Alles Betrüger? Wie deutsche Medien Bedürftige kriminalisieren und Leser täuschen

Zehntausende Betrugsfälle bei Hartz IV sollen Jobcenter in den vergangenen vier Jahren aufgedeckt haben. Mit dieser Schlagzeile entfachten Bild und Co. erfolgreich Empörung. Tatsächlich unterschlagen die Medien dabei wichtige Informationen und täuschen ihre Leser.

Von Susan Bonath

Die Feindpropaganda in Deutschland läuft auf Hochtouren. Während Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) das Land „kriegstüchtig“ machen will und von der Bevölkerung einen entsprechenden „Mentalitätswechsel“ forderte, sehen einige Leitmedien auch einen Feind im Inneren: Bedürftige, die angeblich massenhaft in krimineller Absicht den Sozialstaat plünderten. Diese Botschaft an die Leserschaft beruht jedoch auf Falschdarstellung.

Reißerische Propaganda

Vorneweg verbreitete Springers Boulevardblatt Bild die Schlagzeile „So oft tricksen Bürgergeld-Empfänger“ – obwohl es um die zurückliegenden vier Jahre geht, wo es noch kein Bürgergeld gab. Der Focus schloss sich der Kampagne an und titelte reißerisch: „Tausende Bürgergeld-Betrüger werden betraft – 93 müssen sogar ins Gefängnis“.

Einige regionale Medienportale sprangen darauf an. So schrieb das Braunschweiger Online-Magazin regionalHeute.de von „fast 166.000 Betrugsfällen“, obwohl es sich bei dieser Zahl nicht um bewiesene Taten, sondern lediglich um Verdachtsfälle von Jobcentern in den vergangenen vier Jahren handelt. Auch die Webseite ludwigsburg24.com übersah das Detail und ordnete die Verdachtsfälle mal eben einem „umfangreichen Sozialhilfe-Betrug“ zu.

Kurz zuvor hatte der Münchner Merkur suggeriert, Schwarzarbeit sei automatisch mit Bürgergeld-Bezug verbunden. Konkrete Zahlen, die beispielsweise einen Anstieg bei den aufgedeckten Fälle belegen würden, präsentierte das Blatt aber nicht.

Verdacht mit Betrug gleichgesetzt

Doch die gesamte Berichterstattung weist bei allen Medien drei grundlegende Probleme auf: Erstens setzt sie ungeklärte Verdachtsfälle, die für Jobcenter schon nach einem anonymen Hinweis vorliegen, mit bestätigten Betrugsfällen gleich – zumindest in der Überschrift.

Zweitens bauscht sie das Problem auf, indem sie den Kontext, nämlich die Anzahl durchgeführter Überprüfungen und den langen Zeitraum, nur beiläufig im Text erwähnt und nicht hervorhebt. Drittens fehlen die realen Geldsummen, um die der Staat auf diese Weise letztendlich betrogen wurde.

Auch eine Gegenüberstellung mit vergleichbaren Delikten, wie Steuerhinterziehung, hätte der Berichterstattung nicht geschadet, um das wahre Ausmaß zu verdeutlichen. Das alles war offensichtlich nicht gewünscht. Man könnte Absicht hinter diesen reißerischen Schlagzeilen vermuten: Der Zorn in der Bevölkerung auf die desaströse Politik soll offenbar auf die Ärmsten umgeleitet werden. Das wäre keine neue Strategie.

Komplett durchleuchtet

Worum geht es? Hintergrund ist ein großangelegter interner Datenabgleich zwischen den Jobcentern und der Rentenversicherung. Demnach übermittelte Letztere den Jobcentern innerhalb von vier Jahren bis 2022 insgesamt 9,1 Millionen Datenpakete von Hartz-IV-Beziehern. Das zeigt erst einmal, dass Menschen, die Hartz IV ‒ heute Bürgergeld ‒ beziehen, umfangreich durchleuchtet werden.

In diesen vier Jahren hätten die Jobcenter auf diese Weise „165.971 Fälle möglichen Leistungsbetrugs aufgedeckt und angezeigt“, berichtet der Focus. Die Betonung liegt auf „möglich“, denn das ist kein nachgewiesener Betrugsfall, wie die reißerischen Überschriften vermuten lassen.

Setzt man diese Zahl nun in den Bezug zu den 9,1 Millionen gezielten und prophylaktischen Datenabgleichen, sind das genau 1,8 Prozent, bei denen die Jobcenter tatsächlich Ungereimtheiten feststellten, die sie für klärungsbedürftig hielten. Andersherum: Bei 98,2 Prozent gab es keinerlei Hinweise auf irgendeinen Verdacht. Das klingt schon anders.

Nur 0,2 Prozent belegte Betrugsfälle

Weiter schreibt der Focus, dass laut einer Linken-Anfrage im Bundestag allein im letzten Jahr „82.269 Hinweise für diese sogenannten Überzahlungen festgestellt“ wurden. Ein Hinweis ist es aber bereits, wenn jemand aus Frust seinen ungeliebten Nachbarn beim Amt meldet. Diese Zahl sagt also gar nichts aus.

Letzten Endes seien davon vergangenes Jahr 39.622 Fälle auf dem Tisch der Staatsanwaltschaften oder des Zolls gelandet, wo sie überprüft werden sollten. Auch das ist kein Beleg für tatsächliche Straftaten. Hier könnte die nächste Zahl einen Anhaltspunkt liefern. So heißt es: „17.892 Hartz-IV-Empfängern wurden die Leistungen wegen ihrer geheim gehaltenen Einkünfte gestrichen.“

Allerdings sind die Jobcenter schnell dabei, Leistungen zu streichen, dafür reicht bereits ein bloßer Anfangsverdacht. Tatsächlich verurteilten Gerichte schließlich nur knapp 4.200 Leistungsbezieher für solche Vergehen im Jahr 2022 zu Geldstrafen, 93 weitere zu einer Haftstrafe. Festzuhalten bleibt: Knapp 4.300 Hartz-IV-Beziehern konnte tatsächlich das Verschweigen von Einkünften juristisch nachgewiesen werden.

Für wie viele der knapp 166.000 sich dieser Vorwurf in den vergangenen vier Jahren insgesamt bestätigt hat, geht aus den präsentierten Daten nicht hervor. Rechnet man die vorliegende Zahl für letztes Jahr hoch, kommt man auf etwa 72.000 Fälle, in denen Jobcenter zwischen 2018 und 2022 deshalb Leistungen strichen oder kürzten, sowie rund 17.200 Fälle tatsächlich juristisch belegten Leistungsmissbrauchs – in vier Jahren.

In Prozenten ausgedrückt, klingt das ganz anders als die Schlagzeilen: In weniger als zwei Prozent der überprüften Fälle erhoben Jobcenter also einen Anfangsverdacht verschwiegener Einkünfte und schalteten Ermittlungsbehörden ein. Bei etwa 0,8 Prozent der Prüffälle waren die Jobcenter so überzeugt von einem Leistungsbetrug, dass sie diesen Hartz-IV-Empfängern die Leistungen kürzten. Hiergegen können die Betroffenen noch gerichtlich vorgehen, sofern sie von ihrer Unschuld überzeugt sind. Das letzte Wort steht noch aus.

Die relevante Zahl bleibt also vorerst: Weniger als 0,2 Prozent der komplett Durchleuchteten wurden tatsächlich wegen nachgewiesenen Leistungsmissbrauchs verurteilt, und dies für einen Zeitraum von vier Jahren. Das spricht eher dagegen, dass Leistungsmissbrauch eine weit verbreitete Masche wäre, wie es die Medien in der offensichtlichen Absicht, Stimmung zu machen, andeuten.

Um welche Summen geht es?

Um welche Summen der Sozialstaat durch verschwiegene Einkünfte tatsächlich geprellt wurde, geht aus den Daten nicht hervor. Man kann aber eine ungefähre Größe berechnen. Dazu könnte man ermitteln, wie viel ein Hartz-IV-Bezieher 2022 durchschnittlich an Leistung bekam.

Laut Bundestag gab der Bund im vergangenen Jahr rund 21 Milliarden Euro für die Regelsätze und weitere 10 Milliarden für die Mietkosten aus, das sind insgesamt rund 31 Milliarden Euro. Aufgeteilt auf rund 5,5 Millionen Leistungsberechtigte kommt man auf eine durchschnittliche Gesamtleistung pro Kopf von knapp 5.640 Euro pro Jahr, also 470 Euro pro Monat. Die niedrige Summe liegt daran, dass viele nebenher arbeiten und daher nicht den vollen Regelsatz erhalten. Außerdem erhalten Kinder weniger.

Da aber nicht bekannt ist, wie viel die ermittelten Leistungsbetrüger bekamen, kann man nur mit dem durchschnittlichen Regelsatz rechnen. Die auf vier Jahre hochgerechnete Zahl ermittelter Betrüger von 17.200 kann man in der Annahme, dass vor 2022 etwas mehr Verdachtsfälle bestätigt wurden, auf 20.000 erhöhen. Diese multipliziert mit dem durchschnittlichen Jahresbudget eines Hartz-IV-Empfängers von 5.640 Euro ergibt eine Summe von knapp 113 Millionen Euro in vier Jahren. Pro Jahr sind das, nochmals hochgerechnet, etwa 30 Millionen Euro.

Als Obergrenze des möglichen Verlustes könnte man die rund 72.000 unbewiesenen Verdachtsfälle nehmen, in denen Jobcenter zumindest Leistungen gestrichen haben. Hiermit käme man auf einen maximalen Verlust von gut 400 Millionen Euro in vier Jahren, also 100 Millionen pro Jahr. Der anzunehmende Verlust dürfte also pro Jahr zwischen 30 und 100 Millionen Euro liegen.

Steuerbetrug tausendfach höher

Gehen wir ruhig von der höchsten Annahme aus, die eine gewisse Dunkelziffer mit einschließen würde: 100 Millionen Euro pro Jahr Verlust durch Sozialleistungsbetrug mittels verschwiegenen Einkommens. Dem gegenüber steht allerdings eine ungleich höhere Zahl: 125 Milliarden Euro. Das ist die vor vier Jahren geschätzte Summe, die dem deutschen Fiskus jährlich durch Steuerbetrug durch die Lappen geht.

Das ist mehr als ein Viertel des gesamten Bundeshaushaltes, fast so viel, wie der gesamte Sozialetat für 2023 und etwa 1.230-mal mehr Geld, als dem Fiskus – konservativ geschätzt – durch den beschriebenen Sozialleistungsmissbrauch verloren geht. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete 2019 über die zugrundeliegende Studie.

Der größte Teil dürfte dabei auf das Konto Reicher und Superreicher gehen. Zur Wahrheit gehört, dass auch von Schwarzarbeit vor allem Unternehmen profitieren. Diese maximieren ihre Gewinne, indem sie Steuern und Sozialbeiträge für ihre Arbeiter nicht abführen. Die so veruntreuten Summen liegen meist weit über den paar tausend Euro jährlich, die sich ein mutmaßlicher Bürgergeld-Betrüger unrechtmäßig einsteckt.

Außen- und innenpolitische Feindbilder

Die Innenpolitik steht somit der Außenpolitik in Sachen Feindpropaganda in nichts nach. Für Letztere stehen ganz oben auf der Liste derzeit „die Russen“, inzwischen wieder dicht gefolgt von „den Islamisten“ – erinnert sei an den von den USA 2001 erklärten „Krieg gegen den Terror“ –, diesmal besonders personifiziert als „die Palästinenser“.

Innenpolitisch geht es derweil nicht nur gegen vermeintliche „Putinversteher“, „Querdenker“ und sonstige politisch Unliebsame, sondern, wie gewohnt, vor allem gegen Arme, denen man pauschal kriminelle Absichten unterstellt. Dabei sitzen die größten Leistungsbetrüger noch immer viel weiter oben. Über sie berichtet die deutsche Presse nur nicht allzu häufig.

Quelle: RT DE

Leuchtturm ARD – oder: Sind die Medien reformierbar?

Foto: C. Stille

29. Oktober 2023 von Andrea Drescher

Am 29.10.1923 erfolgte die Ausstrahlung der ersten deutschen Rundfunksendung aus Berlin. Seitdem haben sich die Medien in Deutschland aufgrund des politischen Umfelds mehrfach erheblich verändert. Mit dem Pressekodex sollten “dunkle Zeiten” der Medienarbeit von vornherein unterbunden werden. Aber werden die Medien heute diesem Anspruch gerecht? Aktuell ist die Bereitstellung von Informationen in den Mainstream-Medien – insbesondere in den öffentlich-rechtlichen – aufgrund ihrer Einseitigkeit optimierungsbedürftig. Vorsichtig gesagt.

Über die WHO-Demonstrationen am 1. und 14.10.2023 in Wien wurde nahezu überhaupt nicht berichtet. Aber ohne umfassende Berichterstattung, die alle Seiten zu Worte kommen lässt, können Menschen sich nicht vollständig informieren – und keine informierten Entscheidungen treffen.

Dass Handlungsbedarf besteht ist offensichtlich. Einige Defizite werden im Ansatz durch alternative Medien adressiert, die aber bei weitem (noch) keine vergleichbare Reichweite haben. Einen anderen Ansatz verfolgt Jimmy Gerum seit zwei Jahren mit dem Leuchtturm-Projekt: Leuchtturm ARD ORF SRG. Jimmy Gerum ist ein deutscher Filmproduzent, der seit 1996 an mehreren sehr bekannten Filmen, darunter “Der Totmacher”, “Cascadeur – Die Jagd nach dem Bernsteinzimmer”, “So weit die Füße tragen” oder “Die Wand” beteiligt war.

Leuchtturm ARD hat – lt. eigener Darstellung – das Ziel, (lokale) Leit-Medien über (lokale) Ereignisse zu wichtigen Themen wie Frieden und Demokratiebewegung zu informieren. Und das international, es richtet sich also genauso an ORF, SRF, BBC oder CNN. Die Verknüpfung von Medienmachern und Aktivisten erfolgt über eine Browser Applikation, die allen ohne Download kostenlos zur Verfügung steht. Wenn alle Aktivisten sie nutzen, wird das weitere Wegschauen durch Medienmacher unmöglich.

Foto: C. Stille

Wer steckt hinter diesem ambitionierten Projekt? Kannst Du Dich vorstellen?

Ich bin 59 Jahre alt, verheiratet und habe einen 19-jährigen Sohn, bin Kinofilmproduzent von Beruf. Ich war schon immer sehr geschichtsinteressiert und recherchiere seit 2014 vor allem zum Thema Geopolitik.

Was war 2014?

Ich habe Daniele Ganser online kennengelernt, was mich veranlasst hat, mich auf Recherchereise zu begeben. Recherchen sind ja typisch für meinen Beruf. Mir wurde klar: die Welt ist desinformiert, aber man kann sich seit vielen Jahren im Internet umfassend weiterbilden. Ich musste auch feststellen, dass die Mainstream-Medien für diese Desinformation verantwortlich sind, da sie dem Pressekodex bei weitem nicht gerecht werden.

So entstand die Idee Leuchtturm?

Ja. Ich habe nach einer Lösung gesucht, um die Desinformation zu beenden. Es geht mir nicht um einzelne politische Antworten, ich möchte nur, dass der Pressekodex eingehalten wird, ein fairer Wettbewerb der politischen Ideen würde entstehen.

Wie ist das möglich?

Wenn die Desinformation beendet wird, ist auch Frieden die automatische Konsequenz. Meine Grundüberzeugung: alle internationalen Konflikte können von umfassend informierten Menschen an runden Tischen gelöst werden, statt in Gewalt zu enden. Die Berufsethik des Journalismus verlangt die Betrachtung globaler Einzelinteressen, die dem Gemeinwohl entgegenstehen.

Wieso Ethik?

Die Verletzung dieser journalistischen Ethik passierte schleichend und teilweise unbewusst, aufgrund von jahrzehntelanger Indoktrination. Dem muss man entgegenwirken und das geht nur mit Dialog auf Augenhöhe. Wir brauchen einen offenen und fairen Diskurs darüber.

Wir müssen den Dialog mit der Institution der vierten Säule suchen, weil sie die Aufgabe hat die Fehlentwicklungen in der Politik aufmerksam zu kontrollieren. Dabei ist der friedliche und respektvolle Ansatz entscheidend, damit uns auch zugehört wird.

Was macht Ihr – ganz praktisch?

Wir wollen mithilfe unseres Tools letzten Endes mit jedem Journalisten auf der ganzen Welt Kontakt aufnehmen und sie über das laufende Geschehen in ihrer Region informieren. Dafür werden – idealerweise von den Aktivisten selbst – alle regionalen Veranstaltungen eingetragen. Aktuell laden wir jede Woche per Mail zu über 200 Veranstaltungen ein. Damit informieren wir die Journalisten, was in ihrer Region an wichtiger Friedens- und Aufklärungsarbeit getan wird.

Wir laden sie zu Demos, Vorträgen oder Workshops zu kritischen Themen aber auch zu persönlichen Gesprächen mit uns ein. Wir haben aktuell rund 3.400 Adressen, es wird aber immer mit Regionalbezug eingeladen, vorzugsweise der öffentliche Rundfunk, da wir dort das Recht auf Ausgewogenheit einfordern können.

