Friedensperspektive statt Kriegsplanung – Tagung in Essen

Von links: Michael Müller, Peter Brandt, Bernhard Trautvetter und Andreas Zumach.

Die aktuellen Kriege, die Hochrüstung und Eskalationsgefahren waren Thema von Teilen der Friedensbewegung am vergangenen Sonnabend in Essen. Die Tagung stand unter dem Titel „Friedensperspektiven statt Kriegsplanung“ und fand in den Räumlichkeiten der Volkshochschule Essen sowie im DGB-Haus statt.

Der Hintergrund

Knapp zwei Wochen vor der Tagung hochrangiger NATO-Militärs und Politiker (JAPCC Conference 2019) unter Beteiligung von Militärstrategen und der Rüstungsindustrie in der Messe Essen informieren ExpertInnen der Friedensbewegung auf der Friedenstagung über den Zusammenhang von Aufrüstung und Kriegsgefahr sowie über Möglichkeiten der Abrüstung und der Entspannung. Auch neue Konfliktgefahren als Folge des Klimawandels und der Eskalationsstrategie sind Thema.

Mit Vorträgen, Diskussionen, Workshops berieten sich Friedensaktivisten, was sie gemeinsam mit Aktivisten aus der Klimaschutz- und anderen Bewegungen tun können, um gegen Kriegsursachen aktiv zu werden, bestehende Konflikte zu deeskalieren und um einen Ausstieg aus der Rüstungsspirale zu erreichen.

Die Aufklärung über die Propaganda der Militärs, deren Strategieentwicklung auf den Essener NATO-Konferenzen, die Gefahr eines nuklearen Infernos und über die Verantwortung und Möglichkeiten der Friedensbewegung ist Ausgangspunkt für die nächsten Aufgaben und Schritte der Kräfte des Frieden standen auf der Tagesordnung mehrerer Workshops.

Schirmherr der Tagung war Konstantin Wecker. Er sandte ein Grußwort an die zahlreich erschienenen Tagungsteilnehmer aus nah und fern.

Eröffnungsplenum mit zwei Gästen

Nach Begrüßung der

Von links: Reiner Braun und Kathrin Vogler.

Tagungsteilnehmer und einer Einleitung seitens Joachim Schramm (Geschäftsführer DFG-VK-NRW) startete das Eröffnungsplenum mit Kathrin Vogler (MdB DIE LINKE) und Reiner Braun (Co-Präsident International Peace Bureau). Das Thema: „70 Jahre Nato –

Kalter Krieg, Weltpolizeianspruch und Eskalationsgefahr“.

Reiner Braun: Nato ist seit Gründung Aggressionsbündnis

Reiner Braun unternahm einen historischen Rückblick auf die 1949 von 12 Ländern gegründete Nato (1950 kam Westdeutschland, die Alt-BRD hinzu), welchen er mit aktuellen Fragestellungen der Zeit verband. Heute sind 30 Länder Mitglied in der Nato. Der Counterpart, so Braun, die Sowjetunion, ist nicht mehr da. Doch die Nato habe sich dennoch gen Osten ausgeweitet. Heute sei die Nato kein Nordatlantisches Militärbündnis mehr, das vielleicht noch für Zeit bis 1990 gestimmt habe. Braun: „Die Nato ist das Militärbündnis dieser Welt zur Sicherung von Ressourcen und Profiten.“ Es sei u.a. selbst mit Kolumbien, einem Bürgerkriegsland verbunden, wo Nato-Übungen stattfänden. Selbst mit Brasilien, dem größten Land Lateinamerikas buhlten der Faschist ((Bolsanaro) und die Nato um eine Zusammenarbeit.

Der entscheidende Erweiterungshorizont sei Asien. Es ginge fraglos dabei um den zweiten Hauptfeind der Nato, China, das eingekreist werden solle.

Dies werfe die Frage auf: „Ist eigentlich dieses Bündnis immer noch, oder war es jemals ein Verteidigungsbündnis?“ Er würde gerne behaupten, so Braun, dass die Nato schon seit ihrer Existenz ein Aggressionsbündnis war. Es sei immer gegen die Ergebnislage des Zweiten Weltkriegs vorgegangen.

Von Anfang an habe die Nato dazu gedient, die Sowjetunion wieder zu einem Russland zurückzudrängen. Auch, indem man die Länder des Ostblocks zu „befreien“ vorgab. Die Nato habe aktiv daran gearbeitet das die Linksregierungen in Frankreich und Italien beendet wurden. Auch habe die Nato in den 1950er und 1960er Jahren eine aggressive Atomwaffenstrategie (mit dem Ziel eines Ersteinsatzes (!) von Atomwaffen) verfolgt. Eine Nato-Direktive habe sogar den Titel „Atombombenziel Sowjetunion“ getragen. Eingezeichnet gewesen seien da auf einer Karte die 200 größten Städte und Orte der UdSSR. Der Vorwurf seitens der Nato betreffs einer atomaren Vorrüstung der Sowjetunion sei stets eine Lüge gewesen. Immer habe Moskau auf westliche Vorrüstung reagiert und nachgerüstet.

Nach 1990, so Reiner Braun, habe die Nato sehr schnell darauf gesetzt, das Feinbild Russland wiederzubeleben. Braun: „Heute geht es der Nato eindeutig darum Russland einzuzirkeln und einzugrenzen und China einzuzirkeln und einzugrenzen.“ Es gehe um nichts anderes als um eine westliche Dominanz in einer veränderten Welt zu bewahren. Das sei gefährlich, da sie zu einer Eskalationsspirale führe, zu der auch ein faktisch vertragsloser Zustand zwischen den großen Mächten gehöre. Das berge eine große Kriegsgefahr – sogar Atomkriegsgefahr – in sich. Dringend nötig sei ein Zurück zu „einer kooperativen Sicherheit, zu einer Politik der gemeinsamen Sicherheit, zu Abrüstung.“

Kathrin Vogler: Vogler: Wer Frieden wolle, muss „diese aggressive Nato“ überwinden

Die Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler erinnerte an einen Vorschlag des einstigen Nato-Generalsekretärs Manfred Wörner, der im Mai 1990 vom Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur, die die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes umfassen sollte, gesprochen habe.

Damals sei auch Wörner davon ausgegangen, dass das (leider Gorbatschow nicht schriftlich) gegebene Versprechen, die Nato würde sich nicht über die damalige „kleine“ BRD hin gen Sowjetunion ausbreiten, gelte. Der Status quo sehe heute bekanntlich ganz anders aus: „Die anfängliche Euphorie verflog, der Drang nach Osten blieb.“

Vogler steht heute auf dem Standpunkt, dass eine angenommen statt gehabte Einbeziehung Russlands in die Nato nicht zu einer Entspannung beigetragen hätte. Zu sehr sei das westliche Interesse an einer Kontrolle Russlands (und seiner Bodenschätze). Auch wäre das heute eine „unheimliche Provokation“ des aufstrebenden Chinas. Vogler: Wer Frieden wolle, müsse „diese aggressive Nato“ überwinden. Andere internationale Institutionen müssten genutzt werden, um Sicherheit in Europa zu garantieren. Der Nato nämlich wohne von Grund auf eine strukturelle Gewalt in der Interpretation des Friedensforschers Johan Galtung inne. Des Weiteren würden Wirtschaft und Militär als zwei Seiten einer Medaille eingesetzt.

Reinhard Lauterbach: „Die Nato war von Anfang an ein Bündnis, das auf den Rollback ausgerichtet war“

Journalist Reinhard Lauterbach. Fotos: Stille

Sehr aufschlussreich an diesem Sonnabend war der Vortag zum Thema „Nato und Russland – Konfrontation oder Koexistenz“ des Journalisten Reinhard Lauterbach (junge Welt, Ex-ARD-Journalist), eines ausgewiesenen Osteuropa- und Russland-Kenners.

Lauterbach brachte eingangs seines hochinteressanten Referats einen Ausspruch des ersten Nato-Generalsekretärs Lord Hastings Ismay in Erinnerung wonach nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs danach zu streben sei, die Amerikaner drin, Deutschen niederzuhalten und die Russen draußen zu halten. Die Nato habe von vornherein eine Stoßrichtung gegen Russland verfolgt, sagte Lauterbach.

Mit der keineswegs realistischen Annahme, die Russen (mit Bezug auf vom Westen fehlinterpretierten Äußerungen von Stalins) wollten (nach Europa) hinein. Lauterbach: „Die Nato war von Anfang an ein Bündnis, das auf den Rollback ausgerichtet war.“

Dieser sei aber jedoch durch eine militärischen Aufholprozess der Sowjetunion etwa durch die waffentechnische Überlegenheit relativiert und besonders durch die Brechung es amerikanischen Atomwaffenmonopols 1949 erschwert worden.

Ab 1989 seien die Hoffnungen auf diesen Rollback wieder genährt worden. Und eine Ausweitung schon 1988 in den USA erwogen worden, bevor es den Machtwechsel in 1989 Polen hin zur Solidarnosc gegeben habe. Dadurch sei die DDR quasi zu „einem überreifen Apfel“ geworden. Die DDR sei dann schließlich meistbietend sozusagen an die BRD verschenkt worden.

Im Winter 1989/90 habe Helmut Kohl seinem „Strickjackenkumpel“ Michail Gorbatschow zugesichert, dass die Nato an die Sowjetunion hinan rücke. Gorbatschow habe damals allerdings nicht die Klugheit besessen, sich das schriftlich geben zu lassen. Kohl habe erwogen, Gorbatschow das schriftlich zu geben. Doch der damalige US-Präsident Bush der Ältere aber sei Kohl über den Mund gefahren und gesagt: Es könne doch wohl nicht sein, dass man der Sowjetunion erlaube im letzten Moment den Hals aus der Schlinge zu ziehen und ihre geostrategische Niederlage doch noch zu vermeiden.

Im Aufteilungskrieg Jugoslawiens habe sich die BRD insoweit eingemischt, indem sie Slowenien und Kroatien als selbstständige Staaten anerkannte. Sie habe diese Abspaltungen großzügig mit Militärgerät aus NVA-Beständen ausgestattet. Die Russen hätten dem hilflos zusehen müssen. Die Bombardierung Restjugoslawiens war der traurige Höhepunkt. Daraus u.a. resultiere eine Enttäuschung Moskaus, die bis heute fortdauere, meinte Lauterbach.

Aus diesen und andere Gründen hält Reinhard Lauterbach eine Annäherung Russlands an die Nato für äußerst unwahrscheinlich. Was ja ohnehin einen Teil der Gründungsintension der Nato (die Russen draußen zu halten) zuwiderlaufe. Auch dächte Moskau nicht daran sich den USA unterzuordnen.

Resultierend aus vielen Enttäuschungen, so Lauterbach, zeige Russland dem Westen (in Form von neuen Waffensystemen) inzwischen die Zähne, um den Westen vor unüberlegten Aktionen zu warnen.

Lauterbach ist sich sicher: die Nato ist derzeit von ihrer derzeitigen Konzeption nicht fähig mit Russland zu kooperieren. Die Nato ist und bleibe eben ein Konfrontationsbündnis.

Das Engagement der Nato in den baltischen Ländern nannte Reiner Lauterbach eine „ständige Provokation“. Ein Interesse Russlands auf das Baltikum zuzugreifen sieht der Journalist nicht.

Ein Kooperation zwischen der Nato und Russland sei an zwei Bedingungen geknüpft. Erstens käme da die hypothetische Annahme, dass deren Priorität Chinas gelte und Russland als den weniger gefährlichen Gegner einstufe, um Russland entgegenzukommen. Dies setze aber voraus, dass Russland in diese Falle hineintappe. Ein solches Szenerio sei zweitens unwahrscheinlich und langfristig nicht wirklich erfreulich. Eine alte Parole aus den 1980er gewönne wieder an Aktualität: „Kein Frieden mit der Nato“.

Andrej Hunko über die EU-Militarisierung und die Zurichtung der EU zu einem „imperialen Akteur“

Andrej Hunko (MdB DIE LINKE)

Andrej Hunko (MdB DIE LINKE) befasste sich mit dem Thema „EU-Militarisierung – Konkurrenz oder Partner der Nato?“

Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages sei zum ersten Mal in einigen Artikels dieses Vertrages, stieg Hunko in sein Referat ein, sozusagen die Perspektive einer EU-Militarisierung aufgemacht worden. Schließlich im September 2017 sei bereits im Lissabon-Vertrag erwähnte , kurz PESCO ((Permanent Structured Cooperation, deutsch: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) – heißt: bestimmte Staaten können ohne die anderen (vor allem auf den Militärbereich militärisch bezogen) voranschreitend zusammenarbeiten – aus der Taufe gehoben. Dazu gehöre auch die Entwicklung einer Euro-Kampfdrohne. Die Bundesregierung hat einen Leasingvertrag mit Israel zur Entwicklung einer Heron-Kampfdrohne geschlossen.

Hunko skandalisierte die kürzlich im Zusammenhang mit dem Drohnenangriff auf eine Ölanlage in Saudi Arabien die kürzlich von der Bundesregierung zusammen mit Großbritannien und Frankreich verkündete „uneingeschränkte Solidarität“ mit Saudi Arabien als „unfassbar“ und „erschreckend“. Vor allem deshalb, weil die Begründung (Iran sei für den Angriff verantwortlich) dafür „kein Bezirksgericht“ anerkennen würde.

Ein weiterer Skandal: Im EU-Haushalt sind Mittel vorgesehen, die für Militärisches eingesetzt werden sollen. Was eigentlich verboten ist, werde durch einen Trick gelöst: Dass 13 Milliarden Euro dort für einen sogenannten Verteidigungsfonds eingestellt sind, die unter „EU-Förderung“ (Industrieförderung) rubriziert sind. DIE LINKE findet das strittig und wird als Bundestagsfraktion, vertreten vom Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano, gegen diesen „Verteidigungsfonds“ klagen. Allerdings muss erst der EU-Haushalt beschlossen dann im Amtsblatt der EU veröffentlicht sein.

Andrej Hunko fürchtet, dass die EU immer mehr zu einem, wie er es nennt, zu einem „imperialen Akteur“, aufgebaut wird. Obwohl eine reale Bedrohung Europas etwa durch Russland oder den Iran nicht zu erkennen sei.

Warum „imperialer Akteur“? Hunko: Ein „imperialer Akteur“ unterwirft sich keinen internationalen Vereinbarungen (etwa dem Völkerrecht) – wie ja an der USA zu sehen sei. In allen Dokumenten der EU werde wohl Bezug auf die UNO genommen, dass aber die Formulierungen immer lauten: Man teile die Ziele oder den Geist der UNO usw.

Das sei selbst in der BRD zu konstatieren. Vor allem seitens von Außenminister Heiko Maas kaum vom Völkerrecht gesprochen werde, sondern stattdessen verwende man zunehmend einen Begriff, der sich „regelbasierte Ordnung“ nenne.

Auch gehe die ganze EU-Erweiterungspolitik Hand in Hand mit der Nato. Mal habe die EU die Nase, mal die Nato die Nase vorn.

Abschlussplenum

Der Journalist, UNO-Experte mit langjähriger Erfahrung, Andreas Zumach (Genf) nannte dort nannte fünf Herausforderungen: Das Ende des Kalten Krieges und der Blockaufteilung der Welt. Den sogenannten islamistischen Terrorismus und den darauffolgende global geführten sogenannten „Krieg gegen die Terrorismus“ unter Führung der USA mit all seinen schwerwiegenden Völkerrechtsbrüchen und innenpolitischen Verschärfungen. Den relativen Machtabstieg der USA, der seit dem Anfang der 1990er Jahre zu beobachten sei und sich seitdem beschleunigt hat. Und mit China der Aufstieg einer künftigen neuen Weltmacht. Und in diesem Zusammenhang die Forderungen politischer Parteien – außer der Linkspartei -, dass die EU nun auch ein globaler Player sein müsse. Wozu auch alle militärischen Instrumente gehören müssten. Dazu gehöre ein teilweises Konkurrenzverhalten zu den USA. Und die globale Erwärmung. Das schaffe neue Aufgaben für die Friedensbewegung.

Zumach warnte allerdings vor dem nicht selten gebrauchten (Ohnmachts-)Begriff der „neuen Unübersichtlichkeit“ – was ja wohl heißen solle: Man kann nichts mehr machen. Was nicht stimme. Denn alles könne durchaus klar benannt mit entwickelten Antworten bearbeitet werden.

Neue Abrüstungskonferenzen sollten seiner Meinung unter dem Dach der UNO in Genf ausgehandelt werden. Darauf müsse die Friedensbewegung auch die Bundesregierung drängen. Zumach warnte nachdrücklich vor einem möglichen Krieg mit dem Iran.

Der Friedensbewegung schlug er dringend vor, zu fordern, ein Verbot von Atomwaffenbesitz ins Grundgesetz zu schreiben. Schließlich gebe es ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das kommt nämlich zu dem Schluss, dass eine Beteiligung an Atomwaffenarsenalen andere Länder Deutschland nicht verboten sei.

Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, ging auf die Kriegsgefahren in der Zukunft ein. Es stelle sich nämlich die Frage der „ökologischen Selbstvernichtung der Menschheit“. Damit würden Konflikte und Gewalt ausgelöst, die heute schon schwer vorhersehbar seien. Wenn die Klimaveränderungen etwa in 30 bis 40 Jahren da sind, seien diese „nicht mehr veränderbar“. Müller: „Wir müssen heute handeln, um morgen Kriege zu verhindern.“ Dies sehe er nirgendwo auf der Welt im Moment.

Die Auswirkungen des Klimawandels, gab Müller zu bedenken, betreffen am meisten die, welche ihn am wenigsten verursachen.

Es gehe nicht allein um die Klimafrage. Vielmehr gehe es um einen Endpunkt einer bestimmten Form wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung.

