Nikolaus- und Sankt Martinstag sollten keine Eintagsfliegen bleiben. Wie wollen wir künftig leben?

In die Tage, da ich in der Türkei weile, fiel auch der Nikolaus-Tag. Ich hatte nichts im und auch – wie man landläufig sagt – keinen im Schuh. Aber es fiel mir eine Geschichte ein. Vor Jahren erzählte mir ein Orchestermusiker abends in der Theaterkantine, als er am Morgen aufgestanden und in seine Hausschuhe geschlüpft sei, habe er etwas Feuchtes an einem seiner Füße gespürt. „Da hat mir doch meine Frau“, erzählte er dem gespannt lauschenden Kantinenpublikum, „gefüllte Schokolade in die Hausschuhe gesteckt!“ Zur Rede gestellt, habe sie ihm geantwortet: „Heute ist doch Nikolaus! Irre. Eine Sauerei“, echauffierte sich der Musiker, „man ist doch kein Kind mehr!“ Wir versammelten Theaterleute lachten lauthals. Manchem spritzte das Bier aus den Mund …

In der Türkei ist der Nikolaus so gut wie nicht bekannt, die Deutschen wissen größtenteils wohl nichts über dessen Herkunft

Hier in Izmir fand ich in meinem Umfeld niemanden, der den Nikolaus kennt. Dabei lebte er doch in der Türkei. Na, ganz stimmt das nicht: es muss heißen, er lebte seinerzeit auf dem heutigen Gebiet der Türkei. Wiederum dürften umgekehrt viele Deutsche nichts über die Herkunft des Nikolaus wissen.

Wer war Nikolaus?

Nikolaus wirkte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts als Bischof von Myra in der kleinasiatischen Region Lykien, damals Teil des römischen, später des byzantinischen, noch später des osmanischen Reichs. […] Myra in Lykien, mittlerweile Demre, ist ein kleiner Ort etwa 100 km südwestlich von Antalya in der heutigen Türkei. Im 4. Jahrhundert war der Ort Bischofssitz […]“ Quelle: via Wikipedia. Weiter heißt es: „Über das Leben des historischen Nikolaus gibt es nur wenige belegte Tatsachen.“ Und weiter zu den Reliquien: „Nach der Evakuierung der Stadt Myra und vor ihrer Eroberung durch seldschukische Truppen 1087 raubten süditalienische Kaufleute die Reliquien aus der Grabstätte des Heiligen in der St.-Nikolaus-Kirche in Demre und überführten sie ins heimatliche Bari. Die Reliquien befinden sich in der eigens errichteten Basilika San Nicola. Die türkische Nikolaus-Stiftung fordert allerdings die Reliquien des Heiligen zurück. Die Stadt Bari feiert jedes Jahr zu Ehren des Heiligen vom 7. bis 9. Mai, dem vermutlichen Tag der Ankunft der Reliquien, das Fest der Translatio. Die Statue des Heiligen wird, begleitet von über 400 Personen in historischen Kostümen, in einer Prozession von der Basilika bis zum Hafen getragen und auf ein Boot geladen. Anschließend wird mit ihr die Bucht umrundet.“

Der folgende Text zum Vorlesen für Kinder von Efi Goebel (via Erzbistum Köln) erzählt vom Heiligen Nikolaus:

»Ihr kennt doch den Heiligen Nikolaus? Vor vielen hundert Jahren lebte er in dem Land, das wir heute Türkei nennen.

In seinen jungen Jahren war Nikolaus natürlich noch kein Bischof. Und noch lebte er auch nicht in Myra, sondern in einer anderen Stadt. Nikolaus war damals ein reicher Mann. Von seinen Eltern hatte er viel Geld, ein großes Haus und manch anderen Besitz geerbt.

In den Sommermonaten, wenn es schön warm war, spielte sich das Leben der Menschen auf den Straßen ab. Gern spazierte Nikolaus dann umher und hörte auf das manchmal muntere, manchmal traurige, manchmal komische Stimmengewirr in den Gassen.