Wie groß ist euer Team?

Ich bin zwar die Drehscheibe für die Koordination, es ist mir aber sehr wichtig, dass wir dezentral aufgestellt sind. Das ist ein Teil der Strategie. 50 Städte sind aktiv dabei, das sind 50 Leuchttürme, in denen es inzwischen Mahnwachen vor den Medienhäusern gibt. Die Idee der Mahnwachen war der Leuchtturm 2.0. Die Grundidee ist, dass jede Stadt einen Leuchtturm haben sollte, der sich um den Beziehungsaufbau mit dem lokalen Journalismus kümmert. Und wenn es in diesen Städten Events gibt, laden die Veranstalter mithilfe des Web Tools dazu ein. Dem haben sich noch rund 150 Orga-Gruppen angeschlossen, die regelmäßig Veranstaltungen durchführen. Rund 180 Einladungen gehen inzwischen von den Veranstaltern aus, den Rest machen wir. Es gibt ca. 10 Menschen, die immer mal wieder helfen, Events eintragen, Mails schreiben und versenden. Ich selbst habe z.B. mal die New York Times zu einem New Yorker Friedensevent eingeladen.

Du sprichst von Leuchturm 2.0 – was muss ich mir darunter vorstellen?

Aktuell sind wir bei Leuchtturm 4.0. Die Entwicklung begann vor zwei Jahren mit 1.0, dem legalen GEZ-Zahlungsstopp. Wir gehen in das Widerspruchsverfahren gegen die GEZ. Dieser Zahlungsstopp endet in einem Gerichtsverfahren gegen die Desinformation. Aktuell laufen ca. 200 Verfahren in ganz Deutschland.

2.0 waren die bereits erwähnten Mahnwachen vor den Rundfunkhäusern, die seit 67 Wochen stattfinden. In 3.0 ging es um die Erweiterung auf Einladungen zu Spaziergängen und Demos. 150 haben sich angeschlossen und laden seitdem die Medien zu ihren Events ein.

Leuchtturm 4.0 ist die Internationalisierung und Automatisierung des Medien Dialoges über das Web-Tool, wobei wir bereits sechs Sprachen im System anbieten.

Wieviel Zeit investierst Du?

Seit zwei Jahren mache ich das Vollzeit, 16 Stunden täglich. Neben dem Netzwerken, mit Menschen Reden, auf Veranstaltungen Gehen, fließt sehr viel Zeit in die Administration der App ein. Ich erfasse Daten von Medien oder Veranstaltungen und kontrolliere jeden Eintrag, der von anderen eingepflegt wird. Die Aktivisten selbst kommen nicht vor – wegen des Datenschutzes. Jedes Event wird kontrolliert bevor es freigeschaltet wird, um extremistische oder dumme Einträge sicher zu verhindern.

Warum so viel Zeit?

Beitragsbild:

Vernetzung kostet Zeit. Das Gute ist, sie kostet kein Geld. Unser Projekt ist nahezu kostenlos. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir klug vorgehen. Wir vermeiden vor allem auch verbale Gewalt. Da wir auf öffentlich im Netz verfügbare Daten von Redaktionen und öffentlich bekannte Veranstaltungen zurückgreifen, ist die App auch juristisch unangreifbar. Wir vermeiden politische Positionen, jede konstruktive Meinung sollte gehört werden. Entscheidend für den Erfolg ist der Beziehungsaufbau mit den lokalen Journalisten.

Wie entstand die App, hast Du das selbst technisch umgesetzt?

Nein. Technisch kenne ich mich überhaupt nicht aus. Die Webseite und die App wurden mir geschenkt, vielen Dank an Jens und Hermann! Das Web Tool ist eine kostenlose Software aus dem Internet. Es gibt noch sehr viel Automatisierungspotential, kompetente Unterstützer, die bereit sind, sich non-profit zu engagieren, sind herzlich willkommen.

Wovon lebst Du, wer finanziert Dich, wenn Du Deine ganze Zeit in dieses Projekt investierst? Willst Du mittelfristig mit dem Projekt Geld verdienen?

Ich lebe von Rücklagen, als Filmproduzent habe ich gut verdient und wenig ausgegeben. Ich bin kein materialistischer Mensch, brauche kein Haus, kein Auto, keinen Luxus. Das Projekt ist und bleibt kostenfrei. Ich will weder in Gegenwart noch in Zukunft Geld damit verdienen.

Die Nutzung ist kostenfrei. Wie finanziert sich das Projekt?

Für Leuchtturm 1.0 wurden noch Spenden gesammelt. Den ca.15.000 Euro Kosten standen ca. 12.000 Euro Spenden gegenüber. Der größte Kostenfaktor sind Reisekosten. Aber das ist überschaubar. Es geht mir bei der Aktion um Vertrauen. Und bei Geld hört oft das Vertrauen auf. Ich will, dass das kostenlos bleibt. Und das ist auch möglich. Denn unsere Idee baut auf digitaler Kommunikation und Vernetzung auf. Und die ist heute weltweit nahezu kostenlos.

Gab es aus Deiner Sicht schon Erfolge?

Unser Ziel ist der Beziehungsaufbau, um einen Dialog auf Augenhöhe stattfinden zu lassen. Das braucht Geduld und Kontinuität. Natürlich reagiert die Mehrheit der Journalisten zunächst nicht auf die Einladung. Es hat 20 Wochen gedauert, bis der erste Journalist zu einer Veranstaltung kam. Aber dann beginnen die Gespräche, in denen wir auch über die Versäumnisse des Journalismus im Hinblick auf den Pressekodex sprechen können.

Rund 20 runde Tische sind regional schon zustande gekommen, bei denen Sondierungsgespräche mit verschiedenen Journalisten stattgefunden haben. Bei einem öffentlichen runden Tisch im September waren der Bayrische Rundfunk und die CSU vertreten. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Was sind die nächsten wichtigen Schritte?

Das Wichtigste ist die weitere Vernetzung, von Aktivisten, Journalisten und Aktiven im Leuchtturm-Team. Wenn man sich kennt, entsteht Vertrauen, was den friedlichen Dialog fördert. Das nächste Ziel ist es, statt 200 Einladungen wöchentlich 1.000 Einladungen zu versenden. Wir suchen weitere Aktive, die Veranstaltungen melden und ihre regionalen Redaktionen eintragen. Und das möglichst in jedem Land der Welt.

Und was kann der Leser dieses Artikels als nächstes tun?

Viele sind frustriert, weil wir das Ziel in Freiheit und Frieden zu leben noch nicht erreicht haben. Viele wissen nicht, was sie tun sollen. Das Web Tool bietet jedem die Möglichkeit, aktiv zu werden und mitzuarbeiten. Ohne Download oder Registrierung kann man unter https://lstu.fr/mediendialog ins Tun kommen und sich ab sofort an den – weltweiten – Einladungen der Presse zu Veranstaltungen der internationalen Friedensbewegung beteiligen.

In der App kann jeder öffentliche Veranstaltungen eintragen und die lokalen Medien mit einem fertigen Brief in wenigen Minuten einladen – anonym oder als Veranstalter. Eine Stunde pro Woche von zehn Menschen in Wien oder Berlin würden locker reichen, um sämtliche Veranstaltungen in Wien oder Berlin zu erfassen.

Der Journalismus bzw. die Medien haben die Kraft, die Dinge zu verändern. Friedliche Aktivisten und dem Pressekodex verpflichtete Journalisten könnten gemeinsam für eine gerechte Welt sorgen, denn letztlich sind wir Menschen stärker als der digital-finanzielle-militärisch-industrielle Komplex.

Ob wir Erfolg haben, hängt von uns allen, von jedem Einzelnen ab. Gemeinsam können wir das nötige Selbstvertrauen entwickeln unsere Zukunft selbst zu gestalten.

Dann wünsche ich Dir, dass sich möglichst viele Menschen daran beteiligen! Dir und uns allen viel Erfolg.

Beitragsbild: Screenshot Leuchtturm ARD.

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Irre Propaganda: Deutsche Medien hetzen gegen „faule Putzkräfte“

Reinigungsfirmen bangten um ihre Arbeitskräfte. Diese kündigten neuerdings angeblich reihenweise, um sich mit Bürgergeld „auszuruhen“. Diese Geschichte tischten zahlreiche Leitmedien jüngst ihren Lesern auf. In Wahrheit handelt es sich um trickreich zusammengedichtete Propaganda.

Von Susan Bonath

Jeder will es sauber haben. Doch in wohl keiner anderen Branche leiden Arbeitskräfte in Deutschland so sehr unter der Abwertung ihres Schaffens wie in der Gebäudereinigung – finanziell, strukturell und ideell. Geringe Löhne trotz großer körperlicher Belastung, Zwang zu hoher Flexibilität, familienunfreundliche, meist gestückelte Arbeitszeiten, hohe Teilzeit-, Leiharbeits- und Minijobquoten, miese Arbeitsbedingungen mit vielen unbezahlten Überstunden und fehlende Anerkennung prägen ihren Alltag.

Ohne dies nur ansatzweise zu würdigen, hetzten zahlreiche Medien nun ausgerechnet gegen sie: „Faule“ Putzkräfte würden kündigen, um lieber Bürgergeld zu beziehen. Die auf einer „Umfrage unter Arbeitgebern“ beruhende Hetzkampagne ist geprägt von Halbwahrheiten, Auslassungen, Verallgemeinerungen und purer Verachtung. Die Absicht dahinter ist unschwer zu erahnen: Arme gegeneinander aufhetzen, Niedriglöhner einschüchtern und Zustimmung in der Mittelschicht für weiteren Sozialabbau erzielen.

Hetze zugunsten von Lohndrückern

Angeblich, so wetterte Bild in bekannter Manier, habe eine (bisher noch unveröffentlichte) Umfrage ergeben, dass „mehr als zwei Drittel aller Chefs“ von Reinigungsfirmen es bereits erlebt hätten, dass Beschäftigte kündigten, weil sie dann Bürgergeld bekämen. Grund sei eine angebliche, zu hohe Grundsicherung.

Das Springer-Boulevardblatt berief sich dabei auf einen nicht weniger unsachlichen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) unter dem reißerischen Titel „Lieber Bürgergeld als Arbeit“.

Die selbsterklärt bürgerlich-konservative Tageszeitung zog herb vom Leder. Es gebe ein „Problem mit dem Lohnabstandsgebot“, zitierte sie CDU-Chef Friedrich Merz. Es brauche mehr „Arbeitsanreize“, griff sie das polemische Repertoire der FDP auf.

Auch der Münchner Merkur ließ sich nicht lumpen, gegen die Ausgebeuteten, die angeblich „keine Lust auf Arbeit“ hätten, zu hetzen. Die Reinigungsfirmen machten sich „Sorgen“ wegen der geplanten Bürgergelderhöhung, schwadronierte das Blatt im Sinne der Unternehmen. Auf die Idee, zu fragen, ob die gezahlten Löhne angesichts der hohen Inflation zum Leben nicht mehr reichen, kam die Zeitung nicht.

Vage Floskeln statt konkreter Aussagen

Statt konkreter Zahlen bringen sämtliche Berichte nur vage Floskeln. So heißt es etwa, bei 28,4 Prozent der befragten Unternehmen hätten „bereits mehrere Beschäftigte mit konkretem Verweis auf das Bürgergeld gekündigt oder eine Kündigung in Aussicht gestellt“. Ja was denn nun von beidem, könnte man fragen. Und war dieser angebliche „Verweis“ vielleicht einfach nur Bestandteil einer Kritik an zu geringen Löhnen und zu schlechten Arbeitsbedingungen? Ist Kritik daran heute etwa nicht mehr erlaubt?

Dann heißt es: „Weitere 40 Prozent sprechen noch von Einzelfällen“. Auch hier bleibt völlig unklar, um welche Art von „Einzelfällen“ es sich eigentlich gehandelt hat. Diese vagen Aussagen allein bestätigen nach Auffassung der Qualitätsjournalisten bereits einen schrecklichen „Trend“: Das Bürgergeld werde immer mehr „ein Konkurrent zum Lohnangebot“ der Arbeitgeber. Ob das vielleicht daran liegt, dass dieses zu niedrig ist?

Viele Fragen bleiben somit offen: Wie viele haben wirklich gekündigt? Waren das Vollzeitkräfte? Wie viele Teilzeitkräfte und Minijobber waren dabei, die ohnehin mit Bürgergeld aufstocken? Wie viele davon haben einfach nur den Job gewechselt und sich mit so einem Vergleich über den schlechten Lohn beschwert? Spielt vielleicht auch die Fantasie zorniger Chefs eine Rolle für das Umfrageergebnis?

Fast nur Teilzeit für Hungerlohn

Ein paar Fakten: Als die Politik vergangenes Jahr beschlossen hatte, per Eingriff den Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro pro Stunde zu erhöhen, lag der unterste Tariflohn für Gebäudereiniger bei 11,55 Euro, also darunter. Seither gilt für Putzkräfte eine Lohngrenze von 13 Euro pro Stunde, ab Januar 2024 soll diese auf 13,50 Euro steigen.

Mini- und Teilzeitjobs überwiegen in dieser Branche bei weitem. Vor neun Jahren arbeitete weniger als die Hälfte aller Reinigungskräfte überhaupt in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Von diesen waren gerade einmal 28 Prozent in Vollzeit tätig. Das dürfte heute nicht viel anders sein.

Mit anderen Worten: Aufgrund der hohen Teilzeit- und Minijobquote verdienen überhaupt nur etwa 14 von 100 Reinigungskräften genug, um über den Hartz-IV- beziehungsweise Bürgergeldsatz zu kommen. Ganze 86 Prozent der Arbeiter – zumeist Frauen – in diesem Gewerbe müssten also ohnehin ihren mageren Lohn aufstocken, sofern sie keinen besser verdienenden Partner haben.

„Sofort Bürgergeld“ gibt es nicht

Auch das Märchen von der „sozialen Hängematte“, in die sich die nicht näher bezifferten und benannten angeblich kündigungswilligen Arbeitskräfte sofort begeben könnten, wurde mal wieder aufgewärmt. Wahrer wird die Lüge dadurch aber nicht.

Wer nämlich einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz verliert, muss zunächst nicht etwa zum Jobcenter, sondern zur Arbeitsagentur, um für mindestens zwölf Monate das sogenannte Arbeitslosengeld I zu beantragen – eine Versicherungsleistung, für die Beschäftigte eingezahlt haben. Diese erhält auch nicht sofort, wer selbst gekündigt hat oder wem die Arbeitsagentur einen „selbstverschuldeten Grund“ einer Entlassung vorwirft. Dann gibt es nämlich erst mal eine Sperre von bis zu drei Monaten.

Nur wer dann weniger Arbeitslosengeld erhält als ihm laut Bürgergeld zustünde, kann eine zusätzliche Aufstockung beim Jobcenter beantragen. Diese gibt es aber nur, wenn Familienangehörige ebenfalls nicht genug Einkommen erzielen und kein nennenswertes Vermögen vorliegt. Und schließlich steht stets im Fokus der Behörde, wer Bürgergeld bezieht. Nach wie vor sind Betroffene nämlich verpflichtet, jedes Jobangebot anzunehmen, das nicht als sitten- oder rechtswidrig eingestuft wird. Ansonsten hagelt es Sanktionen.

Bürgergeldbezug ist eben kein Sonntagsspaziergang, wie es gern dargestellt und geglaubt wird. Man kann schnell vom Regen in die Traufe gelangen. Besser wird es arbeitsmäßig damit selten. Genau das ist auch das Ziel der repressiven Sanktionspraxis: Der Niedriglohnsektor braucht schließlich Personal.

Bürgergeld nicht stärker gestiegen als Mindestlohn

Die zum Januar 2024 geplante Minierhöhung des Mindestlohns um 3,4 Prozent von 12 auf 12,41 Euro pro Stunde ist angesichts der Preissteigerungen, vor allem bei Grundbedürfnissen wie Lebensmittel und Energie, freilich ein Skandal. Nun stoßen sich die Medien daran, dass das Bundesarbeitsministerium das Bürgergeld ab kommendem Jahr um 12 Prozent auf 561 Euro pro Monat für Alleinstehende erhöhen will.

Damit, so die Behauptung, werde der Abstand zwischen Grundsicherung und Mindestlohn geringer. Genau dies aber stimmt tatsächlich nicht. Tatsächlich wurde der Abstand in den letzten beiden Jahren vergrößert. Der Trick der Artikelschreiber: Man schaut nur auf die aktuell geplante Erhöhung und blendet die letzten beiden Jahre vollständig aus.

Dazu folgende Zahlen: Ende 2021 galt ein Mindestlohn von 9,60 Euro pro Stunde. Der Hartz-IV-Satz für einen Alleinstehenden betrug 446 Euro. Durch einen politischen Eingriff stieg der Mindestlohn im Oktober 2022 aber merklich. Ende des vergangenen Jahres betrug er 12 Euro – das war ein Anstieg um 25 Prozent. Währenddessen erhielt ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher zu dieser Zeit 449 Euro monatlich – 0,7 Prozent mehr als im Jahr davor.