Michael Müller: „Friedenspolitik muss heute wesentlich weiter als nur die Frage der Abrüstung und der Rüstungskontrolle gefasst werden.“

Die Friedensfrage werde zu einem zutiefst gesellschaftlichen Thema. Mit der Überwindung sozialer Spaltungen und dem Versuch eine globale Umweltkompatibilität zu erreichen. Müller: „Sonst legen wir heute die Wurzeln für Kriege in der Zukunft, deren Tragweite wir gar nicht überschauen können.“

Prof. Peter Brandt (Initiative „Neue Entspannungspolitik jetzt!“) erinnerte daran, dass durchaus an ein neues Sicherheitskonzept für alle Staaten gedacht worden sei. Zuletzt auch 1990 („Charta von Paris“. Stattdessen habe die Nato sich ausgeweitet. Brandt: „Russland befindet sich heute in einen

Von links: Michael Müller, Peter Brandt und Bernhard Trautvetter.

territorialen Status wie im 17. Jahrhundert.“ Er gab zu bedenken, dass die Grundlage von Entspannungspolitik mal gewesen sei, sich in den anderen hineinzuversetzen.

Peter Brandt dachte einen „realistischen Pazifismus“ (betreffs einer „defensiven Territorialverteidigung“ der EU) an. Das wiederum kritisierte Andreas Zumach: Setze das nicht einen konkreten Feind, eine potentielle Bedrohung voraus? Brandt betrachte seinen Vorschlag aber als Vorläufer einer europäischen Sicherheitsarchitektur.

Die Kampagne „Abrüsten statt Aufrüsten“, regte Michael Müller an, solle ergänzt werden. Und zwar in der Form, dass das Geld was für die Aufrüstung im Bundeshaushalt geplant ist, für den Klimaschutz ausgegeben wird. Es werde überlegt, im nächsten Jahr einen gemeinsamen der Kirchen, der Friedensbewegung, der Umweltbewegung und Gewerkschaften zu machen – zu Thema Arbeit, Frieden, Klima. Damit solle auf den Zusammenhang dieser Themen aufmerksam gemacht werden. Es komme auf eine breite Basis an: „Sonst haben wir alle keine Chance.“

Moderator Bernhard Trautvetter (Essener Friedensforum) kündigte nach dieser interessanten Tagung an, eine „Essener Erklärung“ auszuarbeiten.

Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose – Klassismus. Andreas Kemper referierte bei der AWO in Dortmund

Von links: Sigri Pettrup, Marian Thöne und Andreas Kemper. Fotos: C. Stille

Hand aufs Herz, lieber LeserInnen: Haben wir uns nicht alle schon einmal über den Namen Kevin lustig gemacht, oder uns bei Auftritten von Cindy aus Marzahn vor Lachen auf die Schenkel geklopft? Nun ja.

„Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“ – dieser Spruch sorgt immer wieder für Lacher und gute Laune. Bestimmt ist er auch nicht (immer) böse gemeint. Und trotzdem befördert er: Klassismus. Warum? Weil er ein Klischee heraufbeschwört und alle Kevins mit abwertender Absicht mindestens in die Schublade „Unterschicht“ steckt. Vielen mag der Begriff „Klassismus“ vielleicht bislang gar nie untergekommen sein. Am vergangenen Donnerstag konnte man sich bei einer interessanten Veranstaltung in den Räumen der AWO in der Klosterstraße schlau machen (lassen). Referent Andreas Kemper kritisierte nicht nur, sondern gab sich als bekannter „Blochianer“ auch hoffnungsvoll, was künftige Veränderungen anbetrifft.

Thema „Klassismus“ im Rahmen des AWO-Projekts „Zukunft mit Herz gestalten!“

Unter dem Titel „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“ – „Klassismus“ war in den Räumen der AWO ein hochinteressanter Vortrag des Publizisten und Soziologen Andreas Kemper aus Münster zu erleben. Und zwar im Rahmen des AWO-Projekts „Zukunft mit Herz gestalten!“

Kemper wurde bekannt durch kritische Publikationen zu antidemokratischen Tendenzen in der AfD.

Was Klassismus ist, hat Andeas Kemper als Arbeiterkind selbst erfahren

Der Begriff „Klassismus“ ist zwar genauso alt wie sein Wortverwandter „Sexismus“, aber noch lange nicht so bekannt. Klassismus bezeichnet Diskriminierung wegen der (tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen) sozialen Herkunft oder des Bildungsstatus. Gewissermaßen geradezu prädestiniert über das Thema zu forschen und zu sprechen ist Andreas Kemper. Er selbst ist nämlich Arbeiterkind und hat „Klassismus“ am eigenen Leibe erlebt. Die Eltern arbeiteten in der Textilindustrie. Kemper hat Philosophie, Pädagogik und Soziologie im Berlin und Münster studiert. Der Titel seiner Magisterarbeit lautet „Möglichkeiten der Bildungspolitik für Arbeiterkinder“. 2003 hat Kemper an der Uni Münster die erste Vollversammlung für studierende Arbeiterkinder ins Leben gerufen und das deutschlandweit erste „Referat für finanziell und strukturell benachteiligte Studierende“ gegründet, informierte Moderator Marian Thöne das Publikum an diesem Abend.

Was Klassismus ausmacht. Kevin-Bashing ist Unterschichtenbashing

Ko-Moderatorin Sigrid Pettrup (Leitung des Projektes „Zukunft mit Herz gestalten“) eröffnete den Abend ihrerseits interaktiv. Sie wollte vom Publikum erfahren, wer schon vom Begriff „Klassismus“ gehört hat. Da kamen doch einige Leute zusammen. Es wurde auch gewusst, dass der Begriff etwas mit Stigmatisierung zu tun hat. Und was fiel den Zuhörern zum Namen Kevin ein? Spontan rief eine Dame: „Der wird nie Bankdirektor. Nie. Vielleicht kriegt er nicht mal ein Konto.“

Sigrid Pettup sprach eine Magisterarbeit der Uni Osnabrück aus dem Jahre 2009 an, zu welcher Grundschullehrerinnen gefragt worden waren: „Nennen Sie Namen, die bei Ihnen Assoziationen zu Verhaltensauffälligkeiten beinhalten.“

Kevin lagen neben Chantalle, Justin und Mandy weit vorn. Wohingegen, so Pettrup, Marie und Hanna stets als ganz freundliche Mädchen gelten, die mitarbeiteten. Ebenso Max und Jakob.

Ein Ergebnis der Studie: Über neunzig Prozent der Grundschullehrerinnen gingen unreflektiert mit den eigenen Vorurteilen um. Sie waren auch der Meinung, aus der Erfahrung heraus bewerten zu können, dass Kinder mit bestimmten Namen eher aus der „Unterschicht“ kommen und weniger leistungsstark sind.

Unterstützend zu diesen Aussagen heftete Marian Thöne entsprechende ausgedruckte Zitate (hauptsächlich der Bildzeitung entnommen) an zwei Tafeln (sh. Fotos).

Was machen also diese Kevins? Ein Herr aus dem Publikum antwortet: „Sie hartzen.“ Ein anderer: „Sie wohnen im Dortmunder Norden. Am besten irgendwo in der Mallinckrodtstraße.“

Über diese Namen zu lachen, wäre okay, so Sigrid Pettrup. Und gestand: „Wir haben da alle schon drüber gelacht. Auch ich. Doch das ist ‚Klassismus‘.“ Pettrup: „Kevin-Bashing ist Unterschichtenbashing.“

Klassismus konstruiert ein „Oben und ein „Unten“

„Klassismus konstruiert ein „Oben“ und ein „Unten“, wobei das ‚Oben‘ alle Ressourcen hat, die Norm dafür vorzugeben, was gut, richtig, wertvoll, erstrebenswert und geschmackvoll ist: demnach sind Kinder aus akademischen Elternhäusern schlauer, Arbeitslose selbst schuld, Ungebildete RassistInnen, eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes ein „Anschub für die Alkohol- und Tabakindustrie“ und Menschen, die gerne pinkfarbene Jogginghosen anziehen, dürfen in dieser Logik aufs Gröbste verspottet werden. Irgendwie scheinen solche Bewertungen normaler zu werden und: machen auch nicht vor der Sozialen Arbeit Halt“, heißt es in der Vorankündigung der Veranstaltung seitens des AWO-Projekts.

Setzt man Menschen auf irgendeine Weise herab, macht sie das krank und löst eine „Gratifikationskrise“ aus

Auf ein Beispiel, das Sigrid Pettrup, empört hatte ging Referent Andreas Kemper eingangs ein. Ein gewisser „Don Alphonso“, ein reicher Erbe und „blühender Antifeminist“ (Kemper) habe lange in einem Blog der FAZ (mittlerweile schreibt er bei der „Welt“) sein Unterschichtenbashing ausleben und mit seinem Reichtum protzen dürfen. Momentan hetze er auch gegen die Klimaaktivistin Greta Thunberg.

Andreas Kemper gab zu bedenken: Herabsetzungen von Menschen auf welche Art auch immer macht krank und laufe letztlich auf eine verkürzte Lebensdauer hinaus. Man spräche von einer Gratifikationskrise. Heißt, wenn Menschen etwas leisten und keine Anerkennung bekommen ist das schlecht. Wenn Menschen ständig etwas leisten und bekommen dafür keine Anerkennung, sei das nicht nur schlecht, sondern zeitige das schlimme Folgen.

Diese Menschen verlören die Lust. Kemper hat das als Schüler selbst erlebt. Er war mit einem guten Zeugnis zur Hauptschule gekommen – „nicht zur Realschule, nicht zum Gymnasium, obwohl das die Noten hergegeben hätten“. Am Ende der fünften Klasse bekam er zwei Briefe. Einen roten Brief, weil er die Hausaufgaben nicht mehr gemacht hatte und einen Brief, dass er auf der falschen Schule sei und lieber zur Realschule wechseln solle.

Kemper: „Wenn ich diesen zweiten Brief nicht bekommen hätte und auf der Hauptschule geblieben wäre und keine Hausaufgaben mehr gemacht hätte, dann wäre ich eben ein typischer Hauptschüler geworden.“ Folgen einer Gratifikationskrise.

Kampagnen bestimmter Medien dienen zur Unterfütterung von Gesetzesänderungen

Lese man abwertende Sätze über bestimmte Menschengruppen in der Zeitung, demotiviere das und mache einen krank.

Solche Kampagnen führten aber eben bestimmte Medien (oft voran die Bildzeitung, der Spiegel übernähme sie), um bestimmten Vorhaben der Politik sozusagen die entsprechende Unterfütterung zu geben. Kemper nannte beispielsweise die kurz vor Gesetzesveränderungen (Druck auf die Arbeitslosen, die angeblich nicht arbeiten wollten) losgetretenen „Faulheitsdebatten“ (womit Arme noch weiter traktiert werden sollten), die eine Abwertung von eh schon benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen darstellten.

Da würden sogar Studien völlig falsch interpretiert. Von der Aussage darin, „Akademikerinnen kriegen keine Kinder mehr“, blieb letztlich nur dieser Satz: „Es ist falsch, dass in diesem Land die sozial schwachen die Kinder kriegen.“

Schließlich sei von der herrschenden Politik das Erziehungsgeld vom einkommensabhängigen Elterngeld abgelöst worden. Die Gutverdiener kämen dabei besser weg, Schlechtverdiener nur einen Sockelbetrag von 300 Euro. Wer Hartz-IV bekommt hat gar nichts davon, denn das Geld wird auf den Hartz-IV-Satz angerechnet (wie beim Kindergeld).

Kemper: „Bevor man geboren wird, ist man schon diskriminiert“

„Auch das ist eben Klassismus“, merkte Andreas Kemper an. „Bevor man geboren wird, ist man schon diskriminiert.“

Thilo Sarrazin und seine wirren, rassistisch tönenden Thesen, seien damals der Grund dafür gewesen, dass sich Andreas Kemper mit der AfD befasst habe. Aus den Sarrazin zustimmenden, entstandenen Netzwerken sei nämlich quasi die AfD entstanden. So kam es, dass Kemper der Erste gewesen ist, welcher ein Buch über die AfD geschrieben hat.

Sarrazin habe sogar in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ gefordert, das Kindergeld komplett abzuschaffen. Ersetzt werden solle es durch eine Pauschale von 50.000 Euro, die aber nur bezahlt werde, an StudentInnen, bei denen gewährleistet ist, dass sie ihre höhere Erbintelligenz an ihre Kinder weitergeben (sic!). Kemper: „Da sind wir dann bei der Rassenhygiene.“ Kemper nennt Sarrazin „Rassist und Klassist“.

Von Klassimus Betroffene haben keine Stimme

Im von der EU vorgeschriebenen Antidiskriminierungsgesetz, dass in Deutschland – “wohl weil es besser klingt“ (Kemper) – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz heiße, suche man nach einem geächteten Begriff „Klassismus“ vergebens. Denn anders als vorangegangen bei bei Diskriminierungen von Frauen, Homosexuellen und Behinderten und Homosexuellen wehre sich niemand gegen erlittenen Klassismus. Die Betroffenen hätten einfach keine Stimme. So stark seien sie diskriminiert, dass sie schlichtweg nichts zu unternehmen imstande sind.

Als Kemper das Referat für Arbeiterkinder gründete, wurde er stark angefeindet

Immerhin, so Andreas Kemper, habe er den Versuch unternommen das für Arbeiterkinder zu unternehmen, was Feministinnen für Frauenrechte getan hätten. Er gründete das Referat für Arbeiterkinder. Dafür sei er dermaßen massiv angegriffen worden, dass er irgendwann habe den Staatsanwalt einschalten müssen. Einige Medien hätten sich immerhin für Kempers Engagement gegen Klassismus interessiert. Sie kamen nach Münster, interviewten Andreas Kemper. Gesendet indes wurde nie etwas. Die zuständige Redakteure sorgten dafür. Die Tagesthemen hätten immerhin berichtet und gesendet. Befragt hatten sie jedoch Studenten im Juridicum der Uni Münster, ausgerechnet da, wo die konservativsten Studierenden anzutreffen seien. Die beschieden dem Projekt Kempers: „Geldverschwendung. Antiquiert.“

Wie etwas ändern?

Auch Wahlen oder Volksentscheide (wie z.B. in Hamburg: Elterninitiative gegen die Einführung der sechsjährigen Primarschule für alle Kinder; die obsiegte) könnten, wies Andreas Kemper nach, an der Benachteiligung von Kindern oder auch von Klassismus-Betroffenen nichts ändern. Den Arme gingen kaum noch zu den Urnen. Sie hätten enttäuscht von der Politik aufgegeben. Die Wohlhabenden dagegen gingen stets in großer Zahl wählen. Und habe jemand es aus der Arbeiter- oder Unterschicht dann doch einmal zu einem brillanten Universitätsabschluss gebracht, schlage dann doch wieder der Klassismus zu. Beispiel: Von zwei Doktorandinnen mit gleich brillanten Doktorarbeiten sei letztlich eine mit Namen Habermas (verwand mit dem berühmten Philosophen Jürgen Habermas) bevorzugt worden.

Warum sich nichts ändert

Als großes Manko bezeichnete Andreas Kemper auch, dass in den Medien fast ausschließlich Akademiker mit dementsprechendem Stallgeruch tätig seien. Dementsprechend geprägt seien deren Berichte und Artikel.

Anderseits gab Kemper zu bedenken, dass viele Akademikerinnen von ihren Kindern erwarteten, dass auch sie eine akademische Laufbahn einschlagen. So manches Kind wolle das gar nicht. Da werde ein immenser Druck auf die Sprösslinge aufgebaut.

Zugang von Kindern zu Literatur ist wichtig, weiß Andreas Kemper aus eigener Erfahrung

Wichtig sei der Zugang von Kindern zu Literatur. In vielen Haushalten von Arbeiterkindern gebe es gar keine oder nur wenig Bücher. Hier spielten die Stadteilbibliotheken eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das weiß Kemper aus eigener Kindheitserfahrung.

Als ebenfalls wichtig und dringend nötig mahnte Kemper eine Reform des bundesdeutschen Schulsystems an. Das dreigliedrige Schulsystem mit früher Aussortierung von Kindern kritisiert er und fragt: Warum nimmt man sich nicht ein Beispiel am finnischen oder kanadischen Bildungssystem?

Das Prinzip Hoffnung

Andreas Kemper, der sich als „Blochianer“ sieht (nach dem Hauptwerk von Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“), hofft durchaus auf positive Veränderungen.

Am ehesten, meinte er, könnten diese durch eine erneuerte SPD (nicht nur betreffs des an diesem Abend besprochenen Themas) ins Werk setzen. Vorausgesetzt, die SPD sei glaubwürdig. Was wiederum bedinge, dass sie sich für gemachte Fehler glaubhaft entschuldige.

Warum uns die AWO-Reihe „Zukunft mit Herz“ gestalten alle angeht

Warum die Veranstaltungen uns also alle angehen? „Wir alle haben unseren sozialen Hintergrund und immer mit Menschen zu tun, die andere Werte, Lebensziele, Lebensstile, d.h. auch: Vorlieben, Frisuren, Wohnungseinrichtungen, Kleidungsstile, Einschränkungen und Möglichkeiten haben“ so Sigrid Pettrup, Leitung des Projektes „Zukunft mit Herz gestalten“, aber wer geht hier eigentlich wie selbstbewusst mit wem um? Wie sieht die mediale Inszenierung unserer kulturell vielfältigen Gesellschaft aus? Welche Rolle spielen Vorurteile, Klischees auf der einen Seite und Macht und Ressourcenverteilung auf der anderen?“

Und warum müssen es ausgerechnet RechtspopulistInnen sein, die unfreiwillig daran erinnern, dass wir in den letzten Jahrzehnten klassistische Ausgrenzungen einfach irgendwie auch…ähm mitgemacht haben?

Berliner Sozialkünstlergruppe hinter der Artikel-20-GG-Goldstele bereitet ihren nächsten Coup vor

Sie erinnern sich, liebe LeserInnen? Die Künstlergruppe im Verein zur Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen hatte am 18. Mai 2019 eine 3 m hohe, 350 kg schwere Buchenstele direkt neben der Stelenskulptur “Grundgesetz 49” des israelischen Künstlers Dani Caravan errichtet, das die Menschenrechtsgrundrechte der Art. 1-19 GG zeigt.