Doch plötzlich hört er hinter einer Mauer eine traurige Stimme. Und auch weinende Stimmen sind nicht zu überhören: „Morgen werdet ihr zu euren neuen Dienstherren gehen,“ sagt eine tiefe Männerstimme. „Wie gerne würde ich euch bei mir behalten. Aber ich bin arm. Ich schaffe es nicht, genug Geld zum Leben für uns alle zu verdienen.“

Die traurige Stimme des Vaters und das Weinen der Mädchen stimmen Nikolaus nachdenklich. Kann er nicht helfen? Rasch läuft er zurück in sein Haus. Dort füllt er einen Sack mit Goldstücken. Er eilt zurück zur Gartenmauer. Er geht bis zu der Stelle, an der die Mauer ein Fenster zum Wohnhaus hat. Schnell schaut Nikolaus sich um: niemand hat ihn gesehen. Da nimmt er den Sack mit den Goldstücken und wirft ihn hinein! Bevor noch jemand aus dem Fenster schauen kann, dreht er sich um und läuft davon.

Im Haus hat der arme Vater das ungewöhnliche Geräusch am Fenster gehört. Und wie groß ist seine Überraschung, als er den aufgeplatzten Sack und die vielen Geldstücke entdeckt! Woher das Geld wohl kommt? Wer hat es durch die Fensteröffnung geworfen? Rasch schaut der Vater auf die Straße hinaus. Aber dort ist es menschenleer! Nur etwas weiter oben in der Straße, dort, wo die Häuser der Reicheren stehen, meint er eine Bewegung an der Haustüre wahrzunehmen. Dort wohnt doch der reiche junge Mann, dieser Nikolaus?! Er wendet seinen Blick wieder dem Geld zu: Ob es wirklich für ihn und seine Töchter bestimmt ist? Dann wäre er allen Kummer und alle Sorgen los! Die Frage, wer der gute Geber ist, lässt ihm keine Ruhe. Er beschließt, im Haus von Nikolaus nachzufragen. All seinen Mut nimmt er zusammen und klopft an. Der Diener führt ihn zu Nikolaus in den Garten. „Junger Herr“, spricht der Vater, und sinkt vor Nikolaus auf die Knie, „sag, bist du es, der einen Geldsack durchs Fenster in mein Haus geworfen hat? Ist es wirklich gedacht, mir und meinen Töchtern zu helfen?“

„Steh nur auf“, antwortet Nikolaus und hilft dem Mann auf die Füße. „Ich hörte zufällig von deiner Not. Es ist doch nicht schwer, von dem Vielen, was ich besitze, abzugeben. Du brauchst mir nicht zu danken. Ich freue mich mit euch, wenn es dir und deinen Töchtern gutgeht.“

Jahre sind vergangen. Nikolaus ist älter geworden. Nun unternimmt er Reisen, um andere Städte kennenzulernen. Eines Morgens will er in der Stadt Myra die Kirche besuchen. Zu Tagesbeginn möchte er dort beten. Die Lehren Jesu sind ihm wichtig! Er weiß, dass Gott ihn liebt. Er möchte wie Jesus den Menschen helfen. Er ist gerne Christ.

Als er den dunklen Kirchenraum betritt, stellt sich ihm plötzlich ein alter Mann entgegen: „Das ist er, das ist unser neuer Bischof!“, ruft er in die Kirche hinein. Nikolaus ist verwirrt: „Ich bin kein Bischof!“, sagt er und will sich abwenden. Doch der Mann hält ihn fest: „Unser alter Bischof ist vor kurzer Zeit gestorben. Nun brauchen wir einen neuen Bischof, der sich um uns sorgt und uns führt. In der vergangenen Nacht haben wir gebetet, dass Gott uns zeigen möge, wer unser Bischof sein soll.“ Die Augen des alten Mannes glänzen. „Wir meinten, dass Gott sicher einen guten und frommen Menschen zu uns schicken wird. Und du bist nun schon so früh am Morgen in die Kirche gekommen! Wer seinen Tag im Gebet unter den Schutz Gottes stellt, der ist sicher ein guter Bischof für uns!“

Nikolaus ist verwirrt: Sollte es wirklich Gottes Wille sein? Er will darüber nachdenken. Er möchte überlegen, ob er als Bischof den Menschen und Gott dienen kann. Plötzlich merkt er, dass in der Kirche noch viele andere Menschen sind. Alle hoffen, dass er ihr Bischof werden wird! Die hoffnungsvollen Augen der Menschen und ihre Bitten bleiben bei Nikolaus nicht ungehört. Einige Zeit später wird Nikolaus zum Bischof von Myra geweiht. Nikolaus spürt, dass er Gott und den Menschen als Bischof gut helfen kann[…]

Was sagt uns diese Geschichte heute?