Das nun in Bürgergeld umbenannte Hartz IV wurde erst Anfang dieses Jahres merklich auf 502 Euro angehoben. Das Plus von 12,5 Prozent gegenüber 2021 ist aber gerade halb so hoch wie die Mindestlohnerhöhung im selben Zeitraum.

Ab 2024 soll nun eine Lohnuntergrenze von 12,41 Euro pro Stunde gelten. Gegenüber Ende 2021 sind das gut 29 Prozent mehr. Das Bürgergeld soll im kommenden Jahr nun nochmals um rund zwölf Prozent steigen. Dies sind aber nur 26 Prozent mehr als im Jahr 2021. Die angebliche Ungleichbehandlung ist also eine Schimäre, die offenbar bewusst von Medien genutzt wird, um die Ärmsten gegeneinander auszuspielen und der abstiegsgefährdeten Mittelschicht Sündenböcke vorzusetzen.

Mietkosten nicht mitgerechnet

Noch etwas anderes verschweigen die Medien bei ihrer Bürgergeld-Polemik: Angehoben wurde nur der reine Regelsatz. Für die Mietzuschüsse sind nach wie vor die Kommunen zuständig. Während also der Mindestlohn im Ganzen stieg, hob die Politik nur einen Teil des Bürgergeldbetrages rechtssicher um rund 26 Prozent seit 2021 an. Zuständig für die Mietkosten sind die Kommunen.

Was die Landkreise und Städte an Unterkunftskosten zahlen, orientiert sich an ihren selbst festgelegten Obergrenzen, die jeweils für zwei Jahre gelten. Richtig ist, dass die meisten Jobcenter Ende 2022 die damals plötzlich in die Höhe geschossenen Heizkosten zumindest vorübergehend auch dann übernahmen, wenn sie über diesen Obergrenzen lagen. Richtig ist aber auch, dass die meisten Kommunen nun wieder feste Obergrenzen anwenden. Und diese sind oft viel weniger stark gestiegen als das Bürgergeld.

Die Stadt Leipzig beispielsweise erhöhte sowohl die Obergrenzen für die Bruttokaltmiete als auch für monatlichen Heizkosten lediglich um zehn Prozent. So erstattete das Jobcenter Leipzig einem alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher 2021 und 2022 höchstens eine Warmmiete von 364,79 Euro. Nunmehr gilt eine Mietobergrenze von insgesamt 401,63 Euro.

Das bedeutet: Ende 2021 konnte ein allein lebender Bürgergeldbezieher ohne Erwerbseinkommen in Leipzig insgesamt höchstens knapp 811 Euro vom Jobcenter erhalten. Nächstes Jahr wird es für diesen unter Berücksichtung aller Erhöhungen maximal rund 965 Euro monatlich geben, wovon er seinen gesamten Bedarf an allem bestreiten muss. Das sind also effektiv nur 19 Prozent mehr als Ende 2021 – während der Mindestlohn in der gleichen Zeit um 29 Prozent stieg.

Leipzig soll hier nur als Beispiel gelten. Der Anstieg mag in manchen Kommunen höher, in anderen noch geringer ausfallen. Klar ist aber: Die Medien bedienen sich hier eines simplen Rechentricks, um falsche Schlüsse aufzutischen. Die Geschichte vom geschrumpften Lohnabstand ist also unwahr.

Einschüchtern von Geringverdienern

Über das Motiv der Medien für ihre neuerliche Hetzkampagne kann nur spekuliert werden. Sie bedient aber definitiv die Interessen von Lohndrückern. Wer ohnehin schon in einem gesellschaftlich kaum geachteten Beruf malocht und dann noch derart konzertiert diffamiert wird, dürfte sich kaum noch trauen, sich gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu wehren. Doch man sollte nicht vergessen: Alle Arbeitsrechte dieser Tage sind das Ergebnis harter, oft sogar blutiger Klassenkämpfe.

Eine möglichst niedrige und repressive Grundsicherung, verbunden mit gesellschaftlicher Ächtung, trägt den Rest dazu bei, dass Deutschland ein Paradies für den Niedriglohnsektor bleibt. Genau dafür war bereits Hartz IV gedacht. Nur, wie soll die deutsche Wirtschaft wieder wachsen, wenn sich immer mehr Menschen immer weniger leisten können?

Diesem Problem mit einschüchternden Hetzkampagnen gegen fast immer prekär beschäftigte, unterbezahlte Putzkräfte sowie verarmte Bürgergeld-Bezieher zu begegnen, ist, gelinde gesagt, nur für eine Gruppe befristet zielführend: profitierende Lohndrücker, die noch mal kräftig abkassieren wollen.

Quelle: RT DE

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Oberstarzt a.D. Reinhard Erös mit hochinteressantem Afghanistan-Vortrag in Dortmund

Afghanistan. Ich war sofort angetriggert. Das Land trat – wenn ich mich richtig erinnere – 1979 in mein Bewusstsein. Was in erster Linie damit zu tun hatte, dass die Sowjetunion im Dezember 1979 militärisch in einen innerafghanischen Konflikt intervenierte. Was mich und viele andere in der DDR damals schockierte. (1)

Über Afghanistan wussten wir damals bis dato praktisch nichts.

Was sich ändern sollte. Nicht nur über Nachrichten, die man dann zu sehen bekam. Ein für uns zunächst quasi weißer Fleck auf der inneren Weltkarte bekam nach und nach Konturen. Für mich nicht zuletzt deshalb, weil ein junger Afghane an meinem Theater als Beleuchter anfangen sollte. Farid war mit seiner Frau Nagiba in die DDR gekommen, um zu studieren. Mit ihm hatte es im Gegensatz zu seiner Frau an der Uni nicht geklappt. Nun hatte man ihn – der in Kabul beim Fernsehen gearbeitet hatte – in ein Praktikum in die Beleuchtungsabteilung des Theater vermittelt, mit der Aussicht im Anschluss seinen Beleuchtungsmeister zu machen. Was er übrigens dann auch wurde.

Farid brachte uns sein Heimatland über Bildbänder (mit herrlichen Natur- und anderen Bildern) sowie über Erzählungen nahe. Farid tat das mit einer sehr leisen Stimme. Öfters wurden wir, seine Kollegen, ins Studentenheim, wo er mit seinen Landsleuten wohnte, eingeladen. Sie musizierten mit ihm. Wir tranken Tee zusammen.

Wir lernten, dass Afghanistan ein Land mit schöner Natur, aber teils auch ein karges Land mit hohen Bergen, mit vielen Ethnien und freundlichen, gastfreundlichen Menschen ist. Welches jedoch auch eines der ärmsten Länder der Erde ist, dass seit Jahrzehnten keinen Frieden kannte.

Afghanistan erlebte bis heute 40 Jahre Krieg.

Dass Dr. med. Reinhard Erös, welcher für vergangenen Donnerstag von der Auslandsgesellschaft in Dortmund angekündigt worden war, um zum Thema „Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime“ zu referieren, versprach interessant zu werden.

Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. Und er hatte in der Tat viel Interessantes zu erzählen.

Quo vadis Afghanistan?

Der studierte Arzt übersetzte das erst einmal aufs Medizinische. Brach die Frage auf das Verhältnis Arzt – Patient herunter. Und fragt somit bezüglich Afghanistan: Wie geht es dir? Wo gehst du hin? Wohin entwickelst du dich? Und er musste sich demzufolge zunächst fragen, wie kamst du dahin, wo du jetzt stehst?

Erös hält die Berichterstattung über Afghanistan für eine Katastrophe. Demnächst käme wieder so ein Artikel eines FAZ-Journalisten, der das Land kürzlich besucht hatte. Eine Katastrophe seien etwa 95 Prozent der Artikel über das Land. „Nicht weil die dumm sind, die Journalisten oder gar bösartig. Sondern weil sie halt überhaupt keine Ahnung haben vom Land. Ihnen fehlen die Sprachkenntnisse und Sprachführungskenntnisse, wie sie für Afghanistan unabdingbar wären. „Und natürlich die generelle Kulturkompetenz.“ Das betreffe auch Politiker und Bundeswehrgeneräle. Sie könnten sich eben so kein reales Bild vom Land zu machen. „Sie sind halt dann blind, taub und stumm.“

Wichtig zu wissen: Afghanistan war nie eine Kolonie und hat sich nie domestizieren lassen.

Erös hat in den 1970er Jahren Medizin und Politik studiert. Und er war fünf Jahre bei der Bundeswehr und dort bei den Fallschirmjägern. Er war für Hilfsorganisationen, u.a. die Nato, die EU, die WHO, das IKRK und das Auswärtige Amt in Sachen Entwicklungshilfe in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs.

Warum der Afghanistan-Einsatz nicht nur für die Bundeswehr in die Hose ging

Warum sind also die letzten zwanzig Jahre in Afghanistan nicht nur für die Bundeswehr in die Hose gegangen? Reinhard Erös: „Die Bundeswehr wurde rausgeschmissen!“

„Diese Barfußsoldaten, diese Taliban mit Waffen aus dem Mittelalter haben die größte Militärmacht der Welt, das größte Militärbündnis der Welt, mit den bestens ausgebildetsten Soldaten, mit dem besten Material der Welt, vernichtend geschlagen und vertrieben!“

Das sei bei uns auch nicht so richtig in die Köpfe reingegangen, was damals passiert ist.

Da hätten bei den ganzen Islamisten der Welt sozusagen „überall die Sektkorken geknallt“.

Bei unseren Medien sei das damals auch nicht so richtig dargestellt worden.

Überhaupt kenne er keinen einzigen Journalisten in Deutschland, der vom Militär eine Ahnung hat. Der letzte sei Peter Scholl-Latour gewesen.

Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“

Erös selbst habe zu Studentenzeiten auch nichts über Afghanistan gewusst. Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“. Erös selbst habe das Kraut nie konsumiert: „Ich komme aus Bayern, das raucht man nicht.“ Das Kraut war teuer hierzulande. Weshalb damals zehntausende junge Leute aus Europa nach Afghanistan sich auf den sogenannten Hippie Trail begaben. Dort habe das Kraut so gut wie nichts gekostet.

In der Sterbehäusern von Kalkutta bei Mutter Teresa

Erös` erster Einsatz sei in Kalkutta in Slums des Molochs von Stadt bei Mutter Teresa gewesen. Wo er in den sogenannten „Sterbehäusern“ als Arzt gearbeitet habe. Jeden Tag seien dort bis zu vierhundert Kranke gekommen, weil bei man bei den „Sisters of Charity“ kostenlos behandelt wurde. Das wäre kaum zu bewältigen gewesen. Etwa sechzig Patienten habe er da am Tag zu behandeln geschafft. Wenn er abends nach Hause ging seien dort zehn, zwanzig Tote vor der Tür gelegen.

Thema der nächsten Jahrzehnte: Massenmigration

Damals hatten die Leute ja kein Internet und Fernsehen vielleicht auch nicht. Inzwischen fragten sich die Leute in der Dritten Welt, warum sie in ihrer Not bleiben sollten. Erös: „Die sind doch nicht bescheuert!“ Und so käme es massenweise zu Flucht. Das Migrationsthema werde das beherrschende Thema der nächsten Jahrzehnte sein. Ein britischer Migrationsforscher habe veröffentlicht: Wir müssen damit rechnen, dass wir in Europa – allein wegen der Probleme, die der Klimawandel verursacht – in den nächsten 30 Jahren bis zu 150 Millionen aus diesen Ländern an Migranten bekommen. Das werde er, so Erös, auch am nächsten Tag den Schülerinnen und Schülern an einem Dortmunder Gymnasium sagen und anmahnen: „Interessiert euch für Politik. Mischt euch ein!“

Afghanistan lässt sich nicht domestizieren

Nun wieder zu Afghanistan. Dort können man so momentan so sicher und frei wie vermutlich nirgends auf der Welt bewegen.

Das Ausland interessiere die Taliban überhaupt nicht. Da hätten sie keine Interessen.

Erös: „Es sei denn, das Ausland mischt sich wieder in Afghanistan ein.

Das britische Imperium hat das 1842 spüren müssen. Ihre Armee von 18.000 Mann sei damals in einer Schlucht in einen Hinterhalt geraten und von den Paschtunen aufgerieben und vernichtend geschlagen worden. Übrig seien nur ein Offizier, ein Arzt, sowie ein Hund des Bataillions wieder lebend aus Afghanistan herausgekomme. Der Hund wurde später von den Briten zusammen mit dem Major ausgezeichnet. Erös: „Das war das Stalingrad der britischen Armee.“ Theodor Fontane hat dazu das Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“ geschrieben.

Auch die Sowjetunion habe 1989 schmählich abziehen müssen.

Und auch die USA und die Nato hätten diese Erfahrung am 31. August 2021 machen müssen. Die „Barfußsoldaten“ hätten sie aus dem Land geworfen.

9/11 als Kriegsgrund – dabei hatte kein Afghane etwas mit dem Anschlag zu tun

Hätten die USA mal nach 9/11, machte Erös klar, daran gedacht! Stattdessen habe man sich von dem „dummen Bush“ in dieses Fiasko führen lassen. Den Briten war durch ihre fürchterliche Niederlage 1842 klar: In solche Länder geht man besser nicht. Ich erinnere mich auch, dass einstige Offiziere der Sowjetunion die USA damals warnten, als sie in Afghanistan einfielen.

Die Taliban hätten überhaupt nichts gewusst von dem Anschlag, meinte Reinhard Erös. Kein Afghane sei an dem Anschlag beteiligt gewesen. Keine Polizei der Welt und die CIA hätten einen einzigen Afghanen ermittelt, der an 9/11 beteiligt gewesen wäre. Aber Afghanistan musste herhalten!

Auch ein deutscher Bundeskanzler habe dann da mitgemacht und die Bundeswehr geschickt, sprach von „uneingeschränkter Solidarität“ mit Washington, kritisierte der Referent. „Uneingeschränkt heißt auf Deutsch, egal was du machst, ich mache mit.“ Etwa 60 Bundeswehrsoldaten ließen ihr Leben in Afghanistan.

Am Ende hätten auch die Deutschen abziehen müssen. Ein deutscher General hätte vorher noch gesagt, die afghanische Armee sei nun gut aufgestellt und könne das Land selbst verteidigen. Der Einsatz des Westens sei erfolgreich gewesen! Da rief Erös die Zeitung an, wo dieser Sager des Generals erschienen war. Der Mann war nüchtern gewesen, versicherte der Chefredakteur.

Ähnliches hätte nämlich ein General der sowjetischen Armee gesagt, obwohl der Einsatz Moskaus am Hindukusch ein einziger GAU gewesen sei. Eine Lüge. Nun log ein Bundeswehrgeneral in gleicher Weise.

Immerhin habe ein US-General ehrlich gesagt, ihre Erfolgsbilanz Afghanistan sei „beschissen“. Ungefähr 3500 US-Soldaten starben für Bushs Abenteuer.

Wie viele Afghanen getötet worden, könne nicht gesagt werden.

Auch nicht wie viele Kinder ums Leben gebracht wurden.

Allerdogs die Nachrichtenagentur AP recherchierte vor Ort über getötete Kinder und fand heraus: 346 in einem Jahr!

In keiner deutschen Zeitung habe das gestanden, skandalisierte Erös dies. Als er selbst das veröffentlichte, wurde er angegriffen.

Afghanistan wurde der Bayer Erös zur zweiten Heimat

Dem Bayer Erös ist Afghanistan zur zweiten Heimat geworden. Gründe: das Land geografisch, topografisch und historisch betrachtet. Und die Menschen.

In Afghanistan in vielerlei Beziehung komplex. Allein 50 ethnische Gruppen gibt es. Die sich untereinander nicht verstehen, so sie nicht die Sprache des anderen sprechen. Beziehungsweise wenn sie kein Paschtun (dem Persischen verwandt) sprechen.

Die Mehrheit der Afghanen sind Sunniten aber es gibt auch eine Minderheiten von Schiiten.

Das höchste Rechtsgut der Afghanen ist die Gastfreundschaft

Erös: Das höchste Rechtsgut in Afghanistan ist die Gastfreundschaft. „Wenn ich Gast eines Afghanen bin und er mich als solcher deklariert hat, dann tut der alles, damit es mir gut geht. Dann tut er alles, damit mir kein Leid geschieht.“ So wird auch niemand, der als Gast deklariert ist an eine andere Macht ausgeliefert.“ Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass die Taliban Osama bin Laden seinerzeit nicht an George Bush ausgeliefert wollten.