In die Stele war in einjähriger händischer Kleinarbeit der Text des Art. 20 GG, der unter anderem festschreibt, dass Deutschland eine Demokratie ist (“Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus”) öffentlich eingeschnitzt und dann mit Blattgold überzogen worden. Mit der Aktion wollten die Künstler ein Zeichen setzen gegen Wirtschaftslobbyismus und demokratieferne, totalitäre Kräfte in Politik und Gesetzgebung.

„Staatstrojaner, Privatisierungen, Kriegseinsätze im Ausland, TTIP/CETA etc. höhlen Individualgrundrechte aus und unterminieren das Sozialstaats-, das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip. Das ist gegen die Interessen der Bürger und gegen die Verfassung. Demokratie und Grundrechtsschutz funktionieren auf Dauer nur, wenn die Staatsbürger ihre Interessen selbst vertreten können, wenn sie selbst über ihre Geschicke entscheiden.“ (Das Künstlerkollektiv).

Die ungenehmigte Stele war von der Polizei in der Nacht des 19.05.2019 wieder entfernt worden. “Grundrechtseingriffe werden wie Lobbygesetze inzwischen hinter verschlossenen Türen beschlossen. Und genauso hat die Polizei die Stele im Schutze der Nacht entfernt, blitzschnell” (Die Künstler).

Ich berichtete über die Aktion.

Nun macht die Künstlergruppe einen neuen Anlauf:

Pressemitteilung:

Wie sehr lieben Sie das Grundgesetz? Künstlergruppe macht den Praxistest.

Die Berliner Sozialkünstlergruppe hinter der Artikel 20 GG-Goldstele am Reichstagsufer bereitet ihren nächsten Coup vor. Am 3. Oktober 2019 soll die Stele, auf der unter anderem „Gegen jeden, der es unternimmt, die grundgesetzliche Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum

Die Stele seinerzeit am Reichstag aufgestellt. Foto:Verfassungsblog

Widerstand” in goldenen Lettern prangt, an gleicher Stelle – offiziell ungenehmigt – erneut aufgerichtet werden.

In einem offenen Brief an Herrn Schäuble, den obersten Polizeichef und zugleich Hausherrn des Bundestages, haben die Künstler ihre neue Aktion angekündigt und die Frage gestellt, ob er ihr “Eintreten für den Erhalt und die Wiederaufrichtung der Prinzipien unserer Republik unterstützen wolle, ob er Recht statt Gesetz und bürgerliches Engagement auch dann gelten lassen wolle, wenn es sich gegen behördlichen Unwillen und vor allem gegen grundgesetzwidrige staatliche Entwicklungen stellt”.

Mit dem Brief wollen die Künstler in eine öffentliche Diskussion über den Zustand unserer Demokratie eintreten. Zu den 55 Erstunterzeichnern zählen die Schriftstellerin Daniela Dahn, die Kabarettisten Anny Hartmann, Arnulf Rating und Volker Pispers, der DDR-Bürgerrechtler Hans-Jürgen Fischbeck.

Wer auch wichtig findet, dass dem Grundgesetz wieder Geltung verschafft wird und neben den Erstunterzeichnern seine Stimme erheben möchte, kann den Brief hier zeichnen:
http://deine-verfassung.de/index5-Unterschreiben.htm

Wer den weiteren Verlauf der Kunstinstallation und Auseinandersetzung nach dem Motto „Soziale Plastik mit Auswirkung in Betonköpfe“ verfolgen will, findet hier Aktuelles: http://deine-verfassung.de/index4-Aktuelles.htm

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Mehr Infos zur Aktion unter www.deine-verfassung.de und zum Verein zur Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen unter www.artikel20gg.de.

Projekt unter Leitung von Dr. Sebastian Kurtenbach und Mirza Demirovic´ erforschte die Lebensbediungen von Roma in Plowdiw-Stolipinowo

Dr. Sebastian Kurtenbach. Archivfoto: Stille

Im April 2019 weilte eine Seminargruppe des B.A. (Bachelor of Arts) Studiengangs Soziale Arbeit an der FH Münster, zur Feldforschung in Plowdiw-Stolipinowo. Geleitet wurde der Aufenthalt in Bulgarien von Dr. Sebastian Kurtenbach und Mirza Demirović. Auf diese Zeit haben sie sich ein halbes Jahr intensiv vorbereitet. Geforscht wurde in drei Themengruppen zu Familie, Diskriminierung und Armut in einem der größten mehrheitlich von Roma bewohnten Stadtteil der Europäischen Union.

Auf ihren Blog „Transnationaler Raum – Fieldwork Polviv-Stolipinovo 2019“ heißt es:

„Durch diesen Blog wollen wir einerseits Eindrücke unserer Feldphase und andererseits Ergebnisse unserer Forschung einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Dazu haben wir während der Feldforschungsphase im April 2019 regelmäßig aus Plowdiw berichtet, wozu Eindrücke aus dem Feld, Reflexionen zur Forschungserfahrungen und Gedanken zu unterschiedlichen Themen gehören. Ab Herbst 2019 stehen dann auch unsere Ergebnisse zum Download zur Verfügung.“

Im Rahmen des Roma Kulturfestivals „Djelem Djelem“ wurde kürzlich in Dortmund über die vorliegende Arbeit berichtet

Vom 3. bis 13. April 2019 befanden sich 15 Studierende der FH Münster im Rahmen eines Forschungsprojekts in Plowdiw, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Sie erforschten unter der Leitung von Dr. Sebastian Kurtenbach und Mirza Demirović die Lebensbedingungen von Roma im Vorort Stolipinowo. Das ForscherInnenteam forschte in drei Themengruppen zu Familie, Diskriminierung und Armut. Die Ergebnisse der Feldstudien wurden vergangene Woche im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund im Rahmen des Roma Kulturfestivals „Djelem Djelem“ zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Im Anschluss bestand die Möglichkeit mit Jugendlichen aus Plowdiw ins Gespräch zu kommen, die gemeinsam mit Jugendlichen aus Dortmund ihr transnationales Radioprojekt „Radio Plovmund“ unter dem Titel „Geschichten einer Jugendbewegung“ multimedial vorstellten.

Dortmund, speziell die Dortmunder Nordstadt, steht in vielfältiger Beziehung zu Stolipinowo. Denn in dort sind neben rumänischen Bürgern auch bulgarische Bürger ansässig geworden bzw. halten sich sporadisch dort auf, um Geld zu verdienen, das sie ihren Familien in beiden Ländern schicken. Unter ihnen befinden sich auch Roma.

Mirza Demirovic. Foto (bearbeitet) Klaus Hartmann.

Mirza Demirović, der die Gruppe Diskriminierung in der Feldforschungsarbeit leitete, regte an mehr über transnationale Zusammenhänge – besonders mit den Schulen – zu sprechen. Auch hält er einen regen Austausch zwischen beiden Städten für unverzichtbar. In Sachen Teilhabe findet er, müsse ebenfalls noch mehr geschehen.

Das sei um so wichtiger, da Demirović in Plowdiw aufgefallen sei, dass Dortmunder Rechte nach dorthin vernetzt sind und auch ab und an dort auftauchen und sich mit bulgarischen Rechten treffen. Die Sozial- und Aufklärungsarbeit, regte er an, müsse unbedingt ernster genommen und dementsprechend intensiviert werden.

Plowdiw ist Kulturhauptstadt des Jahres 2019

Der Fernsehkanal Arte zu seinem Video:

„In der Bewerbung plante Plovdiv noch seine bedeutende Roma-Minderheit in zahlreiche Projekte einzubinden und ein gesellschaftsschichten-übergreifendes Programm als Europäische Kulturhauptstadt 2019 anzubieten. Viel ist davon nicht realisiert worden. Kritiker und ehemalige Projektpartner sprechen gar von einer verpassten Chance.“

Diese Feststellung machte auch die Forschungsgruppe aus Deutschland vor Ort. Viele Roma, hieß es, wüssten nicht einmal, dass Plowdiw Kulturhauptstadt Europas ist, geschweige denn, dass sie Kenntnis über die im Rahmen dessen stattfindenden Veranstaltungen in der Altstadt besäßen. Stadtobere Plowdiws sagen allerdings etwas anderes. Jedoch die Realität sieht offenbar anders aus. Nach wie vor haben die Roma (wie leider überall) auch in ihre Heimat mit vielen Vorurteilen, Diskriminierung und sogar mit Gewalt gegen sie zu kämpfen. Die Roma wissen, sie sind eigentlich nur gefragt, wenn mal wieder Wahlen anstehen. Dann verspreche man ihnen das Blaue vom Himmel.

Hinweis 1: Zur erwähnten Feldstudie und den Einzelheiten des damit verbundenen Besuchs der Seminar Studiengangs Soziale Arbeit an der FH Münster lesen sie alles auf dem eigens eingerichteten Blog.

Hinweis 2: Ein Beitrag der Nordstadtblogger über den Besuch einer Delegation der Stadt Dortmund in Plowdiw finden Sie hier.

Hinweis 3: Weitere Beiträge im Zusammenhang mit Roma finden Sie hier und hier.

Beitragsbild: via Blog „Transnationaler Raum – Fieldwork Plovdiv-Stolipinovo 2019.

Smart City und 5G, eine tolle Sache? Interview mit Peter Hensinger zum 5G-Projekt Analysen zur digitalen Transformation

Digitalisierung, jedes Funkloch schließen, 5G an jeder Milchkanne, zu diesem beherrschenden Thema in der Politik, der digitalen Transformation der Gesellschaft, hat Peter Hensinger in der neuen Broschüre „Smart City- und 5G-Hype. Kommunalpolitik zwischen Konzerninteressen, Technologiegläubigkeit und ökologischer Verantwortung“ den Hauptartikel verfasst. Weitere Autoren sind Jürgen Merks (BUND Stuttgart) und der Informatiker Werner Meixner (TU-München).

Was war Deine Motivation, zu den kommunalpolitischen Auswirkungen der Digitalisierung diese Broschüre herauszugeben?

Peter Hensinger: Ich wollte eine Analyse vorlegen, auch für die weitere Arbeit des AK Digitalisierung im BUND Stuttgart und von diagnose:funk, wo ich in den Vorständen bin, weil ich im BUND und vor allem in der Kommunalpolitik merkte, dass selbst fortschrittlichen KollegInnen und StadträtInnen unklar ist, was die Ursachen und Folgen der digitalen Transformation der Städte und des ganzen Landes sind. Und warum dies ein Schwerpunkt der Bundesregierung ist. Als der grüne Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn verkündete, dass jetzt endlich die Infrastruktur für die Smart City Stuttgart gebaut wird und jeder Haushalt schnelles Internet bekomme, da gab es bis auf wenige Ausnahmen nur begeisterte Zustimmung. Bei dem Motto „Mehr Tempo bei der Digitalisierung“, ein Ohrwurm, ob Tagesschau, Stuttgarter Zeitung, Grüne, CDU, SPD, FDP, da sind sich alle einig. Ja, fast mystisch ist es: die Digitalisierung sei der Schlüssel zur Lösung aller Probleme, quasi der Fortschritt an sich. So antwortete der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) auf der Einwohnerversammlung Stuttgart-West auf meine Kritik, Stuttgart brauche 5G wegen der Autoindustrie und der Arbeitsplätze. Der alte Kaiserspruch gilt in der Version 4.0: Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Digitalisierer. Was geschieht aber in Wirklichkeit? Ganz simpel, es geht um Wachstum und Profit. Die Industrie baut mit Hilfe der Regierung das ganze Land um, zum Absatzmarkt für neue Produkte. Milliarden neue Geräte des Internets der Dinge und v.a. das autonome Fahren brauchen eine neue Infrastruktur, nämlich Breitband und 5G. Alles Geschwätz von Digitalisierung und Fortschritt ist die Begleitmusik, die davon ablenkt, dass es ums Verkaufen geht, um das Ankurbeln des Binnenmarktes. Wachstum, Wachstum, Wachstum, dafür wird digitalisiert.

Dass es bei der Digitalisierung auch um Profite geht, das ist ja nichts überraschend Neues!

Peter Hensinger: Ja klar. Aber die Qualität ist neu. Die letzten 100 Jahre waren davon geprägt, dass Staat und Industrie die Infrastruktur für den Siegeszug des Autos bauten, Städte wurden dafür verschandelt, die Landschaft mit Straßen versiegelt. Damals hieß es: das Auto ist die neue Freiheit. Es gab eine Komplizenschaft zwischen Industrie, Staat und Verbraucher, die die Automobilideologie verinnerlichte. Das Automobil wurde zum Statussymbol, unhinterfragt. Das ging in die Gene über. Ich habe das hautnah erlebt, mein Vater arbeitete seit 1925 beim Daimler. Selbstverständlich bekam ich mit 18 einen Brezel-VW mit 34 PS. Wer machte sich in der 60er Jahren Gedanken über die Folgen der Automobilisierung? Neben den Vorzügen des Autos kennen wir heute seine katastrophalen Folgen für die Umwelt und das Klima. Wir erleben jetzt eine Fortsetzung, auf neuer Stufe. Wurden für das Auto die Rohstoffe in der ganzen Welt geraubt, ja sogar Kriege ums Öl geführt, so haben wir jetzt einen doppelten Rohstoffraubzug. Einerseits ungeheure Mengen an Rohstoffen und Energie für Milliarden digitaler Geräte, das analysiert Jürgen Merks vom BUND in der Broschüre, und zum zweiten basiert v.a. die Geschäftsgrundlage der IT-Industrie auf dem neuen Rohstoff, den Daten. Daten über das Verhalten und Denken der Menschen. Das ist eine neue, zusätzliche Ausbeutung. Das analysiert der IT-Dozent Werner Meixner in seinem Beitrag. Die Digitalisierung als Geschäftsmodell der Industrie ist nicht nur ein Klima-, sondern auch ein Demokratiekiller. Wir laufen Gefahr, dieselben verhängnisvollen Fehler zu machen, die bei der Automobilisierung gemacht wurden. Es gibt keine Technikfolgenabschätzung, präzise ausgedrückt mit „Digital First. Bedenken Second“. Das weist die Broschüre anhand von Fakten nach.

Was verändert sich derzeit am Kapitalismus?

Peter Hensinger: Nichts bleibt wie es ist. Ich schließe mich der Analyse von Shoshana Zuboff in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ an: wir erleben die Weiterentwicklung zum Überwachungskapitalismus. Erst die neue digitale Technik erlaubt es, lückenlos das Verhalten und Denken der Menschen zu erfassen. Die Google- und Facebook-Kapitalisten haben dies als Geschäftsmodell perfektioniert und sich dadurch zu beherrschenden Monopolen entwickelt. Ihre Entdeckung, dass der Rückkanal dazu genutzt werden kann, Verhalten zu speichern und zur Ware zu machen, führte zu einer neuen Marktmacht. Denn diese Daten können alle gebrauchen. Sie handeln mit den digitalen Profilen. Das ist ein Raubzug, der die Privatsphäre der Menschen ausbeutet. Und niemand konnte sich vor 20 Jahren vorstellen, warum digitale Zwillinge so wertvoll sind. Wie Jaron Lanier es ausdrückte, ein gigantisches System der Verhaltensmodifikation konnte damit entwickelt werden. Verhalten wird berechenbar und voraussagbar, ideal für personalisierte Werbung und die Konditionierung für den Konsumrausch. Diese Mechanismen beschreibt die Broschüre. Und natürlich wurde dies von Anfang an von den Geheimdiensten massiv finanziert. Bequemer kommen sie nicht an unser Denken, können Widerstandsbewegungen einschätzen, unerwünschte Bewegungen verhindern.

Das sind ja bittere Erkenntnisse, vor allem, weil wir alle, z.B. die Piraten, dachten, mit dem Internet ergeben sich völlig neue Möglichkeiten der Demokratie und Transparenz.

Peter Hensinger: Ja, wir haben die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt. Der Überwachungskapitalismus und seine Leitkonzerne, die BigFive, durchdringen alles Lebensbereiche nach demselben Muster. Die Nutzer sollen abhängig vom Smartphone und von Social Media gemacht werden und liefern dann freiwillig ihre Daten. Das war beabsichtigt, so wurde programmiert. Angesichts der verheerenden Folgen haben sich in der New York Times viele Entwickler des Internets und von Facebook jetzt sogar entschuldigt. Auch wird in der Broschüre analysiert, welche Rolle die „Digitale Bildung“ im Konditionierungs- und Überwachungssystem spielen soll, insbesondere zentrale Schulclouds, eine der gefährlichsten Entwicklungen.

Wie haben sie BigFive es geschafft, 95% der Menschen für das Produkt Smartphone zu begeistern?

Peter Hensinger: Ja, werbetechnisch genial, wie die Produkte vermarktet werden, wie es die Industrie in kurzer Zeit erreichte, die Gesellschaft von ihren Produkten abhängig zu machen. Die Sucht blendet. Wie einst das Auto zum Statussymbol, zum „Narrativ der Moderne“ wurde, Freiheit, Eigenheim und scheinbar unabhängiges Leben, wird heute die Digitalisierung zum Narrativ des Fortschritts gemacht. Das Narrativ, die Erzählung „Digitalisierung“, transportiert Werte und Normen, die alternativlos erscheinen. Kritik wird per se als Rückschrittlichkeit stigmatisiert. Die Märchenonkels sind Politiker und Mietmäuler in den Leitmedien. Warum diese Ideologie verfängt, das analysiere ich in dem Artikel „Die Ideologie der Digitalisierung“ in der Broschüre. Digitalisierung wird zum Religionsersatz, BigData ermöglicht den neuen, allwissenden Gott, der über unfehlbare Algorithmen Schicksale lenkt. Die Komplizenschaft zwischen Industrie, Staat und Nutzer, die Produktbindung, hat eine neue Dimension. Die Bindung wird durch das Triggern von Suchtmechanismen hergestellt. Die Macher geben es heute offen zu. Sie haben dieselben psychologischen Tricks angewendet, die die Scientologen nutzen. Ein Traum für die Hersteller: der Kunde ist süchtig nach dem Smartphone, nach Social Media, nach dem nächsten K(l)ick. Ideal, um den Willen auszuschalten und zu manipulieren.

