre dauern” werde, und forderte das ukrainische Volk auf, dies zu akzeptieren. [14]

Das ist eine vom „Abkommen Minsk II“ deutlich abweichende Position. Noch vor vier Monaten, am 11. März, hatte der Leiter der ukrainischen Präsidialverwaltung, Andrij Jermak, der Minsk-Kontaktgruppe ein Papier vorgelegt, in dem von direkten Verhandlungen zwischen Vertretern der Ukraine und den sogenannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) die Rede war; die hatte Kiew bis dahin immer ausgeschlagen.

In der Opposition und in Teilen der Zivilgesellschaft löste das Papier Kritik aus, es schwäche Kiew im Verhältnis zum Donbass. Die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew hatte sich ebenfalls mit dem Papier befasst und befunden, die Anregung Jermaks käme einer diplomatischen Anerkennung der Unterhändler aus der Ost-Ukraine gleich. Es sei zu „befürchten“, dass die Vorschläge den „Russen“ im Donbass einseitig Vorteile verschafften. [15]

Stellungskrieg auf kleiner Flamme

Die beflissene Einschätzung dieser einflussreichen CDU-Organisation erlaubt es, anzunehmen, dass sie ganz im Sinne der deutschen Außenpolitik und der Bundeskanzlerin ist. Berlin ist nicht daran gelegen, den innerukrainischen Friedensprozess und entsprechende Vorschläge der Regierung in Kiew zu unterstützen. Die Bundesregierung zieht es vor, Krieg und Krise auf kleiner Flamme köcheln zu lassen. Sie lassen sich als Gründe für die Russland-Sanktionen vorschieben, mit denen unsere Regierung und die EU insgesamt den USA zu Diensten sind. Sie haben zusätzlich den Vorteil, die ukrainische Regierung schwachzuhalten und an der kurzen Leine zu führen.

Was die Tagesschau so natürlich nicht aufzeigt. [16] ARD-aktuell ist eine gleichermaßen eifrige und bedeutende Mittäterin, wenn Präsident Putin als Krisenverursacher, als der an allem Schuldige bezichtigt wird. Fakten sind dabei ebenso vollkommen egal wie die Interessen der ukrainischen Bevölkerung.

Die Durchsetzbarkeit von Reformen hängt nicht von der persönlichen Kompetenz des Präsidenten ab, sondern davon, wie weit der „Wertewesten“ Einfluss nimmt und seine unverschämten Erpressungsversuche treibt. Deren kann sich Selenskyj als Oberhaupt eines gescheiterten und völlig abhängigen Staates kaum erwehren. Er muss machtlos mitansehen, wie seine Ukraine vom Ausland geplündert wird. Klassisches Beispiel dafür ist der postkolonialistische Landraub.

Die Ukraine verfügt über 43 Millionen Hektar an fruchtbaren Schwarzerde-Böden; nicht von ungefähr war sie einst die Kornkammer der Sowjetunion und schon damals ein Kriegsziel der Nazi-Wehrmacht. Die Bauern bewirtschaften die riesigen Flächen zumeist auf Basis von Pachtverträgen mit dem Staat. Agrarland-Eigentum gab es kaum. Bis voriges Jahr war der Verkauf von mehr als zwei Hektar Anbaufläche verfassungsrechtlich verboten, und Ausländer durften überhaupt keinen Landbesitz erwerben. Die EU, der Internationale Währungsfonds IWF und die Weltbank üben seit Jahren massiven Druck aus, dieses „Moratorium für den Verkauf von Ackerland“ abzuschaffen.

Parieren oder krepieren

Präsident Selenskyj musste dem erpresserischen Druck seiner westlichen „Unterstützer“ schließlich nachgeben. [17] Bedingung für einen IWF-Kredit von 5.5 Milliarden Euro: Das Moratorium über den Verkauf von Ackerland aufheben. Die Alternative hieß „kuschen oder Staatsbankrott“. Das zu berichten vermied die Tagesschau allerdings sorgfältig. Sie ließ ja auch jegliche Information unter den Tisch fallen, dass die Schuldenpolitik nach dem „Euro-Maidan“ vom Westen veranlasst und vom vormaligen Präsidenten Poroschenko vollzogen worden war. Dessen Regierungshandeln zielte von Beginn an darauf ab, das ukrainische Tafelsilber zu privatisieren und zugunsten ausländischen Kapitals zu verramschen.

Ein Gesetz regelt nun die umfassende Privatisierung von Agrarland. Das Kaufrecht gilt zunächst für Ukrainer. Regelungen für Ausländer sollen folgen. (s. Anm. 16). Die Entscheidung sorgte für heftige Proteste, vor allem der ukrainischen Bauern. Die befürchten das Ende ihrer Pachtverträge, Entstehung von privaten Grundeigentums- Monopolen und den Zugriff mächtiger Kapitalgesellschaften. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS) aus dem April lehnten 60 Prozent der Befragten das Gesetz ab. [18]

Zusätzlich ist die IWF-Kreditvergabe von weiteren Kürzungen der Sozialausgaben und einer Erhöhung des Gaspreises abhängig. Millionen verarmte Ukrainer stehen im Winter vor der Wahl „essen oder frieren oder flüchten“. Sogar von Schulschließungen zwecks Senkung der Staatsquote ist die Rede. All das vor dem Hintergrund, dass die Ukraine ohnehin seit dem Maidan zu den ärmsten Ländern Europas zählt (3000 Euro jährliches Pro-Kopf-Einkommen), die Wirtschaft seit Ende der Sowjetzeit um 60 Prozent geschrumpft ist und in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie mit einem weiteren Rückgang des Brutto-Inlandsprodukts um 7.7 Prozent gerechnet wird. [19]

Welchen beherrschenden Einfluss der IWF auf die ukrainische Politik ausübt und wie demokratiefern die Ereignisse in Kiew sind, skizzierte ein Abgeordneter aus der Partei des Präsidenten:

„… wir sind ein Land unter der Regierung des IWF, der hier günstige Bedingungen für den Markteintritt transnationaler Gesellschaften und Investoren gewährleistet, mit der Sicherstellung einer gewünschten Profit-Rate … Wenn man es vereinfacht, sagen sie: Wir geben euch zwei, drei Milliarden und wir werden nicht fragen, wofür ihr sie verwendet, solange ihr uns euren Boden, eure Straßen, Häfen und Flughäfen verkauft.” [20]

Demokratische „Liebesakte“

Die sechs Jahre nach dem Maidan-Umsturz zeigen, wie gleichgültig dem “Wertewesten” das Wohl der ukrainischen Bevölkerung ist und wie hohl die Sprüche über “Demokratie und Menschenrechte” im Februar 2014 auf dem Maidan tatsächlich waren. Der Bundesregierung und ihrer Vormacht USA im aggressiven NATO-EU-Bunde ging und geht es um geopolitische Machtinteressen und zu deren Erfüllung um die Pflege des Feindbilds Russland; ihre transatlantisch agierenden Eliten wollen eine vielversprechende Wirtschaftsregion ungehemmt ausrauben. Und in der höchst mangelhaften Berichterstattung der ARD-aktuell ging und geht es darum, diese Vergewaltigungsprozesse entweder zu übersehen oder sie als demokratische Liebesakte und schiere Mildtätigkeit zu schminken. (“Hilfe für die Ukraine”).

Ihre dürftigen journalistischen Erzeugnisse über das Nachbarland handelten in allerjüngster Zeit zumeist von der besagten Geiselnahme; dass ein psychisch Durchgeknallter einen Omnibus mit zehn Passagieren in seine Gewalt gebracht hatte und sich schließlich festnehmen ließ, hielt die ARD-aktuell mehrdutzendmal für mitteilenswert. In drei anderen Beiträgen wurde die Ukraine nur im Zusammenhang mit der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland erwähnt, und in einem besonders abscheulichen, geschichtsklitternden Feature durfte Golineh Atai die ukrainischen Hilfstruppen der SS und der deutschen Wehrmacht zu heimatliebenden Helden verklären. Atai wurde damit nicht zum ersten Mal auffällig; man denke z.B. an ihre verfälschende Berichterstattung über das Massaker von Odessa. [21]

Die Tagesschau-Beiträge über die Sanktionen gegen Russland waren und sind übrigens nicht weniger geschichtsvergessen und gewollt desinformativ. Obwohl das 13 Punkte umfassende Abkommen „Minsk II“ nur (Selbst-)Verpflichtungen der ukrainischen Kriegsparteien festlegt und die Begleitrolle der OSZE beschreibt (s. Anm. 3), behauptet auch die ARD-aktuell seit Jahren unverdrossen, Russland müsse „den Friedensplan für die Ostukraine umsetzen“, komme aber „seinen Verpflichtungen nicht nach“. Typischer Tagesschau-Sermon:

„Mit der Koppelung der Sanktionen an den Friedensplan wollen die EU-Staaten den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu bewegen, seinen Einfluss auf die pro-russischen Separatisten in der Ostukraine stärker für eine Beilegung des Konfliktes zu nutzen.“ [22]

Dass andererseits der Oberbefehlshaber USA und seine politischen EU- Subkommandeure nicht mal im Traum daran denken, ihren Einfluss auf die Regierung in Kiew zu nutzen und sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu „bewegen“, verschweigt die Tagesschau. Was sonst. Penetrant und permanent nennt sie hingegen die Ostukrainer „Separatisten“ [23] und unterstellt ihnen damit, sich vollständig vom ukrainischen Staat trennen zu wollen. Dass Lugansk und Donezk als „Volksrepubliken“ nur existieren, weil ihnen die Zentralregierung in Kiew die innerukrainische Autonomie verweigert, das ignorieren unsere öffentlich-rechtlichen „Journalisten“. Dabei ist diese regionale Selbstverwaltung der Ost-Ukraine im Abkommen Minsk II ausdrücklich vorgesehen.