Das zwei höchste Rechtsgut ist die Blutrache

Habe man etwa jemand in einem Dorf einen Mensch umgebracht, oder die Tochter einer anderen Familie vergewaltigt, gelte die Blutrache. Ein Gericht wie bei uns, gebe es in Afghanistan nicht. Dann käme bei den Paschtunen die Dorf-Schura, der Rat des Dorfes, mit dem Verdächtigen zusammen. Irgendwann werde ein Urteil gefällt. In der Schura hat das letzte Wort – so es noch lebt – das Opfer oder die Familie des vergewaltigten Opfers. Die könnte sagen: den Täter müsse man eigentlich aufhängen. „Aber wir kennen seine Familie. Vielleicht seit Jahrzehnten. Eigentlich sind das anständige Leute.“ Sie könnten sagen, der Täter müsse der Opferfamilie zehn Kühe und zehn Schafe geben. Und er muss die hässlichste Tochter dieser Familie heiraten. „Dann gilt dieses Urteil.“

Außerhalb des Hauses spielen nur die Männer eine Rolle

Ob es uns das nun gefalle, bei den Taliban sei es halt so, dass die Frau außerhalb des Hauses keine Rolle spielen. Das ist den Männern vorbehalten.

Unter den Taliban gibt es – wie vorher durch die Besatzer eingeführt – nun keine Berufe für Frauen wie beispielsweise TV-Moderatorinnen oder andere Tätigkeitsfelder und schon gar nicht in Machtpositionen – wie das von der Sowjetunion und der westlichen Besatzung gefördert worden war – mehr.

Verstoßen Frauen gegen die islamischen Kleidungsvorschriften, würden die nicht etwa wie im Iran ausgepeitscht oder ins Gefängnis gesteckt. Nein, in Afghanistan werden die männlichen Verantwortlichen, die Väter oder Brüder zunächst wegen des falschen Verhaltens der Ehefrauen oder Schwestern „zur Brust genommen“, verwarnt und bei Wiederholung mit Knast bestraft.

Was nicht heiße, so Reinhard Erös, dass die Taliban die Frauen mögen – nein: Sie hielten sie halt wie Kinder einfach für zu dumm, um diese Vorschriften zu befolgen.

Allerdings, so der Referent, habe er letztens in Kabul auf der Straße neunzig Prozent der Frauen gesehen, die kein Kopftuch trugen. Und schon gar keine mit einer Burka. Was freilich auf den Lande anders sei. Da sei das schon sei 500 Jahren so.

Korruption ist eine westliche Erscheinung

Was interessant ist: Afghanistan ist in puncto Korruption auf Platz 15 – 20 heruntergegangen. Erös: „Korruption ist eine westliche Erscheinung.“

Der Afghanistan-Krieg ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit

Von den vielen Milliarden Dollar bzw. Euro, die nach Afghanistan gegangen seien, sei viel versickert, jedenfalls wäre es nicht den Afghanen zugute gekommen. Tausendzweihundert Milliarden Dollar habe der Westen in zwanzig Jahren in Afghanistan ausgegeben. Für Militär! „Es ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit“, sagte der Referent. Nicht einmal zehn Prozent seien für zivile Infrastruktur ausgegeben worden.

Während „unserer Präsenz“ wurden 9000 Tonnen Opium produziert

Opium-Produktion habe es in Afghanistan immer schon gegeben. In 2001 habe die Produktion von Rohopium 180 Tonnen betragen. In „unseren Präsenz“, so Reinhard Erös, waren daraus 9000 Tonnen geworden. Wie Heroin hergestellt wird, hätten die USA in 1980er Jahren den Afghanen in ihrer Botschaft in Kabul erst beigebracht. Damit könne viel Geld verdient werden, sagte sie ihnen, dass man im Kampf gegen die Sowjets verwenden könne.

Unter den neuen Taliban sei der Anbau von Opium seit anderthalb Jahren wieder verboten worden. Alle Drogen einschließlich Alkohol sind laut deren Interpretation des Korans verboten.

Das Hauptziel der Taliban sei in den Himmel, respektive ins Paradies zu kommen. Ansonsten interessiere sie nichts. Erös bezeichnete sie als „strohdumm“. Sie lernten das, was Erös in seinem Religionsunterricht einst lernte: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher kommt ins Himmelreich.

Ein hochinteressanter Vortrag!

Kompakt

Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime

Der Referent, Dr. med. Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. In den 80 er Jahren, während der sowjetischen Besatzung des Landes, hat er über fünf Jahre unter Kriegsbedingungen die Bevölkerung in den Bergdörfern ärztlich versorgt. Nach dem Sturz der Taliban gründete er 2001 mit seiner siebenköpfigen Familie die Stiftung Kinderhilfe Afghanistan. (2) Seither wurden in ehemaligen Taliban-Hochburgen im Osten des Landes und im Westen Pakistans u.a. 30 Schulen mit ca. 60.000 Schüler*innen, drei Berufsschulen, eine Universität, zwei Waisenhäuser und drei Mutter-Kind-Kliniken gebaut und ausgestattet. Alle Projekte werden ausschließlich mit privaten Spenden, unter Verzicht auf öffentliche Mittel, finanziert. Mehr als 2.000 Afghanen finden dort Arbeit und Lohn.
Erös lebt und arbeitet die Hälfte des Jahres vor Ort. Er spricht die Sprache der Menschen und begegnet ihnen mit Respekt und auf Augenhöhe. Seit seiner Pensionierung 2002 hat Erös Polizeibeamte, Offiziere der NATO, Hilfsorganisationen und Journalisten für ihren Einsatz in Afghanistan ausgebildet. Er hat das Auswärtige Amt und den Bundestagsausschuss „Entwicklungshilfe“ beraten und in mehr als 3.000 Veranstaltungen im In- und Ausland zu Afghanistan vorgetragen. Für seine Arbeit wurde Erös u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, dem Bayerischen Verdienstorden, sowie dem Theodor Heuss- und dem Europäischen Sozial-Preis ausgezeichnet.
In seinen beiden Bestsellern „Tee mit dem Teufel – als Arzt in Afghanistan“ und „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ erklärt Erös Kultur und die jüngste Geschichte und schildert seine persönlichen Erfahrungen aus einem noch immer archaisch geprägten Land.

Fotos: C. Stille

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan

(2) https://www.kinderhilfe-afghanistan.de/

Bericht im ARD-Weltspiegel.

Wagenknechts neue Partei – Linke auf Reformkurs?

Der Imperialismus wütet, die Zeit drängt, viele Menschen hoffen auf die angekündigte Partei um Sahra Wagenknecht. Doch die ersten Verlautbarungen sind entmutigend: Statt einer politischen und wirtschaftlichen Analyse, wie man sie von Linken erwarten würde, gibt es nur reformerische Floskeln.

Von Susan Bonath

Es ist unbestritten: Die Ampelregierung treibt mit ihrer desaströsen, mit moralistischen Plattitüden verteidigten Wirtschaftspolitik immer mehr Menschen und Kleinbetriebe im Eiltempo in den Ruin. Mit immensen Waffenlieferungen und ihrer stoischen Weigerung, zu verhandeln, befeuert sie Kriege und die Gefahr ihrer Eskalation. Man möchte meinen, sie will Deutschland und die gesamte EU wie keine andere Bundesregierung zuvor zur (kriegerischen) Kolonie der USA machen. Viele Menschen sind verzweifelt und spüren instinktiv: Keine Altpartei wird an der Misere Grundlegendes verändern.

Viele Wähler greifen nach Strohhalmen. Wenigstens das Schlimmste will man verhindern, wenn auch nur mit dem geringsten Übel, zuweilen nach dem Motto: Jeder selbst erklärte Gegner der Regierung ist mein Freund. Selbst die Linke, die sich eigentlich besonders für die Probleme der „kleinen Leute“ einsetzen sollte, fällt als Regierungsgegner weitgehend aus. In dieses Loch platzte nun das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“, aus dem sich Anfang nächsten Jahres eine Partei formieren will. Ist das nun ein Hoffnungsschimmer oder doch nur wieder ein geringstes Übel, diesmal ein wenig sozial motiviert?

Keine ernsthafte Analyse

Mit einigen Inhalten der Bundespressekonferenz, bei der die Linken-Politiker Sahra Wagenknecht, Amira Mohamed Ali, Christian Leye und Lukas Schön sowie der Unternehmer und Millionär Ralf Suikat das Vereinskonzept vorstellten, hat sich RT-DE-Autorin Dagmar Henn bereits auseinandergesetzt.

Auch wenn ich nicht alle Schlüsse darin teile, möchte ich nichts wiederholen, sondern vielmehr auf ein meines Erachtens nach grundlegendes Problem des Vorhabens eingehen: die fehlende politische und wirtschaftliche Analyse, die für ein vom Selbstverständnis linkes Bündnis unabdingbar sein sollte. Denn um zu wissen, wie man etwas ändern könnte, müsste man erst einmal klären, woher die Probleme rühren.

Statt hier in die Tiefe zu gehen, finden sich im unter anderem auf der Plattform NachDenkSeiten veröffentlichten Gründungsmanifest des Vereins um Wagenknecht sehr viele, im Kern sozialkonservative, teils widersprüchliche und außerordentlich unklare Phrasen, die man von der SPD schon kennt.

Da heißt es beispielsweise: „Statt Leistung zu belohnen, wurde von den Fleißigen zu den oberen Zehntausend umverteilt.“ Das klingt wie ein Loblied auf die Lohnarbeit – oder besser: auf niemals murrende, alles ertragende und eisern schuftende Lohnarbeiter. Was ist mit den aufstockenden Minijobbern, den vielen Ehrenamtlichen, den Kranken und Alten, den Abgerutschten und Haltlosen, die sich auf dem Arbeitsmarkt nicht durchsetzen können und mangels Gehalt keine Lohnsteuer zahlen? Sind diese Menschen alle „faul“? Diese Plattitüden kennt man von viele Altparteien und auch der AfD zur Genüge.

Monopole aus dem Nichts?

Aber kommen wir zum Punkt in diesem Manifest namens „Wirtschaftiche Vernunft“. Abgesehen davon, dass bereits der Begriff „Vernunft“ individuell beliebig auslegbar ist, heißt es hier zum Beispiel:

„Von Konzernen beeinflusste und gekaufte Politik und das Versagen der Kartellbehörden haben eine Marktwirtschaft geschaffen, in der viele Märkte nicht mehr funktionieren.“

Hier wäre es politisch aktiven Linken durchaus zuzumuten, sich zu fragen: Wie soll ein Markt denn eigentlich „funktionieren“? Dahinter scheint die neoliberale Idee zu stecken, dass ein Markt von sich aus paradiesische Zustände für alle erzeuge, schlicht indem er „alles regelt“, solange die Politik nur nicht zu stark eingreift. Oder umgekehrt vielleicht: Die Politik könne mit „guten“ Eingriffen alle Probleme des Marktes beheben.

Ferner müsste ein linkes Bündnis darüber nachdenken, wie es überhaupt dazu kommt, dass Konzerne die Politik beeinflussen und kaufen. Dazu erst einmal ein weiteres Zitat aus dem Manifest des Vereins:

„Es sind marktbeherrschende Großunternehmen, übermächtige Finanzkonzerne wie Blackrock und übergriffige Digitalmonopolisten wie Amazon, Alphabet, Facebook, Microsoft und Apple entstanden, die allen anderen Marktteilnehmern ihren Tribut auferlegen, Wettbewerb untergraben und die Demokratie zerstören.“

Als Erstes sei dazu gesagt: Eine kapitalistische Wirtschaft kann schon deshalb nicht demokratisch funktionieren, weil die Unternehmen Privatpersonen gehören, die bestimmen, was die Angestellten zu tun und lassen haben. Wer als Lohnabhängiger bei Rheinmetall ein Problem damit hat, Rüstungsgüter herzustellen, darf schließlich nicht einfach auf Traktoren umstellen. Produziert wird eben, was Profit bringt. Hinter jedem Werkstor und hinter jeder Bürotür ist es vorbei mit aller Demokratie.

Zweitens tut der Verein so, als sei es just politischen Fehlern geschuldet, dass große Unternehmen zu globalen Monopolen herangewachsen sind, die nun eine ungeheure Macht über Regierungen, kleinere Konkurrenten und Bürger ausüben – ganz so, als hätte der Markt damit rein gar nichts zu tun.

Die Mär vom „Marktversagen“

Nun ist es aber so, dass Marktteilnehmer miteinander konkurrieren. Sie müssen einander überbieten. Auf der einen Seite befeuert das natürlich den technologischen Fortschritt. Auf der anderen Seite gewinnt aber immer das stärkste, in der Regel reichste und technologisch fortschrittlichste Unternehmen. Der Rest geht eben unter. Konkurrenz ist darauf ausgelegt, Konkurrenten zu beseitigen.

Mit anderen Worten: Die Tendenz zur Monopolisierung liegt im System Kapitalismus selbst begründet. Der Markt mit seinem Dauerwettbewerb produziert ganz ohne politisches Zutun nicht nur Innovation, sondern auch mächtige Monopole, die selbstverständlich den Wettbewerb ausschalten. Diesen Trend können politische Eingriffe bestenfalls aufhalten, aber eben nicht beseitigen. Ein linkes Bündnis müsste das wissen. Doch es kehrt das Prinzip von Ursache und Wirkung mal eben um und schreibt weiter:

„Zu einem beachtlichen Teil ist die aktuelle Inflation auch Ergebnis eines durch zu große wirtschaftliche Macht verursachten Marktversagens. Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an.“

Als Übeltäter wird also erneut ein ominöses Marktversagen herangezogen, das ein „fairer Wettbewerb“ beheben könne. Abgesehen davon, dass Kapitalmarkt und fairer Wettbewerb einander ausschließen und die mittelständischen Unternehmen gegen Großkonzerne ohnehin kaum eine Chance haben, lautet die „Lösung“ des Vereins wie folgt:

„Dafür wollen wir Marktmacht begrenzen und marktbeherrschende Großkonzerne entflechten. Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden.“

Monopole enteignen oder nicht?

Wie die Politik die Riesenkonzerne entflechten soll, bleibt genauso schleierhaft wie: An welche „gemeinnützigen Anbieter“ denkt der Verein dabei? Und soll dann weiterhin mit Profit produziert werden, den die Eigentümer leistungslos erhalten? Denn würde man das ernst nehmen, müsste man die Großaktionäre radikal enteignen. Davon ist kein Wort zu lesen, stattdessen heißt es:

„Die deutsche Industrie ist das Rückgrat unseres Wohlstands und muss erhalten bleiben. Wir brauchen wieder mehr Zukunftstechnologien made in Germany, mehr hidden champions und nicht weniger.“

Zur Begriffserklärung: Als „Hidden Champions“ werden mittelständische Unternehmer bezeichnet, die es in wirtschaftlichen Nischen zu Weltruhm bringen.

Offensichtlich will der Verein also nicht etwa den Kapitalismus besonders zügeln, sondern irgendwie zurück zur Wirtschaftswunder-Nachkriegsära mit ihrem Boom der deutschen Industrie. Das Problem: Die wirtschaftlichen Bedingungen sind heute vollkommen andere als damals. Die Aufarbeitung dieser Geschichte könnte Inhalt einer Analyse sein, um zu erforschen, wie und ob man heute dahinkommen könnte.

Soziale Marktwirtschaft ist nicht beliebig wiederholbar

Nach einer solchen Analyse sucht man in dem Papier und auch sonst wo im Umfeld von Wagenknecht vergeblich. Um darauf historisch einzugehen: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschten ganz spezielle Bedingungen im besiegten Deutschland. Die Zerstörung war groß, die Industrie lag am Boden, es herrschten Hunger und Obdachlosigkeit, viele Menschen hatten von Krieg und Faschismus die Nase voll. Und weil der Faschismus auf den Füßen der kapitalistischen Ordnung gestanden hatte, von einigen Großindustriellen und Banken sogar eifrig gesponsert worden war, genoss auch der Kapitalismus kein hohes Ansehen in der Bevölkerung.

Darauf mussten die alliierten Westmächte in der BRD reagieren. Selbst die CDU propagierte damals Wünsche, die heute schreiend als „Sozialismus“ abgewatscht würden. Unter Ludwig Erhard entstand im Westen die sogenannte „soziale Marktwirtschaft“ nach John Maynard Keynes. Anders hätte die Politik die Massen wohl nicht zum Mitmachen animieren und den Wiederaufbau so florieren lassen können.

Es herrschte Wirtschaftsaufschwung, dem man mit guten Löhnen, weiteren sozialen Zugeständnissen und jeder Menge Gastarbeiter für Tätigkeiten, zu denen Deutsche meistens nicht bereit waren, zu einem regelrechten Höhenflug verhalf. Ein Aufschwung braucht eben Kaufkraft. Außerdem musste die BRD dem Ostblock, insbesondere der DDR imponieren.

Doch drei Jahrzehnte später war das Land aufgebaut, die Bedürfnisse waren gedeckt, die Ölkrise rollte an, die deutsche Wirtschaft und mit ihr die Steuerzuflüsse in die Staatskassen begann zu stagnieren.Die soziale Marktwirtschaft schien ausgedient zu haben, die Neoliberalen gewannen an Einfluss. Man versuchte es auf ihre Tour: Sozialabbau und mehr Marktfreiheit – ein Teufelskreis, in dem Deutschland bis heute steckt.