Es ist natürlich eine schöne Tradition und den Kindern alljährlich eine Freude, wenn sie am Nikolaustag am Morgen etwas Süßes in ihren Schuhen finden. Aber denken wir auch daran, dass heutzutage bei vielen unseren Kindern die Schuhe am 6. Dezember gewissermaßen leer bleiben. Oder hinein Getanes von den Eltern anderswo eingespart werden muss. Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.Seit 2015 ist dieser Wert laut eines Mikrozensus um mehr als einen Prozentpunkt gewachsen“, lasen wir am 19.9.2022 in der Welt. Ein Skandal für eines der reichsten Länder der Erde! Eine Schande ist des Weiteren die Anzahl der Tafeln in Deutschland, die inzwischen an ihre Grenzen kommen. Und noch dazu einst gar nicht ins Leben gerufen worden waren, um Arme zu versorgen. Dagegen werden die Reichen in diesem Land immer noch reicher.

Was bedeutet den Menschen heute das Thema „Teilen“ und Solidarität?

Vor 1700 Jahren teilte Martinus von Tours, oder St. Martin, seinen Mantel mit einem Bettler am Tor der französischen Stadt Amiens. Bis heute gilt das als ein Symbol für Barmherzigkeit und Solidarität und, das viele Menschen in Europa und anderswo in der Welt seit Jahrhunderten inspirierte und weiter inspiriert. Im Jahr 2017 liefen mein holländischer Freund Tjerk Ridder zusammen mit Esel Lodewijk (Ludwig) die neue europäische Kulturroute „Het Martinus-Weg“ von Paris nach Utrecht.

Zuvor war Ridder am 1. Juli 2017 mit Esel Lodewijk anlässlich der Internationalen Martinus-Parade in Tours in Frankreich.

Unter dem Titel „In Het Licht Van Martinus“ wandelten beide auf den Spuren keines geringeren als Sankt Martin. Und in Folge dessen interessierte sich Tjerk Ridder natürlich für das Thema „Teilen“ und dafür, was den Menschen heute Solidarität bedeutet. Meinen damaligen Bericht finden Sie hier.

Sich mit Nikolaus- und Sankt-Martins-Tag zu befassen ist nicht verkehrt

Mir scheint es nicht verkehrt zu sein, dass uns Nikolaus-Tag und der Sankt-Martins-Tag daran erinnern, dass wir wieder einmal daran denken, dass es anderen schlechter als einem selbst geht – und das wir mit ihnen teilen oder ihnen anderswo helfen sollten. Allein, das ist zu wenig! Es mit allen diesen Tagen so. Auch mit Internationalen Frauentag am 8. März, wo den Frauen etwas Gutes getan und daran erinnert wird, dass sie in der Arbeitswelt noch immer schlechter entlohnt werden als Männer. Und danach? Alles vergessen. Es läuft alles weiter wie gehabt. Vergessen die Schwüre und hehren Politiker-Worte von gestern. Das kann es doch wahrlich nicht gewesen sein!

Wie wollen wir leben?

Wir, vom »Stichpunkt Magazin», wollen „Das Magazin für eine Gesellschaft mit Kultur“ sein. Was durchaus heißt, auch Optimismus zu verbreiten. Was jedoch nicht ausschließt festzustellen – feststellen zu müssen -, dass mit unserer Gesellschaft vielfach etwas nicht (mehr) stimmt. Sie ist und wird weiter gespalten. Herrschende Politik sowie Mainstream- und Konzernmedien betreiben das quasi Hand in Hand. Viele Menschen trauen einander nicht mehr. Andere feinden sich an.

Es gibt Stimmen, die meinen, wir befänden uns bereits im Dritten Weltkrieg. Zumindest ist es bereits nach Zwölf. Wie auch immer: Es gilt unsere Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Zu Bedenken ist, dass wir schon einmal weiter waren. Zunächst einmal müssen wir jeder für sich und letztlich alle zusammen, überlegen: Wie wollen wir leben?