Da staunt der Laie

„Wer regieren will, muss lügen können,“ deklamierte der Philosoph Philipp Hübl im Deutschlandfunk. [24] Na gut, und der Altvater des seriösen Journalismus, Wolf Schneider, warnte schon vor 40 Jahren davor, „typische Lügen der Politiker in den Stand der Wahrheit zu erheben.“ Genau damit nimmt die Tagesschau einen Spitzenplatz ein. Ihre sogenannten „Nachrichten“ über Russland und die Ukraine können Qualitätsredakteure vermutlich nur verfassen und anbieten, wenn sie sich anhaltend in einen intellektuellen Ausnahmezustand versetzen.

 


Volker Bräutigam und Klinkhammer (Archiv).

Das Autoren-Team: 

  • Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
  • Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert.


[«1] tagesschau.de/multimedia/video/video-733221.html

[«2] anti-spiegel.ru/2020/kiew-bleibt-stur-wieder-keine-nennenswerte-fortschritte-beim-treffen-der-kontaktgruppe-in-berlin/

[«3] de.wikipedia.org/wiki/Minsk_II

[«4] tagesschau.de/ausland/russland-sanktionen-eu-111.html

[«5] stopfake.org/de/fake-faschismus-kehrt-in-die-ukraine-zurueck/

[«6] de.wikipedia.org/wiki/Bataillon_Nachtigall

[«7] intern.tagesschau.de/redaktionen/tagesschau-de/

[«8] vice.com/de/article/vdnpy4/im-nationalis-tischen-interesse-0001318-v12n4

[«9] opablog.net/2014/02/21/steinmeier-mit-faschist-tjagnibok-in-der-brd-botschaft-in-kiew/

[«10] dw.com/de/regierung-und-opposition-unterzeichnen-vereinbarung-zur-krisenl%C3%B6sung/a-17449594

[«11] tagesschau.de/ausland/selenskyj-ukraine-ein-jar-101.html 

[«12] 112.international/article/will-emigration-undermine-ukraine-25342.html

[«13] freitag.de/autoren/enduringfreedom/verlassenes-land

[«14] zagittya.com.ua/news/zajavlenija/vlast_nesposobnaja_prinesti_mir_v_ukrainu_dolzhna_izvinitsja_pered_ukraincami_i_slozhit_polnomochija.html

[«15] kas.de/de/web/ukraine/laenderberichte/detail/-/content/ukrainische-politik-im-schatten-der-pandemie-teil-1

[«16] Selbstzitat: publikumskonferenz.de/blog/2018/07/29/das-ukraine-bild-der-ard-falschmuenzer/

[«17] dw.com/de/ukraine-gibt-handel-mit-agrarland-frei/a-52967077 

[«18] neues-deutschland.de/artikel/1137743.neue-iwf-kredite-fuer-kiew.html

[«19] gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/ukraine/coronakrise-stoppt-wirtschaftliche-erholung-der-ukraine-249700

[«20] ukraine-nachrichten.de/parlamentsabgeordneter-alexander-dubinskij-sind-eine-republik-unter-kuratel-iwf_4948

[«21] tagesschau.de/ausland/russland-ukraine-ende-weltkrieg-siegesfeiern-101.html

[«22] tagesschau.de/ausland/eu-gipfel-russland-sanktionen-101.html

[«23] tagesschau.de/suche2.html?query=Ukraine%2C+Separatisten&sort_by=date

[«24] deutschlandfunkkultur.de/politik-und-wahrheit-wer-regieren-will-muss-luegen-koennen.1008.de.html?dram:article_id=465912

„Initiative Dortmund Kolumbien“ präsentiert drei durch bundesweite Zusammenarbeit entstandene Filme zu globalen Steinkohle-Lieferketten und dem Widerstand dagegen

Attac Dortmund informiert:

In Zusammenhang mit unserer langjährigen Arbeit in der „Initiative Dortmund Kolumbien“ sind durch bundesweite Zusammenarbeit drei Filme zu globalen Steinkohle-Lieferketten und dem Widerstand dagegen entstanden:

*STILL BURNING – drei Filme zur Steinkohle*https://stillburning.net/

„Still Burning“ sind Filme über drei entfernte, jedoch verbundene
Orte und bilden zusammen ein Mosaik der globalen
Steinkohle-Lieferketten und des Widerstands dagegen.Sie sind das
Ergebnis von alten und neu gewobenen Verbindungen zwischen Menschen
in Deutschland, Russland und Kolumbien.

**

*Kolonialismus und Widerstand (Kolumbien) *

„Seit zwei Jahren haben wir keinen Mais mehr, weil es kein Wasser
gab“, erzählt eine Bewohnerin aus La Guajira im Norden Kolumbiens.
Das Unternehmen Cerrejón baut dort Steinkohle für den Weltmarkt ab.

Der riesige Tagebau zerstört die Flüsse, die Gesundheit und somit
die Lebensgrundlagen der Wayú und afrokolumbianischen Gemeinden.

Die Folge „Kolonialismus und Widerstand“ porträtiert die Kritik
dieser Menschen. Sie leisten Widerstand gegen ein
„Entwicklungsmodell“, das ihr Leben gefährdet.

Ungeachtet dessen ging in Deutschland das Kraftwerk Datteln 4 am
30.05.2020 ans Netz und verfeuert Kohle aus Kolumbien. Der Film
zeigt, dass Menschen diese kolonialen Kontinuitäten durchbrechen
wollen und müssen.

*Kapitalismus und Kritik (Russland) *

Im Hamburger Hafen kommt Steinkohle an, die rund 6000 km weiter
östlich in Russland abgebaut wird. In der Region Kuzbass im Süden
Sibiriens werden ganze Landschaften und Dörfer für Tagebaue
weggesprengt.

Wer profitiert von der Zerstörung und welche Kritik wird dagegen
laut? Der Film zeigt, wie sich die Menschen in Kuzbass gegen die
fatalen Auswirkungen des Bergbaus und die Repressionen des Staats
wehren.

*Klimagerechtigkeit und Solidarität (Deutschland)*

Frühjahr 2020 in Deutschland: Es ist trocken, alle wissen um die
Folgen der Klimakrise. Trotzdem verhandelt die Bundesregierung ein
Gesetz zum Kohleausstieg 2038.

Allen, die für Klimagerechtigkeit streiten ist klar: Es braucht den
sofortigen Kohleausstieg und im Steinkohlekraftwerk Datteln darf im
Sommer kein neuer Block ans Netz gehen.

Der Film zeigt, wie sich Aktivist*innen in Deutschland für den Stopp
der Kohleimporte einsetzen. Sie protestieren in Solidarität mit
allen Menschen, die in den Abbauregionen ihr Zuhause gegen den
Bergbau verteidigen.

Still Burning ist ein transnationales Projekt. Die dritte Folge
wurde von politischen Künstler*innen in Kolumbien gedreht und
produziert.

Spendet jetzt, wenn ihr die Arbeit des kolumbianischen Teams weiter
unterstützen möchtet: hier und hier.

Menschen in den Abbauregionen in Kolumbien haben die Folge über den
Protest gegen Datteln 4 bereits gesehen, das kolumbianische Team
organisiert einen Filmabend in Medellín …

helft mit, die Forderungen der Menschen in Russland und Kolumbien
nun hier bekannt zu machen. Leitet die Filme weiter und / oder
organisiert einen (Online-) Filmabend!

Die Webserie ist frei verfügbar (Creative Commons Lizenz) und hat
Untertitel in Deutsch, Spanisch und Englisch.

Einen guten Filmabend wünschen,

Andrea, Evelyn, Katherine, María Fernanda (Dortmund) und Ramin

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Und vergesst nicht die Untertitel einzuschalten: auf das Zahnrad
klicken und die Sprache auswählen (Deutsch / Englisch)

Die Filme mit eingebrannten deutschen Untertiteln: hier

Quelle: Attac Dortmund/“Initiative Dortmund Kolumbien“

Dazu passender Beitrag hier.

BAG Hartz IV der Partei DIE LINKE: Poor lives matter

                                   Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an.

                                  Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.

                                  Bertolt Brecht

Die Reichen werden immer mehr und reicher, die Armen immer mehr und ärmer.

In dem Maße wie es immer mehr Arme in der Gesellschaft gibt, wächst auch deren Verachtung durch die Gesellschaft.

Auch hat sich der Gedanke festgesetzt, dass die Armen selbst schuld an ihrem Schicksal sind.