Du appellierst, dass der Widerstand in den Kommunen organisiert werden muss? Warum dort?

Peter Hensinger: Wir erleben gerade einen verdeckten Großangriff auf demokratische Strukturen. Mit Smart City ist die datengesteuerte, total überwachte Stadt gemeint. Allein für die Region Stuttgart sollen dafür mehr als zwei Milliarden Euro investiert werden. Für den Ausbau dieser Infrastruktur soll die Telekom das Monopol bekommen. Mit nur einer Woche Bedenkzeit sollte das Projekt im Gemeinderat durchgedrückt werden. Die hochsensiblen Glasfasernetze für die Datenkommunikation über das Internet gehören zur Daseinsvorsorge und gehören deshalb nicht in die Hand von Monopolen wie der Telekom. Verkauft wird die SmartCity mit dem Köder: schnelles Internet für Alle, in Wirklichkeit ist es eine Infrastruktur zur Überwachung und Konditionierung. Es ist ein Wolf im Schafspelz! Denn mit der Smart City werden die Städte von Orten kommunaler Demokratie zu total überwachten Zonen umgebaut. Das Ziel: von jedem Bürger in Echtzeit immer zu wissen, wo er sich befindet und was er tut. Für diese totalitäre Planung bekam die Smart City von Digitalcourage e.V. den BigBrother Award 2018. Die Politik ignoriert die Preisverleihung, das ist bezeichnend! Die Gemeinderäte müssen fordern, dass die sensiblen Netze unter ihrer Kontrolle betrieben werden. In der Kommunalpolitik kann man sich hautnah einmischen, das machen wir in Stuttgart. Das hat dazu geführt, dass in vielen Gremien die Pläne der Stadt in Frage gestellt werden.

Ist es überhaupt realistisch, dass bei uns Kontrollsysteme wie sie China mit dem Sozialkreditsystem einführt, genehmigt werden?

Peter Hensinger: Manche sagen, es wird nicht so heiß gegessen wie es von den Kritikern an die Wand gemalt wird. Das ist naiv! Der gläserne Bürger ist ausdrücklich das Grundprinzip der SmartCity, seine DNA, das wird in der gesamten Literatur als selbstverständlich angesehen. Man will ihm ja Gutes! Die derzeitige Datenschutzdebatte ist eine Heuchelei. Für die großen Datenhändler gilt Datenschutz nicht, für die Geheimdienste auch nicht, und für die BigFive ist der Datenklau die Geschäftsgrundlage. Das Recht, Daten für digitale Zwillinge auch im europäischen Raum zu sammeln, wurde für sie von der Bundesregierung 2015 in Brüssel durchgesetzt. Darauf basiert auch die Smart City. Alle BürgerInnen, auch Kinder und Jugendliche, müssen zu jeder Zeit mit dem Smartphone online sein, damit sie im Netz der Stadt identifizierbar sind. Das wird de Facto bereits schrittweise durchgesetzt. Ohne Smartphone wird man in der Smart City keinen ÖPNV nutzen, kein Fahrrad oder CartoGo ausleihen, nicht am Schulunterricht teilnehmen, keine Bezahlvorgänge mehr erledigen können, ohne ein Smartphone wird man vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sein. Das Smartphone ist der Personal Big Brother. Ein Gedankenspiel: hätten wir 1980 in der Zeitung gelesen, der Staatsrat der DDR habe angeordnet, dass jeder Bürger sein „Fonomobil“ vom VEB Robotron zur Identifizierung immer angeschaltet bei sich tragen muss, wir wären empört über den Stasistaat gewesen. Was sich wie Science Fiction oder chinesische Zustände anhört, soll nun schnell verwirklicht werden. Chinesische Zustände auch bei uns, alles Panik? Nein, der deutsche Sachverständigenrat für Verbraucherfragen meint, „dass die Entwicklung in China für Deutschland, wenn auch mit Verzögerung, direkt relevant werden könnte.“ Das belegt die Broschüre anhand offizieller Planungen und Handbücher. Sie reflektiert auch die Methoden, mit denen in einem Handbuch Bürgermeistern geraten wird, Smart City Kritiker einzubinden und lahmzulegen. Und wie jetzt schon die positivistische Tendenz aufkommt, die Digitalisierung hinzunehmen und nur noch kritisch zu begleiten.

Dein Spezialgebiet bei diagnose:funk ist die Forschungsaufarbeitung zur Mobilfunkstrahlung, da seid ihr ja bei 5G herausgefordert, mehr als 600 000 neue Sendemasten sollen gebaut werden!

Peter Hensinger: Die Elektrosmogverseuchung ist sozusagen eine Begleiterscheinung des Überwachungskapitalismus, eine heftige Nebenwirkung. Tausende neue Mobilfunksender zum Datenaustausch werden Stadt und Land mit Elektrosmog verseuchen. „5G ist Russisch Roulette“ – so warnen aktuell zwei US-Radiologen in einem Brandbrief im International Journal of Radiation Oncology. Es gibt fünf Untersuchungen zu 5G mit besorgniserregenden Ergebnissen: Mikrowellenstrahlung im Millimeterwellenbereich – in dem das hochfrequente 5G arbeiten soll, also 27 GHz und 60 GHz, koppelt sich über Hautdrüsen in den Organismus ein, mit unkalkulierbaren Risiken. Wissenschaftler fordern einen Ausbaustopp. Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestages teilte dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit, dass eine Technikfolgenabschätzung zu 5G frühestens im Jahr 2020 vorliegen wird – dann, wenn alle Frequenzen versteigert sind und die Technik bereits in der Anwendung ist. Dann ist es „alternativlos und unumkehrbar“. Würde ein Medikament eingeführt, ohne die Folgen zu testen? Die gesundheitsschädigenden Folgen von 5G sind aber jetzt schon bekannt! Ich bin froh, dass angesichts dieser Entwicklung die Bundesdelegiertenversammlung des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) am 18.11.2018 einen Forderungskatalog verabschiedet hat, in dem von der Bundesregierung eine Vorsorge- und Schutzpolitik vor elektromagnetischen Feldern gefordert wird.

Wie kann diese Entwicklung zu einem neuen Totalitarismus verhindert werden? Warum gibt es nicht den Widerstand, wie z.B. gegen die Volkszählung 1987, die ja völlig harmlos dagegen war?

Peter Hensinger: Es braucht den Widerstand von unten. Überall sollten sich Aktionseinheiten bilden, oder Arbeitskreise, so wie wir es mit dem AK Digitalisierung im BUND in Stuttgart gemacht haben. Zuallererst muss die Bevölkerung aufgeklärt werden. Von diagnose:funk haben wir einen Flyer herausgegeben. Die Menschen wissen noch zu wenig, was auf sie zu kommt, und hängen oft schon in der digitalen Falle. Unsere Aufklärung muss begreiflich machen, was die digitale Transformation der Gesellschaft bedeutet. Es ist eigentlich nicht kompliziert. Geplant wird der Umbau der Städte für neue digitale Geschäftsmodelle der Industrie, die Installation eines Überwachungskapitalismus zur Werbung, Konsumorientierung und zur politischen Kontrolle und Manipulation. Dafür wird die Privatsphäre, bisher ein Grundpfeiler der Demokratie, geopfert. Übrigens hat die digitale Vernetzung auch eine immense militärische Bedeutung. Die Folgen machen klar: wer für Demokratie, für eine ökologische Politik ist, gegen die Klimakatastrophe kämpft, muss diese Smart City Pläne ablehnen. Die Broschüre soll dazu beitragen, dass sich BürgerInnen dieser Entwicklung bewusst werden, erst dann können sie aktiv werden. Die Kommune ist der Ort, wo der Protest gegen 5G und Smart City praktisch organisiert werden muss! Die Harvard Professorin Shoshana Zuboff fordert eine soziale Revolte. Ich möchte die LeserInnen auffordern: Sprechen Sie über diese Entwicklung im BUND, NaBu, den Naturfreunden, in Vereinen, Kirchengemeinden, Gewerkschaften und im Freundeskreis. Schreiben Sie Leserbriefe, fordern Sie die Abgeordneten Ihres Wahlkreises und Ihre GemeinderätInnen vor Ort auf, Stellung zu beziehen. Die Broschüre liefert dafür Argumente.

Hinweis: Das Interview mit Peter Hensinger führte Peter Rath-Sangkhakorn (pad-Verlag)

Neuerscheinung

Peter Hensinger / Jürgen Merks / Werner Meixner

Smart City- und 5G-Hype Kommunalpolitik zwischen Konzerninteressen, Technologiegläubigkeit und ökologischer Verantwortung

88 Seiten, 6 Euro*

Mit „innovativen Technologien“ sollen unsere Städte nachhaltiger, effizienter und liebenswerter gemacht werden und der 5G-Mobilfunkstandard soll auch „an jeder Milchkanne“ verfügbar werden. Die Beiträge der vorliegenden Broschüre entlarven, wie Technik zum neuen Heilsbringer verklärt und gesundheitliche und entdemokratisierende Folgen dieser totalen Digitalisierung nur Konzerninteressen dienen und den Weg in eine digitale Leibeigenschaft ebnen.

Die totale Digitalisierung ist nicht nur ein neuer Billionen Euro Wachstums2markt. Milliarden Geräte des Internets der Dinge im Smart Home, Milliarden Video-Sensoren und 5G Sendeanlagen werden national und international vernetzt, um alle Lebensvorgänge zu speichern, auszuwerten und zu steuern.

Die Folgen analysieren Peter Hensinger und Werner Meixner. Jürgen Merks weist nach, dass der Ressourcen- und Energieverbrauch für ihren Betrieb die Klimakatastrophe beschleunigen wird. Millionen neue 5G-Sendeanlagen werden jeden Winkel mit Elektrosmog belasten.

Die Beiträge der vorliegenden Broschüre lüften die Nebelschwaden etablierter Digitalpolitik und entlarven mit welchen psychologischen Tricks und welcher Ideologie diese antidemokratische und umweltzerstörende Entwicklung als Fortschritt und Hype vermarktet wird. Ihre Empfehlung: „Nachdenken first!“

INHALT: Der Smart City und 5 G-Hype. Kommunalpolitik zwischen Konzerninteressen, Technologiegläubigkeit und ökologischer Verantwortung (Peter Hensinger) / Digital first – Klima Second. Energieschleuder Smart City (Jürgen Merks) / Die Ideologie der Digitalisierung. Auf dem Weg ins Digital: der Hype der digitalen Selbstentmündigung und einige Auswirkungen auf die Psyche (Peter Hensinger) / Wollt Ihr die totale Digitalisierung? (Interview mit Werner Meixner)

* Staffelpreise bei Direktbestellung: ab 5 Expl. 5.– € /St. / ab 10 Expl. 4.50 € /St. pad-Verlag – Am Schlehdorn 6 – 59192 Bergkamen / pad-verlag@gmx.net

#AlleFuersKlima: 12.000 Menschen – Alt und Jung – demonstrierten in Dortmund für Klimagerechtigkeit

12.000 Menschen für Klimagerechtigkeit auf dem Dortmunder Friedensplatz. Fotos: C. Stille

Global gingen am gestrigen Freitag Millionen Menschen in einen Klimastreik. In Dortmund setzten Jung und Alt ein grandioses Zeichen für den Klimaschutz. Nach Angaben von „Fridays for Future“ Dortmund nahmen 12.000, nach Polizeiangaben 9.000 Menschen, an der beeindruckenden Veranstaltung auf dem Friedensplatz und in der Innenstadt teil. Vom Friedensplatz aus starteten zwei Blöcke in zwei verschiedene Richtungen zu einem Marsch ins Zentrum. Der Kinderblock verblieb auf dem Friedensplatz. Unterwegs gab es verschiedene Aktionen. So bildete sich beim Zusammentreffen der beiden Blöcke in Höhe Reinoldikirche/Kleppingstraße eine gigantische Menschenkette um den halben Wall und es gab einen Sitzstreik. Gefordert wurden nachhaltige Maßnahmen für den Klimaschutz. Das am selben Tag von der Bundesregierung beschlossene Klimapaket, hieß es, sei völlig mutlos und zeige, dass es künftig noch mehr Druck von der Fridays-For-Future-Bewegung auf die Politik brauche.

Auftakt für den Klimastreik war ein ökumenisches Gebet vor St. Reinoldi

Präses Annette Kurschus nannte das Gebet: „Ein starkes Zeichen!“ Mit gemeinsamem Gebet gaben die christlichen Kirchen in Dortmund am Freitag

20.09.2019 Dortmund City – Friday for future Aktion in Dortmund – Christians for future mit Praeses Kurschuss vor der Reinoldikirche – Christen – Kirchen Copyright Stephan Schuetze

den Auftakt zu den Aktionen des ‚Klimastreiks‘. Vor der Stadtkirche St. Reinoldi trafen sich mehrere hundert Christinnen und Christen zum ‚An-Denken‘ und Innehalten, bevor auch sie zum Friedensplatz zogen, um gemeinsam mit mehreren tausend Dortmunderinnen und Dortmundern für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit zu demonstrieren. Dort, vor dem Dortmunder Rathaus, begann anschließend die zentrale Kundgebung zum ‚Klimastreik‘, zu der die Bewegung ‚Fridays for Future‘ aufgerufen hatte. Mit dabei bei Gebet und Demonstration war die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Dr. Annette Kurschus. Vor St. Reinoldi appellierte sie eindringlich an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, jetzt Verantwortung für die Lebensgrundlagen kommender Generationen zu übernehmen und wirksame Entscheidungen für den Klimaschutz zu treffen. Gemeinsam mit Präses Kurschus gestalteten die evangelischen Pfarrer/innen Friedrich Stiller (Umweltbeauftragter des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund), Sandra und Friedrich Laker (Ev. Lydiagemeinde/Pauluskirche, ‚Christians for Future‘) sowie der stellvertretende katholische Stadtdechant Ansgar Schocke den ökumenischen Auftakt vor St. Reinoldi. Ein Bläserkreis unterstützte die gemeinsame Aktion musikalisch. Er spielte Lieder, in die die spontane Gemeinde vor St. Reinoldi einstimmte. Der Evangelische Kirchenkreis Dortmund hatte wie auch die Katholische Stadtkirche zur Teilnahme am Klimastreik und zur Unterstützung der Anliegen von

Die Band Waveland Gang sorgte für Stimmung.

‚Fridays for Future‘ aufgerufen.

Moderatorin Lena Kah.

12.000 TeilnehmerInnen auf dem Friedensplatz. Die goldene Kugel der Friedenssäule blitzte in der Sonne

Bei bestem Wetter füllte sich gegen 12 Uhr der Friedensplatz rasch mit Menschen. 12.000 Teilnehmer auf dem Platz! Bald war das Pflaster nicht mehr zu sehen. Die Friedenssäule mit ihrer goldenen Kugel auf dem Schaft ragte aus der gigantischen Menschenmenge und blitzte in der Sonne. Jung und Alt war vertreten. Darunter Aktivisten von „Fridays for Future“, „Parents 4 Future“ und „Scientists for Future“, sowie GewerkschafterInnen und am Thema Klimaschutz interessierte BürgerInnen.

Die Band „Waveland Gang“ sorgte mit heißen Rhythmen für eine zünftige Einstimmung.

Moderatorin Lena Kah begrüßte die Menschen und informierte über den Ablauf.

Aktivistin Emily wagte einen Ausblick auf den 20.9.2040

Aktivistin Emily.

„An diesen Tag vor 21 Jahren war der Globale Klimastreik“, begann Emily. „An diesem Tag kamen tausende Menschen zusammen. Jung und Alt. Um für ihre Zukunft zu kämpfen. An diesem Tag wurde vielen Menschen die Augen geöffnet. Es gab Veränderungen. Wenn auch langsam. Die Politik hat endlich die Lösung umgesetzt – zumindest fingen sie an. Wir haben die meisten Ziele bis 2030 umgesetzt. Aber was wäre, wenn nicht?“

Jeder Einzelne, könne etwas machen, gab Emily zu bedenken, jeder Einzelne den Planeten retten.

Michaela von „Parents 4 Future“: Nicht vor den Interessen der Konzerne in Schockstarre verfallen

Michaela von „Parents 4 Future“, Mitorganisatorin der Veranstaltung, forderte vehement: „Wir dürfen nicht vor den Interessen der Konzerne in Schockstarre verfallen. Wir müssen alle aktiv werden! Zeigt entschlossen, dass ihr

Michaela von „Parents4Future“.

Veränderung einfordern wollt. Sie lobte, dass kürzlich 12.000 FahrradfahrerInnen zur Automobilausstellung in Frankfurt a.M. die Autobahn blockiert hätten. Und 20.000 Menschen hätten für Klimaschutz auf den Straßen demonstriert. Solche Aktionen, so Michaela, brauche es mehr.

Gigantische Menschenkette von Osten- bis Westentor über den Westenhellweg

Die Veranstaltung war nahezu perfekt organisiert. Kinder und Menschen mit körperlichen Einschränkungen blieben auf dem Friedensplatz, während sich die beeindruckende Menschenmenge auf den Weg in die Innenstadt machte. Unterwegs artikulierten die DemonstrantInnen in den beiden „Demo-Fingern“ laut und unmissverständlich ihre Anliegen. Verdutzt stehenbleibenden PassantInnen rief man zu: „Bürger lasst das Glotzen, reiht euch in die Demo ein!“ Vereinzelt geschah das tatsächlich, während andere kopfschüttelnd dem Demozug nachschauten.

Die beiden „Demo-Finger“ berührten sich schließlich in Höhe der Reinoldikirche/Kleppingstraße auf dem Westenhellweg. Der war nahezu dicht. Es wurde eine gigantische Menschenkette gebildet. Sie reichte von Osten- bis Westentor und von Westen- bis Ostentor über die Einkaufsmeile Westenhellweg. Stauende PassantInnen wuselten um die Menschenkette herum.