Deutlich wird: So ein Konstrukt von „sozialer Marktwirtschaft“ ist nicht einfach beliebig wiederholbar, sondern braucht ganz bestimmte wirtschaftliche Bedingungen, um der kapitalistischen Prämisse „Maximalprofit für Unternehmenseigner“ gerecht zu werden. Und es braucht die Zustimmung der Großindustriellen. Die gab es damals, heute ist das Gegenteil der Fall.

Härtere Bandagen nötig

Fehlt also die Zustimmung aus der Industrie, müsste die Politik schon härtere Bandagen aufziehen als damals, und dies in einem völlig anderen Rahmen. Denn wie vom Verein durchaus kritisiert, hat sich das Kapital global monopolisiert. Die deutsche Industrie hängt stark am internationalen Finanzkapital mit Sitz vor allem in den USA. Die Politik hat viel weniger Einfluss auf die großen Konzerne, die andersherum genug Geld haben, um die Politik zu kaufen.

Aber von härteren Bandagen gegenüber dem Großkapital ist der Verein um Wagenknecht sehr weit entfernt. Man träumt von den 1960er-Aufschwungsjahren, will dahin zurück, sagt aber nicht, wie.

Stattdessen erklärt der Verein den Menschen, was sie eh schon zur Genüge spüren: Die Energiekonzerne machen Reibach mit hohen Preisen, während große Teile der Bevölkerung nicht wissen, wovon sie das bezahlen sollen. Die Lebensmittel sind so teuer wie nie und die Löhne immer weniger wert. Millionen Alte leben mit Hungerrenten, die Kinderarmut wächst, während sich die Vermögen ganz oben konzentrieren.

Es mangelt an Ehrlichkeit

Nun kann man freilich nicht verlangen, dass Wagenknecht und Kollegen den perfekten Plan parat halten, um all die Missstände zu beseitigen und den Kriegskurs der Bundesregierung zu stoppen. Einen solchen hat wohl keiner und kann auch niemand haben. Was man aber erwarten hätte können, wäre Ehrlichkeit.

Gemeint ist jene Ehrlichkeit, die alle größeren Parteien in Deutschland seit Jahrzehnten vermissen lassen. Die Ehrlichkeit zum Beispiel, zu sagen: So und so sind die Verhältnisse, wir glauben, das liegt an diesen und jenen Ursachen. Wir würden erst einmal dies oder das probieren für bestimmte Ziele, wir wissen aber nicht, ob uns das gelingen kann. Diese Ehrlichkeit ist wohl das, was viele Wähler am meisten vermissen – vor allem bei Parteien, die vorgeben, sich für die „kleinen Leute“ einzusetzen. Doch genau dies fehlt.

Stattdessen gibt es wieder nur Seichtes: ein Manifest mit reformerischen Fantasien, das in Sachen Systemanalyse nicht einmal das Niveau des Linken-Parteiprogramms erreicht. Das ist schwach, viel zu schwach angesichts des weltweit wütenden westlichen Imperialismus, der den Globus und das Leben von Milliarden in ein Inferno zu verwandeln droht.

Möglicherweise steckt die Absicht dahinter, nicht zu viele potenzielle Wähler durch Radikalität zu vergraulen. Aber vielleicht wird es am Ende genau dies sein, was sie verschreckt, denn die Zeit drängt. Das wird man wohl erst in einigen Monaten oder Jahren sagen können. Doch dann könnte es zu spät sein.

Quelle: RT DE

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Beitragsbild: Dr. Sahra Wagenknecht; Foto: C. Stille

„Die Opfer zählen nicht“ – Fesselnder Roman von KJ Weiss. Rezension

In der Danksagung am Ende ihres Buches „Die Opfer zählen nicht“ schreibt Autorin KJ Weiss (Karin Franke): „Mein erster Zukunftsroman!“

Liest man jedoch diesen Roman, so beschleicht einen recht bald das Gefühl, dass wir uns mindestens schon sehr nahe – auf erschreckende Weise seit mindestens drei Jahren – in der Einlaufphase zu dieser im Buch dargestellten Zukunft befinden. Dem Roman ist nicht umsonst folgender Satz vorangestellt: „In nicht allzu ferner Zukunft“

Klug, diese Gesellschaftskritik in einem Roman zu verpacken, anstatt das in einem Sachbuch zu tun

Und wir verstehen aber freilich zugleich auch, warum die Autorin ihren Roman in der Zukunft angesiedelt hat.

Überhaupt ist es ja klug Gesellschaftskritik, die nicht zuletzt auf die Gegenwart zielt, in einem Roman – also fiktional: „Diese Geschichte“, lesen wir dann auch an dessen Ende, „ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt“ – zu äußern, anstatt das in einem Sachbuch zu tun. Was womöglich der Cancel Culture, die leider heutzutage grassiert, zum Opfer fallen könnte.

Apropos Zukunft! Wir haben derzeit die schlechteste Bundesregierung seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichfalls einen Journalismus, welcher auf den Hund gekommen ist. Der vielfach nur noch Propaganda statt Journalismus hervorbringt. Und wir erleben Medien und Presseorgane, welche freiwillige Selbstgleichschaltung betreiben und sich somit letztlich ad absurdum führen. Das ist eine Tatsache. Wir können es jeden Tag erleben.

Die Protagonistin des Romans

Die Protagonistin des Romans ist die Lehrerin Elora Keller, verheiratet, Mutter zweier Söhne. Elora Keller, Elli genannt, lebt mit Mann und Hund Nelly in einem Einfamilienhaus. Man ist relativ gut situiert.

Ein schreckliches Ereignis verändert das Leben von Elli einschneidend

Ein schreckliches Ereignis in der Schule verändert Ellis Leben einschneidend. Ein kleiner Junge, der sich erst noch vor dem Unterricht mit einem anderem Jungen um ein Spielzeugauto gebalgt hatte, schwächelt plötzlich als gefrühstückt werden soll. Leon, wie der Junge heißt, wird zu einem Hausarzt in der Nähe gebracht. Es stellt sich heraus, dass Leon frühmorgens im Keller seines Wohnhauses von einer Ratte gebissen worden war. Der Arzt lässt ihn ins Krankenhaus bringen, wo sich sein Zustand rapide verschlechtert.

«Eine Krankenschwester gefolgt von einem Arzt trat ein. (…) Beide beobachten den Arzt, der den Kleinen gründlich untersuchte. „Es hat keinen Zweck“, gab er schließlich zu. „Die Mittel wirken nicht.“

„Gibt es denn gar nichts, was Sie tun können?“, fragte Elli ohne große Hoffnung. Er schüttelte den Kopf. „Der Sterbeprozess hat begonnen. Wir können ihm den Übergang nur erleichtern.“

Der Junge verstirbt. Ein Schock für Elli.« (S.17)

Leon bleibt nicht der letzte Mensch, welcher nach einem Rattenbiss verstirbt.

Fragen stellen sich

Fragen stellen sich: Warum wirkt bei den von den Nagetieren gebissenen Menschen keine medizinische Behandlung? Wird die Rattenpopulation vor Ort zunehmend aggressiver? Aber es gibt auch Erklärungsversuche aus Ellis Umfeld. Fanden diese Rattenangriffe nicht in der Nordstadt statt, einem sozialen Brennpunkt? Da wohnten doch zahlreiche Migranten, Sozialhilfeempfänger, Alkoholiker und Drogenabhängige. Leute auch, die nicht selten alles vermüllten, gar Unrat vom Fenster auf die Straßen warfen. Weggeworfene Lebensmittelreste in der Umgebung. Na also! Zog all das nicht die Ratten an?

Elli ist getrieben den Dingen auf den Grund zu gehen

Elli beginnt eine Phobie zu entwickeln. Ohne Tierabwehrspray geht sie nicht mehr aus dem Haus.

Sie ist getrieben, der Sache auf den Grund zu gehen. Nicht zuletzt, weil von öffentlicher Seite erst nichts und dann viel zu wenig geschieht. Auch versagen die Medien. Will man die offenbar bedrohliche Entwicklung unter der Decke halten? Warum? So beginnt sie auf eigene Faust nachzuforschen.

Von ihrem Mann kann sie keine Hilfe erwarten. Er ist angepasst. Seine Devise: Bloß nicht anecken. Auch Elli lief jahrelang mit und hinterfragte das System nicht sonderlich. Immerhin hatte sie sich – als sie noch an einem Gymnasium gearbeitet hatte – einmal in einer für die Gesellschaft wichtigen Sache kritisch aus dem Fenster gelehnt. Dabei hatte sie sich die Finger verbrannt. Und geändert an der angesprochenen Misere hatte sich auch nichts.

Im Freundeskreis hat sie es hauptsächlich mit Menschen zu tun, die mit sich selbst beschäftigt sind. Man kennt ja auch selbst solche Mitmenschen, die partout und noch nicht einmal Traum daran denken, Veränderungen anzustoßen und sich dementsprechend zu engagieren. Deren bequeme Sicht: Man kann doch eh nichts ändern.

Obwohl sich ihre Recherche zunehmend auf ihr Privatleben und sogar ihre Ehe auswirkt, muss sie entscheiden, ob sie den Weg zur Aufklärung weitergehen will. Trotz ab und zu in ihr hochkommendem Zweifel fährt sie in ihrem engagierten Tun mutig fort. Was sie ihrem Mann verschweigt. Denn er würde sowieso nicht hinter ihr stehen.

Obgleich allmählich Licht ins Dunkle gebracht werden kann, werden ihr und den wenige Mitstreitern von öffentlicher Seite gleichzeitig immer wieder Steine in den Weg gelegt. Aber es kommt weitaus noch wesentlich schlimmer. Sodass ihre ursprüngliche Überzeugung, noch in einer Demokratie zu leben, wie eine Seifenblase zerplatzt.

Was ihr erst dadurch in Konsequenz aufgegangen ist, weil sie sich durch den schrecklichen Vorfall mit kleinen Leon und der damit verbundenen unmittelbaren persönlichen Betroffenheit dazu aufgerufen sieht, sich zu engagieren und querzustellen.

Mehr soll hier nicht verraten werden. Wir lesen eine spannend erzählte Geschichte. Die sich immer mehr hochschraubt und zuspitzt. Die im Roman vorkommenden Charaktere sind von der Autorin klar und aussagekräftig, auch betreffs ihrer sozialen Lage und psychischen Verfassung gezeichnet. Ihre jeweiligen Lebenswelten, in welche sie durch die gesellschaftlichen Umstände geworfen sind, treten deutlich zutage. In der Gesamtschau wird eine zusehends in arm und reich gespaltene Gesellschaft erkennbar, deren dunklen Seiten offenbar von Politik und auch von Medien entweder nur recht und schlecht übertüncht werden, beziehungsweise an deren aufploppenden Symptomen herumdoktert wird, indem sie allenfalls mit Pflästerchen überklebt werden oder weiße Salbe darüber geschmiert wird. Wenn gar nichts mehr hilft setzen die staatlichen Organe auf Repression. Was freilich alles nur noch schlimmer macht.

Jede gesellschaftliche Seite lebt sozusagen in ihrer Blase. Die einen meinen, es sei so alles gut. Weil sie sich aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung privilegiert aussuchen können, wo sie leben.

Die andere Seite weiß, vielmehr spürt tagtäglich mehr oder weniger, dass es nicht so ist. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sie dazu verdonnert da zu leben, wo sie leben (müssen).

Schaut man von oben wie aus einer Drohnenposition auf die Situation, wird deutlich, dass das nicht auf ewig gut gehen kann.

Im Roman ist die Nordstadt das Problemviertel. Wobei mir ein Abend mit dem Dortmunder Künstler Sascha Bisley einfällt, den ich vor einigen Jahren erlebte. Da wurde eine solche gesellschaftliche Spaltung am Beispiel Dortmund und des wirtschaftlichen Aufschwungs der Stadt verdeutlicht. Wo schon vor über 140 Jahren diese Spaltung sogar geradezu auch eine geografische gewesen war: Die Bahnschienen und der Bahnhof teilten die Stadt. Für das Bürgertum war ein Schritt über die Bahnschienen in die Nordstadt tabu. Diese trennten – so wurde es gesehen – die Stadt in gut und böse. Die Gleise schieden sie in sich anständig dünkende Menschen auf der einen Seite und in die Welt der vermeintliche Gauner und Vergewaltiger unschuldiger Bürgertöchter auf der anderen Seite. (1)

Ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt. Der Leser fiebert förmlich mit der Protagonistin mit. Und immer wieder zwischendurch stellen sich einem Fragen: Wie würde ich in so einer Situation handeln? Wegducken oder den Rücken gerade machen und handeln, auch wenn es Nachteile zur Folge hat?

Orientierung kann uns ein eingangs von der Autorin platziertes Zitat geben:

«Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.«

Arthur Schopenhauer

Seien wir uns dessen bewusst: Wir leben schon jetzt nicht mehr in der besten aller Welten. Im Gegenteil. Wollen wir eine „nahe Zukunft“, wie sie uns KJ Weiss in ihrem Roman vor Augen führt?

Der Hoffnung der Autorin schließe ich mich an:

«So hoffe ich, einige der mittlerweile Zweifelnden und bisher noch Gutgläubigen zum Nachdenken anregen zu können, denn ich finde es wichtig, dass jeder, der bereits erkannt hat, was geschieht, auf seine Weise einen Beitrag für die Wahrheit leistet.«

Nebenbei bemerkt: Ich halte es durchaus für empfehlenswert auf Grundlage dieses Romans einen Fernsehfilm zu produzieren.

Kj Weiss

Die Opfer zählen nicht

Buch

  • BoD – Books on Demand, 09/2023
  • Einband: Kartoniert / Broschiert, Paperback
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 9783757881252
  • Bestellnummer: 11606227
  • Umfang: 394 Seiten
  • Gewicht: 570 g
  • Maße: 210 x 148 mm
  • Stärke: 28 mm
  • Erscheinungstermin: 19.9.2023

Zur Autorin

Es gibt so vieles, worüber sich zu schreiben lohnt! Unter dem Pseudonym KJ Weiss (2) veröffentlicht sie Einzelgeschichten, hauptsächlich in Romanform, aber mit kriminellen Aspekten, die im Vordergrund stehen. Dabei handelt es sich um in sich abgeschlossene Erzählungen. Die Karin-Franke-Bücher erscheinen als Krimireihen: Die Dortmund-Krimis: Zuerst als Student, später als Schriftsteller wird Alex ohne sein Zutun immer wieder in Verbrechen verwickelt. Die Ermittlungen führt er in seiner Heimatstadt. Die Richie-Krimis: Pastorenfrau Kathi und Geist Richie lösen gemeinsam Kriminalfälle. Sie wohnt mit ihrer Familie und Hund in Dortmund.

(2) https://karinfranke.jimdofree.com/

(1) https://clausstille.blog/2017/07/29/hinter-den-bahngleisen-in-dortmund-gott-an-der-gitarre-und-sascha-aus-bisleyland-nordstadt-pur/

Prominente Journalisten, Künstler, Autoren und Wissenschaftler warnen in der „Westminster-Erklärung“ vor einem „industriellen Zensurkomplex“

Prominente Journalisten, Künstler, Autoren und Wissenschaftler warnen: <<„Wir kommen von links, rechts und aus der Mitte (…) und wir sind alle zutiefst besorgt über die Versuche, geschützte Meinungsäußerungen als ‚Fehlinformation‘, ‚Desinformation‘ und mit anderen schlecht definierten Begriffen zu bezeichnen“.

Der „Westminster-Erklärung“ genannte Appell wird weiter unten im Wortlaut wiedergegeben. Der Text findet sich auf Deutsch auch unter diesem Link – dort sind auch die Unterzeichner aufgelistet. Dazu gehören unter vielen anderen der US-Journalist Matt Taibbi, Wikileaksgründer Julian Assange, der Autor Slavoj Žižek, außerdem etwa Jeffrey Sachs, Oliver Stone, Edward Snowden oder Glenn Greenwald. Aus Deutschland sind unter anderem Ulrike Guerot und Mathias Bröckers mit dabei.

Der Text enthält viele treffende Gedanken, zum Beispiel: „Unter dem Deckmantel der Schadensvermeidung und des Wahrheitsschutzes wird die Meinungsäußerung als erlaubte Handlung und nicht als unveräußerliches Recht behandelt.“ Oder auch: „Wir lehnen die Vorstellung ab, dass verletzte Gefühle und Unbehagen, selbst wenn sie akut sind, einen Grund für Zensur darstellen.“ Wichtig ist auch, dass neben dem „industriellen Zensurkomplex“ die „‚Desinformationsexperten’ und ‚Faktenprüfer’ in den Mainstream-Medien“ thematisiert werden. Zusätzlich interessant ist der politische Lager übergreifende Charakter des Appells:<< Quelle: Mit NachDenkSeiten

„Als Unterzeichner dieser Erklärung haben wir grundlegende politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber nur wenn wir uns zusammentun, können wir die eindringenden Kräfte der Zensur besiegen, damit wir weiterhin offen debattieren und uns gegenseitig herausfordern können.“

Hier folgt die „Westminster-Erklärung“ im Wortlaut

Wir schreiben als Journalisten, Künstler, Autoren, Aktivisten, Technologen und Wissenschaftler, um vor der zunehmenden internationalen Zensur zu warnen, die jahrhundertealte demokratische Normen zu untergraben droht.

Wir kommen von links, rechts und aus der Mitte und sind uns einig in unserem Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und zum Recht auf freie Meinungsäußerung, und wir sind alle zutiefst besorgt über die Versuche, geschützte Meinungsäußerungen als „Fehlinformation“, „Desinformation“ und mit anderen schlecht definierten Begriffen zu bezeichnen.

Dieser Missbrauch dieser Begriffe hat zur Zensur von Bürgern, Journalisten und Dissidenten in Ländern auf der ganzen Welt geführt.

Ein solcher Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung unterdrückt eine ernsthafte Diskussion über Angelegenheiten von dringendem öffentlichem Interesse und untergräbt die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie.

Weltweit arbeiten staatliche Akteure, Social-Media-Unternehmen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen verstärkt daran, die Bürger zu überwachen und ihnen ihre Stimme zu nehmen. Diese groß angelegten und koordinierten Bemühungen werden manchmal als „industrieller Zensurkomplex“ bezeichnet.

Dieser Komplex wird oft durch direkte Regierungsmaßnahmen betrieben. In Indien[1] und der Türkei[2] haben die Behörden die Befugnisse erlangt, politische Inhalte aus den sozialen Medien zu entfernen. Der Gesetzgeber in Deutschland[3] und der Oberste Gerichtshof in Brasilien[4] kriminalisieren politische Äußerungen. In anderen Ländern drohen Maßnahmen wie das irische „Hate Speech“-Gesetz[5] , das schottische „Hate Crime“-Gesetz[6] , das britische „Online Safety“-Gesetz[7] und das australische „Misinformation“-Gesetz[8] die Meinungsfreiheit stark einzuschränken und eine abschreckende Wirkung zu entfalten.

Der industrielle Zensurkomplex arbeitet jedoch mit subtileren Methoden. Dazu gehören die Filterung der Sichtbarkeit, die Kennzeichnung und die Manipulation von Suchmaschinenergebnissen. Durch Deplatforming und Tagging haben die Zensoren der sozialen Medien bereits legitime Meinungen zu Themen von nationaler und geopolitischer Bedeutung zum Schweigen gebracht. Sie taten dies mit voller Unterstützung der „Desinformationsexperten“ und „Faktenprüfer“ in den Mainstream-Medien, die die journalistischen Werte der Debatte und intellektuellen Auseinandersetzung aufgegeben haben.

Wie die Twitter-Affäre (Twitter Files) gezeigt hat, üben Technologieunternehmen in Absprache mit Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen häufig eine zensorische „Inhaltsmoderation“ aus. Bald wird die EU-Gesetzgebung zu digitalen Diensten diese Beziehung formalisieren, indem Plattformdaten an „überprüfte Forscher“ aus dem NGO- und Wissenschaftsbereich weitergegeben werden.

Einige Politiker und Nichtregierungsorganisationen[9] zielen sogar auf Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messaging-Apps wie WhatsApp, Signal und Telegram ab.[10] Wenn die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aufgehoben wird, haben wir keine Möglichkeit mehr, vertrauliche Gespräche in der digitalen Sphäre zu führen.

Obwohl ausländische Desinformation zwischen Staaten ein echtes Problem ist, werden Behörden, die diese Bedrohungen bekämpfen sollen, wie die Cybersecurity and Infrastructure Security Agency in den Vereinigten Staaten, zunehmend gegen die Öffentlichkeit gerichtet. Unter dem Deckmantel der Schadensvermeidung und des Wahrheitsschutzes wird die Meinungsäußerung als erlaubte Handlung und nicht als unveräußerliches Recht behandelt.

Wir erkennen an, dass Worte manchmal Anstoß erregen können, aber wir lehnen die Vorstellung ab, dass verletzte Gefühle und Unbehagen, selbst wenn sie akut sind, einen Grund für Zensur darstellen. Ein offener Diskurs ist der Grundpfeiler einer freien Gesellschaft und unerlässlich, um Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, schwache Gruppen zu stärken und die Gefahr von Tyrannei zu verringern.

Der Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung gilt nicht nur für Ansichten, denen wir zustimmen, sondern wir müssen auch die Ansichten schützen, die wir entschieden ablehnen. Nur in der Öffentlichkeit können diese Meinungen gehört und angemessen angefochten werden.

Darüber hinaus haben sich unpopuläre Meinungen und Ideen immer wieder als Allgemeinwissen durchgesetzt. Wenn wir bestimmte politische oder wissenschaftliche Positionen als „Fehlinformation“ oder „Desinformation“ abtun, laufen unsere Gesellschaften Gefahr, in falschen Paradigmen stecken zu bleiben, die der Menschheit hart erarbeitetes Wissen vorenthalten und die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen, zunichte machen. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist unsere beste Verteidigung gegen Desinformation.

Der Angriff auf die Redefreiheit ist nicht nur eine Frage verzerrter Regeln und Vorschriften – es ist eine Krise der Menschheit selbst. Jede Kampagne für Gleichheit und Gerechtigkeit in der Geschichte hat sich auf ein offenes Forum für abweichende Meinungen gestützt. In zahllosen Beispielen, darunter die Abschaffung der Sklaverei und die Bürgerrechtsbewegung, hing der gesellschaftliche Fortschritt von der Meinungsfreiheit ab.

Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in einer Welt aufwachsen, in der sie Angst haben müssen, ihre Meinung zu sagen. Wir wollen, dass sie in einer Welt aufwachsen, in der ihre Ideen offen geäußert, erforscht und diskutiert werden können – eine Welt, die den Gründern unserer Demokratien vorschwebte, als sie das Recht auf freie Meinungsäußerung in unseren Gesetzen und Verfassungen verankerten.

Der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Recht auf Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit gesetzlich verankert werden kann. Man muss nicht in allen Fragen mit den USA übereinstimmen, um anzuerkennen, dass dies eine wichtige „erste Freiheit“ ist, aus der sich alle anderen Freiheiten ableiten. Nur durch die Meinungsfreiheit können wir Verletzungen unserer Rechte anprangern und für neue Freiheiten kämpfen.

Es gibt auch einen klaren und soliden internationalen Schutz der Meinungsfreiheit. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)[11] wurde 1948 als Reaktion auf die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verfasst. Artikel 19 der AEMR besagt: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Während es für Regierungen notwendig sein kann, einige Aspekte der sozialen Medien zu regulieren, wie z.B. Altersbeschränkungen, sollten diese Regulierungen niemals das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung verletzen.

Wie in Artikel 19 klargestellt wird, ist die logische Folge des Rechts auf freie Meinungsäußerung das Recht auf Information. In einer Demokratie hat niemand ein Monopol auf das, was als wahr angesehen wird. Vielmehr muss die Wahrheit durch Dialog und Debatte gefunden werden – und wir können die Wahrheit nicht finden, ohne die Möglichkeit des Irrtums zuzulassen.

Die Zensur im Namen des „Schutzes der Demokratie“ verkehrt das System der Repräsentation, das von unten nach oben verlaufen sollte, in ein System der ideologischen Kontrolle von oben nach unten. Diese Zensur ist letztlich kontraproduktiv: Sie sät Misstrauen, fördert die Radikalisierung und delegitimiert den demokratischen Prozess.

Angriffe auf die Meinungsfreiheit waren in der Geschichte der Menschheit stets Vorboten für Angriffe auf alle anderen Freiheitsrechte. Regime, die die Meinungsfreiheit untergraben, haben unweigerlich auch andere demokratische Grundstrukturen geschwächt und beschädigt. Ebenso untergraben die Eliten, die heute auf Zensur drängen, die Demokratie. Was sich jedoch geändert hat, sind das Ausmaß und die technischen Mittel, mit denen Zensur durchgesetzt werden kann.

  • Wir glauben, dass die Meinungsfreiheit wesentlich ist, um unsere Sicherheit vor staatlichem Machtmissbrauch zu gewährleisten – einem Machtmissbrauch, der in der Vergangenheit eine weitaus größere Bedrohung darstellte als die Äußerungen von Einzelpersonen oder sogar organisierten Gruppen. Im Interesse des Wohlergehens und der Entwicklung der Menschheit rufen wir zu folgenden drei Maßnahmen auf.
  • Wir fordern die Regierungen und internationalen Organisationen auf, ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen gerecht zu werden und Artikel 19 der AEMR einzuhalten.
  • Wir fordern die Technologieunternehmen auf, sich zum Schutz der digitalen Öffentlichkeit im Sinne von Artikel 19 der AEMR zu verpflichten und von politisch motivierter Zensur, der Zensur abweichender Stimmen und der Zensur politischer Meinungen Abstand zu nehmen.
  • Schließlich rufen wir die breite Öffentlichkeit auf, sich uns im Kampf für die Wahrung der demokratischen Rechte der Menschen anzuschließen. Es genügt nicht, die Gesetzgebung zu ändern. Wir müssen auch von Grund auf eine Atmosphäre der Meinungsfreiheit schaffen, indem wir das Klima der Intoleranz zurückweisen, das zur Selbstzensur ermutigt und vielen unnötige persönliche Probleme bereitet. Anstelle von Angst und Dogmatismus müssen wir Fragen und Debatten zulassen.

Wir verteidigen das Recht, Fragen zu stellen. Hitzige Debatten, auch wenn sie Unruhe stiften, sind besser als gar keine.

Zensur beraubt uns des Reichtums des Lebens selbst. Meinungsfreiheit ist die Grundlage für ein sinnvolles Leben und eine blühende Menschheit – durch Kunst, Poesie, Drama, Geschichten, Philosophie, Gesang und vieles mehr.

Diese Erklärung ist das Ergebnis eines ersten Treffens von Verfechtern der Meinungsfreiheit aus der ganzen Welt, das Ende Juni 2023 in Westminster, London, stattfand. Als Unterzeichner dieser Erklärung haben wir grundlegende politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber nur wenn wir uns zusammentun, können wir die eindringenden Kräfte der Zensur besiegen, damit wir weiterhin offen debattieren und uns gegenseitig herausfordern können. Im Geiste der Meinungsverschiedenheiten und der Debatte unterzeichnen wir die Westminster-Erklärung.

Übersetzung: Micha Narberhaus, The Protopia Lab, Quelle: Westminsterdeclaration

Titelbild:


[«1] Pahwa, Nitish. Twitter Blocked a Country. Slate Magazine, 1 Apr. 2023, slate.com/technology/2023/04/twitter-blocked-pakistan-india-modi-musk-khalistan-gandhi.html.

[«2] Stein, Perry. Twitter Says It Will Restrict Access to Some Tweets before Turkey’s Election. The Washington Post, 15. Mai 2023, washingtonpost.com/technology/2023/05/13/turkey-twitter-musk-erdogan/.

[«3] Hänel, Lisa. Deutschland kriminalisiert das Leugnen von Kriegsverbrechen und Völkermord. Deutsche Welle, 25. Nov. 2022, dw.com/en/germany-criminalizes-denying-war-crimes-genocide/a-63834791

[«4] Savarese, Mauricio, und Joshua Goodman. ‘Crusading Judge Tests Boundaries of Free Speech in Brazil.’ AP News, 26 Jan. 2023, apnews.com/article/jair-bolsonaro-brazil-government-af5987e833a681e6f056fe63789ca375.

[«5] Nanu, Maighna. Irish People Could Be Hailed for „Hate Speech“, Critics of Proposed Law Warn. The Telegraph, 17. Juni 2023, telegraph.co.uk/world-news/2023/06/1 7/irish-people-jailed-hate-speech-new-law/?WT.mc_id=tmgoff_psc_ppc_us_news_dsa_generalnews.

[«6] Zeitung The Economist. (n.d.). Schottlands neues Gesetz gegen Hassverbrechen wird die Meinungsfreiheit einschränken. The Economist. economist.com/the-world-ahead/2021/11/08/scotlands-new-hate-crime-act-will-have-a-chilling-effect-on-free-speech

[«7] Lomas, Natasha. Security Researchers Latest to Blast UK’s Online Safety Bill as Encryption Risk. TechCrunch, 5. Juli 2023, techcrunch.com/2023/07/05/uk-online-safety-bill-risks-e2ee/.

[«8] Al-Nashar, Nabil. Millionen Dollar an Bußgeldern zur Bestrafung von Online-Fehlinformationen nach neuem Gesetzesentwurf. ABC News, 25. Juni 2023, abc.net.au/news/2023-06-25/fines-to-punish-online-misinformation-under-new-draft-bill/102521500.

[«9] Cryptochat. Meedan, meedan.com/project/cryptochat. Abgerufen am 8. Juli 2023.

[«10] Lomas, Natasha. ‘Security Researchers Latest to Blast UK’s Online Safety Bill as Encryption Risk.’ TechCrunch, 5. Juli 2023, techcrunch.com/2023/07/05/uk-online-safety-bill-risks-e2ee/.

[«11] Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). New York: Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1948.

Beitragsfoto: Karsten Dittmann via pixelio.de

„Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan“ – Çiğdem Akyol las in Dortmund aus ihrem neuen Buch

Selbst erst nach einem längeren Aufenthalt vor Kurzem aus der Türkei zurückgekommen, hatte ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass die Journalistin und Autorin Çiğdem Akyol in die Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund würde. Im Mai 2015 war sie schon einmal dort zu Gast, um aus ihrem Buch „Generation Erdoğan“ zu lesen (mein damaliger Bericht dazu).

Çiğdem Akyol ist ein Kind Ruhrgebiets

Dortmund ist Çiğdem Akyol nicht nur aus diesem Grund kein fremdes Terrain. Ist sie doch ein Kind der Ruhrgebietsstadt Herne – eine aus dem Pott also. Sie zählt sich zur „Generation Kohl“. Will heißen: Der CDU-Bundeskanzler war über viele Jahre allgegenwärtig. Man kannte nichts anderes. Cigdem Akyol, das Herner Kind von einst, war also damals zu Gast in Dortmund, nahegelegene Großstadt, in die zwecks Freizeitgestaltung gefahren gerne wurde, um Herne – das für Jugendliche schnell zu klein wurde – für einige Stunden zu entfliehen.

2006 begann Akyol als Redakteurin bei der taz in Berlin.

Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie schrieb u.a. für den Standard, die Presse, die österreichische Nachrichtenagentur APA, die NZZ, die WOZ, die Zeit online und die FAZ.

Inzwischen lebt sie in der Schweiz.

Sie sträubte sich lange ein neues Buch zu schreiben

Der Präsident der Auslandsgesellschaft NRW, Klaus Wegener (Foto) und Nevzat Izci, Deutsch-Türkische Gesellschaft, (Foto unten) begrüßten Çiğdem Akyol herzlich.

Im Anschluss daran erklärte die Autorin, dass sie einige Anfragen, ein neues Buch zu schreiben zunächst immer abgelehnt hatte. Als allerdings der 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik (ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk) heranrückte, gebar sie die Idee zum neuen Buch. Akyol fand, es gebe ja so viel über die Türkei, dass in Deutschland noch nicht erzählt worden war.

Der Arbeitstitel zum geplanten Buch war „Biografie eines Landes“. Sie wollte nicht wieder den Namen Erdoğan im Titel haben. Schließlich sei ja Erdoğan, obwohl er „absolut eine historische Figur – wenn gleich eine „umstrittene historische Figur“ – sei nicht die Türkei. Journalisten jedoch würden seinen Namen gerne im Titel ihrer Artikel haben. Im Journalismus nenne man so etwas Clickmonster. So generiere man halt mehr Aufmerksamkeit.

Auch ihr Verlag dachte wohl so. Er schlug einen anderen Titel vor.

So heißt das Buch nun: „Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan“.

Foto: Çiğdem Akyol

Akyol fing im Buch mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik durch Atatürk an

Ihre Schwierigkeit bei dem Buch zunächst: „Wo anfangen, wo aufhören?“ Sie entschloss sich mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik bzw. mit Atatürk anzufangen. Hätte sie mit Osmanischen Reich begonnen, wäre das Buch zu sehr ausgeufert. Womöglich hätte sie den Leser auch „unterwegs“ verloren.

So habe sie chronologisch gearbeitet. Das in fünfzig Seiten zu erzählen sei eine Herausforderung – „fast schon eine Unmöglichkeit“ – gewesen.

Im Buch gebe es immer wieder Einschübe über gesellschaftspolitische Themen . Auch über türkische Schriftsteller, wovon es in der Türkei interessante Figuren gibt bzw. gab – um nur einige zu nennen: Yasar Kemal, Nazim Hikmet – die Weltliteratur geschrieben haben.

Des Weiteren habe sie die „Kopftuchfrage“ behandelt. Die laizistische Türkei habe ja das Kopftuchverbot am restriktivsten durchgesetzt. Man muss wissen, dass dieses Kopftuchverbot auch in den Universitäten betroffen hatte. Wächter ließen keine Studentinnen mit Kopftuch ein. Erst Recep Tayyip Erdoğan kippte dieses Verbot. Was wiederum Çiğdem Akyol – egal, ob man das Kopftuch nun mag oder nicht – für richtig erachtet.