Genauso gut könnte man behaupten, dass Kinder die in reiche oder arme Familien hineingeboren wurden eine Wahl gehabt hätten.

Robert Schwedt, Mitglied im SprecherInnenrat der BAG Hartz IV meint dazu:

„Besonders Leistungsberechtige und deren Kinder sind oft aus der Gesellschaft ausgegrenzt, da sie nicht an dieser teilhaben können. Das wirklich erschütternde ist aber, dass sie sich auch noch ihrer Armut schämen und nur selten den Mut haben aktiv für ihre Rechte, z.B. beim Jobcenter einzustehen, da sie befürchten, dass dann alles noch viel schlimmer wird.“.

Dabei wird gerne vergessen, dass Reichtum zwangsläufig Armut produziert, auch wird gerne vergessen das sich Armut, genau wie Reichtum vererbt.

So würde niemand auf den Gedanken kommen einem Reichen das Recht abzusprechen Kinder zu haben, den Armen spricht man dieses Recht jedoch häufig ab.

Wer hat diese Aussage nicht schon mal gehört, „Vom Amt leben und Kinder in die Welt setzen, das sind mir die Richtigen.“.

Ingo Meyer, Mitglied im SprecherInnenrat der BAG Hartz IV äußert sich dazu wie folgt:

„Laut einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands subventionieren Leistungsberechtigte ihre Kinder mit monatlich 50,- Euro aus ihrem ohnehin unzureichenden Regelsatz, da der Regelsatz für ihre Kinder hinten und vorne nicht reicht.

Dieses Geld sparen sie sich wortwörtlich vom Mund ab, daher bringen ihnen ihre Kinder kein Geld ein, wie viele meinen, sondern verstärken die Armut

Ingo Meyer Foto: Archiv C. Stille.

der Eltern.“

Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben die durch Sozialrassismus und Sozialdarwinismus immer weiter gespalten wird, und in der es nur eine Frage der Zeit ist, bis es nur noch eine kleine Minderheit gibt die sich alles leisten kann, und alle anderen im Müll wühlen um nicht zu verhungern.

Wir als Linke fordern eine Gesellschaft an der Alle und nicht nur Wenige teilhaben können, und in der alle gleichermaßen geschätzt werden.

Quelle/Beitragsbild: Pressemitteilung der BAG Hartz IV der Partei DIE LINKE

Friedensfabrik Wanfried schlägt Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für die afrikanisch-europäischen Beziehungen vor. Workshops am kommenden Samstag in Wanfried

Die Wurzeln des Rassismus wurden im Sklavenhandel und der Kolonialzeit gepflanzt. ​Wir schlagen die Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für die afrikanisch-europäischen Beziehungen vor, gemeinsam getragen von Afrikaner*innen und Deutschen und Europäer*innen.

 

Afrika kann nicht mehr atmen – Was tun?

​​Die Wurzeln des Rassismus wurden im Sklavenhandel und der Kolonialzeit gepflanzt.
Mit dieser Seite wollen wir die Menschen zusammenrufen, die für gerechte, friedliche und solidarische Beziehungen zwischen Afrika und Europa eintreten und helfen wollen, Rassismus zu überwinden. Wir werfen mit unseren Videos einige Schlaglichter auf die afrikanisch-europäischen und v.a. afrikanisch-deutschen Beziehungen in der Vergangenheit und heute. Damit wollen wir die Aufarbeitung anregen. Wir sind dankbar für Komment
  Von der„Initiative Black&White“ und der „FriedensFabrik Wanfried“ schlagen wir angesichts des Todes von George Floyd und dem Ringen um die Überwindung von Rassismus die Einrichtung  von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zu den afrikanisch-europäischen Beziehungen vor. Die Stärkung des Wissen über die Zeit des europäischen Sklavenhandels und der gewaltsamen Unterwerfung Afrikas halten wir für nötig: Dort liegen die Wurzeln für den “weißen“ Rassismus gegenüber dunkelhäutigen Menschen. Rassismus wurde von europäischen Interessengruppen geschürt, die an den Reichtümern Afrikas interessiert waren und davon profitieren wollten. Er diente zur Rechtfertigung der Versklavung von Afrikanern und der Eroberung Afrikas. Mit der Verbreitung von Rassismus mobilisierten die Interessengruppen die Bereitschaft der Bevölkerungen in Europa, die wirtschaftlichen und Macht-Interessen von Unternehmen und Monarchen in Afrika durchzusetzen. Es war auch ein Betrug an den europäischen Bevölkerungen, die mangels eigenen Wissens über die Kulturen Afrikas das Verbreiten von „Fake News“ über die angeblich weniger zivilisierten Menschen in Afrika nicht durchschauen konnten; genauswenig, wie die Interessen der Leute, die sie verbreiteten.
Zu der Aufarbeitung der Geschichte gehört das Erforschen vieler Dokumente, aber vor allem auch die Berichte der Menschen, die selbst oder deren Verwandte versklavt worden sind oder deren Länder erobert und ausgebeutet worden sind. Und es gehören Die Sichtweisen derer dazu, die heute noch unter den Vorurteilen gegen dunkelhäutige Menschen leiden
Die Idee, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen einzurichten, stammt nicht von uns. Der „Africareport“ hat sie jetzt eingebracht; wir greifen sie auf und wollen dazu beitragen, dass sie umgesetzt wird.

 

​​Diskussion:

 

​​​Diskutiert werden sollte vor diesem Wissen über die Geschehnisse in den vergangenen Jahrhunderten vor allem auch, ob es bereits wirklich zu einer grundlegenden Veränderung des Charakters der Beziehungen zwischen Europa und Afrika gekommen ist; ob sie der 1945 beschlossenen UNO-Charta entsprechen: Sie fordert gleiche Sicherheit und Selbstbestimmung für alle Staaten. Sie fordert Gewalt und Krieg von der Welt zu verbannen und alle Konflikte friedlich zu lösen. Sie fordert, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen aller Länder zu fördern. Sie fordert die Zusammenarbeit aller Staaten, damit weltweit alle Menschen soziale Sicherheit und Arbeit haben. Oder sind die Beziehungen nicht immer noch von Gewalt (Libyenkrieg) und Ausbeutung (Rohstoffe, Steuervermeidung, Kinderarbeit) und Ungerechtigkeit (Klimawandel, Landwirtschaftssubventionen,

Freihandelszwang) bestimmt? Von der rücksichtslosen Durchsetzung der Interesse der wirtschaftlich und militärisch Stärkeren?

Ziel der afrikanisch-europäischen Diskussion sollte es sein, Wege zu finden zu neuen Beziehungen, zu gleichberechtigten, friedlichen und solidarischen Beziehungen; zu Beziehungen, die den Geist der UNO-Charta, der Menschenrechtserklärung (und des Grundgesetzes) atmen und jedem Menschen unabhängig von seiner Hautfarbe das Menschenrecht auf ein menschenwürdiges Leben sichern helfen.
Wir schlagen den europäischen und afrikanischen Staaten vor, diese Kommissionen einzurichten und auf EU und AU-Ebene zu vernetzen. In ihnen sollen Sozialwissenschaftler, Historiker, Nicht-Regierungs-Organisationen, Aktivisten, Prominente und Politiker von beiden Kontinenten mitwirken, denen die Gestaltung gerechter Beziehungen zwischen Afrika und Europa ein Herzensanliegen ist. Mit solchen Kommissionen, die globale Rechtsstaatlichkeit einfordern und praktizieren, könnten Europa und Afrika in den chaotischen und immer noch vom „Recht des Stärkeren“ dominierten globalen Auseinandersetzungen, ein Zeichen setzten: welche Welt wir wollen und diese Welt damit auch schon ein Stück schaffen. Wir brauchen aber nicht auf die Staaten zu warten. Wir können in unseren Gesellschaften bereits die Beziehungen zwischen Afrika und Europa zum Thema machen, mehr persönliche Beziehungen zwischen Menschen aus Afrika und Europa aufbauen und Kräfte schaffen, die gemeinsam von den Staaten die Einrichtung der Kommissionen fordern.

Mehr lesen

Prof. Dr. Dieter Senghaas. Foto: via Friedensfabrik Wanfried.

Beste Wünsche von Prof. Dr. Dieter Senghaas für die Wanfrieder Pfade zum Frieden

„Die Friedensfabrik Wanfried ist zunächst ein lokaler Ort auf der Suche nach konstruktiven Pfaden für den Frieden – ganz im Sinne von Leitperspektiven, die  jüngst im Auftrag der Vereinten Nationen und auch der Weltbank auf internationaler Ebene erkundet wurden. Eine solche Brücke – von lokal nach international – gilt es auszubauen, was natürlich jeweils nur in Teilbereichen möglich ist, so auch in dem Black&White Vorhaben: von Wanfried nach Sunyani und von Sunyani nach Wanfried -ein neuer Pfad für den Frieden. Von diesen sollte es in der Zukunft viele geben, natürlich auch im jeweils unmittelbaren Umfeld der Friedensstätten. Meine guten Wünsche begleiten die Wanfrieder Projektvohaben.“

Die FriedensFabrik Wanfried orientiert sich bei Ihrer Arbeit an dem von Dieter Senghaas entwickelten „Zivilisatorischen Hexagon“. Mit ihm leitet er aus der Geschichte die Bedingungen für die Friedensfähigkeit einer Gesellschaft ab: Die Entprivatisierung der Gewalt durch Aufbau eines durch Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Partizipation eingehegten Gewaltmonopols des Staates. Soziale Gerechtigkeit, die Entwicklung  eines gegenseitig Aufeinanderangewiesenseins und  eine Kultur gewaltloser Konfliktlösungen sind andere Bedingungen.