Darüber müssen wir einen Diskurs führen und – auch über Ländergrenzen hinweg – in einen Austausch treten. Warum uns nicht an Willy Brandts Worten seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag orientieren? Brandts Kernbotschaften lauteten damals: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen.“ Gerade und erst recht jetzt, da es heutzutage Politiker und Medien gibt, die diese richtige Politik als falsch bezeichnen und das damals Wegweisende in jeder Hinsicht diffamieren.

Tage wie der Nikolaus- sowie der St.Martins-Tag sollten uns ruhig auch weiterhin daran erinnern, was Solidarität zu leben heißt. Nur sollten das keine Eintagsfliegen bleiben. Es sollte und muss an einer Gesellschaft gebaut werden, wo künftig solidarische Verhaltensweisen wie sie Nikolaus von Myra und Martin von Tours gezeigt haben so alltäglich sind, dass alles andere einfach als nicht mehr vorstellbar gilt.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint ebenfalls im >>Stichpunkt Magazin<<.

Beitragsbild: Sascha Hübers via Pixelio.de

„Endspiel Europa“ von Ulrike Guérot und Hauke Ritz – Rezension

Für eine mit Herz und Verstand glühend viele Jahre sich für Europa engagierende Politikwissenschaftlerin wie Ulrike Guérot muss es schmerzhaft gewesen sein vom Scheitern des europäischen Projekts zu schreiben. Aber es zeugt eben auch davon, dass die Autorin sich nichts vormacht und realistisch auf den Zustand der Europäischen Union blickt. Und doch ist das zusammen mit dem Geschichtsphilosophen Hauke Ritz entstandene Buch „Endspiel Europa“ kein ausschließlich schwarz malender Abgesang auf das einstige Friedensprojekt. Dafür spricht der Untertitel des Buches: „Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“

Um es gleich anzumerken: Dass auch hier wieder von Europa die Rede ist, wenn doch eigentlich die Europäische Union (EU) gemeint ist, behagt mir wie sooft auch hier nicht. Schließlich ist Europa einiges mehr als es die EU. Aber wir wissen ja was gemeint ist.
Gewidmet ist das Buch übrigens Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1931 – 2022) und Jaques Delors (*1925). Für letzteren arbeitete Ulrike Guérot einst einmal.

Sobald Europa wieder erwacht, kehren Wahrheitsfragen in die große Politik zurück. Auf Dauer hängen Erfolge Europas von der Fähigkeit der Europäer ab, an ihre Rechte auf Erfolg zu glauben.“
So wird Peter Sloterdijk im Buch zitiert. Wird Europa wieder erwachen, oder wird es im Strudel falscher Entscheidungen und unter Führung unfähiger, nicht selten offenbar geschichtsblinder Politikerinnen und Politiker – denn wo sind heute Größen wie Helmut Kohl, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Olof Palme und Bruno Kreisky? – absinken. Ich vermute einmal den USA gefiele Letzteres.