Auf dem Westenhellweg bildete sich eine Menschenkette. Künstler Leo Lebendig (mit Hut) ist auch dabei.

Die jungen Leute, zu denen sich begeistert ein Herr mit seinem Rollstuhl und auch der Dortmunder Künstler Leo Lebendig gesellt hatten, hüpften auf der Stelle und skandierten: „Wer nicht hüpft, ist eine Kohle!“, „RWE weg, in den Dreck!“, ,Hambi, Hambi – bleibt, bleibt!“ und sangen, „Armin Laschet, Armin Laschet, schläfst du noch, schläfst du noch?“

Am Rande nahm Dietmar Köster (MdEP, SPD) den entschlossenen Sitzstreik der „Fridays“ offensichtlich wohlwollend in Augenschein.

Wieder zurück auf dem Friedensplatz

Alles verlief friedlich. Die den Demozug begleitenden PolizistInnen hatten nichts zu tun.

Nach den Aktionen der DemonstrantInnen auf dem Westenhellweg fügte sich die Menschenkette zu einem mächtigen Pulk zusammen, der die Kleppingstraße hinauf strebte und sich wieder auf den dann bald wieder pickepacke vollen Friedensplatz verteilte. Abermals spielte eine junge Band zackige Musik, die Jung und Alt zum Wippen und Tanzen animierte.

Wir fordern, dass ernsthaft über Klimaschutz landesweit – auch in Dortmund natürlich – gesprochen wird!“

In weiteren Redebeiträgen wurde kritisiert, dass die Stadt Dortmund ihre sich selbst für 2020 gestellten Klimaziele nicht erreichen würden, wie

Auf dem Westenhellweg.

verkündet worden sei. Das sei kein ehrlicher Umgang mit Klimaschutz: „Wir fordern, dass ernsthaft über Klimaschutz landesweit – auch in Dortmund natürlich – gesprochen wird!“ Man erwarte, dass Unternehmen und Politiker gewissenhaft und mutig endlich in den Klimaschutz einsteigen. „Glaubten die Unternehmer und Politiker, wir lassen uns so einfach abspeisen?“ Politiker nähmen mittlerweile wohl das Wort „Klimaschutz“ in den Mund. Aber nur aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden. Und die Unternehmen hätten Angst, dass ihnen die Konsumenten weglaufen. „Nutzt eure Macht, als BürgerInnen dieser Stadt, um Position zu beziehen! Nutzt eure Macht als Konsumenten, euch bewusst für Produkte oder gegen bestimmte Produkte zu entscheiden.

Eine Ansage an die Unternehmen und die Politik in diesem Land und in Dortmund von der Bühne auf dem Friedensplatz herab: „Wir werden es nicht hinnehmen, dass Sie unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder für wirtschaftliche Interessen verkaufen. Wir werden weiter an der Seite von „Fridays-For-Future“ stehen, bis unsere Zukunft gesichert ist.“

Klimawandel auch Grund dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen

Aktivist Uwe von der Seebrücke Dortmund legte plausibel dar, inwieweit die Folgen des Klimawandels zum Grund dafür wird, dass Menschen ihre Heimat verließen.

Jan von der Gewerkschaft ver.di: AktivistInnen und ArbeiternehmerInnen sollten Seite an Seite für mehr Klimaschutz demonstrieren

Vertrauensmann Jan von der Gewerkschaft ver.di meinte, dass, „wenn man momentan politische Debatten verfolgt und das unsägliche Lavieren der Bundesregierung“ zeige sich da deutlich, dass es weiterhin notwendig ist, die Dringlichkeit des Themas Klimaschutz zu unterstreichen und weiter für Klimagerechtigkeit auf die Straße zu gehen.“ Er glaube, dass dafür die Gewerkschaften mit ihren mehreren Millionen Mitgliedern der perfekte Bündnispartner seien.

Er appellierte an die Aktivistinnen und ArbeitnehmerInnen, sie dürften sich nicht spalten lassen, sondern sollten Seite an Seite stehen, um gemeinsam für mehr Klimaschutz zu demonstrieren „und vor allem zu streiken“. In der Geschichte gebe es unzählige Beispiele, „dass streikende Arbeiterinnen und Arbeiter die Verhältnisse ins Wanken bringen und massive Fortschritte erkämpfen konnten“. Der „heutige Tag“ solle als Stein des Anstoßes genommen

Das Orgateam hatte sich Applaus verdient.

werden, um derartige Prozesse wieder in Ganz zu setzen.

Friday-For-Future“: 1,4 Millionen Menschen waren gestern mit uns auf der Straße – Klimapaket der Bundesregierung mutlos und enttäuschend

„Fridays-For-Future“ teilte der Presse mit: „In Deutschland waren wir heute an über 600 Orten vertreten. Mehr als 1,4 Millionen Menschen waren mit uns auf der Straße – damit ist der Druck aus der Bevölkerung in beispiellosen Maßen gewachsen. Der heutige Tag hat gezeigt, wie viel weiter die Gesellschaft beim Klimaschutz im Vergleich zur Bundesregierung ist.

Während der Proteste hat die Bundesregierung ihr Klimapaket vorgestellt. Wir hatten minimale Erwartungen und wurden trotzdem noch enttäuscht. Wir sind fassungslos, wie vehement die Regierung vor so dringend notwendigen Maßnahmen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zurückschreckt. Das kann nicht die Antwort auf neun Monate Klimastreiks und auf den Weckruf von über 26.000 Scientists For Future sein. Die Mutlosigkeit der Bundesregierung wirft die Frage auf, inwieweit die notwendigen Klimamaßnahmen in dieser Regierung noch möglich sind.

Angesichts des gigantischen Politikversagens des heutigen Tages, setzen wir einerseits auf die Bevölkerung, weiterhin mit uns den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Andererseits erwarten wir, dass diese Koalition in aller Ernsthaftigkeit ihre eigene Handlungsfähigkeit hinterfragt.

Die verkündeten Maßnahmen kommen viel zu spät und ihre Wirkung ist nicht im Ansatz weitreichend genug. Der CO2-Preis wird in den nächsten zwei Jahren nicht greifen und fängt dann auf einem lächerlich niedrigen Niveau an. Auch sonst wurden die großen Treiber der Klimakrise in diesem Land wie die Kohleverstromung schlichtweg ignoriert. Mit dieser Absichtserklärung werden wir den deutschen Beitrag zum Pariser Klimaabkommen niemals erfüllen. Die politischen Entscheidungen des heutigen Tages sind eine Bankrotterklärung der Bundesregierung – es ist fraglich, welche Botschaften Kanzlerin Angela Merkel nächste Woche auf dem Climate Action Summit in New York zu verkünden gedenkt.“

Fazit

Gestärkt von diesem unglaublich beeindruckendem Klimastreik gingen an diesem Freitag 12.000 Menschen emotional angefasst und voller Hoffnung in den künftigen Erfolg ihres weitergehenden Kampfes für Klimagerechtigkeit in Dortmund ins Wochenende. Enttäuscht merkten die KlimaaktivistInnen an diesem sonnigen Freitag auf dem Friedensplatz zum Schluss nur eines an: Hatte es zunächst geheißen, die VeranstaltungsteilnehmerInnen könnten die Toiletten des nahen Stadthauses nutzen und dort auch ihre Wasserflaschen auffüllen; fanden sie diese dann leider verschlossen vor.

Hinweis: Ein kurzer Film von und via Karsten Wickern auf Twitter fasst den Klimastreik in Dortmund kurz zusammen.

Rezension: „Schaden in der Oberleitung“ von Arno Luik. Über „Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“

Von Andrea Nahles – kennt sie noch jemand? – stammt der Ausspruch: „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“

Für all jene, welche das („geplante“ – wie Arno Luik in seinem Buch vielfach nachweist) Desaster der Deutschen Bahn seit der Bahnreform im Jahr 1994 zu verantworten – besser: verbrochen – haben ist „morgen“ entschieden zu spät. Da hätte eher zugeschlagen werden müssen. Um nicht falsch verstanden zu werden: ich will keineswegs körperlicher Gewalt das Wort reden, noch dazu aufrufen. Jedoch muss sich ehrlichkeitshalber eingestehen: Beim Lesen von Arno Luiks kürzlich erschienenen Buches „Schaden in der Oberleitung“, das Jean Ziegler zu Recht als „Ein faszinierender Wirtschaftskrimi von höchster Brisanz“ bezeichnet, ist mir des Öfteren das nicht vorhandene Messer in der Tasche aufgegangen bzw. haben sich mir die Fäuste beim Halten des Buches am liebsten zur Faust ballen wollen.

Akribisch recherchierte bittere Fakten. Gottlob enthält das Buch Stellen, die einen sarkastisch auflachen lassen

Klar, als politisch interessierter Bürger und mit offenen Augen und gespitzten Ohren durchs Leben gehender Mensch – und gelegentlicher Bahnfahrer – hat man von all den die Deutsche Bahn betreffenden Missständen schon gehört – bzw. war unmittelbar davon schon mal betroffen. Doch all dies, akribisch recherchiert, nun in (Buch-)Form so geballt von A – Z aufgetischt zu bekommen, lässt einen schon gewaltig den Hut hochgehen bzw. wenigstens die Hutschnur platzen!

Gut, dass das Buch mit dem wie die Faust aufs Auge treffendem Titel „Schaden in der Oberleitung“ auch jede Menge Stellen enthält, die einen sarkastisch auflachen lassen! Derweil man eigentlich ob der dargelegten Unfassbarkeiten ja eigentlich bitterlich weinen müsste.

Der verkommene heimische Bahnhof ist ein Symbol für den Zustand des gesamten Landes

Arno Luik lässt sein Buch in seiner schwäbischen Heimat beginnen. Der Vater war Bahnhofsvorstehen von Königsbronn: „Er hatte die rote Mütze auf, und er hatte die Geranien gepflanzt.“ Geranien in einem alten Schubkarren und Blumengebinde an den Zäunen, welche Arno Luik als Kind und Jugendlicher in den 1970er Jahren „spießig“ fand. „Die Vorhänge in seinem Bahnhofsvorsteherzimmer hatte meine Mutter genäht und gewaschen,“, schreibt Luik nun, „sie hängen noch immer dort, nach über 50 Jahren – jetzt wehen sie über Trümmern im total ramponierten Bahnhof, der heute kein Bahnhof mehr ist.“

Den gegenwärtigen Zustand beschreibt Luik so: „Alles ist hier nur noch trist, versifft, mit Graffiti besprüht, der Bahnsteig ist vollgespuckt, verdreckt, überall Zigarettenkippen.“

Geradezu ein Sinnbild für die heutige Verfassung in welcher sich die Bahn, ja an vielen Punkten (man denke nur an die bröckelnde, förmlich nach Erneuerung schreienden Infrastruktur allerorten), das ganze Land befindet,: „Dieser verkommene Halt, inzwischen gibt es Tausende seiner Art in Deutschland – ist nicht bloß ein verkommener Bahnhof. Er ist ein Symbol. Er steht, Pars pro Toto, für den Zustand des gesamten Landes.“

Durchsage im Zug war Anlass für Arno Luik dass Buch zu schreiben

Die einzelnen Kapitel des Buches sind überschrieben meist mit Zitaten, von Durchsagen in Zügen, die Arno Luik während der Arbeit an ihm erlebte. Hier das erste: „Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass alle unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!“ Dieser aus den Zuglautsprechern krächzender Durchruf des Zugchefs im Januar 2018 auf der Fahrt von Königsbronn nach Ulm, auf der Brenztalstrecke beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim löste bei Luik damals ein Lachanfall aus: Der Auslöser, dieses hier zu besprechende Buch zu schreiben.

Die Deutsche Bahn in den Fußstapfen der lädierten Deutschen Reichsbahn

Inzwischen, gibt Luik auf Seite 10 zu bedenken, sei es „ein Volksport geworden, über die Bahn zu spötteln, zu höhnen, zu lachen“. Früher in der DDR (ich erinnere mich als gewesener DDR-Bürger sehr gut daran) hätten „die Bürger über ihre heruntergekommene Reichsbahn so“ gespottet: „Vier Feinde hat sie – Frühling, Sommer, Herbst und Winter.“ Luik weiter: „Und das, genau das, gilbt seit einigen Jahren auch für die Bahn AG. Sie fährt – wie die DDR-Reichsbahn damals – heute auf Verschleiß.

Mächtiger Feind Deutschen Bahn: die Bahnchefs

Und sie hat noch einen weiteren, einen überaus mächtigen Feind: die Bahnchefs.“

Rekapitulieren Sie mal, wer das alles in den letzten Jahren gewesen ist!

Nicht ein einziger war dabei, der von Eisenbahn etwas verstand, geschweige denn von der Eisenbahn kam: ein Eisenbahner war. Immerhin der nunmehrige Bahnchef, Richard Lutz, war mal bei der Bahn, nicht aber im eigentlichen Bahnbetrieb. Er hat als Betriebswirtschaftler im Controlling gearbeitet.

Nulpen als Verkehrsminister durften und dürfen in Person von Audi – pardon – Andi Scheuer weiter „Verkehrspolitik“ machen

Ganz zu schweigen von den jeweiligen Verkehrsministern, die in all den Jahren „Verkehrspolitik“ machen durften und nun mit einem gewissen Andi Scheuer noch machen dürfen. Alles wahre Nulpen in Sachen Verkehrspolitik und blutige Laien. Es graust einen! Das Gesicht ballt sich einen zur Faust. Man möchte ausspeien!

Was immer auch an Kritischem über die Deutschen Reichsbahn und auch der Deutschen Bundesbahn zu sagen war: die leitenden Kader waren vom Fach – sie waren in der Regel Eisenbahner. Das gilt auch für die unteren Ebenen. Und sie waren Eisenbahner – nicht wenige von ihnen stammten aus Eisenbahnerfamilien – mit Herz und Seele!

Oberste Bahner sind längst Manager, die horrende Bezüge kassieren

Die heutigen Bahnverantwortlichen sind Manager (aus der Auto- und Flugbranche!) und kassieren für ihre Tätigkeit horrende Bezüge, von denen frühere Bundesbahndirektoren nur träumen konnten. Und sie bekommen – haben sie auch noch so viel Mist gebaut – Summen als Abfindung, welche man nur als in hohem Maße als unanständig – ja als empörend bezeichnen muss.

Die Bahn soll agieren „zum Wohl der Allgemeinheit“ (Artikel 87e Grundgesetz)

Und nehmen wir bitte (auf S. 10) Folgendes zur Kenntnis – viele Menschen werden das gar nicht (mehr) wissen: „Laut Grundgesetz ist die Bahn ein besonderer Betrieb – sie hat einen klaren, einen grundgesetzlich vorgeschriebenen Auftrag; den Bürger mit einem günstigen Transportmittel zu versorgen. Jeden Bürger, egal wo. Die Bahn soll agieren ‚zum Wohl der Allgemeinheit‘, so steht es im Artikel 87e des Grundgesetzes.

Und sie soll heutzutage – auch aus ökologischen Gründen – dafür sorgen, dass mehr Personen- und vor allem auch mehr Güterverkehr auf die

Auch dieser Hauptbahnhof ist längst ohne Personal. Foto: Stille

Schienen kommt und runter von der Straße“, heißt es bei Arno Luik weiter. „So sagen es die Politiker seit Jahrzehnten.“ Und stellt er fest: „Beides funktioniert nicht. Bei beidem versagt die Bahn.“

Für Luik steht fest: Die Deutsche Bahn hat sich verselbstständigt

Luik: „Sie ist – auch unter tätiger Mithilfe vieler Politiker – zu einem Staat im Staate geworden. Die Bahn macht, was sie will.“

Das schlimmste Verbrechen der Bahn wird seit Jahren in Stuttgart, der Tiefbahnhof Stuttgart 21 (S21) vorbereitet. Es ist schon jetzt ein Verbrechen in finanzieller Hinsicht: es dürfte, wenn es jemals fertig werden sollte – was Gott oder wer auch immer verhüten möge (es wäre noch möglich) – dem Steuerzahler – also sie, lieber LeserInnen und mich – wohl letzten Endes zehn Milliarden Euro kosten!Mit diesem Geld könnte wichtige Bahninfrastruktur in ganz Deutschland vom Feinsten hergerichtet bzw. neu geschaffen werden. Es gibt Fachleute dies über S21 sagen: „Es ist ein Staatsverbrechen, was hier geschieht.

Brandschutzkonzept für den Tiefbahnhof Stuttgart 21: „Es ist eine Katastrophe mit Ansage“

Arno Luik zitiert (S. 13) den international renommierten Brandschutzexperten Hans-Joachim Keim. Er wurde etwa anlässlich der Tunnelkatastrophe von Kaprun (11. November 2000) gerufen.

Für Luik hat der Brandschutzkonzept von S 21 analysiert. „Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?“

Die Haltestation von S21 liegt 12 Meter in der Tiefe. „Auf einem schiefen schmalen Betontrog, in den acht Gleise eingezwängt werden (…) Ein Feuerwehrmann sagte Luik hinter vorgehaltener Hand: Da runter schicke ich meine Leute nicht.

Ordentliche Fluchtmöglichkeiten hinzubekommen dort unten, sieht Keim als „technisch komplett unmöglich“ an.