Der Putsch

Auch über den Putschversuch 2015 hat Çiğdem Akyol ein Kapitel geschrieben. Damals, erzählte sie eine Anekdote, habe sie ja noch in Istanbul – nahe dem Taksim-Platz – gelebt und zunächst gar nichts davon mitbekommen. Am Abend hatte sie in einem Café ein paar Straßen weiter einen Tee getrunken. Und keines ihrer zwei Handys dabei gehabt. Wieder zuhause sah sie, dass ihre Mutter aus Deutschland mehrfach angerufen hatte. Sie rief zurück und die Mutter sagte ihr: „Bei euch gibt es einen Putsch.“ Zwar hatte sie zuvor Düsenjäger wahrgenommen, die die Schallmauer durchbrachen – dies aber, so Akyol, sei eigentlich öfters vorgekommen und war für gewöhnlich kein Grund zur Beunruhigung. Ungläubig zunächst habe sie letztlich in den Medien die Bestätigung dafür gefunden und dann darüber geschrieben.

Das Militär

Ein weiteres wichtiges Thema in ihrem Buch: das einst so mächtige türkische Militär. Erdoğan hatte es auf Wunsch der EU – der ja die Türkei beitreten wollte – wesentlich entmachtet. Was, so Akyol, auch Erdoğan in die Hände spielte.

Interviewpartner zu finden war nicht schwer: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen“

Weiters, berichtete die Autorin, habe es ziemlicher Anstrengungen bedurft, Interviewpartner zu finden: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen.“ Da habe man über E-Mails selten Erfolg. Für ihr Buch hat sie ungefähr hundert E-Mails geschrieben. Antworten dagegen bekam sie wenige. Auch Anrufe führen da kaum zum Erfolg. Kenne man jemanden, der eine Begegnung befördern, liefe es schon besser. Schließlich sei sie den Menschen nicht bekannt. Wenn dann ein Treffen zustande kam, lerne man sich erst einmal vorsichtig kennen. Dann werde einfach erst mal ein Tee zusammen getrunken. „Dann kriegt man später ein Statement. Oder auch nicht.“

Viele Menschen hätten auch einfach Angst, sich kritisch zu äußern.

Es sei ja für Interviewte fatal, wenn sie Fehler gemacht habe und der Text gedruckt erscheint.

„Das freie Wort steht unter großem Druck.“

Dass deshalb Leute vorsichtig seien, dafür hat Akyol Verständnis geäußert. Wobei sie in der Türkei lebende Menschen aber nun wiederum auch brauchte. Sie wollte ja keine Reportage schreiben, die lediglich auf den Blick durch die eigene Brille fuße. Sie meinte, zwanzig Interviews geführt zu haben, was „wahnsinnig anstrengend“ gewesen sei.

Probleme der Türkei

Bedenklich nannte Akyol den Braindrain, welcher derzeit in der Türkei zu registrieren ist. Die wirtschaftliche Situation, die Inflation, nahezu täglich steigende Preise und fehlende Arbeitsplätze mache vor allem den jungen Menschen zu schaffen, die um ihre Zukunft fürchten. Die Arbeitslosenquote steigt. Zur Info: Als Erdoğan 2003 an die Macht kam waren für ein Euro 5,3 Türkische Lira zu bekommen. Momentan ist das Verhältnis 1 zu 29.

Die Landeswährung verliere immer mehr an Wert. Ständig senke die Zentralbank auf Druck Erdoğans die Leitzinsen, wo sie doch eigentlich erhöht werden müssten, liest die Autorin aus ihrem Buch.

Erdoğan scheine all das nicht zu schaden. Letztes gewann er sogar die Wahlen wieder. Er überstand bisher eine Gefängnisstrafe (wegen Zitat eines Gedichts), Drohungen des Militärs, die Gezi-Demonstrationen, den Putschversuch und den Kampf mit der Gülen-Bewegung. Allerdings brächten ihn die anhaltenden Wirtschaftskrise sowie die innenpolitischen Probleme in Bedrängnis.

Die Berichterstattung der Medien in Deutschland, gab Akyol zu bedenken, finde sie „manchmal sehr einseitig“.

Als die Autorin mit einem AKP-Politiker spricht, kritisierte dieser die EU. Sie spiele bestimmte Vorwürfe hoch. Etwa die, welche sie der Türkei in puncto Menschenrechten mache. Es gebe Länder in der EU, die in Sachen Menschenrechte schlechter dran seien oder zumindest auf der gleichen Stufe wie die Türkei stünden. Die EU habe die Türkei fallenlassen und die ganze Zeit immer nur betrogen. Das sage nicht nur er, sondern die Kritik teile die öffentliche Meinung im Lande.

Die Opposition hat seit Jahren keinen Erfolg die Regierung abzulösen

Akyol stellte fest, seit zwanzig Jahren habe es die Opposition nicht geschafft gegenüber der AKP-Regierung (zusammen mit der nationalistischen rechten MHP) eine Alternative darzustellen. Zuletzt war Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) im Bunde mit sechs verschiedenen Parteien (der „Sechsertisch“) damit gescheitert die Regierung abzulösen. Çiğdem Akyol vermutet, das habe neben Anderem daran gelegen, dass Kılıçdaroğlu noch nie ein Ministeramt bekleidet habe und vielleicht auch daran, dass er sich kurz vor der Wahl in sozialen Netzwerken als Alewit geoutet habe. Alewiten (in der Türkei leben etwa 15% von ihnen). Alewiten wird in der Türkei nicht selten mit Misstrauen und alten Vorbehalten begegnet.

Erdoğan ist immer für eine Überraschung gut

Auf eine Zuhörerfrage hin wollte Akyol in ihrer Antwort nicht über die Zukunft spekulieren und darüber, ob mit Erdoğan noch länger zu rechnen sei. Sie vergaß nicht zu erwähnen, dass dieser in den ersten Jahren der AKP-Regierung durchaus vieles in der Türkei erreicht hatte. Er habe ja zwar nun angekündigt in fünf Jahren nicht wieder anzutreten. Doch der Mann sei immer wieder für Überraschungen gut gewesen zu sein. Es sei denn, gesundheitliche Gründen stünden dagegen.

Ein wirklich informativer Abend mit einer sympathischen Autorin, die offenbar mit einem weiteren, auf Kenntnisreichtum zurückgreifend und über behutsam geführte Interviews zustande gekommen Buch aufwartet.

Çiğdem Akyol bedankte sich herzlich bei der Auslandsgesellschaft und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für die Einladung an sie. Sie verlieh ihrer Freude Ausdruck, dass so viele Menschen gekommen waren, um der Lesung beizuwohnen und sich mit Interesse an der Diskussion beteiligt hätten.

Çiğdem Akyol

Die gespaltene Republik

Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan

Spannend und voller Empathie für das Land erzählt Çiğdem Akyol die Geschichte derTürkischen Republik, ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk. Er schuf auf den
Trümmern des Osmanischen Reiches seine Vision einer modernen Türkei. Die Schattenseiten der verordneten Modernisierung sind bis in die Gegenwart spürbar: So erlebte das Land nach Atatürk mehrere Militärputsche und eine brutale Minderheitenpolitik. Doch die Entwicklung der Republik ist auch eine Erfolgsgeschichte: Die heutige Türkei ist ein aktiver außenpolitischer Gestalter in der Weltpolitik – und eine starke Volkswirtschaft.
Çiğdem Akyol beleuchtet die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hinter der Geschichte – das ideologisch geprägte Justizsystem, die Macht des Militärs, die Verfolgung von Schriftstellern und die Debatte um Religion und Säkularismus. Zu Wort kommen dabei auch Menschen aus der Türkei, die persönliche Eindrücke schildern, unter anderen die Journalisten Bülent Mumay und Can Dündar, die Feministin Büşra Cebeci und der ehemaligen Außenminister Yaşar Yakış. Überdies kommen ehemalige AKP-Mitglieder und -Mitarbeiter mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen zu Wort.
Eine umfassende, lebendige Geschichte der Republik, die uns auch die Gegenwart nahebringt und die jüngsten Entwicklungen nachvollziehbar macht. Die Lesung hat sozusagen Appetit auf das neue Buch von Akyol gemacht

Erscheinungstermin: 25.04.2023

Gebundene Ausgabe: 26,00 €

S. Fischer Verlage

Anbei:

Çiğdem Akyol im Literaturhaus Zürich

Es ist an der Zeit: Bundesweiter Protest gegen Krieg und das soziale Desaster – Demonstration am 25.11. in Berlin

In der Woche vom 27.11 bis 30.11 verabschiedet der Bundestag den Haushalt 2024, der als Kriegsetat zu bezeichnen ist. Dieser zeichnet sich durch ein wesentliches Kriterium aus: der Rüstungsetat steigt nach NATO-Kriterien auf 88,5 Milliarden Euro und alle Etatposten, die die Bereiche Soziales, Umwelt, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, internationale Beziehungen, und weitere betreffen werden teilweise radikal gekürzt. Dies ist Ausdruck einer von der Ampel und der Opposition durchgedrückten gesellschaftlichen Neuorientierung auf Krieg und reaktionär Krisenbewältigung. Von Reiner Braun.

Wo bleibt der so dringend notwendige Aufschrei, der Protest: der Gewerkschaften, der Sozialverbände, der Umweltverbände, der Kirchen – überhaupt der Betroffenen?

Burgfrieden und Resignation, eine marginalisierte und handlungsunfähige Linke, Stillhalten als Unterstützung der Regierungspolitik und Wut ohne aktives Handeln bestimmen die Gesellschaft und die gesellschaftliche Atmosphäre. Die Wahlergebnisse der letzten Wochen und Monate sind der beredte Ausdruck einer Weigerung, der Kriegs- und sozialen Abwälzungs-Spirale von Seiten progressiver und emanzipatorischer Kräfte ein positives gesellschaftliches Projekt des eigenständigen Handelns entgegenzusetzen.

In dieser politischen Situation gehört Mut und Courage dazu, zum eigenständigen Handeln aufzurufen. Wir haben ihn und wollen den Protest bundesweit auf die Straße tragen.

Wir, die „Ukraine Initiative – die Waffen nieder“ ruft gemeinsam mit über 120 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern zur bundesweiten Friedensdemonstration am 25.11.2023 in Berlin auf.

„Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten“ ist unsere Antwort auf die Kriegspolitik der Bundesregierung und die asozialen Konsequenzen deutscher Kriegsbeteiligung sowie die Unterstützung einer uns selbst schädigenden Sanktionspolitik.

Der Aufruf ist ein Bündnisaufruf von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialen Organisationen, Initiativen und Parteien, die – bei aller Unterschiedlichkeit, ja sogar Gegensätzlichen Positionen in den zentralen Herausforderungen übereinstimmen:

  • Der Krieg in der Ukraine sowie alle Kriege auf der Welt müssen beendet werden. Deshalb fordern wir Verhandlungen und Waffenstillstand im Ukraine Krieg als zentrale Herausforderung, das Töten und Morden sowie die tägliche Zerstörung zu beenden. Wir unterstützen alle Initiativen für Verhandlungen, besonders des Globalen Südens und der BRICS Staaten und fordern endlich eigenständige diplomatische Initiativen der Bundesregierung zur Beendigung.
  • Der Ablehnung des zutiefst unsozialen und die Zukunft des Landes zerstörenden Sozialabbaus. Im Aufruf benennen wir die Konsequenzen: „Mit 85,5 Milliarden Euro sind die Militärausgaben 2024 die größten seit Bestehen der Bundesrepublik. Das Gesundheitswesen, die Infrastruktur, Unterstützung für Kinder und bezahlbare Mieten, Bildung, Wissenschaft und Ausbildung sind dagegen durch dramatische Mittelkürzungen bedroht. Für immer mehr Menschen zeichnet sich eine soziale und ökonomische Katastrophe ab.“ Der Jugend wird die Zukunft verbaut.
  • Die daraus resultierende Kernforderung heißt Abrüstung: bei und uns weltweit. Unser blauer Planet kann sich für das ökologische Überleben und für eine lebenswerte Zukunft für die Menschen mehr als 2 Billionen Rüstungsausgaben weltweit einfach nicht leisten. Wovon sollen denn die „Sustainable Development Goals“ finanziert werden, wovon der weltweite Klimafond? Wie sollen wir zu einer weltweiten globalen Gerechtigkeit kommen, wenn nicht diese Ausgaben massiv reduziert werden. Deswegen globale Abrüstung – bei uns anfangen!

Unverzichtbar für einen alternativen Weg zur Konfrontation, der immer auch die Gefahr des nuklearen Holocausts beinhaltet, ist die „Politik der gemeinsamen Sicherheit“. Sicherheit ist immer nur miteinander und nie gegeneinander möglich. Dieser Gedanke der internationalen Kooperation und Solidarität soll unsere Demonstration des Friedens durchziehen.

Wir wenden uns mit dieser bundesweiten Demonstration an alle Menschen guten Willens, die mittun wollen, aus dieser Sackgasse von Konfrontation und Krieg herauszukommen. Lasst uns in der jetzigen Situation, in der die Welt zunehmend aus allen Fugen gerät, aufeinander zugehen, Barrieren überwinden und für Versöhnung werben. Wir sollten nicht in der jetzigen – wohl einzigartigen historischen Situation – nicht so wie immer agieren und reagieren, sondern Mut zu Neuem, zu mehr Widerborstigkeit und Widerstand aufbringen – folgend dem Gedanken, das kein auch noch so kleines Engagement nutz- und folgenlos ist sondern ein Mosaikteilchen darstellt, das mithilft die Welt zu verändern.

Lasst uns diese Visionen wieder in unser tägliches Handeln herunterbrechen.

Lasst uns alte Streitigkeiten, überholte Differenzen, unterschiedliche Einschätzungen zurückstellen, um in dieser Situation größter Gefahr für den Weltfrieden gemeinsam zu handeln. Wir wollen die Friedensbewegung durch die Aktion stärken und viele unterschiedliche Kräfte zum gemeinsamen Handeln ermutigen!

Werdet MultiplikatorInnen der Vorbereitung, indem ihr aktiv mitwirkt diese Demonstration anzukündigen und für möglichst viele TeilnehmerInnen attraktiv werden zu lassen:

  • Deshalb gemeinsam und überall TeilnehmerInnen werben
  • Deshalb „langjährige Aktive“ und „Enttäuschte“ wieder mobilisieren
  • Deshalb Neue für das Mitwirken gewinnen und neue Friedensinitiativen gründen
  • Deshalb an vielen Orten Veranstaltungen und Aufklärung organisieren
  • Deshalb überall die Fahrt nach Berlin zu einem gemeinsamen Friedensereignis machen
  • Nutzt alle Möglichkeiten der sozialen Medien

Wir wollen mit der Demonstration einen Anstoß geben, dass mehr Menschen sich für ihre Interessen aktiv einsetzen und als erstes, das grundlegendste Menschenrecht das Recht auf Leben einfordern.

Quelle:

Reiner Braun, ehemaliger Präsident des Internationalen Friedenbüros, aktiv in der Ukraine Initiative „die Waffen nieder“

Reiner Braun. Foto: Claus Stille

Beitragsbild: C. Stille

Migrationspolitik unterm Grünen Scheinheiligen-Schein

„Der Zynismus der westlichen Länder gegenüber der Ukraine“ äußert sich auch in der Bevorzugung von deren Flüchtlingen in Deutschland. Die Maßeinheit „baerbock“ für politisch Bescheuertes ist noch relativ jung, aber nützlich. Anwendungsbeispiel: Wir führen Krieg gegen Russland = 1bae. Stupide Gefühlsrohheit lässt sich damit ebenfalls bemessen. Die Grünen-Trampoline hatte angekündigt, Deutschlands ohnehin dürftige humanitäre Hilfe für Afghanistan zu kürzen – wegen der frauenfeindlichen Politik der Taliban. Noch weniger helfen, obwohl fast 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung von Hunger bedroht sind, das empörte den UNO-Koordinator Alakbarov: Die Bereitstellung von Lebensmitteln oder medizinischer Hilfe für Not leidende Menschen dürfe nicht an Bedingungen geknüpft werden. Eine diplomatisch verpackte Maulschelle. Doch wer sagt, dass deutsche Außenpolitik ethisch vertretbar sein muss? „Feministische Außenpolitik“ reicht unserer Ampelregierung schon. Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam.

Aus Afghanistan kommt übrigens das zweitgrößte Kontingent an Asylbewerbern. Womit wir bei unserem Thema wären: Migration nach Deutschland. Ein Arbeitsfeld der Politik, auf dem derzeit so ziemlich alles falsch läuft, was falsch gemacht werden kann.

Die USA und ihre Vasallen haben Afghanistan, Irak, Syrien und viele weitere Länder völkerrechtswidrig überfallen und verwüstet. Deshalb fliehen deren Einwohner. Neuerdings kommt jedoch der mit Abstand größte Zustrom aus der Ukraine. Auch deren Krieg hat der Westen mit voller Absicht mit losgetreten, viele Jahre vor der russischen Invasion. In der Statistik der Asylbewerber sind die Ukrainer allerdings nicht erfasst: Sie müssen kein Asyl beantragen, sie brauchen vorerst überhaupt keinen amtlichen „Aufenthaltstitel“ (zumindest vorerst nicht bis 2. Juni 2024). Zu ihrer Privilegierung später mehr.