Mit der Analyse, dass es heute vor allem weltweiter Konflikte in den Kulturen gibt, stellte er sich der Behauptung entgegen, dass der Konflikt v.a. zwischen den Kulturen verlaufe.

Die Workshops beginnen am 25. Juli 2020 um 10 Uhr. Um 17.30 Uhr gibt es eine Kundgebung mit der Gruppe Black&White gegen rassistische Gewalt und für friedliche, faire und solidarische Bedingungen zwischen Europa und Afrika. Geplant sich auch eine gegenseitige Live-Schaltung zur parallel stattfindenden Parallelveranstaltung in Sunyani in Ghana. Gemeinsam regen die Initiativen die Einrichtung von afrikanisch-europäischen (deutschen) Kommissionen zur Untersuchung der afrikanisch-europäischen Beziehungen in Gegenwart und Vergangenheit an als Grundlage für eine Versöhnung der Menschen beider Kontinente. Auf der ersten Seite der neuen Homepage der FriedensFabrik Wanfried stellt die Initiative ihre Friedenskonzeption vor. Weitere Videos sind zu den afrikanisch-europäischen Beziehungen (Sklavenhandel, Kolonialzeit) dort eingestellt und zur Wichtigkeit von Friedensengagement, dargestellt an einer Sichtweise persönlicher Betroffenheit: https://friedensfabrik-wanfried.com/die-einrichtung-von-wahrheits-und-versoehnungskommissionen/

Schlafplätze (und Zelte) sind vorhanden. Information und Anmeldung: kontakt@friedensfabrik-wanfried.com, 05655-924981, 0176-43773328

Quelle/Beitragsbild: Friedensfabrik Wanfried

Rezension: Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis. Von Moshe Zuckermann

Wagner? Oh Gott, mag da ausgerufen werden. Ist nicht über Richard Wagner schon genug Papier beschrieben worden? Mag sein. Doch eines ist ebenso klar: An der Person Richard Wagner ist eben nicht so leicht vorbeizukommen. Um ehrlich zu sein: Überhaupt nicht. Erst recht am Komponisten Richard Wagner. Denn was wäre die Musikgeschichte und deren Entwicklung nach ihm ohne den genialen Tondramen-Schöpfer, den revolutionären Tondichter?

Da haben wir es wieder: Ist eine durchaus kritisch zu sehende Persönlichkeit in diese und den ihr wohnenden genialen Künstler zu trennen? Glasklar wohl kaum. Schließlich entspringt das Geniale der Kunst aus dem Inneren, dem Geist dieser Persönlichkeit und seinen Ansichten, die sich Laufe des Lebens in ihm herangebildet haben bzw. von ihr eventuell auch wieder verworfen worden sind. Wir haben es auch heute noch und werden es wohl auch künftig immer wieder mit Persönlichkeiten in Kunst und Kultur zu tun (haben), wo sich diese Frage stellt. Man denke nur dabei an die Filmregisseure Roman Polański oder Woody Allen.

Moshe Zuckermann nahm die Herausforderung an, sich an Wagner zu versuchen

Die Frage, ob es nicht „schon genügend Historisches, Politisches, Musikologisches und Kunstphilosophisches, Ideologiekritisches und Polemisches, Bewunderndes und Gehässiges, Musiktheoretisches und Feuilletonistisches über dieses kontroverse Genie geschrieben und zusammengetragen worden?“ (S.7) hat sich auch Moshe Zuckermann gestellt. Und bejaht. Dennoch hat der Soziologe die Herausforderung angenommen, „sich an diesem ‚Thema‘ ein weiteres Mal versuchen zu wollen“. Gut so. Es lohnt sich deshalb unbedingt sein neues Buch „Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis“, das in Form eines Essays verfasst ist, aber, wie Zuckermann anmerkt, „mithin keine stringente wissenschaftliche Darstellungsweise“ beanspruche, zu lesen.

Wer war Richard Wagner?

Schließlich hat so mancher ein bestimmtes Wissen von Richard Wagner im Kopf, das er entweder sich selbst erarbeitet hat oder durch einseitige Schriften übergeholfen bekam. Auf der einen Seite gibt es da die verbissenen Wagnerianer, die nichts auf ihren Helden kommen lassen und jede einzelne Szene, jeden einzelnen von ihm gesetzten Ton auf das Vehementeste verteidigen. Und andererseits seine Kritiker – ja Verächter, die in ihm hauptsächlich einen schlimmen Antisemiten sehen. Das wird nicht selten auch Opernbühnen ausgetragen. Wo das heutzutage weit verbreitet

„Theater-Wagner“, leicht beschädigt. Fotos (2): Claus Stille

auftretende Regie-Theater schon manches Mal seltsame Blüten treibt und kalkulierte Skandale verursacht.

Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher

Ein Beispiel hier nur, was auch Zuckermann in seinem Buch erwähnt:

Da erschien vor Jahren in einer Inszenierung von Burkhard C. Kosminiski an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Richard Wagners „Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher – inklusive Gaskammern auf der Bühne. Burkhard C. Kosminski (vom Schauspiel kommend) „hatte für seine erste Operninszenierung die sagenhafte Handlung um „Tannhäuser“ im Venusberg und den Sängerkrieg auf der Wartburg in der Zeit des Nazi-Regimes und der frühen Bundesrepublik angesiedelt – und damit den Antisemitismus des Komponisten und dessen Einfluss auf die Nazi-Ideologie thematisiert“, wie seinerzeit der SPIEGEL schrieb.

Und weiter:

„Während der berühmten „Tannhäuser“-Ouvertüre sinken nackte Darsteller in einem Kreuz aus gläsernen Würfeln, die sich mit Nebel füllen, zu Boden. Der Venusberg, bei Wagner Ort der hedonistischen Liebe, wird zum Schauplatz einer brutalen Erschießungsszene. Venus in Nazi-Uniform und ihre SS-Schergen ermorden eine Familie und zwingen „Tannhäuser“ dazu, ebenfalls zu töten.“

Nicht selten, merkt Moshe Zuckermann im Buch an, ist der Skandal von vornherein eingeplant – vor allem in Bayreuth. Regisseure werden da ab und an gewiss auch unter diesem Gesichtspunkt eingekauft. Dazu kommt noch das übliche Theater des Wagner-Clans und schon beißt die Presse an und zu – hat ihre Skandal. Das Publikum buht oder verlässt gar laut die Türen schlagend den Wagner-Tempel auf dem Grünen Hügel …

Da könnte ein wenig gut bis gar nicht unterrichtetes Publikum oder Medienkonsument*innen gar auf die Idee kommen, Richard Wagner sei ein Weggeführte von Adolf Hitler – der beim Wagner-Clan aus- und einging – gewesen. Dessen Lieblingskomponist er war. Dabei starb Wagner „im Jahre 1883“, worauf Zuckermann hinweist (S.140), „also volle sechs Jahre vor Hitlers Geburt“.

Wagners Wandlung vom linken Revolutionär zum latenten Antisemiten

In Moshe Zuckermanns Buch werden wir Leser*innen umfassend über den Werdegang Richard Wagners in Kenntnis gesetzt. Wir erfahren auch, wie Zeitgenossen über ihn dachten und schrieben, bzw. später über ihn geschrieben wurde. Und wir lesen von der Wandlung Wagners vom linken Revolutionär (1848) zum angepassten Königstreuen und latenten bis zuweilen erbitterten Antisemiten. Was in sich in überlieferten persönlichen Papieren bis hin zu Wagners Schriften und Opern verfolgen lässt.

Nichtsdestotrotz meint Moshe Zuckermann: „Richard Wagner war kein geistiger Wegbereiter des deutschen Nationalsozialismus.“

Zuckermann gibt zu bedenken (S.12):

Ein geglücktes 1848 hätte – pauschal ausgedrückt – einen Rückzug in die ‚deutsche Innerlichkeit‘ im Sinne einer Flucht aus dem Leben in die Irrationalität, ins Mystische, in Kunst um der Kunst willen‘ als Ideologie, hätte Bismarck, vielleicht gar Hitler unwahrscheinlich gemacht. Eine erfolgreiche Revolution 1848 hätte Deutschland vermutlich auf den demokratischen Pfad geführt und einem Heine gehuldigt. Deutschland konnte Wagner als Hohepriester deutschen Geistes feiern.“

Zuckermann fragt sich jedoch (S.13 oben): „Aber stimmt das so? Kann dies apodiktisch behauptet werden? Was Heine angelangt, gewiss. Bei Wagner liegen die Dinge weitaus komplizierter.“

Auch, ist sich der Autor sicher, sei Wagner heute kein deutsches Ärgernis mehr. Die einzigen, die sich noch um ihn kümmerten und ihn hin und wieder als Ärgernis inszenierten, seien die Regisseure; sie würden dafür zumeist ausgebuht werden. Wie etwas weiter oben bereits beschrieben.

In Israel wird das Werk Wagners nach wie vor boykottiert. Das hat Gründe

Interessant gewiss auch das letzte Kapitel des Buches „Wagner in Israel oder Die Wonnen der Ignoranz“ (S.121).

Wagner dort aufzuführen ist wegen des seit Staatsgründung eingehaltenen halboffiziellen Wagner-Boykotts, „welcher die Nichtaufführung von Wagner-Musik in Israel zur normativen Auflage für alle Orchester des Landes hat werden lassen“ stets verunmöglicht worden. Nicht „ideologiekritische Fragen und Bedenken (die man gegen Wagners kontroverses künstlerisches Werk gewiss anführen kann), welche das öffentliche Verhältnis Israels zu diesem Werk und Person nach nach zu einem die israelische Shoah-Erinnerung bedienenden, quasi-staatlichen kulturellen Symbol gerannen“, seien allerdings der Auslöser dafür gewesen.

Zuckermann (S.125): „Das darf stutzig machen: In einem Land, das ganze sieben Jahre nach Auschwitz einen offiziellen ökonomischen Vertrag mit dem von ihm selbst als solches apostrophierten ‚anderen Deutschland‘ abschloss, mithin gleich zu Beginn seines staatlichen Bestehens die Materialisierung der Sühne etablierte; in einem Land, das knappe zwanzig Jahre nach der Vernichtungskatastrophe (aus nachvollziehbaren praktischen Gründen) volle diplomatische Beziehungen mit dem Urheberland der Katastrophe einging; in einem Land, in dem viele seiner infrastrukturellen Gebilde, Institutionen und großen zivilen wie militärischen Anschaffungen durch deutsches Kapital finanziert werden (…)“

Da sei eben ein 1883 verstorbener Komponist zum halboffiziellen Symbol dieser Beziehung avanciert.

Da werde eben verständlicherweise argumentiert – was auch nicht wegdiskutiert werden sollte, meint Zuckermann) mit der notwendigen Rücksichtnahme auf Gefühle und Empfindlichkeiten von Shoah-Überlebenden.

Allerdings weist der Autor darauf hin, dass es an der Zeit sei, „dass man aufhört, Shoah-Überlebende als monolithischen Block mit einheitlich gebildeten Empfindungen und homogen geformten Willen wahrzunehmen“. Weiter: „Manche Shoah-Überlebende werden Wagners Kunst (aus welchem Grund auch immer) hassen, andere mögen sie bewundern, die meisten dürfte sie mehr oder minder kalt lassen. Für Shoah-Überlebende, die außerhalb Israels leben, ist Wagner schlicht kein Thema.“

Das „Verbot aufrechtzuerhalten (selbst wenn es aus dem Munde von Shoah-Überlebenden kommen sollte), nichts anderes als eine weitere Etappe auf dem langen Weg der Ideologisierung des israelischen Shoah-Gedenkens“, stellt Moshe Zuckermann fest.

Wagner wird also schlicht als „Symbolwert“ gebraucht (S.129). Ein Aufbruch – ein Umdenken – sei nicht gewollt: „Zu viel steht auf dem Spiel – das gesamte, über Jahrzehnte gepflegte Shoah-Gedenken Israels müsste überdacht werden. Zu viele Menschen, zu viele Institutionen sind daran interessiert, dass dem nicht so werde.“

Zuckermann gesteht aber zu: „Wagner war ohne Zweifel einer der obsessivsten und (gemessen an seiner Zeit) gefährlichsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts. Das sollte man auf keinen Fall verharmlosen, aber eben auch nicht außer Proportion geraten lassen.“

Es reiche schon, was er realiter war und in seiner Lebenszeit als Antisemit anrichtete; ihn aber zum Vorreiter der Ideologie des ‚Dritten Reiches‘, gar zum gesinnungsverbündeten Verkünder des von den Juden verbrochenen Völkermordes hochzudeuten (…)“, ginge zu weit.

Zuckermann kann sich vorstellen, „dass mit dem Jahrzehnte währenden Boykott kein genuines Shoah-Gedenken, sondern, ganz im Gegenteil, dessen farcehafte Verhunzung gefördert wurde (S.136). [Mit] „dem Erhalt der Boykott-Ideologie würden wohl „ganz andere, schwerer lastende Probleme als die Aufführung oder Nichtaufführung von Musik eines Tonsetzers aus dem 19. Jahrhunderts abzudecken trachten“.

Wagner? Wagner!

Wagner? Oh Gott muss nach Moshe Zuckermann bravourös geschrieben Essay niemand ausrufen, finde ich. Noch einen Wagner-Buch unter vielen also? Warum nicht – es wird seinen Platz finden. Leser*innen, die vielleicht nicht gerade zu den großen Wagner-Kennern gehörten bzw. verwirrt sind durch das, was man ihnen bislang über den großen Tonsetzer nahebrachte, erfahren über das kenntnisreich geschriebene Buch viel interessantes. Nach Lektüre des neuen „Zuckermanns“ – ich muss zugestehen, ein Fan von ihm zu sein – ist man auf jedenfalls um einiges klüger worden. Man sieht klarer. Ein Skandal stellt dieser Wagner wohl heute eigentlich nur noch auf der Bühne dar, wenn sich Vertreter*innen des Regie-Theater an ihm vergreifen. Und das ist durchaus gewollt. Mögen die Wagnerianer auch noch so sehr im Dreieck springen.

Moshe Zuckermann während einer Veranstaltung in Dortmund (Archiv).

Moshe Zuckermann

Seitenzahl: 144
Ausstattung: Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer: 9783864893117

18,00 €

Lokaltermin in Dortmund-Hombruch: Polizeiwache bekommt neues Domizil

Fassade der Polizeiwache via Schamp & Schmalöer

Die Dortmunder Polizei soll noch bürgernaher, moderner und offener werden. Einen wichtigen Beitrag auf dem weiteren Weg dahin soll neue Polizeiwache im Stadtbezirk Hombruch leisten. Sie soll voraussichtlich im September 2022 vom jetzigen Standort in der Löttringhauser Straße 13 zum „Hombrucher Bogen“ in eine große und modernere Wache umziehen und gut zu Fuß, Rad, Pkw und öffentlichen Verkehrsmitteln und überdies barrierefrei zu erreichen sein. Polizeipräsident Gregor Lange und Bezirksbürgermeister Hans Semmler informierten die Presse am künftigen Standort der Wache. Baubeginn soll Anfang nächsten Jahres sein.

Polizeipräsident Gregor Lange: Dortmunder Polizei ist froh Teil des Strukturwandels zu sein

Polizeipräsident Gregor Lange sprach auf der Baustelle am Luisenglück auf dem Areal des früheren Stahlproduzenten Schröer-Bau „von einem guten

Der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange. Fotos: C. Stille

Termin für Hombruch und natürlich für die Polizei und die Menschen die dort seit vielen Jahren arbeiten“ sowie die im Stadtbezirk lebenden Bürger*innen. Mit Bau, so der oberste Polizist Dortmunds, reihe man sich ein in den Strukturwandel, den die Stadt vorantreibe. Teil dieses Strukturwandels sein zu können, darauf sie die Polizei Dortmund stolz.

Die Kriminalitätsentwicklung im Stadtbezirk Hombruch verläuft positiv

Die Kriminalitätsentwicklung im Stadtbezirk verlaufe im Stadtbezirk äußerst positiv. Es sei nicht unbedingt der Ort, wo man „auf der Straße erschossen wird“, sondern man eher an Wohnungseinbrüche denke, merkte der Polizeipräsident an.

Zwischen 2015 und 2019 ist die Zahl aller Straftaten um 25,20 Prozent auf 2488 gesunken (ausgehend von 3326 Delikten im Jahr 2015). Im Jahr 2019 registrierte die Polizei im Stadtbezirk Hombruch insgesamt drei Raubüberfälle (2015: 7). Erfreulich stellt sich auch die Entwicklung der Wohnungseinbrüche dar: Deren Zahl ist seit dem Jahr 2013 bis 2019 um 61,83 Prozent gesunken (2013: 317 / 2019: 121).

Über den Stadtbezirk Hombruch

Bezirksbürgermeister von Dortmund-Hombruch Hans Semmler.

Der Stadtbezirk Hombruch besteht aus den Stadtteilen Barop, Bittermark, Brünninghausen, Eichlinghofen, Menglinghausen, Persebeck und Schnee. Geprägt ist von Einzelhandels-, Dienstleistungs-, Handwerks- und Industrieunternehmen. Der Bezirk ist Universitätsstandort. Wohnen, Bildung, Freizeit, Erholung und Sport nehmen einen hohen Stellwert ein.