Kritiker bekommen einen Maulkorb verpasst

Nun muss man sich vorstellen, was da unten los ist, wenn es mal brennt und alles voller Rauch ist! Wie will man rasch die Leute evakuieren – Behinderte, Rollstuhlfahrer und Menschen Rollator sowie Mütter mit Kinderwagen! Und die Menschen haben ja Gepäck dabei. Es herrscht Panik! Man will es sich eigentlich nicht vorstellen. Eine andere Gefahr: die Bahngleise weisen einen abnorme Gleisneigung auf. Heißt, Züge werden abschüssig stehen. Weltweit einmalig. Was, wenn ein Zug rollt? Das ist durchaus schon an anderen Orten geschehen. Schon 1992 (S. 28) habe damals Bahndirektor Eberhard Happe (seinerzeit „Dezernent für Zugbeförderung“ in einer Fachzeitschrift „die abnorme Gleisneigung ‚kriminell‘ genannt. Der damalige Bahnchef Dürr habe den „pflichtbewussten und daher besorgten Beamten einen Maulkorb, der Kritiker bekam ein Disziplinarverfahren an den Hals, der Bahnchef wollte ihn abmahnen, strafversetzen, loswerden – vergebens.“

Staatsbeamter a.E: über die Führungsspitze des Bahnkonzerns: „Die haben keine Ahnung, kein technisches Verständnis vom Bahnverkehr“

Happe heute gegenüber Arno Luik (S.29): „Man agiert im technischen Grenzbereich. Jeder Lokführer wird Schiss haben, diesen schiefen Bahnhof anzufahren. Hundertmal mag es gutgehen, aber dann kommt der Unfall. Und dann wird es heißen:menschliches Versagen!“

Luik: „Dieses ‚menschliche Versagen‘ sieht er, der Staatsbeamte a.D., aber nicht bei den Lokführern, er sieht es bei der Führungsspitze des Konzerns: ‚Die haben keine Ahnung, sie haben kein technisches Verständnis vom Bahnverkehr.“ Auf Seite 30 erklärt der Autor: „In keinem Land der Welt werden schräge Bahnhöfe gebaut. Nicht in der bergigen Schweiz, nicht in China.“ Die Verantwortlichen für S21 wiegeln ab: Zukünftig würden die Züge Feststellbremsen haben, die schon wirkten, wenn sich die Türen öffneten.

Der Mann zeigt sich fassungslos darüber, dass ein Staatsunternehmen (die Bahn gehört noch zu hundert Prozent dem Bund) Milliarden in einen Bahnhof verbaut, „um absehbar eine Katastrophe herbeizuführen. Happe: ‚Es ist der totale Wahnsinn.“

Haltestelle für 8,2 Milliarden Euro

Ein anderer Beamter a.D. erklärt es sich so, dass Eisenbahn-Bundesamt (EBA) „diesen Murks und ewiges Sicherheitsrisiko in Stuttgart abgenickt hat so (S.31): „Das EBA ist von der Politik vergewaltigt worden, das abzusegnen.“ Die Bahn hatte sich eines Tricks bedient: „Die Bahn degradierte den geplanten S21-Tiefbahnhof zur ‚Haltestelle‘.“ Die dürften nämlich ein Gleisgefälle haben. „Nur: Züge dürfen da nicht abgestellt werden, sie dürfen nur kurz stoppen, sie dürfen nicht (was bisher für Stuttgart als Kopfbahnhof immens wichtig und kundenfreundlich war und – Taktverkehr! – weiterhin auch so sein sollte) wenden. Dafür ist eine Bremsprobe zwingend vorgeschrieben, und die ist in Stuttgart unterirdischem Steilhang gesetzlich verboten.“

Das lässt uns aufmerken: „8,2 Milliarden Euro, mindestens, für einen Bahnhof in einer Großstadt, der gar kein Bahnhof ist, sondern nur: eine Haltestelle.“

Gutachter: S21 ist goldenes Begräbnis der Bahn

Ein Gutachter für Signaltechnik ließ Luik (S.45) wissen: „S21 ist aus meiner Sicht das goldene Begräbnis der Bahn. Golden wegen der zu erwartenden Kosten von 8,2 Milliarden Euro, wenn nicht noch viel mehr Ein Begräbnis zunächst im wahrsten Sinne des Wortes: unter der Erde. Aber auch ein Begräbnis im übertragenen Sinne: das Begräbnis der Eisenbahn als Verkehrsträger im Raum Stuttgart.“ Übrigens – das finden wir auf Seite 69 des Buches – lag die Wirtschaftlichkeitsgrenze bei 4,5 Milliarden Euro.

Auf Seite 57 ist notiert: „S21 ist eine Art Schloss Versailles, es darf kosten, was es will, und der Staat kommt dafür auf.“

Die Bahn definiert ihre eigenen Sicherheitsstandards

Eine weitere Ungeheuerlichkeit: In Texten von S21 tauche bei kritischen Dingen stets das Kürzel UIG auf. Luik erklärt: „unternehmensinterne Genehmigungen. Im Klartext. Die Bahn definiert ihre eigenen Sicherheitsstandards – und die Prüfbehörde, das EBA (Eisenbahnbundesamt; C.S.), akzeptiert das.“ Also, liebe LeserInnen, da fallen Sie vom Glauben ab! Von wegen deutsche Gründlichkeit und Bürokratie – UIG, und das Ding geht durch. Fragen Sie mal jemanden, der in Deutschland einen simplen Imbiss aufmachen will, oder eine Fleischerei – was der alles machen und vorweisen muss, bevor der seinen Laden aufmachen kann!

Wenn der Bahnhof unter die Erde gebracht ist, freuen sich die Immobilienhaie auf die über Tage freigewordenen Flächen

Ein Grund warum S21 von bestimmten Leuten so bejubelt und forciert wurde ist: Wenn der Bahnhof unter die Erde gelegt ist, sind oben Flächen frei, auf die sich Immobilienhaie schon freuen!

Und vom Tunnelbau profitiert die Tunnelindustrie. In erster Linie die Firma Herrenknecht, die mit ihren Tunnelvortriebmaschinen. Dazu mehr und jede Menge Wissenswertes ab Seite 65 unter dem Titel „Der Herr über die Tunnel und sein Knecht“. Gemeint ist Martin Herrenknecht, „der Herr über die Tunnelbohrmaschinen“.

Bei S21 geht es freilich fleißig darum, dass bestimmte Leute und Firmen Kohle machen.

Lust am-Machtausüben. S21-Junkies. „Talibans der Moderne“. Unerreichbar für Argumente

Aber auch darum, dass sich manche Politiker und Manager profilieren und „Lust am Macht-Ausüben“ – wie es auf Seite 49 dargestellt wird. Luik: „S21-Junkies. Talibans der Moderne Unerreichbar für Argumente. Eiferer – frei von Zweifel.“ Da denkt wohl niemand an die Fahrgäste oder Mitarbeiter der Bahn. Auch Korruption – mindestens politische Korruption spielt ebenfalls eine Rolle. Und, dass es mit der Bahn so läuft hat gewiss auch mit der falschen, aufs Auto ausgerichteten und vom Auto bestimmten Verkehrspolitik hierzulande zu tun.

Großer Amerikanischer Straßenbahnskandal – „Passiert Ähnliches in Deutschland?“

Arno Luik schreibt (S.52) vor dem Hintergrund, dass „man subtil dafür“ sorgt, „dass diese Bahn nicht wirklich wettbewerbsfähig wird“ über den Großen Amerikanischen Straßenbahnskandal (General Motors Streetcar Conspiracy). „Zwischen 1930 und 1956 kauften die US-amerikanischen Autofirmen unter Führung von General Motors (die hatten dafür sogar eine spezielle Abteilung) Bahn- und Straßenverkehrsunternehmen im ganzen Land auf, um die zu ersetzen. Der Plan ging auf. Die Zahl der Straßenbahnfahrzeuge verringerte sich in der Zeit von von 37 000 auf 5300.“

Arno Luik fragt: „Passiert so etwas Ähnliches in Deutschland? Schaut man etwa auf S21, fällt auf, dass dieses Unterfangen den Schienenverkehr massiv behindert und einschränkt. Eine Tatsache, die die S21-Befürworter bis vor Kurzem geleugnet und bestritten haben: Stuttgart 21 ist von Anfang an eine Geschichte der Schummelei und Geheimniskrämerei gegenüber den Bürgern, aber auch den Abgeordneten. Kritische Studien wurden ignoriert.“

Eine 2008 von der Landesregierung selbst in Auftrag gegebene Studie von Schweizer Verkehrsexperten sei kassiert worden. Darin hieß es: S21 ist verkehrspolitischer Unsinn, der genau das verhindert, was ihr mit S21 angeblich wollt: mehr Verkehr auf die Schiene. Das Umweltbundesamt bestätigt die Aussage der Schweizer. Es wurde hinweggewischt.

Klar sagt Arno Luik, was ist (S.79): „Politiker, Bahnmanager, diese ganz große Koalition aus SPD/GRÜNE/CDU/CSU/FDP, die noch immer S21 durchsetzen wollen, sind das größte Sicherheitsrisiko dieses Landes. Aber sie sind ja „finster entschlossen“.

Bleiben Sie stark, liebe LeserInnen

Graben Sie sich wacker weiter in diesem interessantem Buch. Bleiben Sie stark, liebe LeserInnen. S21 ist nicht der einzige – wohl aber der größte – Skandal in Sachen Bahn.

Wie fing das alles an? Im „Monolog des Bahndirektors a.D. Klaus-Dieter Bodack“ ab Seite 87 sagt dieser: „Ich kann Ihnen genau sagen, wann es endgültig mit der Bahn bergab ging. Das ging schon vor Mehdorn los, mit Heinz Dürr, und zwar am 3./4. Oktober 1994, das war die Stunde Null, der endgültige Abschied von der alten Bahn, der Schritt in die neue Bahn – also die allmählich Zerstörung der Bahn.“

Eisenbahnspezialisten schickte Bahnchef Dürr nach „Sibirien“. Dort wurden sie „die Mäusezähler von Frankfurt“

Und weiter unten schließt dessen Monolog so: „Dürr hat nicht nur die Bahnstrecken, sondern vor allem unschätzbares Fachwissen stillgelegt. Er hat Kollegen, Akademiker mit spezieller Ausbildung und großen Erfahrungen im Eisenbahnwesen, die sich oft mit guten Argumenten zu Wort meldeten, die hat er nach Sibirien geschickt. Dürrs Sibirien war stillgelegter Güterbahnhof in Frankfurt. Dort saßen nur nun die Leute mit all ihrem Bahnwissen, ohne es einsetzen zu dürfen. Wir nannten sie ‚die Mäusezähler von Frankfurt‘, denn in diesem Güterbahnhof rannten halt sonst nur Mäuse und Ratten herum.“

Arno Luik: „Mit S21 begann die kühl geplante Zerschlagung der traditionellen Bahn“

„Mit S21 begann die kühl geplante Zerschlagung der traditionellen Bahn, ihre Reduzierung auf ein paar lukrative Hauptverkehrsstrecken“, zeichnet Arno Luik die bedauerliche, geplante Entwicklung nach, „diese Strecken dann zu privatisieren, sie attraktiv für Investoren an der Börse zu machen. Und die freigewordenen Bahn-Grundstücke zu verhökern: an in- oder ausländische Investoren, an Immobilienfirmen wie etwa ECE (die Einkaufscenter bauen, C.S.).“

Die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder (1999 bis 2005) habe diese Pläne massiv unterstützt.

Totengräber der Bahn: Hartmut Mehdorn

Luik: „Die rotgrüne Verkehrspolitik war verheerend, denn dank dieser Regierung kam ein Mann an die Spitze der Bahn, der sich sehr mühte, ihr Totengräber zu werden: Hartmut Mehdorn.“

Sie erinnern sich an den Kerl? Ein Kotzbrocken mit dem Charme eine Baubudenrülpses, der u.a. in der Luftfahrtindustrie (!) tätig gewesen war. Ein menschlicher Prellbock.

Also Arno Luik, der zuvor als Journalist Kritik an ihm geäußert hatte, einmal 2007 bei Hartmut Mehdorn im Bahntower in Berlin im Büro war, sagte dieser zu ihm: „Ich müsste Sie eigentlich schlagen. Aber es hat keinen Wert, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung.“

Bahninfrastrukturvorstand“ Pofalla erfand die „Pofalla-Wende“

Oder kann uns jemand sagen, welche Kompetenz als Kanzleramtsminister uns Ronald Pofalla verheimlichte, die ihn inzwischen als „Bahninfrastrukturvorstand“ (!) qualifizierte? Jedenfalls hat er sich als der Erfinder der „Pofalla-Wende“ gemacht. Die besagt:

Ein verspäteter ICE dreht früher um, damit er auf dem Rückweg wieder in den Fahrplan kommt. Damit einhergeht allerdings, dass für viele Reisende ihre Halte entfallen, sie müssen in einen Nahverkehrszug umsteigen und kommen verspätet deswegen an.

Reisen per Anhalter!

Auch gibt es inzwischen Zugstrecken, wo der Zug nur nach Bedarf hält! Der Reisende muss winken, sonst hält der Zug nicht. Sind wir im Irrenhaus gelandet? Manche Reisende wissen das nicht. Sie sehe ihrem Zug dann verdattert und empört hinter her.

Bahn bloß noch eine „Scheinverkehrsfirma“

„Die Bahn“, ist ein Münchner Verkehrsexperte (S.232) überzeugt, „ist bloß noch eine Scheinverkehrsfirma“.

Von den wenigen Bahnhöfen, die es noch gibt, erfahren wir auf Seite 255, „sind mehr als 95 Prozent ohne Personal“.

Und auch das: Es gibt heute Zugstrecken, auf denen die Eisenbahn in den 1930er Jahren weniger Zeit zwischen zwei Städten brauchte als heute!

Ungeheuerlichkeiten, dass einem der Kamm schwillt

Arno Luik hat viel recherchiert und manche Ungeheuerlichkeit herausgefunden und auch die Gründe dafür gefunden. Das ist spannend zu lesen. Es schwillt einen oft der Kamm dabei. Man möchte als Leser aus der Haut fahren.

Der Staatskonzern ist ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Er bekommt jedes Jahr über zehn Milliarden Euro an Steuergeldern, doch seinen Bürgern, den tatsächlichen Besitzern, bietet er immer weniger. Weiter lesen wir im Klappentext: „Der aus Kostengründen auf Bahnsteigen Durchsagen spart – und so Tote in Kauf nimmt. Der stattdessen in über 140 Ländern agiert, einfach so, keine Regierung hat ihn dazu beauftragt, aber dieser imperiale Größenwahn bringt den Bürgern hierzulande nichts – außer Zerfall und Ärger.“ Dabei hätte die Deutsche Bahn von Bahnprofis, die wissen wie man eine Eisenbahn fahren lässt, lernen können: Aus der Schweiz. Österreich. Den Niederlanden. Italien.

Desaster der Deutschen Bahn kein Versehen

Und der Westend Verlag schreibt über zum Buch: „Das Desaster der Deutschen Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in Berlin. In der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn. Kritik an der Deutschen Bahn bleibt oft stehen bei lustigen Englischfehlern, falschen Wagenreihungen oder ausfallenden Klimaanlagen. Doch die Malaise liegt im System: Seit der Bahnreform im Jahr 1994, nach der die Bahn an die Börse sollte, handeln die Bahn-Verantwortlichen, als wollten sie die Menschen zum Autofahrer erziehen. Arno Luik, einer der profiliertesten Bahn-Kritiker, öffnet uns mit seinem Buch die Augen. Konkret geht es um Lobbyismus, Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge, um falsche Weichenstellungen, kurz: um einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist.“

Der Autor: „Ja, diese Bahn ist zu retten“

Nach aller nötigen Kritik im Buch ist Arno Luik dann aber Ende im „Ausblick“ (S.291) davon überzeugt: „Ja, diese Bahn ist zu retten.“ Möglicherweise zwinge der Klimawandel zur Vernunft. Luik hat acht Vorschläge aufgeschrieben, die seiner Meinung nach umgesetzt werden müssten. Beginnend mit : „Sofortiger Baustopp von S21 und der Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Milliarden werden dort verpulvert, um den Bahnverkehr strukturell so zu schädigen, dass ein Taktverkehr unmöglich wird.“

Arno Luik meint, „gut kann es mit der Bahn aber erst werden, wenn sich die Verantwortlichen von dem Wahn des komparativen Denkens verabschieden. Denn dieses Denken perpetuiert für ewig das klägliche Dahinstümpern:

„Die Bahn muss nicht pünktlicher werden. Sie muss pünktlich sein.

Die Bahn muss nicht sicherer werden. Sie muss sicher sein.

Die Bahn muss nicht zuverlässiger werden. Sie muss zuverlässig sein.

Kurzum: Die Bahn muss nicht besser werden, sie muss gut sei.“

Dass sich in naher Zukunft etwas verbessert, glaubt Arno Luik kaum. Es ginge zunächst weiter wie bisher. „Allein in seinem ersten Amtsjahr, 2017, ließ Bahnchef Lutz 344 Weichen ausbauen, 242 Bahnhöfe schließen, 205 Haltepunkte wegfallen.“

„Dass sie einfach nichts lernen, dafür steht der Bundesverkehrsminister, der sich dem von der Politik mitproduzierten Chaos am Boden in die Luft entziehen will. Der, ohne sich zu schämen, Flugtaxi als Mobilitätskonzept für die Zukunft anpreist.“

Das Buch schließt: „Solange solche Luftikusse das Sagen haben, bleibt es bei diesem hässlichen Wort: ‚Betriebsstörung‘. Bleibt es beim ‚Schaden in der Oberleitung’“.

Die vielfach zur Entgleisung gebrachte Bahn als Bürgerbahn im Sinne des Grundgesetzes wieder aufgleisen

Um auf den Anfang des Textes zurückzukommen: Die schräpige Ansage der Andrea Nahles von einst: „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“ ist nicht die Lösung. So ein Sager könnte auch aus dem Munde des menschlichen Prellbocks Hartmut Mehdorn kommen. Das sollte nicht unser Stil sein. Klar: Das Desaster der Bahn ist ein Skandal. Besinnen wir uns! Holen wir uns die vielfach zur Entgleisung gebrachte Bahn – die unser Land besitzt – friedlich zurück, um sie gemäß Grundgesetzauftrag wieder als Bürgerbahn aufzugleisen.

Ein gut recherchiertes, wichtiges Buch.