Im engen Horizont der deutschen Außenministerin ist kein Platz für die schlichte Logik, dass der Verursacher von Kriegen auch für deren Folgen – Massenflucht – verantwortlich ist. Ihre parlamentarischen Parteigänger behaupten denn auch unverdrossen von sich:

Wir Grüne im Bundestag stehen für Frieden, Abrüstung, kooperative Sicherheit und eine Kultur der militärischen Zurückhaltung … Unsere Politik zielt darauf ab, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir fordern, die zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik zu stellen und sich engagiert für internationale Abrüstung und Rüstungskontrolle einzusetzen … Darüber hinaus lehnen wir Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete ab.

Das ist kein Wahn, keine Selbsttäuschung, sondern Ausdruck absoluter Charakterlosigkeit. Mit solchen Lutschbonbons sollen das Wahlvolk für dumm verkauft und die Friedenswilligen ruhiggestellt werden. Die Grünen-Strategen wissen, wie leicht ihre potenziellen Wähler zu manipulieren sind. Diejenigen, die nicht (mehr) lesen, die keine Zeit fürs Nachdenken haben und eh glauben, das Wichtigste selbst zu wissen; die allenfalls überlegen, ob sie abends erst noch Tagesschau gucken sollen oder lieber gleich ‘nen Softporno bei den Kommerziellen. Ihr unerschütterlicher Aberglaube: Wir sind die Guten. Wir retten die Flüchtlinge und das Klima. Das lassen wir unseren Staat denn auch was kosten, es fehlt uns selbst dabei ja an nichts. „Refugees welcome“, Flüchtlinge willkommen!

Kriegslüsterne Moralapostel

Die Schweizer Sozio- und Ethnologin Verena Tobler-Linder kritisiert den zugrunde liegenden „strukturblinden Moralismus“. Grüne und vermeintlich Linke schnurrten von „deutschen Werten“ und seien zugleich bereit, die Restwelt mit Krieg und Sanktionen zu überziehen. In der Tat, das nachdrückliche „Flüchtlinge willkommen“ ist nichts als weiße Salbe.

Warum man die Massenflucht als globales Problem selbstkritisch zu betrachten habe und welche Lösungsansätze es gebe, ist Gegenstand der Überlegungen Tobler-Linders: „Nachdenken über die zunehmende Einwegmigration: Zur Quadratur des Kreises“. Die Ethnologin fasst unter dem Begriff „Kernkultur“ alle Vorstellungen zusammen, die in einer Gesellschaft als verbindlich gelten. Sie erörtert, was sich integrieren lässt und was nicht. Interkulturelle Konflikte zu ignorieren oder gar zu leugnen, sei keine brauchbare Antwort auf real vorhandene und parteipolitisch genutzte Fremdenfeindlichkeit. Alles zu verstehen, heiße nicht, alles zu akzeptieren. Die Autorin macht auch keine Umwege um Fettnäpfchen wie dieses: „Der Großteil der derzeitigen Kriegsflüchtlinge wurde vom Westen selbst hervorgebracht.“(ebd.)

Man darf sicher sein, dass Annalena Baerbock gescheite Texte wie diesen nicht gelesen hat, auch nie lesen oder gar verstehen wird. Lesen gefährdet die narzisstische Arroganz.

Pure Menschenverachtung

Als Kanzler Scholz und seine Sozen sich noch nicht so richtig trauten, die kriegsgeile Charaktersau rauszulassen, überboten sich Baerbock, Habeck, Hofreiter, Nouripour, Lang und Konsorten bereits gegenseitig mit Forderungen nach schweren Waffen und sonstiger Militärhilfe für die Ukraine. Die Stahlhelmfraktion war von Anbeginn für massive Rüstungsexporte, für zumindest mittelbare Beteiligung am Krieg, für dessen Verlängerung (bis zum Endsieg über Russland?) und für die Inkaufnahme von Millionen Flüchtlingen. Baerbock: Die Ukraine muss gewinnen.“

Ein Ergebnis dieser so realitätsfernen wie menschenverachtenden Politik: Der Frieden in der Ukraine, im Frühjahr 2022 noch möglich, ist in weite Ferne gerückt. „Inkompetenz deutscher Außen- und Sicherheitspolitik“, stellt der Bundeswehr-Generalinspekteur a.D. Harald Kujat fest und fragt:

Was ist denn moralisch höherwertig: Einen Aggressor zu bestrafen oder die Bevölkerung vor diesem Leid und diesen vielen tausenden von Toten zu bewahren? Wenn dieser Krieg jetzt immer weitergeführt wird, weil man eben nicht verhandeln will mit Russland, dann nimmt man damit weitere hunderttausende Tote und die Zerstörung dieses Landes in Kauf – wofür? Für ein Prinzip.

Die Politik der sozialdemokratisch geführten Ampel-Regierung liegt Lichtjahre entfernt von der des Sozialdemokraten Willy Brandt. Der befand angesichts des (Vietnam-)Krieges:

Wir können nicht gleichgültig zusehen, wie sich ein ganzes Volk für eine Sache aufreibt, die mit friedlichen Mitteln hätte gelöst werden können (…) Auf dem falschen Kriegspfad befinden sich diejenigen, die den totalen Volkskrieg heiligsprechen möchten. Das Ziel des totalen Sieges der einen oder der anderen Seite, der eine militärische Vernichtung voraussetzt, ist in Wirklichkeit die Absage an einen Frieden, der diesen Namen verdient.“ (Quelle: Willy Brandt, „Frieden in Europa“, S. Fischer Verlag, S. 88)

Demgegenüber Außenministerin Baerbock:

„…nein, wir verteidigen die Menschen in der Ukraine so, wie wir das können, mit Waffenlieferungen (…) und das heißt vor allem Artillerie, Drohnen (…)“

Vor dem Hintergrund des ukrainischen Leichenbergs profiliert sich diese kindisch-hemmungslose Selbstdarstellerin als mutige Freiheitskämpferin. Sie und ihre Gesinnungsfreunde müssen den Kopf ja nicht hinhalten.

Flüchtlinge erster und dritter Klasse

Seit März vorigen Jahres flohen 3,9 Millionen Ukrainer in die Mitgliedsstaaten der EU. Mindestens 1,1 Millionen kamen nach Deutschland. Nach Angaben des Innenministeriums stammen derzeit acht von zehn Schutzsuchenden aus der Ukraine.

Sie erhalten in Deutschland vom ersten Tag ihres Aufenthalts an das Bürgergeld (vormals Hartz-IV) und alle dazugehörigen Leistungen. Im Vergleich zu ihren Leidensgenossen aus anderen Ländern werden sie damit bewusst bessergestellt. Beispiel:

Eine alleinstehende syrische Schutzsuchende mit Kleinkind bekommt nach den aktuellen Regelsätzen 688 Euro monatliche Unterstützung. Unterbringung in Sammelunterkünften. Keine Krankenversicherung während der ersten eineinhalb Jahre, medizinische Hilfe muss vom Amt genehmigt werden. Keine Arbeitserlaubnis.

Eine alleinstehende Ukrainerin mit Kleinkind bekommt 1000,72 Euro, Kindergeld (gegebenenfalls Unterhaltsvorschuss), Elterngeld, eine Krankenversicherungskarte mit üblichem Leistungsanspruch , Wohngeld, Arbeitserlaubnis.

Die oben genannten Leistungen für „normale“ Asylsuchende liegen also deutlich unter denen für die ukrainischen Flüchtlinge. Nicht nur das, sie unterschreiten auch erheblich das gesetzliche Existenzminimum, das ein menschenwürdiges Leben sicherstellen soll. Im konkreten Beispiel wären das 1092 Euro (eigentlich 1411 Euro, aber 319 Euro für Mietkosten sind abzuziehen).

Angst vor Überfremdung

Trotz der Entwürdigung des nicht-ukrainischen Flüchtlings gibt es wenig Mitleid mit ihm.

Wenn in einem 500-Seelen-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ein Containerlager für 400 Neuankömmlinge errichtet werden soll (…) genügt eigentlich gesunder Menschenverstand, um zu spüren, dass eine solche Überforderung auf Dauer nicht gutgeht. Die Überfremdungsängste sind auch nicht das Produkt (…) von Restbeständen an nazistischem Gedankengut, sondern eine Condition humaine. Da tickt das Dorf in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders als eines in den Schweizer Bergen.

Die ärmere einheimische Bevölkerungsschicht sieht die Einwanderung eben nicht mit den Augen eines grünen Besserverdieners, sondern mit denen eines persönlich Betroffenen, der sich von der ausländischen Konkurrenz zu Recht sozial bedroht fühlt und noch mehr Benachteiligung zu befürchten hat, als er ohnehin schon erleidet.

Der Gegensatz zwischen den Zugewanderten und der ansässigen Bevölkerung vertieft sich wegen der materiellen Gleichstellung der ukrainischen Flüchtlinge mit den aufs Bürgergeld angewiesenen Deutschen. Wer von „Staatsknete“ leben muss und vom Angebot der „Tafeln“, trotz aller Arbeitsbereitschaft aber bestenfalls „Prekärer“ bleibt, der fühlt sich zwangsläufig zurückgesetzt. Er lehnt Politiker ab, die sich mehr um die Arbeitsbeschaffungsprobleme ukrainischer Schutzbedürftiger kümmern als um seine. Die verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze steigert die Existenzängste und erzeugt Feindseligkeit gegen die Konkurrenten aus der Fremde.

Das blenden unsere gutmenschlichen „Volksvertreter“ tunlichst aus und stempeln diesen Teil der Opposition als rechtsextrem ab, als rassistisch, reaktionär, gar als verfassungsfeindlich. Derweil machen sie selbst, populistisch bis zum Überdruss, ein asylbewerberfeindliches Fass nach dem anderen auf. Wohlgemerkt, nicht gegen die Ukrainer, es geht gegen Menschen „aus anderen Ländern“ ohne Aufenthaltstitel, die ohnehin schon unter dem Minimum für menschliche Existenz und Würde gehalten werden. Belege:

CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.

Kanzler Olaf Scholz: „Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland streben, ist im Moment zu hoch.“

Man buhlt mit solchen Äußerungen um die Gunst von Wählern, man lenkt von deren Angst vor Überfremdung ab, man weiß, dass man längst Rechnungen ohne den Wirt macht und dass die ungerechte Mittelverteilung zusätzliche soziale Spannungen hervorruft.

Chaotische Migrationspolitik

Insgesamt 14,7 Milliarden Euro seien bisher für ukrainische Flüchtlinge ausgegeben worden, antworte Staatssekretärin Susanne Baumann auf eine Anfrage von Sahra Wagenknecht.

Die Tagesschau agierte dagegen mit Zahlen und Sachverhalten, die mehr irritieren als informieren:

Zudem übernimmt der Bund die meisten Sozialleistungen für Geflüchtete aus der Ukraine. Allein in diesem Jahr macht das etwa fünf Milliarden Euro aus. Nochmal gut fünf Milliarden Euro zahlt der Bund für Sozialleistungen für ‚Geflüchtete aus anderen Ländern‘“.

Solche Meldungen erwecken den Eindruck, als seien die Ausgaben für die Ukraine-Flüchtlinge und die für Asylbewerber weitgehend gleich hoch. Steckt dahinter nur die tagesschau-übliche Luschigkeit oder ist das ein Versuch, das Publikum über die drastische Ungleichbehandlung der Schutzsuchenden zu täuschen? Soll verschleiert werden, dass die Flüchtlingsoberklasse der Ukrainer bevorteilt wird und es daneben nach wie vor die Flüchtlingsunterklasse von Menschen aus „anderen Ländern“ gibt? Und soll dabei die chaotische, konzeptionslose Gestaltung und Finanzierung der Migrationspolitik generell hinweggequasselt werden?

Die Gründe für die deutlich besseren Bedingungen der ukrainischen Flüchtlinge diskutierten die Bundestagsabgeordneten bereits vor einem Jahr aufgrund eines in der Tat verdächtig provokant formulierten Antrags der oppositionellen AfD:

„Sozialstaatsmagnet sofort abstellen – Ende des Rechtskreiswechsels für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine und Einführung eines strengen Sachleistungsprinzips für Asylbewerber.“

Dahinter wurde der fremdenfeindliche Wunsch von „alle sollen gleich schäbig behandelt werden“ sichtbar. Aber anstatt sich die Jacke sauberzumachen und zumindest aufrichtig zu antworten, klopften sich die Sprecher der Ampelkoalition auf die eigene Schulter und verstiegen sich zu hanebüchen dummdreisten Antworten:

Die Bevorzugung (der Ukrainer) istein Ausdruck der Erfüllung des Art. 1 GG, in dem von der Würde des Menschen die Rede ist.“

Als ob der Grundgesetzartikel 1 nicht generell die „Würde des Menschen“ schütze, aller Menschen also, und nicht nur die Würde der Ukrainer…

Wie abgehoben von der tatsächlichen Volksmeinung diese Parlamentarier einander bekoffern, zeigt der „Deutschlandtrend“ vom 29. September dieses Jahres, eine Meinungsumfrage im Auftrag der ARD. Auf die Frage, ob Deutschland durch die Zuwanderung eher Vorteile oder Nachteile habe, antworteten 64 Prozent, sie sähen eher Nachteile. Zugleich sprachen sich 64 Prozent dafür aus, dass Deutschland weniger Flüchtlinge aufnimmt.

Geld für den Krieg, nicht gegen die Armut

Die Bundesregierung hat bereits gigantische Summen zur Finanzierung und Verlängerung des Krieges in die bis ins Mark korrupte Ukraine gepumpt. Allein der Wert der gelieferten Waffen und Finanzhilfen für militärische Zwecke beträgt 17 Milliarden Euro, von den Mitteln für zivile Zwecke und Schmiergelder nicht zu reden. Das Ende der Fahnenstange ist damit aber immer noch nicht erreicht. Der Haushaltsausschuss hat im Frühjahr die Aufstockung der Waffenhilfe um 12 Milliarden Euro gebilligt. Damit ist der Vorwurf, „für die Ukrainer werfen die da oben das Geld mit vollen Händen zum Fenster raus, aber unsere Nöte kümmern sie nicht“, natürlich garantiert.

Die miese Gesinnung deutscher Regierungspolitiker zeigt sich in den Entscheidungsmotiven. Sie bevorzugten die Ukraine-Flüchtlinge, weil sie Putin-Russland als Feind betrachten. Das spielte eine Rolle beim Geschacher zwischen Bund und Ländern über die Frage, wer denn der Kostenträger für die Aufnahme der Ukrainer sein solle. Dank der ihnen zugestandenen Sonderrolle ist das nun hauptsächlich der Bund. Schutzsuchende Syrer und Afghanen werden dagegen wie der letzte Dreck behandelt. Dabei sind die Fluchtursachen weitgehend identisch, die dafür Verantwortlichen in unserer US-konformen „Westlichen Wertegemeinschaft“ zu suchen. Deutschland ist Mitglied dieses kriegerischen und grausamen Syndikats, es hat beim Völkerrechtsbruch mitgemacht.

Ungeachtet dieser ohnehin schon nicht mehr tilgbaren Schuld beteiligt sich die Bundesregierung nicht nur an den brutalen Sanktionen gegen Syrien, sondern ist einer ihrer eifrigsten Antreiber – mit der Folge, dass 70 Prozent der Bevölkerung hungern und diese Menschen sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Hier setzt der Wertewesten tatsächlich den Umgang mit dem Hunger als Waffe ein.

Statt sich an der Fremdenfeindlichkeit der AfD abzuarbeiten, sollten unsere bourgeoisen Parlamentarier sich an die eigene Nase fassen und den wahren Verursachern entgegentreten. Karl Marx hat sie schon vor 150 Jahren benannt:

(…) die englische Bourgeoisie hat das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den „standard of life”, den Lebensstandard herabdrückt (…) Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wachgehalten. Sie weiß, dass diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist.“

Schon Marx wies darauf hin, dass Auswanderung die Armut in den Herkunftsländern vertieft. Deutschland bevorzugt heute trotzdem deren Fachkräfte und saugt damit Talente ab, die in ihrer Heimat dringend gebraucht würden. Auf diese Schadwirkung machen unsere Staats- und Konzernmedien ebenfalls nicht aufmerksam.

Was tun? Das Selbstverständliche zuallererst: die ungeniert offene und die heimliche Finanzierung des Krieges beenden. Umfassende Information tut not, und auf deren Grundlage eine aufrichtige, nach tragfähigen Lösungen suchende Diskussion über die Migration. Mit programmierten Politikern und willfährigen Medienleuten ist das aber nicht zu machen.

Anmerkung der Autoren: Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: publikumskonferenz.de/blog

Friedhelm Klinkhammer (li.) und Volker Bräutigam (re.) währender einer Medienkonferenz der IALANA in Kassel. Foto: Claus Stille

Beitragsfoto: Claus Stille