Bezirksbürgermeister Semmler mit einem Ausflug in die Geschichte: In der Nähe des künftigen Standorts des Polizeireviers residierte einst schon einmal die Polizei

Bezirksbürgermeister Hans Semmler machte einen Ausflug in die Geschichte und erinnerte daran, dass bis zum Jahr 1978 die örtliche Polizei quasi einen Steinwurf entfernt vom Standort der künftigen neuen Wache an der Thierheuerstraße/Ecke Baroper Bahnhofstraße residierte, um dann in die Löttringhauser Straße nach Hombruch umzuziehen. Nun gehe es also in Bälde wieder zurück nach Barop fast an die gleiche Stelle.

Nun entstehe auf der alten Industriefläche u.a. mit der „schicken städtebaulich neuen Polizeiwache“ – für deren Entwurf Semmler dem Architektenbüro Schamp & Schmalöer Lob zollte – wieder neues Leben vor Ort.

Zu einer sehr modernen, fortschrittlichen Polizei passe bestens das künftige moderne und fortschrittliche Gebäude der neuen Wache

Wachraum in Barop vor gut 40 Jahren. Foto: PP Dortmund/Repro C. Stille

Polizeioberrätin Kerstin Montag, stellvertretende Polizeiinspektionsleiterin der Polizeiinspektion 1,

bezeichnete die Dortmunder Polizei als „eine sehr moderne, sehr fortschrittliche Polizei“, dazu passten bestens moderne und fortschrittliche Gebäude „in die man gerne kommt als Bürger aber auch als Beamter“.

Wachleiter Polizeihauptkommissar Michael Nockelmann: Konnten unsere Ideen zum Zwecke der Raumgestaltung und hinsichtlich von Sicherheitsaspekten in das Projekt einbringen

Der neue Wachleiter der Polizeiwache Hombruch Polizeihauptkommissar Michael Nockelmann, der im März 2020 aus der Nordstadt in den südlichen Stadtteil kam, beurteilte positiv, dass man auch neue Ideen zum Zwecke der Raumgestaltung bzw. hinsichtlich von Sicherheitsaspekten in das Projekt hat einbringen können. Den Standort sei bezüglich der Einsatzreaktionszeiten verkehrstechnisch günstig gelegen.

Polizeioberrätin Kerstin Montag und Wachleiter Michael Nockelmann.

Einen künftigen „Wohlfühleffekt“ für die Beamten sieht Thorsten Hoffmann, Polizeibeauftragter des Landes NRW

Der Dortmunder Thorsten Hoffmann, vormaliger Bundestagsabgeordneter für die CDU, Polizeibeauftragter des Landes Nordrhein-Westfalen, verlieh seiner Freude über den Bau der neuen Hombrucher Polizeiwache Ausdruck. Er hat selbst als Polizist bis 1990 gearbeitet und kann beurteilen, was für eine vernünftige Polizeiarbeit vonnöten ist. Die Hombrucher Wache habe immer als eine „Sonnenscheinwache“ gegolten, so Hoffmann. Das hatte im dem guten Arbeitsklima dort zu tun gehabt. Nur der „Wohlfühleffekt“ habe gefehlt. Thorsten Hoffmann: „Der könnte jetzt kommen – beziehungsweise kommt auf jeden Fall.“

Harald Evers von der H.H. Projektentwicklung: Hier wird „ein Querschnitt der Bürger Dortmunds“ angesiedelt sein

Harald Evers.

Harald Evers, dem Geschäftsführer der H.H. Projektentwicklung, die schon für andere Bauprojekte am Hombrucher Bogen verantwortlich zeichneten und noch zeichnen,

Von links: Thorsten Hoffmann, Hans Semmler bekommen von Harald Evers Einzelheiten erklärt.

sagte, hier würden im Endeffekt „ein Querschnitt der Bürger Dortmund“ angesiedelt sein. Ein Seniorenheim entstehe gerade, eine Kita sei bereits erstellt, dazwischen würden Eigenheimbesitzer angesiedelt und auch Sozialwohnungen seien auf dem Areal vorgesehen sowie Betreutes Wohnen, zuzüglich Gastronomie. Ein Traum, wohnen und leben auf einer ehemaligen Industriebrache, werde allmählich wahr. Betreffs der Fertigstellung arbeite man auf Frühjahr 2022 hin.

Architekt Richard Schmalöer erklärt das Projekt.

Architekt Richard Schmalöer erläuterte anhand von ausgehängten Plänen die Architektur und das Konzept der Polizeiwache und beschrieb die unmittelbare künftige Umgebung zu der ein kleines Café mit Außengastronomie, eine Grünfläche,

Von links: Michael Nockelmann, Thorsten Hoffmann, Gregor Lange, Kerstin Montag, Harald Evers, Hans Semmler und Richard Schmalöer.

Parkflächen, 16 Wohneinheiten sowie Arztpraxen gehören. Das Polizeirevier bilde den Schwerpunkt.

Kinderarmut in Dortmund – Fachgespräch und Diskussionveranstaltung der Ratsfraktion Linke/Piraten mit dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Dr. Dietmar Bartsch

Von links: Chris Seyda, Cornelia Wimmer, Eva von Angern und Dr. Dietmar Bartsch. Fotos: C. Stille

Es ist ein Skandal, wenn in Deutschland – einem der reichsten Länder der Welt – 2,5 Millionen Kinder in Armut leben oder von Armut bedroht sind. Laut Deutscher Kinderschutzbund sind sogar 4,4 Millionen Kinder in Deutschland von Armut betroffen.

Politiker*innen der Ratsfraktion DIE LINKE & Piraten Dortmund hatten am Mittwoch zu einem Fachgespräch zum Thema „Kinderarmut in Dortmund“ eingeladen. Prominenter Gast war Dr. Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag. Er tauschte sich im Rathaus mit Vertreter*innen von Sozialverbänden zum Thema aus. Im Anschluss nahm der Politiker an einer Diskussionsveranstaltung zum selben Thema an der Reinoldikirche teil.

Dr. Dietmar Bartsch: Kinderarmut inzwischen als Thema im Fokus der Öffentlichkeit

Im Verlaufe der gut einstündigen Fraktionssitzung berichteten die Vertreter*innen der Sozialverbände über ihre Erfahrungen, die sie bei ihrer Arbeit in ihren jeweilig von ihnen beackerten Bereich machen. DRK-Geschäftsführer Frank Ortmann vertrat die Meinung, es käme dabei nicht immer auf mehr Finanzmittel an, sondern die Lebenslagen der Menschen müssten verbessert werden.

Dem trat Dietmar Bartsch entgegen: „Es ist natürlich doch auch ein Geldproblem.“ Bartsch beurteilte positiv, dass inzwischen das Thema Kinderarmut im Fokus der Öffentlichkeit stehe. Vor Jahren noch sei dies längst nicht der Fall gewesen. Da wäre das Thema Kinderarmut eher mit Mali oder Bangladesch, aber nicht mit Deutschland verbunden worden. Unterdessen stehe das Thema immerhin im Koalitionsvertrag. Doch es reiche bei weitem nicht aus, eine von den Linken (und auch von der SPD und den Grünen) geforderte Kindergrundsicherung einzuführen, zumal nicht sicher sei, ob das Geld immer bei den Kindern ankomme, sagte Bartsch. Und auch das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung reiche nicht aus, wenn nur ein Drittel der Betroffenen das Geld abrufe – oder abrufen könne.

Der Bundespolitiker kritisierte: Zehn Milliarden Euro für Rüstungsprodukte und für Familien lediglich zwei Milliarden

Dr. Bartsch wollte keinesfalls kritisieren, dass in der Corona-Krise riesige Summen locker gemacht wurden. Doch zeige ihm das, es läge eigentlich nur am politischen Willen eben auch mehr Finanzen für Kinder und Familien auszugeben. Im dem nun verabschiedeten „Riesen-Paket sind unter anderem zehn Milliarden Euro für Rüstungsprodukte vorgesehen“, bemerkte Bartsch: „Für Familien sind es zwei Milliarden.“

Des Weiteren lasse aufmerken, dass im Corona-Kabinett weder die Familienministerin noch der Sozialminister vertreten gewesen seien. Der Fraktionschef der Linkspartei skandalisierte ebenfalls, dass „Autogipfel“ veranstaltet werden, jedoch keine „Kindergipfel“. Bartsch ärgert sich, dass Kinder in Deutschland keine Lobby haben – anders als Fluggesellschaften, Fußballvereine, die Autoindustrie – und die Rüstung.

Vorsitzender des Kinderschutzbundes warnte vor „Projekteritis“

Dr. Matthias Albrecht, Vorsitzender des Kinderschutzbundes Dortmund stimmte dem Linken-Politiker im Wesentlichen zu: „Es gibt Menschen, auch in Dortmund, die können sich gar nicht vorstellen, wie arm manche Familien sind. Diese Menschen haben halt eine ganz andere Lebenssituation.“ Initiativen lobte Dr. Albrecht, warnte jedoch vor „Projekteritis“. Projekte seien nämlich befristet und liefen samt Finanzierung irgendwann aus.

Kinder an Essensausgabestellen – Verein „Kinderglück“ kümmert sich seit 15 Jahren darum, dass Schulanfänger einen Tornister bekommen

Aber es sei Tatsache, dass sich in Dortmund Kinder an Essensausgabestellen einfinden würden, um sich eine warme Suppe abzuholen, bestätigen mehrere der Anwesenden. Der Verein „Kinderglück“ wiederum kümmere sich schon seit 15 Jahren darum, dass Schulanfänger überhaupt einen Tornister bekämen, ergänzte Manfred Sträter (Soziales Dortmund).