Arno Luik

Schaden in der Oberleitung

Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Erscheinungstermin: 02.09.2019
Seitenzahl: 296
Ausstattung: Klappenbroschur
Artikelnummer: 9783864892677
20,00 Euro

Zum Autor

Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Tempo und die Wochenpost, Autor für Geo und den Tagesspiegel, war Chefredakteur der taz (1995/96) und seit 2000 ist er Autor der Zeitschrift Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ des Netzwerks Recherche. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären“ war Luik als Sachverständiger geladen.

Update vom 4. Juni 2020

Arno Luik über sein Buch an der SWR-Teleakademie: zum Video

Dortmund: Auslandsgesellschaft feierte 70. Geburtstag

Die 70-Jahrfeier der Auslandsgesellschaft fand im Depot Kulturort, einem einstigen Dortmunder Tramdepot, statt. Foto: Leopold Achilles

Die Auslandsgesellschaft in Dortmund entstand nach dem zweiten Weltkrieg aus einer Bürgerinitiative für Völkerverständigung. Stefan Albring , Französisch-Lehrer an einem Dortmunder Gymnasium, und Wilhelm Hansmann, von den Nationalsozialisten verfolgt und nach Frankreich entkommen, 1946 Oberstadtdirektor von Dortmund, sind Väter der Bürgerinitiative. „Erste Notwendigkeit: Wir müssen mithelfen, das Grundübel, die deutsch-französische ‚Erbfeindschaft’ zu liquidieren“, sagte Albring seinerzeit. Die französische Regierung half dabei in Dortmund – mit Zustimmung der britischen Besatzungsmacht – durch Bücherspenden, Begegnungen und Gestellung von Räumen. Aus dem im Dezember 1948 gegründeten Deutsch-Französischen Institut entstand mit Zustimmung der britischen Besatzungsmacht und dem tätigen Interesse von Niederländern, Schweden und anderen, das am 28. März 1949 gegründete Internationale Auslandsinstitut, das heute 28 Länderkreise umfasst. Am vergangenen Donnerstag beging die Auslandsgesellschaft feierlich ihr 70-jähriges Bestehen. Die Festveranstaltung mit prominenten Gästen fand im Depot Kulturort in der Immermannstraße statt.

Präsident Klaus Wegener begrüßte die prominenten Gäste und nannte die Werte der Auslandsgesellschaft : Humanität, Toleranz, Völkerverständigung unverzichtbar

Foto: Leopold Achilles

Dem Präsidenten der Auslandsgesellschaft, Klaus Wegener, oblag es die prominenten Gäste zu begrüßen. Die da waren: Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Ex-NRW-Staatsminister Wolfram Kuschke, Vorsitzender des Kuratoriums der Auslandsgesellschaft, der Generalhonorarkonsul der Republik Ghana, Manfred Oswald Schröder (dessen Nachfolger in Bälde Klaus Wegener sein wird), Horst Schiffmann (94), ein ehemaliger Präsident der Auslandsgesellschaft, Oberbürgermeister Ullrich Sierau, sowie Abgeordnete des NRW-Landtags und des Deutschen Bundestags, sowie die MitarbeiterInnen der Auslandsgesellschaft.

Klaus Wegener zitierte in Anwesenheit dessen Sohnes einen Ausspruch von Stefan Albring: „Die letzte Chance für Europa ist die Sammlung aller seiner geistigen Kräfte.“

Wegener merkte angesichts der Gegenwart kritisch an: „Und ich frage mich, meine Damen und Herren, manches Mal, wo sind heute diese geistigen Kräfte?“ Angesichts der „unverzichtbaren Werte“ für die die Auslandsgesellschaft stehe: Humanität, Toleranz, Völkerverständigung – müsse man sich fragen, so der Präsident: „Wo finden wir das heute noch?“. Aber in diesen Zeiten populistischer Schreihälse dürfe man sich darauf nicht ausruhen.

Aus der Geschichte der Auslandsgesellschaft

Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft (RWAG)“ lautete seit 1957, dem Beginn der prägenden Amtsführung von Dr. Harald Koch, der Name der von Stefan Albring weiterhin inspirierten Vereinigung, die mit ihrer Arbeit in Länderkreisen, Sprachkursen, Tagungen und Studienreisen auf das ganze Bundesland NRW ausstrahlt. Als nichtstaatliche Organisation bereitete die RWAG politische Schritte in der Ostpolitik vor, sie artikulierte sich entschieden gegen Menschenrechtsverletzungen. 1993 erfolgte die Umbenennung der RWAG in Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen e.V. Im Rahmen der Fusion mit der Auslandsgesellschaft Deutschland e.V. wurde der Verein 2018 in Auslandsgesellschaft.de e.v. umfirmiert. Nun begeht die Auslandsgesellschaft 70 Jahre Förderung der Völkerverständigung.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau: Die Auslandsgesellschaft ist ein wichtiger Bestandteil der Stadtgesellschaft

Oberbürgermeister Ullrich Sierau war die Geburtstagsfeier zum 70-jährigen Bestehen der Auslandsgesellschaft so wichtig, dass er sich entschlossen hatte eine Reise zum Stadtfest der russischen Partnerstadt Rostow am Don erst einen Tag später anzutreten.

Die Auslandsgesellschaft, sagte Sierau, sei ein wichtiger Bestandteil der Stadtgesellschaft. Hatte Klaus Wegener noch gesagt, die Auslandsgesellschaft

Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau. Foto: Leopold Achilles

sei keine Macht, war der Oberbürgermeister ganz anderer Meinung. Was die Auslandsgesellschaft leiste habe eine politische Bedeutung, sie sei durchaus eine Macht.

Minister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner: Die Auslandsgesellschaft hat den interkulturellen Dialog verändert und ist „eine moralische Macht“

NRW-Europaminister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner wünschte später sogar, dass sie eine ist. Die Auslandsgesellschaft sei „eine moralische Macht“. Die sei ihr nicht verliehen, sondern aus dem was sie tue. Die Auslandsgesellschaft habe den interkulturellen Dialog verändert. Die Begegnung zwischen Menschen – egal wo sie herkommen, egal welche Sprache sie sprechen – stehe bei der Arbeit des Vereins im Vordergrund. Die Arbeit der Auslandsgesellschaft, lobte der Minister, flösse in die Arbeit der Landesregierung ein und bereichere das gesellschaftliche Leben ungemein.

Auslandsgesellschaft trägt zu einem guten Bild Dortmunds in der Welt bei

Die Auslandsgesellschaft habe das Potential viele Dinge zu begleiten, so OB Sierau weiter. Durch sie werde „Dortmund als internationale Stadt auf sehr gute Weise“ dargestellt und auch international als beispielhaft wahrgenommen.

Die Auslandsgesellschaft komme aus der Vergangenheit von 70 Jahren in eine Aktualität, „wo wir immer wieder mit neuen Fragen und Herausforderungen konfrontiert werde“, merkte Sierau an. Der OB erinnerte u.a. auch an 2015, wo Dortmund Drehscheibenstadt für ankommende Geflüchtete geworden war und sich nicht wie andere Kommunen weggeduckt habe. In der Auslandsgesellschaft erlernen heute viele Geflüchtete die deutsche Sprache und machen Integrationskurse.

Oberbürgermeister Sierau schloss seine Ansprache mit einem Zitat von Willy Brandt aus der ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler vom 28. Oktober 1969:

„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.“

Ein moralisches Koordinatenkreuz hält Dr. Holthoff-Pförtner für wichtig

Europaminister Holthoff-Pförtner befand es für wichtig „ein moralisches Koordinatenkreuz zu haben“. Die Auslandsgesellschaft habe es. Er beschied

NRW-Europaminister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner. Foto: Leopold Achilles

dem ehemaligen italienischen Innenminister Salvini: „Flüchtlinge in Seenot abzuweisen ist verantwortungslos und zutiefst unchristlich. Und sich dabei auf die Mutter Gottes zu berufen ist einfach ekelhaft.“ Sorgen mache er sich über europafeindliche Parteien und sogenannte „illiberale Demokratien“, die keine Demokratien seien. Wir hätten ein deutsches Problem, wir belehrten zu oft anstatt zuzuhören: „Wir nerven damit.“ Auch hätten wir das Gefühl, dass Europa Westeuropa ist. Der Fokus gelte mehr auch auf Südosteuropa zu legen. Auch in dieser Hinsicht leiste die Auslandsgesellschaft gute Arbeit.

Theaterprojekt „Art Ensemble“ mit Lied und Gedicht

Susanne Hocke und Jürgen Larys vom Theaterprojekt „Art Ensemble“ bestritten den kulturellen Teil. Larys trug ein Lied in mehreren Sprachen vor: „Ich bin ein Baum“ (… mit zwei Stämmen und nur einer Wurzel). Und Susanne Hocke rezitierte ein Gedicht, dass die Gefühle von Geflüchteten ausdrückt, wenn sie an ihre Heimat zurückdenken. Es entstand aus der Zusammenarbeit je zur Hälfte mit Geflüchteten und „Biodeutschen“.

Talkshow im Eilzugtempo

Martina Plum (Auslandsgesellschaft) moderierte die Veranstaltung. Im Eilzugtempo (die Veranstaltung war zeitlich etwas aus dem Ruder gelaufen)

Talkshow mit (v.l.) Klaus Wegener, Gerald Baars (Moderator), Wolfram Kuschke, Qussai Suliman, Milica Kostić und Martina Plum (Moderatorin)Foto: Leopold Achilles

Ex-WDR-Mann Gerald Baars eine kurze Talkshow. Darin sprach der Syrer Quassai Suliman (Lotsenprojekt der Auslandsgesellschaft) über seine Fluchtgründe und die Flucht nach Deutschland selbst.

Die Serbin Milica Kostić (Europäische Freiwillige 2018-2019) gab Auskunft über das einstige Jugoslawien, sprach über ihr abgeschlossenes Studium der Politikwissenschaft und das bevorstehende der Sozialwissenschaft sowie die Arbeit an der Auslandsgesellschaft.

Wolfram Kuschke erinnerte an die Fluchtbewegungen nach dem verheerenden zweiten Weltkrieg sowie an die heutigen. Betreffs des zuvor von Dr. Holthoff-Pförtner gesagten gab Kuschke zu bedenken: In Italien gebe es nicht nur einen Herrn Salvini, sondern auch einen Bürgermeister von Palermo. Und dieser Leoluca Orlando sage: „Schiffbrüchige aus Seenot zu retten, heißt unsere Mitmenschlichkeit retten.“

Gerald Baars schätze ein: Die Auslandsgesellschaft sei heute wichtig wie nie zuvor.

Klaus Wegener nannte die Zukunftsaufgaben der Auslandsgesellschaft: Integration. Die Auslandsgesellschaft habe jeden Tag 400 MigrantInnen im Hause, die Integrationskurse bekämen. Auch später würden sie weiter begleitet. Natürlich sei weiter Europa wichtig: „Wir sind ja auch Brückenbauer innerhalb Europas. Zum Beispiel im Bereich der Städtepartnerschaften.“ Überall wo es bröckele und krisele sei die Auslandsgesellschaft doch „aufgerufen auf einer kommunalen zwischenmenschlichen Ebene, dass die Kommunikation, das Miteinander, das Reden und Treffen miteinander – dass das aufrechterhalten bleibt“.

Das Musikalische wurden vom Musikprojekt Orpheus 21 bestritten – Suppe aus der Gulaschkanone

Musikalisch eingeleitet war die Festveranstaltung zum 70-jährigen Geburtstag der Auslandsgesellschaft vom Musikprojekt Orpheus 21 worden. Und Orpheus 21 war auch für den Ausklang der Veranstaltung verantwortlich. So wurden die Festgäste musikalisch zum Imbiss mit Erbsen- und Gulaschsuppe aus der Gulaschkanone und diversen Getränken geleitet. OB Ullrich Sierau hat angeregt die nächste Feier zum 75.

Von links: Wolfram Kuschke, Milica Kostić, Klaus Wagner, Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Erich G. Fritz (Ex-MdB) Marc Frese und Quassai Suliman. Foto: Leopold Achilles

Geburtstag der Auslandsgesellschaft zu begehen.

Instrumentalisten Musikprojekt Orpheus 21. Foto: Leopold Achilles

Musikprojekt Orpheus 21. Foto: Leopold Achilles

Blick von der Bühne ins Publikum. Foto: Leopold Achilles

Foto: Leopold Achilles

Foto: Leopold Achilles

Alle Gäste wurden am Eingang zum Depot herzlich begrüßt. Foto: Leopold Achilles

Klaus Wegener, Wolfram Kuschke und Gerald Baars. Foto: Leopold Achilles

Jürgen Larys trägt ein Lied vor. Foto: Leopold Achilles

Susanne Hocke rezitiert. Foto: Leopold Achilles

Foto: Leopold Achilles

Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ hat in NRW 206 000 Unterschriften für besseren Radverkehr gesammelt. Allein in Dortmund kamen 30 000 zusammen

Der Dortmunder Planungsdezernent Lutger Wilde (rechts außen) ist gekommen, um die symbolisch überreichten 30 000 Unterschriften entgegegenzunehmen. Fotos: C. Stille

Die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ hat in ganz Nordrhein-Westfalen 206.000 Unterschriften für besseren Radverkehr gesammelt. Allein in Dortmund kamen 30.000 Unterschriften zusammen. Am Montagnachmittag sind diese in der Berswordthalle von Dortmunder Aktiven der Volksinitiative in Anwesenheit von Pressevertretern symbolisch an Planungsdezernent Lutger Wilde übergeben worden. Spezielle Radfahrerprobleme wurden diskutiert. Wilde gab sich optimistisch in den kommenden Jahren seitens der Stadt spürbare Verbesserungen ins Werk zu setzen. Die überreichten Unterschriften wirkten da gewiss als Ansporn.

30.000 Unterschriften zeigen, meint die Volksinitiative: „Die Menschen in Dortmund wollen Rad fahren – und sie wollen, dass sich die Rahmenbedingungen dafür verbessern!“

Mit bis Mai 2019 30.000 Unterschriften sind in Dortmund bezogen auf die Einwohnerzahl mehr Unterschriften gesammelt worden als in jeder anderen Großstadt in Nordrhein-Westfalen. Die Volksinitiative zieht daraus folgenden Schluss: „Die Menschen in Dortmund wollen Rad fahren – und sie wollen, dass sich die Rahmenbedingungen dafür verbessern!“
„Die Volksinitiative richte sich zwar an den Landtag“, wurde erklärt, „aber die große Zahl von Unterschriften zeige, dass auch die Stadt viel mehr als bisher tun muss, um gute Bedingungen für den Radverkehr zu schaffen.“ Darauf wies Peter Fricke von VeloCityRuhr Lutger Wilde hin. Mit den 206.000 Unterschriften in NRW hat die Volksinitiative die erforderliche Anzahl von Unterzeichnungen erreicht. Übrigens, merkte Lutger Wilde an, sei auch seine eigene Unterschrift mit dabei. Der Landtag wird in den kommenden Monaten über die Forderungen beraten. Die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ richtet sich an das Land NRW. Eine Stärkung der Fahrradinfrastrukur in den Kommunen seitens des Landes wird gefordert.

Peter Fricke: Richtiger Schrift in die richtige Richtung. Maßnahmenpaket muss her und „finanziell ambitioniert werden

Peter Fricke von VeloCityRuhr.

Positiv beurteilte Peter Fricke, dass der Rat inzwischen zehn zusätzliche Stellen für den Radverkehr in Dortmund beschlossen habe. Er sprach von einem „riesigen Schritt in die richtige Richtung“. Aber jetzt müsse es auch ein Maßnahmenpaket geben und „finanziell ambitioniert unterlegt werden“.

Lutger Wilde: Radwegenetz wird mit einem Betrag von zwei Millionen Euro vorbereitet

Gefragt wurde nach dem Radschnellweg Ruhr. Auf den warte man ja nun auch schon lange. Wilde sagte, der Radschnellweg RS 1 sei ja nur ein Baustein. Man arbeite daran und wolle im kommenden Jahr die ersten Teilabschnitte umsetzen. Aber tatsächlich mache man als Stadt auch viel mehr. Der Planungsdezernent erinnerte an Projekt „Emissionsfreie Innenstadt“. Im Rahmen dessen werde ein Radwegenetz mit einem Betrag von rund zwei Millionen Euro vorbereitet. Es geht um die Ertüchtigung von Burgwall und Schwanenwall. Vorgesehen ist eine Aufwertung mit separaten Radwegen. Geplant sind auch neue Fahrradabstellanlagen. Wilde: „Da geht es um tausend Bügel, die in den nächsten drei Jahre platziert werden sollen.“ Man denke aber nicht nur an ein kurzfristiges Programm. Langfristig gehe es um die Ertüchtigung der Radwegeachsen in die Innenstadt. Des Weiteren werde darauf gesetzt, dass sich das Budget des Radverkehrs in den nächsten Jahren – angefangen vom Doppelhaushalt 2021 bis in die kommenden Jahre – erhöhen werde, um mehr Möglichkeiten zu haben, dort zu investieren. Die SPD-Fraktion habe einen Antrag eingebracht, dass das Radverkehrsmittelbudget entsprechend zu erhöhen. Dass sich im Rat dafür eine Mehrheit finde, geht Wilde aus.

Neue Stellen für den Radverkehr werden noch in diesem Jahr ausgeschrieben

Peter Fricke wollte wissen, wann die neuen Stellen für den Radverkehr denn kämen. Wilde: Man schreibe noch in diesen Jahr Stellen aus. Und hoffe im Verlaufe des nächsten Jahres das zusätzliche Personal dafür gewinnen zu können.

Halte Planungsdezernent Wilde das Ziel 25 Prozent Radverkehrsanteil in Dortmund bis 2025 für realistisch, wollte Peter Fricke wissen.

Planungsdezernent Wilde steht der Presse Rede und Antwort.