Denn es lässt sich – ganz ohne Häme, sondern mit Trauer – konstatieren, dass das heutige Amerika, sozial verwahrlost und kulturell ausgelaugt, nicht mehr jenes country of freedom ist, das die einstige Strahlkraft ausgemacht hat“, schreibt Ulrike Guérot in einem Gastbeitrag zu ihrem zusammen mit Hauke Ritz geschriebenen Buch für das neu auf dem Markt befindliche „Stichpunkt Magazin“.
Schließlich ist das Imperium USA längst auf dem absteigenden Ast. Wir wissen aus der Geschichte: alle Imperien sind über kurz oder lang gestrauchelt und schlussendlich gefallen. Mir scheint, die USA wollen diesen Fall noch lange dadurch hinausschieben, indem sie u.a. Länder der EU (maßgeblich gewiss Deutschland) weg- und niederdrücken, um selbst deren Stelle zu übernehmen. „Fuck the EU“ – wie die US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland einst sagte – so viel halten also die Vereinigten Staaten von der Europäischen Union.
Ja, es stimmt, wenn im Buch vom einstigen Friedensprojekt Europa die Rede ist. „Was für ein Verrat am Wesenskern Europas!“, schreibt Guérot auf den Ukraine-Krieg bezogen. „Europa, das hieß siebzig Jahre lang nie wieder Krieg! Während auf jedem Balkon die blaue Europafahne mit den zwölf gelben Sternen hängt und die EU eine europäische Friedenskonferenz einberufen müsste, nimmt Europa derzeit undifferenziert Partei für eine geeinte ukrainische Nation, die es in dieser Form nie gab, noch gibt, sondern die wie alle Nationen in Europa ein multi-nationales und multi-ethnisches Produkt der Geschichte ist.“
Siebzig Jahre lang nie wieder Krieg? Wir sind vergesslich. Weshalb hier eingewendet sei: Und statt dem Frieden zu dienen, hat die EU am Jugoslawien-Krieg mitgestrickt, ihn erst möglich werden lassen. Bomben geworfen sogar! Deutschland mit dabei! Die Autoren erinnern daran, dass der behauptete Genozid im Kosovo in dieser Form keiner war. Welchen aber die USA zum Grund nahmen, Belgrad bombardierten.
Wäre die EU das viel beschworene Friedensprojekt, hätte daran gearbeitet werden müssen, den Jugoslawien-Krieg zu verhindern. So ist es auch heute abermals mit dem Ukraine-Krieg. Statt ihn endlich über den Einsatz intensiver diplomatischer Mittel beenden zu helfen, werden Sanktionen über Sanktionen gegen Russland verhängt. Und Waffen über Waffen an die Ukraine geliefert, die den Krieg verlängern sowie nur noch mehr Tod und Zerstörung zur Folge haben. Doch wer Verhandlungen fordere, so schreiben die Autoren des vorliegenden Essays, gelte als Lumpenpazifist. Vieles erinnert an 1914.

Es ist ganz so, als hätte Europa sich entschieden, noch einmal alle Elemente von Kriegspropaganda, wie die belgische Historikerin Anne Morelli sie für den I. Weltkrieg aufgeschrieben hat, zu wiederholen: völlige Dämonisierung des Gegners, Reduzierung des Feindes auf eine Person („Putin“), fehlende Kontextualisierung, klare Teilung in Gut und Böse, empörte Abwehr von Mitverantwortung. Die Psychodynamik Kriegshetzer erinnert an 1914. Europa ist in der kompletten Regression!“
Was bis heute nicht entstanden ist, ist eine Europäische Union der Menschen. Und mit der Demokratie in der EU – man schaue sich nur die mangelnde demokratische Einbeziehung bzw. Kompetenz des Europäischen Parlaments bezüglich politischer Entscheidungen an – ist es nicht weiter her!
Guérot/Ritz haben all die Fehlschläge aufgeschrieben, die der EU in den vergangenen Jahrzehnten nicht gutgetan haben. Die gescheiterte europäische Verfassung, die Europroblematik, sowie die Finanzkrise und vieles andere mehr. Bitter, was Ulrike Guérot da zu Recht beklagt:

Das eine europäische Großprojekt Ever Closer Union, eine immer engere Europäische Union, besiegelt durch den Maastricher Vertrag von 1992. Das andere war der Aufbau einer kooperativen von dem kontinentalen Friedensordnung, jenes ‚europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok von dem Michail Gorbatschow sprach, besiegelt in der Charta von Paris vom November 1990. Beide sind heute, 2022, gescheitert. Europa muss dringend ganz mit der Kultur beginnen, wie damals schon Jean Monnet sagte.“
Schon eingangs des Buches weisen die Autoren daraufhin, dass `sie bewusst nicht die übliche westliche Brille aufgesetzt haben, wenn sie über den Ukraine-Krieg schreiben. Auch machen sie unmissverständlich deutlich, dass sie den russischen Einmarsch in die Ukraine als völkerrechtswidrig betrachten. Dem Stempel Putinversteher weisen unmissversändlich von sich. Zu Verstehen müsse man allerdings versuchen, was Putin, was Russland umtriebe, was wie und warum von Moskau getan und gefordert würde.
Im Essay heißt es: „Putin“ mag der Anlass sein für aktuelle Kopflosigkeit europäischer Politik, greift aber als Antwort zu kurz. Denn „Putin“ lenkt vom Eigentlichen ab! Das Eigentliche ist, dass die beiden europäischen Großprojekte, die 1989 am Ende des Kalten Krieges – am vermeintlichen ‚Ende der Geschichte‘ (Francis Fukuyama) – Hoffnungsträger für eine Neugestaltung des europäischen Kontinents waren, gescheitert sind. Daran ist nicht „Putin“ schuld, sondern Europa allein, das behaglich und geschichtsvergessen in einen „Westen“ gebettet hat, den es längst nicht mehr gibt, anstatt nach 1989 an seiner Emanzipation zu arbeiten.“
Ein informatives Essay der beiden Autoren Ulrike Guérot und Hauke Ritz. Es sollte gewiss und unbedingt zum Nachdenken anregen.
Wird womöglich Europa in dem Sinne erwachen und werden die Europäer an ihre Rechte auf Erfolg glauben, wie Peter Sloterdijk meint? Oder am Ende dran glauben müssen?
Gegen Ende des Buches lesen wir: „Es gilt zu fragen, ob es für Europa nicht ganz grundsätzlich andere Möglichkeiten gibt, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen, als sich Hals über Kopf in amerikanische Hände zu werfen: nämlich die, den Krieg in und um die Ukraine als Katalysator zu nehmen, um alles zu überdenken, was in den letzten Jahrzehnten an europäischer Entwicklung schiefgelaufen ist. Und sich dabei an den Wesenskerns Europas – nämlich ein föderales Friedensprojekt zur Überwindung der Nationalstaaten zu sein – zu erinnern.“ Weiter lesen wir: „Und an die Karte von sich selbst, an die Europa von 1534 und daran, was sie uns sagen möchte. Bis zum 500. Geburtstag dieser Karte wären noch ein paar Jahre Zeit, sich an die Heilung der Europa zu machen, diese wieder ganz werden und wieder mit den Füßen auf dem russischen Boden stehen zu lassen.“
Bedenken wir das Ende, wenn wir das nicht gebacken bekommen!

Übrigens lässt das Buch keinen Zweifel daran, dass die USA den Krieg in der Ukraine nicht nur gewollt haben, sondern Washington ihn auch intensiv und lange zuvor als Stellvertreterkrieg vorbereitet hat. In drei Kapiteln zeichnen die Autoren „für die 1990er, 2000er und 2010er Jahre in groben Strichen nach, wie und warum Europa in den letzten dreißig Jahren das, was eigentlich werden wollte, aus den Augen verloren hat und die EU als politisches Projekt spätestens seit der der Jahrtausendwende keine Chance mehr hatte“.

Mit diesem Essay wollen die Autoren dazu beitragen, Europa aus der Verdrängung und Selbstablehnung des Eigenen herauszuholen. Es geht ihnen um die letzte Chance eine europäischen Emanzipation. Wie dieser Krieg immer weiter eskaliert wurde zeigen die Autoren ab dem 24. März 2021, wo die Ukraine eine Militärstrategie verabschiedete, die die Wiedereingliederung der Krim sowie der Republiken Donbass und Lugansk fordert, bis hin zum hin zum 24. Februar 2022 als russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten. Dazwischen lagen weitere Eskalationsschritte in Absprache mit NATO-Staaten.

Ulrike Guérot und Hauke Ritz weisen im Buch weiter vorn auf eben diese älteste Karte der Europa hin.

„Die älteste Karte der Europa“ – von welcher eben schon die Rede war – „von 1534, Europa Prima Pars Terre in Forma Virginis, „Europa, erster Teil der Erde, in Gestalt einer Jungfrau“, zeigt eine majestätische Frauenfigur, die den ganzen europäischen Kontinent abbildet. Spanien ist der Kopf und trägt die Krone. Francia ist die Brust, Germania das Herz, Großbritannia hängt lose am linken Arm, Italia ist der rechte Arm. Weiter im Bauch beziehungsweise im Unterleib der Europa befinden sich, lose angeordnet und ohne klare Grenzen, Polonia, Bulgaria, Albania, Rumania und Russia, die ganzen europäischen Völker eben. Die Karte endet mit einem üppig ausraffenden Kleid hinter Moskau im Norden und im Süden am Bosporus. Die Europa steht mit zwei Füßen fest auf der russischen Landmasse, während sie ihren Kopf
in den Atlantik neigt. Sicher hat man sich 1534 etwas bei dieser Karte gedacht, als man die Füße Europas nicht auf das Wasser des Atlantiks
gestellt hat. Dieser Europa wird jetzt der Garaus gemacht.“

Ulrike Guérot, Hauke Ritz

Endspiel Europa

Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können

 
Seitenzahl: 208
Ausstattung: HCoSU
Artikelnummer: 9783864893902

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Über das Buch

Wie wir Europa retten können

Europa ist mit einem grausamen Krieg an seiner Grenze konfrontiert und steht dreißig Jahre nach Wiedervereinigung und Maastrichter Vertrag am Scheideweg. Ulrike Guérot und Hauke Ritz beleuchten in ihrem Essay „Endspiel Europa“ die Entwicklung der Europäischen Union seit 1992 und besinnen sich auf die ursprünglichen europäischen Werte und Ziele: ein souveränes Europa und eine kontinentale Friedensordnung. Die Entwicklungen, die dem Ukraine-Krieg vorangingen, beleuchten sie genau und bringen bisher weitgehend Unbekanntes ans Licht. Ulrike Guérot und Hauke Ritz fordern ein Umdenken hin zu einem eigenständigen Europa, das gegenüber Amerika und Russland als gleichwertiger Partner auftritt.

Ulrike Guérot

Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin, Autorin und Aktivistin in den Themenbereichen Europa und Demokratie, mit Stationen in…

Hauke Ritz

Hauke Ritz studierte an der FU und HU Berlin. Nach seiner Dissertation im Fach Philosophie mit dem Schwerpunkt Geschichtsphilosophie wendete er sich verstärkt Fragen der Außenpolitik und Friedensforschung…

Das „Stichpunkt Magazin“ geht an den Start: Für eine Gesellschaft mit Kultur

Zeitungen und Magazine gibt es nahezu wie Sand am mehr. Neue kommen, andere gehen. Letzteres trifft schmerzlich für Leser und Macher auf das Magazin „Melodie & Rhythmus“ zu. Andere – wie nun das „Stichpunkt Magazin“ haben den Mut und gehen voller Zuversicht an den Start.

Was will das „Stichpunkt Magazin“?

„Mit dem »Stichpunkt Magazin« gibt es nun ein Medium“ schreibt Herausgeber Thomas Stimmel, „welches den gesamtgesellschaftlichen Dialog fördern und bewusst Lösungsräume anbieten möchte, sowie gesellschaftliche und politische Themen mit künstlerischen und kulturellen Inhalten verbindet. Das Mitmenschliche in den Vordergrund stellt und die, sich im Laufe der Zeit gebildeten gesellschaftlichen Blasen öffnen, oder zumindest »anstechen« will.

Wir möchten unsere Leser dazu anstiften neugierig zu sein und neue Inhalte für sich zu entdecken. Sich von besonderen Menschen inspirieren zu lassen. Zusammengefasst: Wir wollen dazu animieren, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Die Kunst ist hierbei eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen Menschen unterschiedlichster Standpunkte. Kunst kann vermitteln, Ängste nehmen und Brücken über tiefe Gräben ziehen.“

Das Magazin

für eine Gesellschaft mit Kultur

Gemeinsam geht es besser

Die Erstausgabe des Magazins finanziert sich ausschließlich aus direkten Verkäufen. Um die Inhalte und die kommenden Ausgaben weiter ausbauen zu können, möchten wir bewusst mittelständische Unternehmen ermuntern, die Publikation durch Anzeigen zu unterstützen. Besonders in diesen Zeiten ist es notwendig, kleinere und mittelständische Unternehmen zu fördern, da diese das Rückgrat unserer Gesellschaft darstellen.

Das Stichpunkt Magazin bietet hierfür kostengünstige Möglichkeiten, sowohl in der ditialen, als auch in der gedruckten Ausgabe zu erscheinen. Es können diverse mediale Inhalte transportiert werden.

Anfragen bitte an: anzeigen@stichpunkt-magazin.com

Coverfoto: Thomas Stimmel

In aller Bescheidenheit möchte anmerken, dass ich mich glücklich schätze, an dieser neuen Publikation mitarbeiten zu dürfen.

Der Neuanfang: »Stichpunkt Magazin«

Thomas Stimmel im Vorstellungsvideo