Kita-Sozialarbeit ist wichtig, doch in Dortmund gibt es gerade einmal vier halbe (!) Stellen

Petra Bock (AWO, Fachbereichsleitung Elementarbereich Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege) unterstrich wie wichtig Kita-Sozialarbeit bzw. Schulsozialarbeit ist, um auch Eltern bei Problemen zu unterstützen. Allerdings gebe es in Dortmund gerade einmal vier halbe (!) Stellen.

Eva von Angern, stellvertretende Fraktionsvorsitzende DIE LINKE. Fraktion im Landtags von Sachsen-Anhalt und zuständig für Rechts- und Gleichstellungspolitik, die Dietmar Bartsch auf seiner Reise durch NRW begleitet, befand das später auf der Diskussionsveranstaltung an der Reinoldikirche als zu wenig. In ihrer Heimatstadt Magdeburg, so von Angern, habe man immerhin jetzt 15 Kita-Sozialarbeiter*innen zur Verfügung.

Dietmar Bartsch schockiert: in der Dortmunder Nordstadt beträgt die Kinderarmut 56 Prozent

Schockiert zeigte sich Dr. Dietmar Bartsch über eine genannte Zahl: 56 Prozent betrage die Kinderarmut allein in der Dortmunder Nordstadt, sagte Cornelia Wimmer, linke Fraktionsvorsitzende in der Bezirksvertretung Innenstadt-Nord.

Die lebhafte Gesprächsrunde im Rathaus erbrachte wichtige Anregungen

Neben den bereits genannten Teilnehmer*innen der Gesprächsrunde kamen Reiner Spangenberg, stellv. Vorsitzender Jugendring, Jugendrotkreuz, Sophie Niehaus, Vorsitzende Jugendring, Falken, Karen Schubert-Wingenfeld, Der Paritätische, Vertreterin der Geschäftsführung, Bereich Offener Ganztag und Fatma Karacakurtoglu, ordnungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE & PIRATEN mit wichtigen Anregungen zu Wort. Und neben Cornelia Wimmer waren für Linksfraktion im Rat Dr. Petra Tautorat, stellv. Fraktionsvorsitzende und Nursen Konak, Ratsmitglied, schulpolitische Sprecherin und zuständig auch für FABIDO vertreten.

Die Politik – im Bund und auch in Dortmund – könne und müsse viel mehr tun, darüber waren sich die Gesprächsteilnehmer*innen und ihr Gast Dr. Dietmar Bartsch, der sich für wichtige Anregungen aus der lebhaften Gesprächsrunde bedankte, und die Gastgeberinnen der Dortmunder Fraktion DIE LINKE einig. Angeregt wurde die Abarbeitung eines Ideenkatalogs. Einige Beispiele:

  • ein Netzwerk gegen Kinderarmut muss auch in Dortmund auf die Beine gestellt werden (auf Bundesebene gibt es dieses schon)
  • die U-3-Betreuung in der Nordstadt muss deutlich ausgeweitet werden
  • für die Kinderbetreuung in der Nordstadt (auch im Schulbereich) muss es mehr Personal geben als in wohlhabenderen Stadtteilen
  • in Kitas und Schulen, auch im offenen Ganztag, muss es viel mehr Sozialarbeiter geben, die sich nicht nur um die Kindern, sondern auch um die Belange der Eltern kümmern
  • für die offene Kinder- und Jugendarbeit muss mehr Geld bereit gestellt werden
  • der Rechtsanspruch für einen Platz im offenen Ganztag muss gewährleistet sein
  • die Nutzung von Bus und Bahn sollte für Schulkinder kostenfrei sein
  • deutlich höhere Subventionierung von warmen Essen in Kitas und Schulen
  • mehr Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Thema „Kinderarmut“ schaffen

Eva von Angern im Dortmunder Stadtzentrum an einem der Nashörner, die für das Konzerthaus werben. Womöglich „tankten“ sie dort Kraft.

Gastgeberin Petra Tautorat, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Dortmunder Linken und deren kinder- und jugendpolitische Sprecherin, will sich nun um Punkt 1 kümmern:  „Wir werden alle Teilnehmer dieser Gesprächsrunde noch einmal einladen, um über die Gründung eines überparteilichen Netzwerks gegen Kinderarmut in Dortmund zu sprechen“, kündigte sie an.

Danach begaben sich Teilnehmer*innen der Runde mit Dr. Dietmar Bartsch zu Fuß durch die Innenstadt zur Reinoldikirche, wo sich eine interessante Diskussionsveranstaltung anschloss.

Alle Kinder, so Dr. Bartsch, müssen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen bekommen

Vor interessierten Zuhörer*innen an der Reinoldikirche sagte Dr. Dietmar Bartsch etwas darüber, was Kinderarmut bedeutet: 10 Jahre weniger Lebenserwartung, schlechtere Zähne, oft schlechtere Schulbildung, kein Geld für warmes Mittagessen in der Schule, keinen vorhandenen Computer für Homeschooling und vieles mehr. Die Probleme bezüglich der Kinderarmut hätten sich in der Corona-Krise noch verschärft. Dass sich dies in Bälde – also auch nach der Corona-Krise – ändere, bessere – davon gehe er nicht aus. Bartsch forderte: Kinder müssten – welchen Hintergrund sie auch immer hätten – die gleichen Chancen bekommen. Bartsch wies darauf hin, dass sich in der Amtszeit von Bundeskanzlerin seit 2005 bis heute die Zahl der Vermögensmillionäre in Deutschland verdoppelt (heute: 1,46 Millionen) habe. Wenn man wisse, dass in der gleichen Zeit sich auch die Zahl der Kinder in Armut verdoppelt habe, dann sei dies ein „gesellschaftlicher Skandal“.

Arme Kinder haben oft schlechtere Schulmaterialien kommen oft zu unangemessenen Zeiten zur Schule, wusste Cornelia Wimmer zu berichten

Chris Seyda (DIE LINKE, Dortmund) überreicht Dr. Bartsch ein Gastgeschenk: ein „Genussmittel“.

Cornela Wimmer vertrat auf der Bühne an der Reinolidikirche den eigentlich vorgesehenen OB-Kandidat der Dortmunder Linkspartei, Utz Kowalewski, der erkrankt war. Arme Kinder, so Wimmer, hätten oft schlechtere Schulmaterialien und Kleidung sowie kämen oft zu unangemessenen Zeiten in die Schule, weil etwa Alleinerziehende

Eine Bürgerin stellt eine Frage.

früher zur Arbeit müssten.

Eva von Angern spricht an der Reinoldikirche.

Eva von Angern: Kitas und Schulen sind nicht auf ein eventuelle zweite Corona-Welle vorbereitet

Eva von Angern – in Sachsen-Anhalt auch Vorsitzende des überparteilichen Landesfrauenrates – machte darauf aufmerksam, dass Kitas und Schulen in Deutschland in keiner Weise auf eine mögliche zweite Corona-Welle vorbereitet sind. Armutssituationen und Benachteiligungen hinsichtlich von

Eine weitere Bürgerin will sich informieren.

Dr. Dietmar Bartsch beantwortet Fragen.

Bildungsgerechtigkeit hätten sich ohnehin schon jetzt verfestigt – etwa durch Schulschließungen.

Familien, regte sie an, welche dazu nicht in der Lage seien, benötigten unbedingt auch Hilfe von den Kommunen, wenn es gelte wichtige Anträge auszufüllen.

Manfred Sträter, Geschäftsführer der NGG-Region Dortmund im Ruhestand, informierte die Anwesenden an der Reinoldikirche über das noch junge Projekt Soziales Dortmund.

Rezension: „Ein letzter Grappa“ – 30. und letzter Krimi mit der Kultdetektivin Maria Grappa aus Bierstadt

Zum Grappa, dem aus Italien stammender Tresterbrand, kam ich relativ spät. Und lernte ihn schätzen. Krimis begeisterten mich indes schon sehr früh. In Romanform, als Hörspiel und auch in Filmen im Fernsehen rezipierte ich Krimis regelmäßig. Heutzutage macht sich betreffs letzterem Mediums allerdings schon ein gewisser Überdruss breit. Zumal unterdessen gefühlt das halbe TV-Programm nur noch aus Krimikost besteht.

Polizeireporterin Maria Grappa, die Kultermittlerin aus Bierstadt

Von Maria Grappa, der Bierstädter Kultermittlerin, einer Polizeireporterin, hörte ich bereits Anfang der 1990er Jahre hin und wieder. Es war die Zeit, da hierzulande vermehrt Lokalkrimis in Mode kamen und immer öfters mit zunehmenden Vergnügen gelesen wurden. Des Lokalkolorits wegen. Die Leser*innen liebten es halt, die eigene Stadt oder unmittelbare Region in den Krimis wiederzuerkennen. Oder sogar bestimmte Personen der Zeitgeschichte, welche darin auftraten. Den ersten dieser im Grafit Verlag erschienenen Lokalkrimis – in diesem Fall geschrieben von der Dortmunder Schriftstellerin Gabriella Wollenhaupt – mit der von ihr geschaffenen Romanheldin Maria Grappa – erschien bei Grafit in Dortmund schon 1993. Doch viel später erst las ich meinen ersten „Grappa“. Wie das eben so ist: immer kommt einen irgendetwas dazwischen. Und die Jahre gehen dahin.

Zur Autorin Gabriella Wollenhaupt

Gabriella Wollenhaupt. Foto via Emons Verlag.

Über die Autorin der „Grappa“-Romane schreibt der Emons Verlag GmbH (2019 hat Grafit in der Rheinmetropole Köln unter dem Dach des Emons Verlags eine neue Heimat gefunden):

„Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt, in Grappa und der Sonnenkönig stellt sie zum 29. Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz hat die Autorin weitere Romane geschrieben, zuletzt Schöner Schlaf.

Nach drei Jahrzehnte senkt sich sozusagen der Vorhang für die erfolgreiche Krimireihe mit Deutschlands dienstältester Kriminalromanheldin

Und nun senkt sich mit Ein letzter Grappa sozusagen schon der Vorhang für die Wollenhauptschen Grappa-Krimis. Es ist der Dreißigste in dieser wirklich legendären Erfolgsreihe um die Kultermittlerin Maria Grappa. Verständlich, wenn da bei den Fans der „Grappas“ Wehmut aufkommen wird. Nach drei Jahrzehnten im Beruf der Polizeireporterin beim „Bierstädter Tageblatt“ verabschiedet „sich Deutschlands dienstälteste Kriminalromanheldin“ – so der Verlag – in den wohlverdienten Ruhestand. „Das heißt“, so der Emons Verlag, „dass wir die schlagfertige, streitlustige Polizeireporterin nur noch ein letztes Mal dabei begleiten dürfen, wie sie sich mit ihren Widersachern anlegt.“

Wer es noch nicht wusste: „Bierstadt“ ist das Synonym für Dortmund. Eine Bierstadt ist Dortmund wirklich tatsächlich einst gewesen. Ich erinnere mich noch an die Schilder auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofs Dortmund: „Dortmund – Bierstadt Nummer eins in Europa“. Es war einmal. Lang ist’s her …

Übrigens, ich weiß nicht, ob Sie, liebe Leser*innen, es schon wussten – ich jedenfalls nicht: Bierstadt gibt es es wirklich. So heißt ein 1928 nach Wiesbaden eingemeindeter Ortsbezirk von Wiesbaden (hier).

Bierstadt“ lieferte der Schriftstellerin Stoff en masse

Dass Gabriella Wollenhaupt Dortmund in ihrem Grappa-Romanen zu Bierstadt werden ließ, muss eine geniale Idee genannt werden. Lokalkolorit hatte die Autorin ja praktisch ständig um sich herum. Sie befand sich mittendrin in der Ruhrpottstadt, wo ein Menschenschlag zuhause ist, der das Herz an der rechte Stelle hat, mit dem man schnell warm wird. Wo die Leute aber auch sehr direkt sein können und aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. Und Geschichten und Skandälchen ließen sich auch ohne große Mühe sozusagen immer wieder in „Bierstadt“ einfangen und auf die eine oder andere Art und Weise für einen fesselnden Krimiplot – pardon: zu verwursten . Und an markanten, mehr oder weniger schillernden Zeitgenossen war ja gewiss und über die Jahre auch kein Mangel. Wollenhaupts Redakteurstätigkeit beim WDR (es gibt ein Lokalstudio des Senders in Dortmund) dürfte ihr ebenfalls zugute gekommen sein, wenn es darum ging, Stoff für Storys aufzutun.

Maria Grappa lässt sich auch diesmal nicht die Butter vom Brot nehmen – auch wenn es diesmal brenzlig wird

Die Leser*innen liebten Wollenhaupts „Grappas“. Und ich verspreche, sie werden auch den letzten Grappa lieben und – gefesselt von der spannenden und gleichzeitig unterhaltsamen Kriminalgeschichte – bis zur letzten Zeile verschlingen. Denn auch für freche Sprüche hat die Autorin in gewohnter Weise gesorgt.

Wer Maria Grappa kennt, weiß, dass sie nicht auf den Kopf gefallen ist. Und sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt. Die Polizeireporterin ist einmal mehr schlagfertig und streitlustig – egal ob sie Kolleg*innen, ihren Chef, die Polizei oder eine Staatsanwältin vor sich hat. Dabei wird es für die Grappa diesmal sogar ziemlich brenzlig: Sie wird nämlich mit einem brutalen Mord an einem hohen Polizisten in Verbindung gebracht. Doch damit nicht genug: Auch sie selbst wird mit dem Tode bedroht.

Es geht diesmal richtig ans Eingemachte. Lokalkolorit garantiert. Dortmunder Leser*innen sind klar im Vorteil

In diesem „Grappa“ geht es richtig ans Eingemachte. Da bleibt keine Auge trocken. Wohl schon gar nicht das „Triefauge“ des Innenministers, der ein ums andere Mal – wir kennen das zur Genüge – vor den TV-Kameras wieder einmal ein noch konsequenteres Durchgreifen gegen kriminelle arabische Großfamilien verspricht. Und ausgerechnet mit einen dieser – in dem Fall – tausende Personen umfassenden kriminellen arabischen Clan bekommt es Maria Grappa zu tun. Und als dieser Grappa mörderisch ins Laufen kommt, sieht sich die Polizeireporterin auch noch mit dem nicht weniger gefährlichen Neonazimilieu konfrontiert, das in einem bestimmten Stadtteil zu ihrem Kiez, dem „Nazikiez“,  auserkoren hat. Einem Neonazimilieu, dass es trotz engagierter Demokraten, versammelt in ein von einem Dortmunder „Bündnis gegen rechts – das regelmäßig auf die Straße geht, tatsächlich (noch immer) gibt. Dortmunder Leser*innen sind freilich klar im Vorteil. Wenn im Krimi etwa die Rede von „SS-Eddi“ ist. Oder einem – wie ich es einmal ausdrücken möchte – einstigen und dann bei weiterer Zahlung seiner Bezüge bis zur Pension von der Stadt gefeuertem „Oberfeuerlöscher“, einst SPD-Mitglied, der sich munter in der braunen Szene tummelt.

Die Autorin richtet ihren Scheinwerfer, getragen von journalistischer Erfahrung, auf brandaktuelle Themen der Gesellschaft

Gabriella Wollenhaupt richtet in ihrem Krimi ihren Scheinwerfer auf reale Probleme der Gesellschaft und nimmt eine brandaktuelle Thematik in den Fokus. Das alles aus dem Auge der erfahrenen Journalistin heraus in Worte gefasst, was ein Pfund der Autorin darstellt, mit dem sie ordentlich zu wuchern versteht. Immer ohne hinter dem Berge zu halten, Ohne eine falsch verstandene Political correctness zu reiten, die heutzutage m.E. in bestimmter Hinsicht mehr Schaden anrichtet,als dass sie zum Nutzen der Gesellschaft gereicht. Maria Grappa ist immerhin dennoch um Neutralität bemüht. Wenn man so will: ein Sagen, was ist. Ohne dabei oberlehrerhaft zu werden. Immer unterfüttert mit einem hohen Maß an Humor, viel Situationskomik und verbalem Schlagabtausch mit Schmackes. Die Spannung wird bis zu Schluss gehalten.

Was soll ich sagen?

Lesen! Weiter empfehlen. Darauf einen Grappa! Und dank für dreißig unterhaltsame Krimis mit Maria Grappa als Kultdetektivin.

Ich denke, die Wollenhaupt-Fans werden irgendwann wieder etwas aus der Feder der Dortmunder Autorin zu lesen kommen. Dafür gibt es Anhaltspunkte. Allerdings sicher kein „Grappa“.

Der Emons Verlag zum Buch:

„Das Buch: Bierstadt: Auf den Straßen herrscht Krieg zwischen Anhängern eines arabischen Clans und der Neonazigruppe ›Sturmbund 18‹. BKA und Verfassungsschutz fahren eine Null-Toleranz-Strategie – mit mäßigem Erfolg: Trotz vermehrter Festnahmen tauchen die eigentlichen Drahtzieher immer rechtzeitig ab. Gibt es eine undichte Stelle innerhalb der Ermittlungsbehörde? Reporterin Maria Grappa recherchiert die Hintergründe des Konflikts und ist dabei um Neutralität bemüht. Bis von ihrem Mail-Account aus Botschaften verschickt werden, die sie mit einem brutalen Mord an einem Polizisten in Verbindung bringen …“

Das Buch

Ein letzter Grappa“

Gabriella Wollenhaupt
Kriminalroman
kt., 256 Seiten
EUR 12.00, E-Book EUR 9.99
ISBN 978-3-89425-638-8
Erscheinungsdatum: 05/2020

Köln: Grafit in der Emons Verlag GmbH 2020

Originalausgabe ISBN 978-3-89425-638-8 256 Seiten € [D] 12,00 € [A] 12,40

Auch als E-Book erhältlich