Umfrageergebnisse, so Wilde, bestätigten eine Zunahme des Radverkehrs in Dortmund: „25 Prozent ist sehr ambitioniert, vor allem, wenn man das Jahr 2025 im Blick hat.“

Diskussion über aktuelle Probleme der Velofahrer, die zu den gefährdetsten Verkehrsteilnehmern gehören

Die in der Berswordthalle anwesenden Aktiven diskutierten dann noch einige Probleme mit dem Planungsdezernenten, welche Velofahrer in unsere Stadt haben – u.a. knifflige Kreuzungs- und Radwegesituationen, die nicht selten lebensgefährlich für sie sind. Auch über die nötige bessere Kennzeichnung von Radwegen wurde gesprochen. Aufs Tapet brachte Peter Fricke auch die aktuelle Diskussion betreffs der Westfalenhallen, wonach eine direkte Verbindung für Radfahrer von der Lindemannbrücke bis zur Strobelallee geschlossen werden solle. Lutger Wilde versicherte, dass auch die Stadt diesen Weg offen halten wolle. Wie die Lösung aussehen solle sei indes noch nicht abschließend diskutiert. Im Verlaufe dieses Jahres bzw. Anfang nächsten Jahres in die Öffentlichkeit begeben und sich um eine gemeinsame Lösung seitens der Westfalenhallen GmbH und der Stadt bemühen.

Mir dem Hinweis eines der Aktiven, die Stadt möge sich doch auch mal über Fahrradkonzepte in anderen Städten – auch und vor allem im Ausland – kundig machen, ging man auseinander. Lutger Wilde bedankte sich noch einmal ausdrücklich für das Engagement der Aktiven von „Aufbruch Fahrrad“ und die symbolische Übergabe der 30.000 Unterschriften.

Paukenschlag vor 50 Jahren im Dortmunder Norden: Die Septemberstreiks 1969 kamen von unten ohne Beteiligung der Gewerkschaften. Zeitzeuge Werner Nass berichtete

Von links: Dr. Wilfried Kruse, Wiltrud Lichte-Spanger und Werner Nass. Foto: C. Stille

„Ein Paukenschlag ging vor 50 Jahren durch den Dortmunder Norden, der ganz Deutschland bewegte“, so Wiltrud Lichte-Spanger, die Vorsitzende des Evinger Geschichtsvereins. Spontane Streiks, ohne Unterstützung durch Gewerkschaften oder Parteien, begannen im September 1969 auf der Westfalenhütte, setzten sich über die Zentralwerkstatt der Zeche Fürst Hardenberg auf die Dortmunder Schachtanlagen und die Dortmunder Stadtwerke fort. Auch Betriebsräte hielten sich zurück, verschlossen sich in ihren Büros. Erfolge hefteten sie sich später an die Brust. Bald breitete sich die Streikwelle, der „Heiße Herbst 69“ über ganz Deutschland aus – Geschichte, die heute noch aktuell ist. Am Montagabend war dies Thema bei einer Veranstaltung des Evinger Geschichtsvereins. Als Zeitzeuge berichtete Werner Nass, später einer der einflussreichsten Betriebsräte in der Stahlindustrie, wie er den Streik erlebte.

Zur Situation im September 1969

Wiltrud Lichte-Spanger erinnerte an die Geschichte vor den Streiks. Zuvor hatte es nach dem Krieg in Westdeutschland die Aufbaujahre auch im Ruhrgebiet gegeben. Dann jedoch sei die erste Wirtschaftskrise 1966 eingetreten. Später sei eine Erholung erfolgt. Die Studentenbewegung stellte alles in Frage, was die Zeit des 2. Weltkriegs überlebt hatte. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms waren Gewerkschaften, wie sie meinten, durch die Friedenspflicht an langfristig abgeschlossene, niedrige Tarifverträge gebunden, während die Hoesch-Konzernleitung den Aktionären eine drastische Erhöhung der Dividenden ankündigte, sahen die Arbeiter weiter in die Röhre.

1969 sei dann die Forderung aufgestellt worden den Stahlarbeiter zwanzig Pfennig mehr pro Arbeitsstunde zu zahlen. Das wurde von den Verwaltungen brüsk angelehnt.

Wilfried Kruse: In den Jahren 1969 und folgende ging mit der Nachkriegszeit die Adenauer-Zeit zu Ende, die „grauenvoll war“

Dr. Wilfried Kruse, ehemals Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund, gab den ZuhörerInnen einleitend einen Einblick in die „lange Vorgeschichte“ der Streiks. Wenn bezüglich der Septemberstreiks von 1969 von spontanen Streiks geredet werde, so Kruse, entstehe der Eindruck, sie seinen „plötzlich und aus heiteren Himmel“ gekommen. Was nicht der Fall gewesen sei. Es stimme weder gesellschaftlich noch betrieblich. Kruse sagte, er habe eigentlich ein kurzes Video aus der Deutschen Schlagerparade 1969 zeigen wollen. Dies war aber an technischen Problemen gescheitert. Der Titel der Veranstaltung lautete ja „September 1969: Als die heile Welt zerbrach“. Deshalb der Blick auf die Schlager jener Zeit: denn die heile Welt ging ja auch 1969 noch weiter, wusste Kruse. Zwar habe es Elvis und Woodstock in den USA und die Beatles in Großbritannien gegeben – in der BRD aber hatte ein Schlagerstar den größten Erfolg überhaupt im Lande. Das sei Heintje gewesen, der Inbegriff von heiler Welt, mit „Heidschi Bumbeidschi“ Anfang 1969 der größte Hit.

Er erzähle das, erklärte Kruse, weil wir uns davor hüten müssten, Schwarz-Weiß-Bilder zu erzeugen.

Es habe nämlich immer Widersprüche und Spannungen gegeben.

In den Jahren 1969 und folgende gehe es um das Ende der Nachkriegszeit. Präziser gesagt: „Das der Adenauer-Zeit.“ Eine Zeit in der es eine Kombination gegeben habe aus einem in den 1950er Jahren beginnenden sogenannten „Wirtschaftswunder“ (Sinnbild dafür war Ludwig Erhard mit der Zigarre im Mund) und gleichzeitig eine äußerst konservative Grundhaltung. Einerseits es sei eine Zeit voller Optimismus – nach dem Krieg ging es endlich wieder aufwärts – gewesen, die andererseits jedoch, was die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffe, „grauenvoll war“.

Der Faschismus war beschwiegen worden

Nach 1945 sei der Faschismus eigentlich nicht zum Thema gemacht, sondern verdrängt und beschwiegen worden. Weshalb Dr. Kruse den Beginn des Endes der Nachkriegszeit nicht bei den 69er Streiks, sondern beim Auschwitz-Prozess (1963-1965) verortet.

Mit Willy Brandt kam ein Politik- und Moralwandel

Als wichtiges Datum nannte Wilfried Kruse 1966. Da sei nämlich die erste Garde der westdeutschen Politiker aus den 1950er Jahre abgelöst worden. Es kam zur ersten Großen Koalition. Der Sozialdemokrat Willy Brandt (im Widerstand gegen die Nazis tätig gewesen) wurde in der Bundesregierung des Christdemokraten Kurt-Georg Kiesinger (einem Nazitäter) Vizekanzler. Willy Brandts Credo: „Mehr Demokratie wagen“. Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 – wenige Tage nach dem Septemberstreik – bekam die SPD knapp 42 (!) Prozent der Stimmen. Willy Brandt wurde Bundeskanzler der sozial-liberalen Koalition (mit der FDP). Es habe ein Kultur- und Moralwandel begonnen und ein verändertes Frauenbild gegeben. Was Willy Brandts Politikwandel ermöglichte.

Für den jungen Gewerkschafter Werner Nass war diese Zeit „ein Hammer“

Nachdem Dr. Wilfried Kruse zum besseren Verstehen den entsprechende gesellschaftlichen Hintergrund jener Zeit nachgezeichnet hatte, sprach Zeitzeuge Werner Nass darüber wie es zu den Septemberstreiks gekommen war. Er selbst erlebte sie als junger Vertrauensmann „im dritten und vierten Glied“. Diese Zeit, sagte Nass, sei damals „ein Hammer für einen jungen Gewerkschafter“ gewesen.

An diesem 2. September 1969 habe er zufällig Frühschicht im Walzberg als Schweißer gehabt: „Um neun Uhr ging das dann rund.“

Die Konjunktur brummte: Für Aktionäre hohe Dividenden. „Die Malocher sollten außen vor bleiben“

Mehrere Faktoren wären damals zusammengekommen. 1969 sei genauso ein heißer Sommer wie 2018 gewesen. Da habe der Vorstand gesagt, man müsse den Kollegen an den Hochöfen etc. wenigstens eine Flasche Wasser geben. Das Unternehmen habe horrende Gewinne gemacht, die Konjunktur war enorm nach oben gegangen. Die Aktionäre sollten höhere Dividenden bekommen. Nass: „Aber der Malocher sollte außen vor bleiben.“

Dann spielte die IG-Metall eine Rolle. Was vor fünfzig Jahren so war und heute noch so ist. Die Perspektive sei, stets Tarifverträge für 12 Monate abzuschließen. Was ganz selten eingehalten worden sei und längere Laufzeiten vereinbart wurden. 1969 brummte also die Konjunktur und der Tarifvertrag lief noch bis zum 1. Dezember dieses Jahres. Einen neuen Tarifvertrag zu verhandeln war nicht möglich. Die IG Metall habe gesagt: Uns sind die Hände gebunden.

Zwischen den drei Stahlstandorten in Dortmund habe es seinerzeit Stundenlöhne zwischen 5,30 DM und 5,40 DM gegeben, während in der Weiterverarbeitung die Löhne höher gewesen seien.

Die Vorstände lehnten die Forderungen des Betriebsrats ab

Die Betriebsratsvorsitzenden gingen damals daran am 15. August 1969 Forderungen zu stellen, die Tarifverhandlungen vorzuziehen und der Arbeitslohn pro Stunde sollte um 20 Pfennig rückwirkend steigen.

Die Betriebsdirektoren äußerten Verständnis. Die Vorstände aber lehnten ab. Die Vorstände von Union und Phoenix waren bereit am 1. Dezember 1969 fünfzehn Pfennige draufzulegen. Der Betriebsrat der Westfalenhütte lehnte einstimmig dieses Angebot ab. Man wollte 20 Pfennig mehr, sofort.

Um den Forderungen Ausdruck zu verleihen, sollten 100 Arbeiter auf die Treppe zur Hauptverwaltung kommen – doch schon bald waren es 1000 und dann fast 3000!

Der damalige Betriebsrat Albert Pfeifer habe dann im Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden der Vertrauenskörperleitung Fritz Wäscher gebeten,

Treppe zur Hoesch-Verwaltung in späteren Jahren. Foto: via Geschichtsverein Eving.

dass dieser 100 Kollegen bitte, auf die Treppe zur Hauptverwaltung zu kommen. Nun rumorte es überall in den Betrieben. Einige Vertrauensleute im Bereich des Hochofens wollten es aber nicht bei der Zahl von 100 Kollegen belassen. Sie wollten die Kaffeepause um 9 Uhr nutzen, um mit mehr Leuten zur Hauptverwaltung zu kommen. Werner Nass: „Man ist gestartet und wusste nicht wo man landet.“

Auf einmal waren 1000 Menschen vor der Hauptverwaltung. Der Betriebsrat begannt mit dem Vorstand Gespräche zu führen. Der Vorstand sagte 20 Pfennig mehr zu. Doch zwischenzeitlich war die gesamte Frühschicht – vielleicht fast 3000 Arbeiter an der Treppe. Bevor das Ergebnis von 20 Pfennig mehr bekannt wurde, wurde die Losung herausgegeben: 30 Pfennig mehr. Die Sache schaukelte sich hoch. All das kam von der Basis. Die IG Metall, so Nass, und der Betriebsrat waren außen vor. Der Betriebsrat lehnte ab weitere Gespräche zu führen. Nun forderte man – wenn heute nicht 30 Pfennig beschlossen würden – fordere man 50 Pfennige. Eine Strohpuppe wurde symbolisch an der Hoesch-Hauptverwaltung aufgehangen.

Was wiederum dazu führte, dass die bürgerliche Presse – etwa die FAZ und die Bildzeitung – schrieben, die Frau des Vorstandsvorsitzenden Fritz Harders hätte sich auf ihrem Grundstück in Ergste mit der Pistole verteidigen müssen gegen diese schlimmen Stahlarbeiter. Diese seien von Kommunisten oder was auch immer ferngesteuert. Nass: „Alles erlogen.“ Er machte deutlich, an diesem 2. und 3. September 1969 habe es keinerlei parteipolitischen Aktivitäten gegeben. „Es waren die normale Kumpel, die Vertrauensleute, die aus eigenem Antrieb handelten.

Solidarität von den anderen Werken in Dortmund: 20 000 Menschen trafen sich am Wall!

All dies habe sich mittags am 2. September abgespielt. Studenten hätten versucht die Macht zu übernehmen. Die Stahlarbeiter rochen jedoch Lunte und ließen sich nicht missbrauchen.

Die Westfalenhütte stand alleine da. Die beiden anderen Werke in Dortmund sollten davon abgehalten werden sich zu solidarisieren. Die Mittagsschicht der Westfalenhütte führte den Streik weiter. Bei Union und bei Phoenix ließ nun ebenfalls die Nachtschicht die Arbeit ruhen. Der Betriebsrat forderte die Arbeiter auf die Arbeit wieder aufzunehmen

. „Ein ganz gefährliche Sache“, merkte Werner Nass an: „Uneinigkeit auf der Arbeitnehmerseite.“ Der Vorstand war dennoch nicht bereit zu verhandeln. Man glaubte – auch weil die IG Metall außen vor – die Sache liefe sich tot.

Am Hoesch-Museum. Foto: Stille

Am zweiten Tag des Streiks, dem 3. September, kam von den beiden anderen Werken in Dortmund das Signal an die Arbeiter der Westfalenhütte: Wir kommen zu euch.

Die Arbeiter von der Westfalenhütten kamen ihnen entgegen. Werner Nass: „Dieses Bild habe ich immer noch im Kopf. Das war der erste Kampf mit zwanzigtausend, die sich in der Stadt getroffen haben. Da war auch der kleine Krämer dabei, der ja auch Sorgen hatte, wenn das schief geht.“

Zwanzigtausend Menschen trafen sich am Wall.

„Es war eine Stimmung, getragen von der Kraft, die von unten kam“, erinnerte sich Nass. Doch keiner habe gewusst wie und wo es enden werde.

Sieg! „So ein Tag so wunderschön wie heute“

Gegen elf Uhr an diesem Tag war der Vorstand wieder bereit, die Verhandlungen aufzunehmen.

Wohl um zwanzig vor eins sei es gewesen, das Vorstand und Betriebsräte verkündet habe, die 30 Pfennig werden bezahlt, die Ausfallzeiten vergütet und es wird in keiner Form Abmahnungen geben.

Nass: „Unterm Strich ein unglaublicher Erfolg. Praktisch gegen die Gewerkschaft. Der Betriebsrat war stellenweise außen vor.“ Zum Schluss sei das Lied „So ein Tag so wunderschön wie heute.“ Noch am selben Tag wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Für ihn als junger Gewerkschafter, sagte Werner Nass, sei das ein Schlüsselerlebnis gewesen.

Er gab auch zu bedenken, dass man nach diesem unglaublichen Erfolg in nachfolgenden Arbeitskämpfen auch habe Niederlagen einstecken müssen. Erfolge setzten sich nicht einfach fort.

Werner Nass gab darüber hinaus zu bedenken, wenn man in einen Streik gehe, muss man auch sehen, wo eine Tür ist wo man wieder zurückkann. Auf der Gewerkschaftsschule habe man gelernt quer zu denken. Und entsprechendes Rüstzeug dafür erhalten, das Wirtschaftssystem zu begreifen. Mit den 69er Tagen habe ein neues Denken eingesetzt.

Die Septemberstreiks waren eine Initialzündung

Dr. Wilfried Kruse schätzte ein, dass der Septemberstreik auf der Westfalenhütte eine Initialzündung war, der fast die gesamte westdeutsche Stahlindustrie und 150 000 Stahlarbeiter erfasste. 30 000 Beschäftigte hatte sich in Dortmund am Septemberstreik in der Stahlindustrie und bis zu achttausend im Bergbau beteiligt.

Der Streik im Bergbau war ein Misserfolg

Im Bergbau indes sei die Streiksituation anders und viel schwieriger gewesen, erklärte Wilfried Kruse. Dort sei es um Arbeitskleidung und mehr Urlaub

Eingang ehemalige Zeche Minister Stein. Foto: via Geschichtsverein Eving.

gegangen. Die Vorstände im Bergbau hätten Verhandlungen abgelehnt. Die IG Bergbau und Energie war nicht nur wie im Stahlbereich die IG Metall außen vor, überrumpelt und nicht handlungsfähig, sondern massiv gegen diesen Streik eingestellt gewesen. Streikführer im Bergbau wurden von ihrer Gewerkschaft hart angegriffen.

Der Streik im Bergbau brach aus diesen Gründen zusammen und war ein Misserfolg.

Wolfgang Skorvanek sieht bei allen Unterschiedlichkeiten Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks und der Klimaschutzbewegung

In der Einladung zur Veranstaltung war vermerkt: „Bei allen Unterschiedlichkeiten meint Wolfgang Skorvanek, ebenfalls stellvertretender Vorsitzender des Evinger Geschichtsvereins, gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Septemberstreiks von 1969 und der heutigen Klimaschutzbewegung um Greta Thunberg. Skorvanek: „Damals wie heute entstand eine spontane Aktion junger Menschen, die ohne Rücksicht auf Sanktionen neue Ansprüche formulierten, bevor sie von Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften zunächst erkannt wurden.“

Fazit von Dr. Kruse

„Die Septemberstreiks waren der Höhepunkt, wo Arbeiter sichtbar wurden, aber gleichzeitig der Beginn vom Ende des Malochers. Des Malochers als schwer arbeitenden Bergarbeiter oder Stahlarbeiter.“

So könne man die Septemberstreiks als Höhepunkt und Abgesang des Malochers markieren.

Ein Kurzfilm zum Septemberstreik: