Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Rezension

Egon Krenz, einstiger Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Meine Rezension zum ersten Teil seiner Memoiren unter dem Titel „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg“ (»dass ein gutes Deutschland blühe«) leitete ich folgendermaßen ein:

„Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden.“

Biografien wie die seine waren durchaus so selten nicht. Sie sind freilich nicht ohne den Hintergrund des zu Ende gegangenen verheerenden Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Krenz` Schwester lebte in Westerland in der britischen Zone, als der zehnjährige Egon mit seiner Mutter illegal zu Besuch dorthin hinreiste. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit ihrem Sohn wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“ Der Westen war für Egon Krenz keine Alternative.

Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg (heute Kołobrzeg, Republik Polen) , fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Die DDR schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der erste Teil seiner Biografie hat mich als einstigen DDR-Bürger gefesselt. Wir waren ja jeden Tag mit ideologisch überladenen Sätzen und dementsprechend ausgewalzten Wortungetümen in unseren Zeitungen konfrontiert. Der darin mit der Zeit in Form immer langweiliger werdenden Bleiwüsten daherkommenden, Propaganda waren wir überdrüssig. Weder aber war ich persönlich ein Gegner der DDR noch unbedingt ein „Fan von Egon Krenz“.

Wir lesen im zweiten Teil seiner Biografie, dass Krenz gar nicht amüsiert darüber war, dass er bei einem Besuch von DDR-Brigaden, welche am Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion beteiligt waren, mit dem Ausspruch: „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ empfangen worden war. Hier ein Video vom Offenen Kanal Magdeburg über die „Trasse“.

Egon Krenz fühlte sich halt als einer von vielen SED-Funktionären (er stand ja zunächst der FDJ vor). Und wollte nicht hervorgehoben werden. Aber er nahm das ehrliche Bekenntnis der Trassenleute nicht übel.

Seine Biografie erster Teil bringt uns neben dem einstigen FDJ-Chef und SED-Funktionär den Menschen Egon Krenz und dessen Ansichten in sachlicher und ehrlicher Form nahe. Auch spart er nicht daran, eigene Fehler, Irrtümer und diejenigen der Partei- und Staatsführung offen zu benennen.

»Wir hatten es in der Hand!«

Dessen bleibt sich Egon Krenz nun auch im inzwischen herausgekommenen zweiten Teil seiner Biografie, welche unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ steht nichts schuldig. Das Buch befasst sich mit den Jahren 1973-1989: »Wir hatten es in der Hand!« Egon Krenz
— Teil II der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR —

Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«.

„Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt“, informiert der Verlag, „setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste.“

Zum jüngsten, zweiten Band der auf drei Bände angelegten Memoiren von Krenz schreibt edition ost:

„Der zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR führt direkt in den Inner Circle der Staatsführung und in jene Phase, die mittels Wandel durch Annäherung die friedliche Koexistenz sichern soll. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die neue Ostpolitik der SPD-Regierung in der BRD und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Inzwischen vom Westen als »Honeckers Kronprinz« aufmerksam beäugt, ist er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöst. Was angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet der Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste. Krenz berichtet faktenreich und selbstkritisch und reflektiert von heutigem Erkenntnisstand aus differenziert die Ereignisse, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren.“

Für uns Leser ist all das aus erster Hand berichtete abermals sehr interessant. Die DDR-Bürger erfuhren nicht was hinter den Kulissen sich in der Regierung, in Partei- und Staatsführung abspielte. Freilich machten sie sich ihre Gedanken. Und nebenan in der BRD wurde versucht alles Mögliche aus dem Tun und Lassen der DDR herauszulesen. Man betrieb im Prinzip Kaffeesatzleserei. Besonders die Springer-Medien, vornweg die Bild waren darin besonders engagiert. Zuweilen lag man sogar richtig bzw. fast richtig. Man hatte wohl auch Zuträger, die aus dem Nähkästchen plauderten. Und über Westradio und Westfernsehen drangen die Halbwahrheiten, Vermutungen sowie auch manches, was einen wahren Kern hatte, auch in die Wohnstuben der DDR-Bürger. Und dort versuchte man sich einen Reim darauf zu machen. Hoffnungen gab es ohnehin, neue wurden geweckt. Was freilich auch die Partei- und Staatsspitze beschäftigte. Und man sich dort wiederum Gedanken machte wie darauf zu reagieren sei. Was sollte in den DDR-Medien veröffentlicht oder lieber verschwiegen werden. Und dennoch drang manche Information – vor allem später als Gorbatschow in Moskau am Ruder war – an die DDR-Öffentlichkeit. Egon Krenz stellt dar, wie dazu auch innerhalb des Politbüros unterschiedlich gespielt wurde. Wie er selbst gezwungen war mit dergleichen umzugehen. Vor allem als er selbst ins Politbüro berufen worden war – wovon er selbst ziemlich überrascht gewesen sei.

Wem konnte man voll vertrauen, bei wem war in mancher Beziehung Vorsicht geboten. Gegenüber Honecker, schreibt Krenz, sei er stets loyal gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und und sich beschreibt er als vertrauensvoll und auch kollegial. Wenn auch Krenz schon mal einen Rüffel vom Chef wegstecken musste. Öfters musste er seinen Chef bei Terminen vertreten. Krenz erlebte Honecker zunächst als durchaus geistig wie körperlich fit und immer gut vorbereitet. Auch bei Begegnungen mit Westpolitikern, die Honecker durchaus schätzten. Was ebenso für wichtige Industrielle in Westdeutschland, wie beispielsweise etwa Berthold Beitz, aber auch andere galt. Wovon allerdings so mancher dieser BRD-Politiker nach dem Ende der DDR nichts mehr wissen wollten.

Durchaus anders zeichnet Krenz Honecker als die DDR-Normalbürger ihn für gewöhnlich erlebten bzw. sich selbst ein Bild machten. Beim Lesen von Krenz` Zeilen ist man als einstiger DDR-Bürger durchaus versucht manch eigenes damaliges Gemecker oder irgendeine gemachte Witzelei, die Person Honecker betreffend, im Nachhinein eher als unpassend zu empfinden. Nur was die spätere Zeit anbetrifft konstatiert Egon Krenz einen gewissen Altersstarrsinn bei Honecker. Er dachte ja bis zum bitteren Ende nicht daran seinen Sessel für einen Jüngeren freizumachen. Was auch nicht unwichtig ist: Erich Honeckers strikter Antifaschismus und sein Eintreten für den Sozialismus beruhte gewiss auch auf dessen Verfolgung durch das Naziregime. Honecker wurde damals für zehn Jahre ins Gefängnis geworfen. All das prägt schließlich.

Michail Gorbatschow

Was das Agierens von Michail Gorbatschow betraf war Honecker mit der Zeit immer skeptischer geworden, war mit Vielem was dessen Politik und Handeln betraf, so nicht einverstanden.

Krenz selber bekennt, von Anfang an Gorbatschows Politik eher positiv bewertet und von Herzen unterstützt zu haben. Da spricht er allerdings über die Zeit „vor dem Verrat Gorbatschows“, wie er im Vorwort „Wo ist denn Ihre Klingel, Herr Krenz?“ (S.9) schreibt.

Krenz kritisiert nicht nur Gorbatschows Alkoholverbot als mehr als fragwürdig, was den Nutzen anging. Sondern auch dessen Wirtschaftspolitik. Was dazu führte, dass in manchem sowjetischen Geschäft die Regale leer blieben. Und schließlich war auch der DDR-Führung nicht verborgen geblieben, wie die sowjetische Wirtschaft im Großen und Ganzen unter Gorbatschow quasi den Bach herunterging. Die UdSSR sah sich deshalb veranlasst den Ölpreis für den Bruderstaat DDR immer weiter zu erhöhen. Was in der DDR wiederum zu Schwierigkeiten führte.

Später – und erst recht nach dem Ende der DDR – hat Egon Krenz erleben müssen, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch nicht immer ganz ehrlich spielte. Sogar manches gar nicht so gesagt haben wollte. Was Egon Krenz bei einem Zusammentreffen in einem Berliner Hotel die Stirne runzeln ließ. Sogar Raissa Gorbatschowa bestätigt Egon Krenz damals. Ihr Mann bestritt das Gesagte auch seiner Frau gegenüber.

Mehrmals hält Krenz Gorbatschow im Buch vor, dass er den sozialistischen Bruderstaaten versprochen hatte, sie könnten von völlig souverän handeln. Davon habe er, so Krenz, jedoch nichts bemerkt.

Wobei wir bei einer Tatsache sind, die beide deutsche Staaten betraf (und die BRD aktuell wohl noch immer betrifft): Letztlich konnten sie wichtige Entscheidungen nicht selbst treffen ohne grünes Licht aus Washington oder Moskau dafür erhalten zu haben.

Rückmeldungen

In seinem Vorwort zum zweiten Teil seiner Biografie schreibt Egon Krenz, dass er viel Zuspruch für seinen ersten Band erhalte. Aus Ost wie aus West. Ein 90-jähriger Leser aus Gransee ließ ihn wissen: «Alles, was Sie beschreiben, habe ich so ähnlich erlebt.«

„Ein 22-Jähriger aus einem kleinen Dorf in Norden Baden-Württembergs bekundete sein Interesse für die DDR-Geschichte, die nach seiner Wahrnehmung im Westen entstellt werde. Und ein ehemaliger Schüler der Erweiterten Oberschule (EOS) äußerte, man habe in der DDR im Fach Staatsbürgerkunde gehört, «was Kapitalismus ist«. Damals hielt er es für übertrieben und wollte es nicht glauben. Seit 1990 wisse er, dass es eher untertrieben war.“ (S.10) Meine Wenigkeit sieht das nebenbei bemerkt übrigens ebenso.

Weiter notierte Krenz: „Professor Kurt Starke, ein international bekannter Soziologe, Sexualwissenschaftler und Jugendforscher, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin, schrieb mir vor einiger Zeit: «Je mehr ich über unser gewesenes Land nachdenke und je öfter ich in den vergangenen Jahren mit Ost-West-Unterschieden in meinen Untersuchungen zu tun hatte, desto mehr sehe ich mich in der Erkenntnis bestätigt, dass die DDR ein Unikat von bleibender historischer Bedeutung ist.«

Egon Krenz: „Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte“

Egon Krenz merkt weiter an: „Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und es militärischen Engagements der Bundesrepublik sollte ebenfalls daran erinnert werden: Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte. Kein NVA-Soldat setzte je seinen Fuß auf fremdes Territorium, um an Kampfeinsetzen teilzunehmen. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit Achtung und Respekt zu erinnern. Ein Drittel Deutschlands war hier dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen, und das mehr als vierzig Jahre lang. Das ist aus dessen Sicht die eigentliche Sünde der DDR, die ihr – und damit uns, die wir sie aufbauten und verteidigten – niemals vergeben werden wird. Nach 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. Nach 1945 wurden in Westdeutschland dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten in die Wüste. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Zukunft. Nicht zu reden von den vielen Werktätigen aus den über achttausend volkseigenen Betrieben, die die Treuhandanstalt übernahm und asozial abwickelte.“ (S.12)

Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt“, macht Krenz unumstößlich klar

Zusammenhänge von Politik, Kapital und wirtschaftlichen Interessen würden verschleiert. Sie und die Geschichte müsse man aber kennen, meint Egon Krenz. Um zu verstehen, „warum so viel Menschen im Osten beispielsweise gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind“.

Und einen wahren, unumstößlichen Satz schreibt Krenz da: „Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt. Die Berliner Mauer sei „von Osten verschoben (worden) – sie steht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland“

„Sie ist dort, wo die Frontlinie im Prinzip an jedem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Diese «Grenzziehung« ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde.“

In Briefen äußern die Menschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg

In Briefen an Krenz äußerten Menschen: „Angst. Angst vor einem Dritten Weltkrieg, in den uns die deutsche Regierung durch ihre pro-amerikanische Politik führen könnte. Dass die Bundesregierung das Streben der USA, einzige Weltmacht zu bleiben höher stellt als deutsche Interessen, hat ebenfalls zum sinkenden Ansehen der gegenwärtigen Ampel-Koalition beigetragen.“

Verantwortungslos und folgenlos habe die deutsche Außenministerin davon gesprochen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, dessen Ziel darin bestünde, «Russland zu ruinieren«. Krenz ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sprache ist bekanntlich Ausdruck des Denkens.“

Die Tatsache, dass in Deutschland Nazijargon öffentlich verbreitet wird, mache ihm Angst.

Er bezieht sich dabei auf die von einer Boulevardzeitung gewählte Schlagzeile: «Deutsche Panzer stoßen gegen russischen Stellungen vor«

Und Krenz beklagt die hierzulande herrschende Russophobie. Sie erinnere ihn an seine Kindheit, „als die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs große Plakate klebten, auf denen Russen als Untermenschen dargestellt wurden“.

Die Russophobie und Hetze gegen Russland mit Sorge zur Kenntnis nehmend fragt sich Krenz: „Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führenden Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.“

Wenn Westdeutsche einstigen DDR-Bürgern erklären, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen

Aus dem Herzen spricht mir Egon Krenz, wenn man von altbundesrepublikanischer Seite einstigen DDR-Bürgern erkläre wie man in der DDR gelebt habe. Ich selbst kann ab September 1989 ein Lied davon singen. Denn diese Erklärungen kamen in der Regel aus den Mündern von Westdeutschen, die die DDR nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus der Westpresse kannten. Mir selbst platzte irgendwann 2019 der Kragen als mir ein Kollege wieder einmal sagte, wie ich in der DDR gelebt haben sollte: „Bei euch war das doch so …“ Ich wurde kurz laut. Seither hat mich dieser Kollege nie wieder dazu angesprochen.

Krenz betrachtet sich selbst als eine Biografie von 17 Millionen Biografien in der DDR besteht darauf: „Wir müssen uns wegen unseres Lebens nicht entschuldigen.“

Dass es in Politik und Medien noch immer Versuche gibt, DDR-Bürgern erklären zu wollen, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen, beweist, dass die deutsche Einheit mental noch lange nicht vollzogen ist.“ (S.15)

Egon Krenz: „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin“

Egon Krenz malt nicht rosarot, sondern gesteht so manchen Fehler der DDR ein. „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin. Allzu oft ließen wir uns etwa bei der Auswahl von Kadern blenden von Worten der Ergebenheit. Das förderte Heuchelei, die nicht zu einer Partei wie der unseren passte. Die Quittung dafür erhielten wir 1989.“ (S.38/39)

Mit der Biermann-Sache legte sich die DDR ein Ei

Auch die Biermann-Geschichte bringt Krenz zur Sprache. Der Dichter Wolf Biermann war nach einem Auftritt in der BRD, die in der DDR Kritik hervorgerufen hatte, die Wiedereinreise in die DDR versagt worden. Der Westen tönte, er sei aus ausgebürgert worden. Als der Fall im Politbüro erörtert und abgehakt wurde, habe sich nur Kurt Hager kritisch geäußert, der gegenüber Erich Honecker eingewendet hatte: „Erich, war denn das notwendig?“ Krenz erinnert sich: Es habe geknistert. Niemand habe geantwortet, so sprach Hager weiter: „Biermann ist es nicht wert, dass wir uns deshalb mit den Künstlern anlegen und unsere Kulturpolitik ändern. Wir machen in erst groß, wenn wir ihm solche Aufmerksamkeit widmen. Wir sollten ihn ignorieren. Das trifft diesen Gernegroß mehr als alles andere.“

Werner Lamberz, der als Politikerpersönlichkeit eine große Hoffnung nicht nur für die SED gewesen war (der tragischerweise später und viel zu früh bei einem Hubschrauberabsturz in Libyen sterben sollte) habe zustimmend genickt. Hager muss Recht gegeben werden. Mit diesem Schritt, Biermann nicht wieder in die DDR einreisen zu lassen, hatte sich das Land sozusagen ein Ei gelegt. Zumal Wolf Biermann den meisten DDR-Bürgern bis dato unbekannt war. Zuweilen sah man ihn vielleicht mal in der Tagesschau, wie der einstige Jungkommunist mit einem Korrespondenten des westdeutschen Fernsehens in seiner Berliner Wohnung am Kachelofen saß und auf Opposition machte. Diesen Herrn, dem eine enge Beziehung zu Margot Honecker nachgesagt wird, hätte die DDR aushalten können – und auch müssen. Der Filmregisseur Konrad Wolf habe einmal zu Egon Krenz gesagt: «Egon, Dir mag der Begriff des Ausbürgerns weniger sagen als mir. Du hast den Faschismus nicht mehr erlebt. Aber die Menschen, die von Nazis aus Deutschland vertrieben wurden wie wir -, hätten nicht zulassen dürfen, dass jemand aus der DDR «ausgebürgert« wird. Sag Erich, er möge sich seiner eigenen Vergangenheit erinnern.“

Weiter erinnert sich Egon Krenz: „Der Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant (1926-2014), übte Kritik, zurückhaltend zwar, aber öffentlich im Neuen Deutschland: «Ich will nicht verhehlen, dass ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich braucht niemand vor ihm zu schützen.«

Honecker habe wohl dann nachgedacht (jedoch viel zu lange) wie man wieder aus der unangenehmen Biermann-Sache herauskäme. Aber der Schaden war gemacht. Dann erfuhr Honecker von der Protestresolution von 12 DDR-Schriftstellern und -Künstlern die sich gegen das Einreiseverbot von Biermann richtete. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte sie entworfen und auch westlichen Agenturen übergeben. Krenz: „Dass er sie zuvor der Zeitung Neues Deutschland angeboten hatte, wo sie lediglich der Pförtner entgegennehmen wollte, erfuhr Honecker erst viel später.“ Ja, auch hier trifft der Satz »Wir hatten es in der Hand!« zu. Manches jedoch entglitt leider dieser Hand.

*Staatssicherheitsminister Erich Mielke berichtete, „dass der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“

Eines Tages hatte Honecker Krenz einen Packen Briefe von Bürgern aus Rostock übergeben, in denen Bürger sich vom dort stattfindenden Kirchentag belästigt fühlten. Seinetwegen war ein Fußballspiel der DDR-Oberliga verlegt worden. Und auf öffentlichen Plätzen wehten anstelle die Staatsflaggge oder rote Fahnen wehten Kirchentagsfahnen. Man sei, wurde beklagt vom Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat abgewichen. Krenz schickte Mitarbeiter nach Rostock, die Gespräche mit den Briefeschreibern führten. Sie teilten Krenz mit, alles sei durch zentrale Entscheidungen geregelt gewesen. Zentrale Entscheidungen seien in der Regel Festlegungen des Ministers für Staatssicherheit gewesen. Krenz rief Mielke an. Der berichtete ihm unter anderem, „dass Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“

*Bärbel Bohley lag mit ihrer damaligen Befürchtung nicht falsch

In einem andereren, an Erich Honecker gerichteten, Brief ging es um die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und des Bürgerrechtlers Werner Fischer. Beiden war im Februar 1988 „bei Vermeidung von Strafverfahren ein befristeter Auslandsaufenthalt vermittelt worden war.“ Geschrieben worden war er von Bischof Dr. Gottfried Forck. Postbote sei Manfred Stolpe gewesen. Krenz informierte den im Urlaub befindlichen Honecker. Der stimmte der Wiedereinreise zu. Bohley und Fischer hätten versprochen, die Gesetze der DDR nicht zu verletzen. Krenz: „Eine Ausbürgerung wäre nicht nur juristisch, sondern auch politisch ein großer Fehler gewesen. Es ist schon interessant, dass die – um es freundlich zu sagen – von der DDR nicht gerade freundlich behandelte Bärbel Bohley schon 1991 kurz nach der staatlichen Vereinigung über die Zeit sagte: <<Die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständigen Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“<< Ein Zitat nebenbei bemerkt, dass man dieser Tage öfters in sozialen Medien lesen kann. Und wenn man den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft in Augenschein nimmt, beschleicht einem das Gefühl, dass Bärbel Bohley mit ihrer Befürchtung nicht falsch lag.

Wichtige Themen wurden beackert

Alle wichtigen Themen hat Egon Krenz beackert. Und das dürfte wohl nicht nur für gewesene DDR-Bürger sondern auch Bundesbürger als den alten Bundesländern von Interesse und spannend sein. Ob das nun die Zeiten der Entspannungspolitik der Brandt- und Schmidt-Regierungen betreffs der Sowjetunion und Polen sind, oder die Bemühungen zwischen BRD und DDR gute Beziehungen in der Sache und auch für die jeweilige Bürger zu erzielen. Da gab es einige Kontakte und Besuche von Westpolitikern in der DDR, die wir in der DDR mit hohem Interesse verfolgten. Auch die damaligen Gespräche von SPD und SED bargen Hoffnungsschimmer.

Natürlich ging es uns in der DDR auch darum Reisen in die BRD oder das andere westlichen Ausland machen zu können. Es tat sich was. Aber doch viel zu wenig. Was nicht nur mit politischen sondern auch mit Fragen von Devisen zu tun hatte, die die Menschen ja dann im kapitalistischen Ausland benötigten. Nachdem BRD-Politiker zu Besuch gewesen waren war Erich Honecker auch zum Gegenbesuch eingeladen worden. Der Einladung wäre Erich Honecker gern nachgekomme. Er empfand das nach Anerkennung der DDR in vielen anderen Ländern auch als eine Ehre für die DDR. Es war ja ein offizieller Empfang ins Auge gefasst. Es brauchte letztlich mehrere Anläufe dahin, bis Erich Honecker in die BRD reisen und auch seine alte Heimat im Saarland besuchen konnte. Immer wieder war Moskau dagegen. Honecker ließ sich allerdings immer weniger hereinreden. Und es kristallisierte sich heraus, dass Honecker eben auch Deutschland als Heimat in seinem Herzen trug.

Krenz schreibt, in der DDR träumte man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten

Erich Honecker sei immer wieder auch am Weltfrieden und dem Frieden auf deutschem Bode interessiert gewesen, so Krenz. Im Buch macht das Egon Krenz auch an der Frage der Raketenstationierung auf BRD-Boden deutlich. Die Pershing II -Raketen sollten nach dem Willen des Westens gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion abschrecken. Stichwort Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte für die Stationierung in Westdeutschland votiert. Der sowjetischen Seite war nichts weiter übrig geblieben als nachzuziehen. In der DDR wurden dann neue sowjetische Raketensysteme aufgestellt. (S.215: „Atomraketen in der DDR)

Krenz schreibt, in der DDR träumten man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten. „Honecker hat dafür mit hohem Einsatz gespielt. […] Wir wollten unsere Maxime, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, ohne dieses Teufelszeug erfüllen. Spätestens 1983/84 hatten wir die politische Schlacht um die Aufstellung der Raketen verloren.“

»Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt

Egon Krenz sagt in einem Interview, am 16.12.2023 von junge Welt veröffentlicht: „Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.“ Und Honecker tat das. Honecker forderte, dass alle Raketen, diese Teufelszeug, von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen. Alles zu diesem Thema finde Sie ausführlich im Teil 2 der Biografie von Egon Krenz veröffentlicht.

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler und Entscheidungen, die zu Unmut führten. Ich erinnere mit noch gut daran, als es in der DDR hieß, die sowjetische Zeitschrift Sputnik sei verboten worden. Sie war kurzerhand von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Nach Rücksprache mit dem Postminister erfuhr Egon Krenz, dass Honecker diese Verfügung diktiert hatte. „Die Zeitschrift, so hieß es, bringe keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen würden darin verzerrende Beiträge zur Geschichte veröffentlicht. Konkreter Anlass waren Beiträge zum sogenannten «Hitler-Stalin-Pakt«. Krenz’ Ehefrau, in der Lehrerbildung tätig, fragte sich mit ihren Kollegen, „kopfschüttelnd, ob die alten Herrschaften im Politbüro überhaupt noch wüssten, was im Lande los sei. Wie könne man noch Öl ins Feuer gießen.“ Selbst die „FDJ-Führung hatte auf acht Seiten aufgeschrieben wie empört junge Leute über die Bevormundung durch die Partei- und Staatsführung waren.“

Honecker zeigte sich ungerührt.

An der Basis brodelte es

Auf der letzten Seite berichtet Egon Krenz von der sich vergrößernden Misere im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Viel Vertrauen war in diesem Jahr verloren gegangen. An der Basis brodelte es. Das Politbüro aber tat, als sei alles in bester Ordnung.“

Und Krenz schließt so: „Es brodelte an der Basis. Die Zeichen standen auf Sturm.“

Ich weiß: Vergleiche hinken. Ich will auch nichts vergleichen. Dennoch: Die derzeitige von der Politik der Ampel – aber auch von Vorgängerregierungen – herbeigeführte in vielen Hinsichten prekäre Lage unseres Landes lässt auch hier und da – wir haben gerade die Bauernproteste – ein Wind in meine Nase wehen, der etwas nach 1989 riecht. Erste Rufe „Wir sind das Volk“ und Forderungen nach Veränderung sind zu vernehmen …

Lest dieses Buch in Ost und West

Ich empfehle, dass möglichst viele Menschen in West und Ost dieses Buch zu lesen. Es ist wichtig. Egon Krenz gebührt das Lob, aufgeschrieben zu haben, was ansonsten wohl der Vergessenheit anheim fallen könnte. Die Leser werden vieles nicht wissen, von dem Krenz hier geschrieben hat. Die Leser mögen sich ein eigenes Bild machen. Ich fürchte, die üblichen Verdächtigen in den Mainstream-Medien werden, auch diesen zweiten Band von Krenz’ Biografie wieder als Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei auf Honecker und die DDR missverstehen (wollen). Das bleibt ihnen unbenommen. Ich sehe das anders. Auch dieser Band ist wieder sachlich verfasst und es fehlt auch nicht an der Aufführung von gemachten Fehlern. Ein Verdammen des Staates DDR in Grund und Boden wird man jedoch darin nicht finden. Was aus der Biografie des Autors heraus verständlich ist und dem Ganzen absolut kein Abbruch tun. Auch ich als gewesener DDR-Bürger werde das nie tun. Manche versteinerten Ewiggestrigen oder Woke mit Gutmensch-Ideologie werden das nicht verknusen können. Andere wiederum, die mit objektiverer Brille auf die Sache blicken, werden – wenn sie vielleicht auch nicht alles teilen können – einiges verstehen. Lassen wir die von mir hochverehrte Gabriele Krone-Schmalz betreffs zu Worte kommen: „Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann“.

Ich freue mich jedenfalls bereits auf den dritten Band der Erinnerungen von Egon Krenz, der bis in die Gegenwart führt.

*Eingefügt am 19.01.2024

Egon Krenz

Gestaltung und Veränderung

Erinnerungen

472 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen

sofort lieferbar

Buch 26,– €

ISBN 978-3-360-02811-2

Egon Krenz (Autor, Hrsg.)

Egon Krenz (links). Foto: C. Stille

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Wir und die Russen« (2019) und »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (mit Friedrich Wolff, 2021).

„Warten wir die Zukunft ab“ – Autobiografie von Hartmut König. Rezension

Nun sitze ich hier und schreibe am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, eine Rezension zu Hartmut Königs Autobiografie. Das passt. Oder? Wie auch immer. Nach der Lektüre von Egon Krenzens Erinnerungen „Aufbruch und Aufstieg“ nun also Hartmut Königs Erinnerungen. Vielleicht ist das kein Zufall. Hartmut König ist mit Egon Krenz befreundet. Und beide liefen mir vor einiger Zeit auf dem Pressefest der der „UZ“ in Dortmund über den Weg.

Hartmut König war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband TEAM 4 sowie des Oktoberklubs

Hartmut König geboren 1947 in Berlin, war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband TEAM 4 sowie des Oktoberklubs. Zudem ist er Autor und Komponist zahlreicher Lieder (<<Sag mir, wo du stehst>>; Songtexte für den DEFA-Film <<Heißer Sommer>>)

König studierte Journalistik in Leipzig, dem sogenannten ‚Roten Kloster‘ (wo übrigens auch Maybrit Illner studierte als die Mauer fiel) und promovierte 1974. Von 1973 an ist er für drei Jahre beim Weltstudentenbund in Prag Chefredakteur der „Weltstudentennachrichten“.

Freilich ist mir als gewesener DDR-Bürger der Oktoberklub bekannt, dessen Mitbegründer Hartmut König war. Wikipedia schreibt zum Oktoberklub:

<<Das Folk-Revival in den USA löste Anfang der 1960er Jahre in vielen Ländern eine Welle der Folkmusik und der Protestsongs aus. In der DDR hatte der kanadische Folksänger Perry Friedman bereits seit 1960 Hootenannys (amerikanische Bezeichnung für ein ungezwungenes, geselliges Konzert) veranstaltet. Um ihn und das Jugendstudio DT64 sammelte sich eine Gruppe folkbegeisterter junger Leute, die, unterstützt von der FDJ-Bezirksleitung Berlin, im Februar 1966 den Hootenanny-Klub Berlin gründete. Jeder konnte mitmachen, der Klub war offen und für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich zwanglos. Perry Friedman, Hartmut König, Reiner Schöne, Bettina Wegner und viele andere traten hier auf. Jugendstudio DT64 sendete regelmäßig Mitschnitte der Veranstaltungen.>>

Es gab DDR-Bürger, die ob der ihnen als zu rot verorteten Veranstaltung Oktoberklub, eher die Nase rümpften. Ich selbst nahm den Oktoberklub über Fernseh- und Rundunksendungen eher nur gelegentlich wahr. Vielleicht veständlich. Der Farbe Rot konnte man ja nun kaum ausweichen im DDR-Alltag. Wohl – aber nicht nicht nur deshalb – der Verdruss so mancher Leute.

Über die Autobiografie Königs erfahren ich nun ironischerweise über den Oktoberklub, seine Entstehung und dessen Unternehmungen viel mehr als zu DDR-Zeiten.

Hartmut König ist eine vielgestaltige Persönlichkeit

Betreffs der Person Hartmut König muss ich zu meiner Schande viele Wissenslücken zugeben. Dank Königs Biografie konnten diese 32 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung nun Seite für Seite ausgefüllt werden. Welch interessante Persönlichkeit, dieser Hartmut König doch ist!

Und wie viele interessante Persönlichkeiten aus Kultur, Kunst und Politik er im Verlaufe der Jahrzehnte treffen durfte! Bist 1989/90, wo er den Bruch, das Ende der DDR samt dem Ende seiner politschen Karriere erleben musste. Was gewiss – wie für viele andere auch – schmerzlich gewesen ist. Immerhin – im Gegensatz zu so vielen anderen – war er, wie er schreibt, bis zur Rente nie arbeitslos.

Aufgewachsen ist Hartmut König mit dem mit seinen Eltern befreundeten Bruno Apitz (<<Nacht unter Wölfen>>), Gerd und Thomas Natschinski (Vater und Sohn) und mit weiteren interessanten Leuten des Oktoberklubs in Kontakt gewesen. Getroffen ist er auf Politiker wie Samora Machel (Staatspräsident Mosambiks), Daniel Ortega (Präsident Nikaraguas), Größen wie Ernesto Cardenal sowie die weltbekannten Künstler Pete Seeger oder Mikis Theodorakis. Pete Seeger lieh König einmal seine Gitarre, damit dieser bei der UNO-Jugendversammlung in New York dazu singend auftreten kann.

Königs Biografie ist gleichzeitig auch ein Geschichtsbuch

So, wie König sein Leben erzählt – verzahnt mit politischen Ereignissen, lesen wir dieses Buch gleichzeitig auch als Geschichtsbuch. Es ergibt nicht nur eine kleine, hochinformative Geschichte der DDR, sondern vermittelt darüber hinaus auch einen Abriss weltgeschichtlicher Ereignisse und Abläufe. Und – wie bereits Egon Krenz via seiner Erinnerungen – lässt uns Hartmut König ebenfalls tief in die Kulturpolitik und in die Vorgänge hinter den Kulissen der Macht blicken. Wir bekommen einen Einblick in die Irrnisse und Wirrnisse der DDR-Politik. Die auf Grund von Betonköpfigkeiten Einzelner und Fehlern, welche aus verbretterten, wie auch gut gemeinten ideologischen Verbohrheiten und ängstlichen Zurückhaltungen resultierten und das Leben erschwerten. Welche letztlich auch der Grund für das Scheitern der DDR verantwortlich waren. Sicher war die DDR von Anbeginn ihres Bestehens „ein Kind der Sowjetunion“ – wie Egon Krenz einmal sagte und ständig vom kapitalistischen Gegner bedroht, der ihr den Garaus zu machen gedachte. Weshalb die DDR-Politik die Zügel mal mehr mal weniger straff anzog, um nur ja keinen Ausbruch zuzulassen, der dem Gegner nützen könnte und der eigenen Sache schadet. Leuten wie Hartmut König ist es zu danken, dass in der DDR auch immer kleine Nischen geschaffen werden konnten, wo beispielsweise Kunst und Kultur sowie die Jugend mehr Luft zum Atmen bekamen. Sollte da nichts hängengeblieben sein, was da heute Anerkennung verdiene, fragt Hartmut König in seinem Buch.

Eng verbunden ist Hartmut König mit den vielen Angeboten die der Jugendverband FDJ den jungen Leuten der DDR machte. Es wurden Talente-Ausscheide organisiert. Die Singebewegung hatte einen festen Platz in der Republik. Es wurden Theatertage, Rockkonzerte, Poetenseminare und Liedersommer veranstaltet, woran der einstigen Sekreträr des Zentralrates der FDJ erinnert.

König ist aber auch ehrlich und klug genug, in seinen Ausführungen zu sagen, worin er versagte, betreffs Dingen, wo er hätte anders handeln und entscheiden müssen. Er hat eben auch stillgehalten, in der Hoffnung, falsche Entscheidungen und grundlegende Fehler der Partei würden später korrigiert werden können. Leider kamen stattdessen nicht selten neue hinzu. Vielleicht auch mit jüngerem Parteipersonal, wie der Hoffungsträger Werner Lamberz einer wahr, hätten entsprechende Reformen verwirklicht werden können. Leider verstarb der Mann bei einem Hubschrauberabsturz in der Wüste Libyens.

Veränderungen erforderten aber eben ins engee Korsett der Partei geschnürt – erst recht in das des noch engeren des ZK der SED! – eben immer jede Menge Mut, Entschlossenheit und Risikobereitschaft. Dass da manches Mal auch eingeknickt oder geschwiegen wurde, wo einwändig hätte gesprochen werden müssen – immer die möglichen Konsequenzen bedenkend – ist verständlich. Wer dies nicht versteht, soll sagen, wie er es an seiner statt besser gemacht hätte. Mancher täte vielleicht antworten: Sich erst gar nicht in so eine Position begeben. Nun ja. König geriert sich als Revolutionär. Doch ihm muss bescheinigt haben, dass er doch so manches richtig gemacht hat.

Frühe Geburt

Wir müssen im Falle Hartmut König wie auch bei Egon Krenz und angesichts der beiden, sozusagen frühe Geburt, bedenken. Sowie die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wunsch nach einer friedlichen, gerechten Welt, frei von alten Nazis. Und dann wurde bald die DDR gegründet, welche beides versprach umzusetzen und übrigens auch diesbezüglich gute Ansätze hatte erkennen lassen. Zugegeben: Nicht einfach im Kontext der weltpolitischen Situation damals und des aufkommenden Kalten Krieges. Da wollten nicht wenige als junger Mensch dabei sein, mittun. Und wer dazu bereit war, dem wurde nicht nur von der Partei nahezu jedwede Unterstützung zugesichert und gewährt. Die idologischen Verbretterungen und Verhärtungen ergaben sich indes erst in späteren Jahren. Respekt und Hochachtung dem, der dennoch weiter mit dem Anspruch, etwas positiv zu verändern und zu diesem Behufe mitzuhelfen, das Staatsschiff DDR aus zu ideologisch eingefahrenen Fahrrinnen heraus zu steuern – einer abgesicherten demokratisch-sozialistischen Zukunft entgegen, weiter segelte. Im Gegensatz zu denen nebendran, welche ganz gut als stramm linientreue Mitschwimmer zurechtkamen, die stets achtgaben nur ja nirgendwo anzuecken. So manche dieser Leute kamen dann auch gut als Wendehälse im neuen gemeinsamen Deutschland zurecht. Genannt sei nur Günter Schabowski. Die Vorgeschichte zum Inkraftreten der neuen DDR-Reiseregelungen erzählt König ebenfalls. Darin sei nicht die Rede davon gewesen, dass diese „sofort“ in Kräft treten sollten, sondern erst am 10. November. Dass das von Schabowski behauptete ‚Sofort‘ hätte zu Chaos, Verletzten oder gar Toten führen können. Dass es nicht dazu kam, ist den Offizieren der Grenztruppen vor Ort zu verdanken, die am 9. Oktober ohne entsprechende Weisungen erhalten zu haben zu haben, deeskalierend gehandelt haben.

Späte Geburt

Nebenbei: Nachdem ich 1973 die Schule verließ und 1975 die Lehre abgeschlossen und den Wehrdienst im Jahre 1977 absolviert hatte, ergaben sich durchaus auch Chancen, den Weg in eine andere, schon lange gewünschte berufliche Zukunft zu beschreiten. Einer Bezirkszeitung der SED, die mich an eine Fachschule für Journalismus zu delegieren gedachte, sagte ich nach einer quälenden Zeit des Nach- und Bedenkens äußerst schweren Herzens ab. Der Aufnahme an die Fachschule vorausgesetzt war nämlich, dass ich der SED beitzutreten hatte. Die zuständige Parteisekretärin meiner Arbeitstelle sagte sofort Unterstützung zu. Ich aber kniff. Würde ich es psychisch verkraften „Parteijournalist“ zu sein? Immerhin kannte ich einen begabten Journalisten meines Bezirksorgans der SED, der oft unglücklich war und dann über Gebühr dem Alkohol zusprach.

Zum Hin und Her einer von Udo Lindenberg gewünschten DDR-Tournee

 

Interessant ist auch Königs Schilderung wie er Mitte der 1980er Jahre als FDJ-Kulturfunktionär und ZK-Mitglied das Hin und Her um eine mögliche DDR-Tournee Udo Lindenbergs – um welche der Sänger gebeten hat – miterlebte, die durch die Abreise der Gruppe BAP bei „Rock für den Frieden“ 1984 allerdings torpediert wird. Zwischen dem hartnäckigen Lindenberg und Erich Honecker entspinnt sich ein amüsanter kurzer Briefwechsel. Der Staatsratsvorsitzende bedankt sich schriftlich und mit einer Schalmei für eine ihm von Lindenberg verehrte Lederjacke. Hartmut König ist Autor des Briefes von Erich Honecker an Lindenberg.

Gewagte Open Airs mit westlichen Rock-Stars

Ab 1987 wagt sich die FDJ dann als Veranstalter großer Open Airs mit westlichen Rock-Stars, u.a. Bruce Springsteen, Bob Dylan, James Brown, Big Country und Joe Cocker, hervor. Natürlich erhoffte sich – was König nicht verschweigt – auch die FDJ gewissermaßen etwas Honig daraus zu saugen.

Doch so einfach ist es indes nicht. Witt, die weltbekannte Eiskunstlaufqueen der DDR, die die Veranstaltung zusammen mit dem BRD-Bürger Diether Dehm moderiert, wird nämlich vom Publikum fast von der Bühne gepfiffen. König schreibt übers Publikum (S.382): „Es lässt Katrina abbblitzen, sieht in ihr eine staatliche Privilegierte, die reisen und mit einem Devisenkonto die Welt genießen darf.“

Diether Dehm singt, begleitet von Michael Letz (links) und Hartmut König (rechts).

Diether Dehm (Mitte) wird beim Pressefest der „UZ“ begleitet von Michael Letz (Links und Hartmut König (Rechts).

Und weiter: „Diether Dehm schwächt die Publikumsreaktionen dadurch ab, dass er, während sie spricht, an die Bühnenrampe tritt. Ihn sollen die Pfiffe ja nicht treffen. Aber die Botschaft des Tages bleibt: Das Gespür von Enge, die Lust auf den nicht erreichbaren Teil der Welt legen sich wie eine Last auf die Erlebnisse unserer Konzerte. Wir dürfen den Jubel nicht als uneingeschränktes politisches Einverständnis verbuchen. Aber wir tun es, zur Selbstberuhigung und um neue Projekte bewilligt zu bekommen.“

Mit Vergnügen und Interesse sind unbedingt auch die „Anekdoten mit Zeigefinger“ (S.437) zu lesen.

Dann geht mit dem Ende des Buches auch die DDR zu Ende. Eine „Deutsche Demokratische Perestroika?“ (S.458) kommt nicht zustande. Es kommt „Honeckers Sturz“ (475) und gefragt wird „Welches Vaterland?“ (S.482)

Das Buch ist einer hervoragenden Sprache und gut lesbar geschrieben. Auch mit einem Sinn für Humor. Unterhaltsam alle mal. Es strotzt nur so vor Informationen, die gewiss viele Menschen so bisher noch nicht gewonnen haben.

Hartmut König hat das Buch nicht im Zorn geschrieben. Er hat auch nichts beschönigt. Obwohl manche Leserinnen und Leser möglicherweise zum Ergebnis kommen könnten, er hätte härter in seiner Kritik hier und da und darüber hinaus sein sollen.

König hat uns ein Bild von der DDR gezeigt, wie er es gesehen hat und beschrieben wie er das politische und kulturelle Leben im Einzelnen erlebt hat. Unsd so einiges, werden zumindest einstige DDR-Bürger bestätigen können und verstehen warum es war. Auch werden sie Vorstellungen davon haben, wie manches anders gegangen wäre. Dies Vorstellungen hat auch Hartmut König. Nur reichte die Zeit eben nicht diese Vorstellungen auch in die Tat umzusetzen.

Schon der Titel sagt uns, dass Hartmut König noch Träume hat und Hoffnungen hegt. Das Buch schließt nämlich so: 20180908_095634-kopie-2

Hartmut König beim Pressefest der „UZ“. Foto: C. Stille

„Denn so, wie die Welt ist, kann und wird sie nicht bleiben. Irgendwann setzt das Gespenst zur Landung an, weiß nicht, wie und wo zuerst. >>Träum weiter!>>, lästert unverdaute jüngere Erfahrung. Aber den Spott hat sie umsonst. >>Warten wir die Zukunft ab!>>, fauche ich meine Skepsis an. >>Die Welt wird es schon noch sehen>> Ich, leider werde es nicht sehen. Ich darf ja keine der Gestalten auf meiner liebsten Grafik sein: Inmitten der Grabstein eines jüdischen Friedhofs steht ein Baum. Die toten Herren sind aus ihren Gruben aufgefahren, sitzen in den Zweigen und beobachten die Zeit. Das wär’s doch! Ewig die Zukunfst besichtigen! Aber Atheisten ist das verwehrt. Schade, bei so viel Neugier und Vorfreude!“

Ein hochinteressantes politisches Buch. Auf keiner Seite kommt beim Leser Langeweile auf.

Hartmut König

Warten wir die Zukunft ab

Autobiografie

560 Seiten, 14,5 x 21 cm
mit Abbildungen

sofort lieferbar

Buch 24,99 €

ISBN 978-3-355-01866-1

eBook 17,99 €

ISBN 978-3-355-50043-2

Hartmut König, im dritten Nachkriegsherbst geboren, wächst als Schul-, Kirch- und Grenzgänger in Ostberlin auf. In den sechziger Jahren ist er mittendrin in der entstehenden Beatszene. Als Liedermacher tritt er vor der UNO-Vollversammlung auf, im eigenen Land polarisiert er mit seinen Texten. Doch nicht für die künstlerische Laufbahn entscheidet er sich, sondern für die Politik. So wie er sich einst mit seinem Lied »Sag mir, wo du stehst« positionierte, ist auch sein Buch von politischer und menschlicher Ortung bestimmt. Er berichtet über Begegnungen mit internationalen Künstlern und Politikern und lässt gleichzeitig tief in die DDR-Kulturpolitik und in die Vorgänge hinter den Kulissen der Macht blicken. König erzählt sein Leben; verzahnt mit den politischen Ereignissen ergibt das eine kleine, hochinformative Geschichte der DDR, insbesondere aus kultureller Perspektive.

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Hartmut König

Hartmut König, geboren am 14. Oktober 1947 in Berlin, war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband »Team 4« und des »Oktoberklubs«; Autor und Komponist zahlreicher Lieder (»Sag mir, wo du stehst«; Songtexte für den DEFA-Film »Heißer Sommer«); studierte Journalistik in Leipzig, 1974 Promotion. Nach einer Tätigkeit beim Internationalen Studetenbund in Prag wurde er ab 1976 Sekretär des Zentralrats der FDJ; 1989 stellvertretender Kulturminister. Seit 1979 war König außerdem Mitglied der Kulturkommission beim Politbüro des Zentralkomitees der SED, ab 1981 Kandidat und von 1986 bis 1989 Mitglied des ZK der SED. Seit 1977 gehörte König dem Weltfriedensrat an, von 1982 bis 1986 war er Vizepräsident des Friedensrates der DDR.

Nach 1990 arbeitete Hartmut König  in einem Brandenburger Zeitungsverlag und lebt heute in der Gemeinde Panketal nahe Bernau.
Von ihm erschienen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe seine  Autobiografie »Warten wir die Zukunft ab« und »Ein bildhübscher Schneider in Crossen. Limericks aus tausendundeiner Sitzung«.

»Warten wir die Zukunft ab. Autobiografie« ist erschienen im Verlag Neues Leben, einem Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

Über das Buch

Rückblick, Erinnerung, Erkundung – Hartmut Königs Autobiografie ist ein politisches
Buch. Er berichtet, analysiert, stellt Fragen an Geschichte und Politik, nicht minder
drängende an eigene Lebensentscheidungen und Haltungen. Stationen sind die
Nachkriegskindheit in Ostberlin, wo er auf den Ruinenfeldern mit Thomas Natschinski
spielt, mit dem er später TEAM 4 gründet. Zuvor hatte ihm Bruno Apitz, Autor des
großen Buchenwald-Romans und Freund der Familie, Rot als Gesinnungsfarbe ange-
raten. Frühe Verse kommentiert Zirkelleiter Peter Hacks. Seine ersten Lieder singt er
in dem von ihm mitbegründeten Oktoberklub. Als Funktionär des Zentralrats der FDJ
ist er in der Welt unterwegs und mit diffizilen Problemen der Kunst im eigenen Land
konfrontiert. Mit Atomspion Klaus Fuchs redet er über Gewissensfragen im Nuklear-
zeitalter, mit Walter Ulbricht über Spezialistentum, mit Samora Machel über Preispoli-
tik, mit Mikis Theodorakis über den »Canto General«, mit Egon Krenz über Perestroika
und wie es weitergehen soll in der DDR . Doch als Krenz der erste Mann im Staat wird,
ist der Neubeginn bereits fragwürdig. Was suggeriert der Fall? Alle kommunistischen
Experimente sind Totgeburten? Sachte! Der administrative DDR -Sozialismus hat das
Klassenziel verfehlt, und Kommunismus gab es noch nie. Sein Gespenst wabert
unerledigt über den Exerzierplätzen aller heutigen Mächte und hätte eine Chance auf
reale Gestalt verdient. Denn so, wie sie ist, kann die Welt nicht bleiben, meint Hartmut
König. Warten wir die Zukunft ab, wirft er der eigenen Skepsis entgegen
.

 

 

 

 

„Darf ich Genosse sagen?“ Von Kurt Gossweiler. Der Briefwechsel mit Peter Hacks. – Rezension

Der Eulenspiegel Verlag wartet mit der Veröffentlichung einer hochinteressanten Korrespondenz von Kurt Gossweiler und Peter Hacks auf.

Der Begriff Sozialismus war ja um 1989 herum und zeitgleich mit der Wende in den einst sozialistisch genannten Staaten sowie schließlich erst recht mit dem Zerfall der Sowjetunion zum Unwort geworden. Er war für lange Zeit diffamiert. Kaum jemand traute sich diesen Begriff noch in den Mund zu nehmen oder gar diese Gesellschaftsordnung irgendeiner Weise in Schutz zu nehmen oder zu verteidigen – der war sofort des Teufels. Für mich persönlich hat es einen wirklichen Sozialismus allerdings noch nie gegeben. Schon gar nicht einen (in jeder Hinsicht) demokratischen. Doch das steht auf einem ganz anderen Blatt.

Im Westen Deutschlands dürften 1989/90 die Sektkorken geknallt haben

Die sich einst als Sozialisten verstanden habenden Menschen in der DDR hatten andere Probleme als darüber zu räsonieren. Sie leckten ihre Wunden, denn sie wurden aus Ämtern, Funktionen gejagt und sogar aus den Universitäten geworfen, nachdem sie „evaluiert“ worden waren. Der Kapitalismus hatte seines Erachtens gesiegt und danach benahmen sich dessen Vertreter auch. Betreffs der DDR und anderswo hatte man im Westen mindestens seit 1949 darauf gewartet und alles dafür getan, dass dieser Tag kam. Und war nun zweifelsohne im Westen Deutschlands 1989/90 voll der Freude, dass er endlich hatte herbeigeführt werden können. Sektkorken dürften geknallt haben …

Doch bezüglich dieses Wende oder gar Revolution (m.E. trifft dieser Begriff am allerwenigsten zu) genannten Ereignisses wurde kaum erforscht, welchen Anteil und welche Verantwortung wichtigen Vertretern des Sozialismus selbst für das Scheitern des Sozialismus zuzuschreiben ist . In der Beschreibung des hier zu besprechenden Buch lesen wir:

„Erst nach der Konterrevolution von 1989 begegnen sich zwei Kommunisten aus der DDR über den gleichen, gleich grundsätzlichen Fragen.“

Meine Wenigkeit kann der Einordnung „Konterrevolution“ noch am ehesten zustimmen. Der Kapitalismus, die Kapitalisten holten sich 1989/90 zurück, was ihnen einst nach dem Zweiten Weltkrieg genommen worden war. Und niemand dürfte es eigentlich wundernehmen, dass ab diesem Zeitpunkt peu á peu ein Sozialabbau in der BRD eingeleitet wurde. Westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre sagten: Die DDR saß im Grunde bei Tarifverhandlungen immer unsichtbar mit am Verhandlungstisch. Mag sein, dass sie die DDR damals verklärten. Aber es gab dort nun einmal soziale Errrungenschaften auf die West-Gewerkschafter verweisen konnten. Nach der „Konterrevolution“ fiel das weg. Darauf brauchten die Kapitalisten von nun also keine Rücksicht mehr zu nehmen. Und den Gewerkschaften war dieses Ass aus dem Ärmel genommen.

Weiter heißt es in der Beschreibung:

„Im Briefwechsel lernen sie einander kennen und schätzen, ermutigen und prüfen – mit Respekt, Scharfsinn, Vertrauen …“

Die beiden im Briefwechsel stehenden Herren sind Kurt Gossweiler (1917-2017), Historiker mit den Schwerpunkten Faschismusforschung, Revisionismusanalyse, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, und Peter Hacks (1928-2003), Dramatiker, Lyriker, Essayist.

Der Kracher

Der – soll ich schreiben: Kracher? – ist für mich bei der Lektüre dieses Buches gewesen, dass sich währen des Briefwechsels herauskristallisiert, dass darin Chruschtschow (vom Westen als Nachfolger Stalins eigentlich mehr oder weniger posititv gesehen) als jemand angesehen wird, der den Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR eingeleitet hat. Und Gorbatschow (vom Westen hochgelobt) als jemand angesehen wird, der den Zerfall des Sozialismus (und zusätzlich der Sowjetunion selbst) schließlich vollendet hat. Da muss man zunächst erst mal schlucken. Obwohl da nach genauerem Be- und Nachdenken da doch durchaus etwas dran sein könnte.

Exkurs

Außerhalb des Buches, auf der seite kurt-gossweiler.de, fand ich etwas Auführlicheres dazu: „Oktober 1959: Von seiner USA-Reise zurückgekehrt, wirbt Chruschtschow auf einer Großkundgebung um Vertrauen für den USA-Präsidenten Eisenhower (eben jenen Präsidenten, der Ethel und Julius Rosenberg auf den Elektrischen Stuhl schickte), indem er ausführte: “Von dieser Tribüne aus muss ich vor den Moskauern, vor meinem ganzen Volk, vor der Regierung und vor der Partei sagen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Dwight Eisenhower, der Mann, der das absolute Vertrauen seines ganzen Volkes genießt (gehörten für Chruschtschow die amerikanischen Kommunisten nicht zum Volk?) staatsmännische Klugheit bewiesen hat.”

1960/61: Bruch mit der Volksrepublik China und der KP Chinas. Zuspitzung des Konflikts seitens der Sowjetunion bis zu der Behauptung, die Hauptkriegsgefahr gehe nicht mehr von den imperialistischen USA, sondern von China aus.

Was ist allen diesen Aktionen und Stellungnahmen gemeinsam? Jede von ihnen kam überraschend und unerwartet. Keine war ausreichend stichhaltig begründet, bei einigen – darunter den /67/ wichtigsten – entsprach die zur Begründung angegebene Behauptung offenkundig nicht der Wahrheit, wie etwa bei der Totalrehabilitierung Titos, oder sie stellte eine schlimme Mischung von Wahrheit und Erdichtetem dar, wie in der Geheimrede auf dem XX. Parteitag. Jede stellte eine mehr oder minder schroffe Wendung dar und eine Absage an bisherige elementare marxistisch-leninistische Grundsätze. Jede war ein Angriff auf das bisherige kommunistische Wertesystem. Durch jede wurde bisher für richtig Gehaltenes als falsch bzw. feindlich abgestempelt, und umgekehrt, bisher als falsch und feindlich Betrachtetes für richtig bzw. vertrauenswürdig erklärt.

Was damit – großenteils unmerklich – bewirkt wurde, war seinem Wesen nach eine Vertauschung von Freund- und Feindbild: die eigene Vergangenheit wurde schließlich zum Gegenstand des Abscheus, dem gegenüber es nur noch “unversöhnliche Abrechnung” geben kann; der imperialistische Todfeind der eigenen Sache und der Menschheit dagegen avancierte zum vertrauenswürdigen Partner beim Kampf um eine gerechte Weltordnung und den Weltfrieden und imperialistische Spitzenpolitiker zu Duz-Freunden des Führers der führenden kommunistischen Partei.

Was also ist der gemeinsame Wesenskern all der erwähnten und nicht erwähnten überraschenden Wendungen?

Sie alle waren Teil eines lang währenden Prozesses, in dem die kommunistische Identität der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Länder Stück für Stück bis zur Unkenntlichkeit abgebaut wurde, bis sie ihre Identität so weit verloren hatten, dass ihre Gegner sich ausrechnen konnten, sie durch eine Politik des “Wandels durch Annäherung” vollends aufweichen und vernichten zu können.

Dieser Prozeß war von der Chruschtschow-Mannschaft eingeleitet wurden. Er wurde nach Chruschtschow zwar gebremst, aber nicht gestoppt. Gorbatschow wurde als Produkt des ersten Schubs dieses Identitätswandels sein Fortführer und Beschleuniger bis zum folgerichtigen Abschluss: der Auflösung der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion und seinem Bekenntnis in dem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview: “Meine politischen Sympathien gehören der Sozialdemokratie und der Idee von einem Sozialstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland.” /68/“

Verzeihen Sie mir den ausführlichen Exkurs, liebe Leserinnen und Leser. Zum besseren Verständnis (und Ihnen zur Diskussion gestellt) fand ich ihn notwendig.

Der vorliegene Briefwechsel erschien erstmals 2005

Hinweis seitens der Verlags: „Der vorliegende Briefwechsel erschien erstmals 2005 in der von André Thiele und Johannes Oehme unter dem Titel <<Am Ende verstehen sie es. Politische Schriften 1988 bis 2003<< im Eulenspiegel Verlag herausgegebenen Sammlung von Hacks-Schriften. Diese war rasch vergriffen. In der zweiten Ausgabe, <<Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955-2003<<, ist dieser Briefwechsel nicht enthalten.“

In einem Brief, sei hier noch erwähnt, von Hacks an Gossweiler (S.63) lesen wir zur Person Gorbatschow: „Erst bei Gorbatschow ist klar, dass er, spätenstens seit seiner Wahl zum Generalsekretär, den Imperialismus bewußt anstrebte. Alles Unheil, das in diesen Tagen über die Menschheit hereinbricht, ist die Folge dessen, wass 1985 oder 1989 geschah. Die toten Serben gehen auf Gorbatschows Konto, wie die toten Iraker und die toten Kaukasusvölker aus sein Konto gingen, und man wir ihn unter den großen Massenmörer dieses Jahrhunderts zu rechnen haben.“

Eine hochinteressantes Korrespondenz

Diese Korrespondenz ist hochinteressant. Sie offenbart sehr deutlich wie beide Briefpartner politisch denken, zeigt worin sie übereinstimmen oder Differenzen geltend machen. Da geht es auch hin und wieder um Alltags- und Gesundheitsprobleme. Detaillierte Fragen sozialistischer Theorie werden diskutiert. Geschichliche Ereignisse werden beleuchtet und intensiv besprochen. Vieles, was man aus diesem Briefwechsel erfährt hat man so noch nicht gehört oder gelesen. Auch darin vorkommende (zum Teil widersprüchlich agierende) politische Figuren oder betreffs ihres Tuns und Schreibens erwähnte Journalisten sozialistischer Blätter wie von Neues Deutschland oder junge Welt hat man so noch nicht betrachtet. Im Briefwechsel kommentierte Irrnisse und Wirrnisse in der DDR lassen gemachte Fehler erkennen. Nicht als gering zu bezeichnende Fehler, welche letztlich dazu beitrugen, das die DDR zugrunde ging. Ja, vielleicht: geradezu zugrunde gehen musste, werden den Lesern überdeutlich.

Hacks ein zweiter <<parteiloser Kommunist>>

Woher der Titel des Buches kommt? In einem Brief zu Hacks Geburtstag schreibt Kurt Gossweiler in der Anrede (S.73): „Lieber (darf ich: Genosse sagen?) Peter Hacks!“

Dazu muss man wissen, dass Hacks nicht Mitglieder der SED war. Gossweiler nennt Hacks in seinen Nachbetrachtungen (S.158) einen „zweiten <<parteilosen Kommunisten>> neben Bert Brecht in der Zunft der <<Stücke- und Gedichte-Schreiber“ (…)

In seinem Antwortschreiben schreibt Hacks (S.76): “ Lieber Genosse Gossweiler, vielleicht machen wir es so: In Geburtstagsbriefen nennen Sie mich immer Genosse, und dann fühle ich mich immer geschmeichelt.“

Die Briefe von Hacks und Gossweiler sind stets in respektvoller, höflicher Form und unter Verwendung von ausdrucksstarken, bestimmt ausgewählten Worten verfasst.

Manche einst gewonnene Einschätzungen müssen unter Umständen revidiert oder korrigiert werden

Leserinnen und Leser, die freilich nicht so tief in der Materie stecken und so tief wie Gossweiler und Hacks freilich keinesfalls stecken können, werden gewiss bei der Lektüre der Korrespondenz hin und wieder einst gewonnene, oder angelesene Einschätzungen von geschichtlichen Ereignissen beziehungsweise betreffs bestimmter Personen revidieren, korrigieren oder schmerzhaft anzweifeln wollen. Es wird beispielsweise auch in diesem Buch (wie in den Erinnerungen von Egon Krenz ebenfalls) die Person Walter Ulbrichts anders beurteilt als sie für gewöhnlich allgemein gezeichnet wird. Das betrifft u.a. die Tatsache, dass Ulbricht die Möglichkeit einer deutschen Einheit lange im Auge behielt und etwa deshalb auch dafür war, „Deutschland einig Vaterland“, in der DDR-Nationalhymne zu belassen.

Zum Verständnis meinerseits angemerkt: „Ulbricht war bestrebt, die Abhängigkeit von der Sowjetunion zu vermindern, was ihm letztendlich nicht gelang. Mit Nennung der vergleichsweise großen wirtschaftlichen Erfolge der DDR im RGW Raum propagierte Ulbricht Ende der 60er Jahre das „Modell DDR“ als Vorbild aller Sozialistischen Industriegesellschaften und geriet dadurch in Konflikte mit der KPdSU, der Partei der Sowjetunion. Ulbricht sah die DDR auf dem Weg in ein „entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus“ und sah darin eine eigenständige Gesellschaftsform. Die Sowjetunion hingegen stand auf dem Standpunkt sie hätte bereits als erster den Sozialismus realisiert und wäre auf dem Sprung zum Kommunismus.

Ab 1967 verlor Ulbricht durch die Deklaration der DDR als Musterland des Sozialismus die Unterstützung von Leonid Breschnew, dem damaligen Führer der UDSSR. Es war auch Ulbricht, der eine Reformation der sozialistischen Planwirtschaft einleitete. Das sogenannte „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖS oder NÖSPL) war ein staatliches Programm zur Reform der Planwirtschaft in der DDR. Es sah Elemente wie Leistungsboni für Arbeiter sowie eine stärkere Eigenständigkeit von Betrieben, eine Dezentralisierung, vor und war in der Tat effektiver als die bisherige Planwirtschaft. Das neue System war an die Ideen Lenins zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) angelehnt. Ja, schon Lenin, der Urvater der Sozialisten, dachte an eine leistungsorientierte Wirtschaft. Dieses leistungsorientierte System war innerhalb der Parteiführung kontrovers umstritten, auch wenn es der Planwirtschaft überlegen war. Honecker schaffte das neue und effektivere System wieder ab und fiel in die Planwirtschaft zurück.“ (Quelle: DDR Geschichte: Die Walter Ulbricht Ära; aus DDR-Erinnerungen)

Egon Krenz kommt in einem Brief von Hacks an Gossweiler als tragische Figur vor (S.40/41): An Biermann, wenn Sie sich entsinnen wollen, haben Sie eine Erinnerung. Während der Konterrevolution, also noch unter Krenz, wurde Biermann eingeflogen, empfangen und instruiert von Dietma Keller, einem Leutnant des Kulturministers Hoffmann (…) Nach dieser Szene auf der Treppe des Kulturministeriums eilte Biermann nach Sachsen, gab ein Konzert und sang, dass Krenz zu den <<ruchlosen Greisen>> auch gehöre, und Krenz wurde sofort gefeuert und Modrow eingesetzt, so wie es die Russen von Anfang an beabsichtigt hatten.“

Peter Hacksens Hoffnung auf einen neuen revolutionären Aufschwung

In seinem Nachwort (im Mai 2005 zur Ausgabe 2005) zeigt sich Kurt Gossweiler davon überzeugt, dass „ein neuer revolutionärer Aufschwung, soll er zum Ziel, zum Sieg einer neuen sozialistischen Revolution führen, einer fest in den Massen verwurzelten kommunistischen Parte Marxistisch-Leninscher Prägug bedarf.“ (…) Und er schließt und schreibt das Buch betreffend: „Möge seine Verbreitung dazu beitragen, daß die Zahl derer – besonders unter der Jugend -, die die Erfüllung dieser Forderungen mitarbeiten, durch neue Aktivisten erweitert wird!“

Kaum zu glauben, aber wahr: die beiden Briefeschreiber sind sich nie persönlich begegnet. Und als sich endlich die Möglichkeit einer solche Begegnung anbot, war Peter Hacks bereits zu krank, um zu kommen.

Unbedingte Lese-Empfehlung! Dem Eulenspiegel Verlag sei gedankt für diese interessante Veröffentlichung.

Matthias Oehme (Hrsg.), Kurt Gossweiler, Peter Hacks

Darf ich Genosse sagen?

Der Briefwechsel mit Peter Hacks

224 Seiten, 16,5 x 22,2 cm, broschiert

sofort lieferbar

Buch 12,– €

ISBN 978-3-359-50099-5

Matthias Oehme

Matthias Oehme, geboren 1954, ist promovierter Germanist.


Kurt Gossweiler

Kurt Gossweiler (1917-2017), Historiker mit den Schwerpunkten Faschismusforschung, Revisionismusanalyse, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung


Peter Hacks

Peter Hacks, (1928–2003), Dramatiker, Lyriker, Essayist und Kinderbuchautor. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Nationalpreis der DDR I. Klasse, der Heinrich-Mann-Preis und der deutsche Jugendliteraturpreis.


»Darf ich Genosse sagen? Der Briefwechsel mit Peter Hacks« erscheint im Eulenspiegel Verlag, einem Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

Kurt Gossweiler im Briefwechsel mit Peter Hacks (1996–2003)
Die 52 Briefe, die die Partner im Laufe von mehr als 6 Jahren wechseln, bezeugen eine außerordentliche Intensität auf beiden Seiten. Sie sind verbunden im gemeinsamen Nachdenken über den gleichen, gleich grundsätzlichen Fragen:
Welches sind die Klassen und die Klassenkämpfe in sozialistischen Gesellschaften? Welchen Anteil hatten Persönlichkeiten wie Nikita Chruschtschow am Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR? Wie wäre die Niederlage von 1989-90 zu vermeiden gewesen? Und welcher Organisationsformen, Bildungsformen, Kampfformen bedarf es für einen zukünftigen Sozialismus?
Sie lernen einander in diesem Briefwechsel kennen und schätzen, ermutigen und prüfen – mit Respekt, Scharfsinn, Vertrauen … so intensiv, dass der eine den andern schließlich fragt: „Darf ich Genosse sagen?“
Die neue, überarbeitete und erweiterte Ausgabe nach der gar zu rasch vergriffenen ersten Ausgabe von 2005 bietet auf 220 Seiten auch ausführlichere Anmerkungen mit weiterführenden Materialien und einigen bisher unveröffentlichten Dokumenten.

Eine Veranstaltungsempfehlung zum Schluss:

Dienstag, 27. September 2022

Kurt Gossweiler/Peter Hacks »Darf ich Genosse sagen«

Eine Niederlage, aber kein grundloser oder unerklärlicher Niedergang

FMP1
Münzenbergsaal
10243 Berlin

Uhrzeit: 10:00 Uhr

In ihrem intensiven Briefwechsel beschäftigen sich Peter Hacks und Kurt Gossweiler mit grundsätzlichen Fragen: Welches sind die Klassen und die Klassenkämpfe in sozialistischen Gesellschaften? Welchen Anteil hatten Persönlichkeiten wie Nikita Chruschtschow am Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR? Wie wäre die Niederlage von 1989-90 zu vermeiden gewesen? Und welcher Organisationsformen, Bildungsformen, Kampfformen bedarf es für einen zukünftigen Sozialismus?
In der Veranstaltung werden einige der Briefe zu Gehör gebracht.

Referent: Dr. Matthias Oehme, Verleger und Herausgeber von Kurt Gossweiler: Darf ich Genosse sagen? Der Briefwechsel mit Peter Hacks
Moderation: Dr. Inge Pardon

Kosten: 2,00 Euro

https://www.helle-panke.de/de/topic/3.termine.html?id=3381

„Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen“ – Rezension

Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden. Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg (Pommern; heute Kołobrzeg, Republik Polen) geboren. Also zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Mutter ist eine einfache Frau. Den Vater lernte er nicht kennen. Egon Krenz entstammt kleinsten Verhältnissen. Nun hat Egon Krenz eine Autobiografie vorgelegt. Wenn man darin am Ende liest:

„Honeckers kameradschaftliches Verhältnis zu mir beeindruckte mich. Es war herzlich und produktiv. Das sollte sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als Gorbatschow in Moskau das Ruder übernahm, ändern. Eine Freundschaft ging zu Ende. Da widerrief Honecker, was im Westen seit Jahren über mich kolportiert worden war, nämlich dass ich sein ‚Kronprinz‘ sei. Doch dazu später.“ Wenn man das richtig versteht, dann dürfte also ein zweiter Teil seiner Erinnerungen folgen.

Egon Krenz zu seinem Vater: „Wer immer mein Vater gewesen sein mag: Er kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder. Die Überzeugung meiner Mutter ‚Nie wieder Krieg!‘ wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt. Sie blieb ein Element meines Denkens und Handelns.“

Krenz‘ Entwicklung und dessen Handeln nicht untypisch

Der Verlag schreibt zur Person Egon Krenz: „Seine Entwicklung: nicht untypisch. Sein Handeln ebenso. Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg, fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der Westen war keine Alternative: „„Bei euch regieren ja immer noch die Nazis“

Krenz schreibt, 1947 als Zehnjähriger, einige Wochen auf Sylt verbracht zu haben, wohin ihn die Mutter zwecks Besuchs ihrer dort lebenden Tochter mitnahm. Der Grenzübertritt gestaltete die Mutter illegal, bediente sich eines Fluchthelfers. Bis nach Westerland in der britischen Zone brauchten die beiden mehrere Tage. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit Egon wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“

Krenz klärt über den Hintergrund auf: der Bürgermeister von Westerland auf Sylt war von 1951 bis 1964 ein gewisser Heinz Reinefahrth. Studierter Rechtsanwalt, als Generalleutnant der Waffen-SS 1944 Befehlshaber die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes befehligt. Unter seinem Befehl seien bis zu 50 000 Polen erschossen worden, schreibt Krenz. 1949 wurde Reinefahrth, der bereits für den US-Geheimdienst CIC arbeitete, 1949 vom Spruchgericht Hamburg-Bergedorf von jeder Schuld freigesprochen. Einem Auslieferungsantrag Polens gegen den Kriegsverbrecher hatte die britische Besatzungsmacht nicht stattgegeben …

Diese Zeilen von Egon Krenz erinnerten mich an eine andere Biografie

Darüber hatte vor vielen Jahren einmal eine Rezension geschrieben hatte. Manfred Liebscher (inzwischen leider verstorben) hatte seine Erinnerungen aufgeschrieben. Die hatte er ursprünglich nur für seine Enkel schreiben zu schreiben gedacht. Schließlich aber veröffentlichte er sie aber dennoch („Im Paradies der Erinnerungen“, Manfred Liebscher; im Netz noch erhältlich). Daraus:

Als Kind einfacher Leute hatte Manfred Liebscher selbst zunächst als Knecht gearbeitet. In den Anfangsjahren der DDR fand er den Weg zur Kasernierten Volkspolizei. Und von dort warb man ihn zum Ministerium für Staatssicherheit ab. Da arbeitete Liebscher für die eigene Kriminalpolizei der Staatssicherheit. Nach dem Ende der DDR rümpfte man die Nase über derartige Biografien. Doch gilt es zu differenzieren. Manfred Liebscher leistete über viele Jahre Wichtiges in seinem Bereich. Das vereinigte Deutschland konnte ihm keine Vergehen oder Straftaten nachweisen. Manfred Liebscher konnte noch eine Weile beim Bundesarchiv in Koblenz arbeiten. Damit seine Enkel verstünden, schrieb er ein Buch für sie. Das es doch noch das Licht der Öffentlichkeit erblickte, war eine gute Entscheidung. Ich empfehle meinen Lesern diese Autobiografie gleichsam als Geschichtsbuch zu lesen. (…)

Die DDR war für ihn “die Heimat der kleine Leute”. Ja: das in vielfacher Hinsicht bessere Deutschland… (…) Hier mein damaliger Beitrag.

Egon Krenz war mit 52 Jahren zwar nur kurz Staats- und Parteichef. Aber er sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel

Als einstiger Bürger der DDR war mir Egon Krenz natürlich bekannt. Ich erinnere mich seiner etwa als er zu meiner Schulzeit als oberster Funktionär der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) auf einer Veranstaltung im Blauhemd eine Rede in unserer Stadt hielt. Oft erschien er auch – auf zahlreichen Anlässen abgelichtet – auf diversen Zeitungsseiten oder in Berichten der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“, die viele Menschen in der DDR – meine Person eingeschlossen – aber eher selten konsumierten.

Damals schimpften Krenz nicht wenige abschätzig einen „Berufsjugendlichen“. Eine Titulierung, die sie vermutlich aus dem Westfernsehen übernommen hatten. Wer kannte oder traf den Menschen Egon Krenz damals schon persönlich und konnte sich ein einigermaßen objektives Bild von ihm machen? Erst gegen Ende der DDR hatten viele Leute den Menschen Egon Krenz wieder – und zwar positiv! – auf dem Schirm: Für kurze Zeit war er mit 52 Jahren Staats- und Parteichef geworden. „Wenngleich nur für kurze Zeit“, schreibt der Verlag. „Sie genügte jedoch, um Geschichte zu schreiben: Krenz sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel und Frieden im Land blieb.“

Begegnung mit Egon Krenz „tief im Westen“

Anlässlich des 20. Pressefests der DKP-Zeitung „UZ“ (mein Bericht) lief mir der letzte Staatsratsvorsitzende Egon Krenz erstmals ganz nahebei über den Weg. Noch dazu „tief im Westen“, in Dortmund, meiner neuen Heimat. Im Ernst-Thälmann-Zelt stellte er damals sein Buch „China, wie ich es sehe“ vor. Überdies hielt er des einen Tags eine Rede, die heute noch aktuell wäre. Und während des gleichen Pressefests saß er während des Konzerts von Konstantin Wecker am Abend dicht hinter mir. Ich ärgere mich bis heute, ihn nicht angesprochen zu haben, um ihm einige Fragen zu stellen …

Aber nun halte ich ja seine Autobiografie in Händen und erfahre mehr als genug. Freilich wäre eine persönliche Begegnung zugegebenermaßen schon etwas, das mich nach wie vor, interessieren täte. Nun ja …

Krenz‘ Autobiografie: sachlich, hoch interessant und auch Emotionen nicht aussparend

Krenz beschreibt seinen Lebensweg sachlich, hochinteressant, aber gar nicht nüchtern und staubtrocken: denn er offenbart auch seine Emotionen, welche ihn in dieser oder jener Lebensphase beschäftigten und welche Gedanken und auch Bedenken ihn überhaupt jeweils umtrieben. Aus Krenz‘ Zeilen spricht dessen ehrliches Engagement von frühester Jugend an. Von je her hat er es vermieden sich in den Vordergrund zu spielen. Hinterhältigkeit und Falschheit, um Vorteile zu erlangen, waren ihm offenbar schon sehr früh fremd und dementsprechend ein Gräuel. Er hat immer beides verachtet. Dafür war er offen und ehrlich und hat auch – wie zu lesen ist – öfters auch vor Parteifunktionären oder Vorgesetzten, selbst während seines Wehrdienstes bei der Armee nicht gezögert, Kritik zu äußern. Auch wenn ihm das durchaus auch hätte Nachteile betreffs seiner beruflichen wie politischen Entwicklung bescheren können.

Nicht zuletzt dürfte es Krenz mit ziemlicher Sicherheit zugute gekommen sein, dass er vielen Funktionären begegnete, die zuvor den Krieg erlebt hatten, Spanien-Kämpfer, Kommunisten oder engagierte Gewerkschafter gewesen waren. Viele dieser Menschen prägten Egon Krenz.

Ein Bildungsweg, welcher immer wieder Unterbrechungen erfuhr

Sein Bildungsweg verlief durchaus nicht so, wie von ihm gewünscht. Zunächst gedachte er 1953 im Dieselmotorenwerk Rostock eine zweijährige Lehre zum Maschinenschlosser zu machen. Sein altgedienter Meister legte alles daran, ihm betreffs der Herstellung eines Werkstücks „deutsche Werkarbeit“ beizubringen.

Doch bald schon trat im Werk ein Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung auf den Plan: Man brauche ihn. „An den Lehrerbildungsinstituten fehlen Studenten“, beschied ihm der Mann. Inzwischen war Egon Krenz mit 16 Jahren in die SED eingetreten. Der FDJ-Mann appellierte an Krenz (S.93): „Denk dran, die Partei erwartet von dir, dass du dort hingehst, wo es für unsere Sache am wichtigsten ist!“

Krenz (S.94) schreibt: „Niemand hatte mich gezwungen, in die SED zu gehen. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn die Partei nun von mir erwarte, ich sollte ihrem Ruf folgen, sei dies nur logisch, dachte ich mir.“

Er habe schlaflose Nächte gehabt. „Schließlich entschied ich mich für ‚unsere Sache’“, erzählt Krenz. Er machte das Lehrerstudium. Krenz: „Ich greife vor: Bereut habe ich die Entscheidung nicht. Lehrer wurde mein Traumberuf. Ich bedauerte nur, dass ich ihn nicht lange ausüben konnte.“

Auch Journalist, erfahren wir, wäre Egon Krenz gerne geworden. Doch die Partei stellte ihn immer wieder an andere Stellen. Nur die Nationale Volksarmee (NVA) blitzte bei ihm ab: ein Offizierslaufbahn einzuschlagen, lehnte er ab. Krenz sei verblüfft gewesen, dass der zu Besuch weilende damalige Generaloberst und Vize-Verteidiungsminister Heinz Hoffmann nichts dagegen einzuwenden hatte. Der beschied ihm: „Das ist richtig.“ Auf der Insel Rügen brauchten sie ihn als Funktionär der FDJ. Krenz: Dieses „Kadergespräch“ sei es gewesen, das „mein weiteres Leben bestimmen sollte.“

Warum die NVA-Uniformen weiter deutsch aussehen sollten

Interessant: In seiner NVA-Zeit hatte Egon Krenz Anstoß an der Ähnlichkeit der grauen DDR-Armeeuniform mit jener der faschistischen Wehrmacht genommen. Diese Uniform hatte man ihm auf Nachfrage erzählt, gehe auf die antinapoleonischen Befreiungskriege zurück. Krenz plaudert aus dem Nähkästchen: Die Entwürfe für die NVA-Uniformen ähnelten allein schon in der Farbe denen der Sowjetarmee. Dies sei in einem Gespräch zwischen SED-Chef Walter Ulbricht und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow auf den Tisch gekommen: „Chruschtschow kommentierte: Die DDR-Deutschen hätten wohl Angst sich auf deutsche Traditionen zu besinnen. Warum wollt ihr sowjetische Uniformen? Es reicht doch, wenn die Westdeutschen amerikanische Uniformen tragen. Ihr braucht deutsche Uniformen.“ So kam es dann. Um ein Argument in der Hand zu haben, dass die Ähnlichkeit der NVA-Uniform mit den früheren Wehrmachtsuniformen erklärte, kam dann wohl die oben genannte Erklärung ins Spiel.

Egon Krenz und der 17. Juni

Das Buch ist in vielerlei Hinsicht interessant und informativ. Denn auch kritisches wird nicht ausgeblendet. So schreibt Krenz auch über „Mein 17. Juni“. Im deutschen Westen sei vom „Volksaufstand“ geschrieben worden, in der DDR sein habe es geheißt: „faschistischer Putsch“. Krenz: „Als Schüler habe ich von beidem nichts gespürt.“ Später habe er davon gehört, dass etwa sechs Millionen Beschäftigte in der Industrie und 300 000 an den Aktionen beteiligt gewesen sein sollen.

Krenz: „Als bekannt wurde, dass Aufständische in Halle eine vermutlich ehemalige KZ-Aufseherin aus dem Gefängnis geholt und in einer Stadt im Bezirk Potsdam einen SED-Funktionär barbarisch ermordet hatten sagte ich mir: So etwas macht kein vernünftiger Arbeiter.“

Als einmal im Jahr 2011 kritische Geister in einer Radiosendung betreffs des 17. Juni zu Gericht über die DDR gesessen hatten, fragte sich Egon Krenz, warum da in der Regel die Geschichte ihres eigenen Landes ausgeblendet würde.

Schließlich hätte es doch nach der Einführung der D-Mark im Juni 1948 in den Westzonen als die Preise freigegeben wurden und so für die Masse unbezahlbar geworden seien auch spontane lokale Proteste und einen Generalstreik in der Bi-Zone gegeben. Gegen Unruhen in Stuttgart sei US-Militär mit Panzern und Tränengas vorgegangen. General Clay hatte ein Ausgehverbot verhängt. Es sei der größte Streik in Deutschland seit dem Kapp-Putsch 1920 gewesen.

Hatten „die Freunde“ um Lawrentij Berija ihre Hand im Spiele bei der Auslösung des „Volksaufstandes“?

Zum Thema 17. Juni gehört auch dies, was uns Krenz da eröffnet: Selbst ein SED-Generalsekretär konnte sozusagen nicht dekretieren, dass Stefan Heyms Buch „Fünf Tage im Juni“ in der DDR erscheinen konnte. Erich Honecker war dafür. „Die Freunde“, wie der Große Bruder in Moskau oft in der DDR genannt wurde, sagten jedoch „Njet!“. Moskaus Leute im SED-Politbüro, der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke wohl vorn dran, spurten entsprechend. Heym war der historischen Wahrheit zu offenbar zu nahegekommen: Dass nämlich bei der Auslösung des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953 sowjetische Kräfte um den potenziellen Stalin-Nachfolger Lawrentij Berija ihre Finger maßgeblich mit im Spiel hatten, Kräfte, die in der DDR lediglich noch die Verfügungsmasse für einen Deal mit dem Westen zur angestrebten Neutralisierung ganz Deutschlands sahen.

Berija wurde übrigens später erschossen.

Orientierungslos nach Stalins Tod

Apropos Stalin. Nach der Wende bezeichneten eigene Genossen Krenz als Stalinist. Der Autor bekennt freimütig, dass er von Stalin einmal viel gehalten hatte. Als er aus dem Radio von dessen Tod erfährt, habe er sich wie gelähmt und geradezu verwaist gefühlt. Im Kapitel „Orientierungslos“ (S.76) hat Krenz darüber geschrieben.

„Was war Stalin nicht alles bis jetzt gewesen? Genius der Epoche, Vater der Völker, Sieger über Hitler, Bester Freund des deutschen Volkes, Führer des Weltfriedenslager … Für mich war er ein Phänomen. Mit politischer Logik allein und trotz Kenntnis, wie Öffentlichkeit wirkt, kann ich seinen Einfluss damals auf mich noch heute nicht erklären. Von Winston Churchill ist der Satz überliefert: Stalin „übernahm das Russland des Hakenpflugs und hinterließ es im Besitz der Atomwaffe“.

Eine Seite weiter schreibt Krenz: „Erst später, als die Mythen fielen und Stalins Verbrechen bekannt wurden, als ich begann, Marx, Engels und Lenin nicht nur zu lesen, sondern auch ihre Gedankengänge zu verstehen, verblasste mir das Heldenbild des Generalissimus. Freilich unter großen Schmerzen und nie vergessend, dass es gesellschaftliche Umstände gab, die sein Handeln begünstigt hatten. Und dass nie vergessen werden darf, dass er der oberste Kommandierende jener Armee war, die Deutschland vom Faschismus befreit hat.“

Viermächteabkommen: Leonid Breshnew stimmte sich eng mit Erich Honecker ab – hinter dem Rücken Walter Ulbrichts

Die Ausführungen in Krenz‘ Kapitel „Abkommen, Anerkennung, Abgrenzung“ (S.217) enthalten Informationen, die zumindest ich so noch nie zuvor irgendwo gelesen hatte. Das Kapitel und behandelt im Besonderen das sogenannte Viermächteabkommen über Berlin, das 1971 zwischen der UdSSR, den USA, Frankreich und Großbritannien abgeschlossen wurde. Man ist erstaunt, zu erfahren, dass sich KPdSU-Chef Leonid Breshnew betreffs dieser Verhandlungen eng mit SED-Politbüromitglied Erich Honecker abstimmte. Der Normalzustand war ja, dass die Besatzungsmacht Sowjetunion bestimmte, was in der DDR umgesetzt werden musste. Wie umgekehrt vorauszusetzen war, dass in Westdeutschland hauptsächlich die westlichen Alliierten – allen voran die USA – bestimmten wie der Hase zu laufen hatte.

Was ja, nebenbei bemerkt, noch heute so zu sein scheint. Würde sich sonst die Bundesregierung wie ein Vasall gegenüber den USA verhalten?

Im Fall des Viermächteabkommens aber legte offenbar der KPdSU-Generalsekretär Breshnew großen Wert auf die Zustimmung der DDR. Tief blicken dabei lässt die Tatsache, dass Breshnew und Honecker hinter Walter Ulbrichts Rücken handelten.

Ebenso ging es beim bemerkenswerten Besuch des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt in Breshnews Urlaubsdomizil Oreanda auf der Krim 1971 am Schwarzen Meer zu. Der Gastaufenthalt Brandts war zwischen dem KPdSU-Generalsekretär und Honecker abgestimmt worden. Brandt und Breshnew am Strand des Schwarzen Meeres beim Baden und bei Bootsfahrten. Was dort besprochen wurde, „erfuhr Honecker noch am gleichen Abend“ – sozusagen brühwarm.

Paranthese: Sehr aufschlussreich ist auch das Kapitel „Zwischen Ulbricht und Honecker“ (S.163). Auch Walter Ulbricht bekommt in Krenz‘ Erinnerung sozuagen ein ganz anderes Gesicht. In westlichen Erzählungen kaprizierte man sich immer hauptsächlich auf dessen Sächseln beim Reden. Und lachte über „Spitzbart“. Ein bisschen ließ man ihn so als eine Art Tölpel aussehen. Egon Krenz (S.172): „Ulbricht war eine Autorität und genoss hohen Respekt. National wie international. ‚In Deutschland hat er‘, urteilte der bürgerliche Publizist Sebastian Haffner über Ulbricht ’nach Adenauers Abgang keinen Gegenspieler, der ihm das Wasser reichen könnte.‘ Der weltläufige Historiker nannte ihn gar den ‚erfolgeichsten deutschen Politiker seit Bismarck.“

Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“

Egon Krenz erinnert sich: „Während Gromyko und Falin noch bis Anfang 1971 versuchten, Ulbricht von der Notwendigkeit des Abkommens zu überzeugen, hatten gleichzeitig Breshnew und Honecker hinter deren Rücken alles bereits besprochen und verabredet: Was für die Entspannung notwendig sei, könne die UdSSR auch im Namen der DDR tun. Breshnew hatt vor der endgültigen Abstimmung der Vier Mächte Honecker gefragt, ob die DDR-Führung mit dem Entwurf des Abkommens einverstanden sei. ‚Völlig einverstanden‘, hatte Honecker erklärt.

Krenz erklärt zur engen Koordinierung: „Die DDR saß zwar nicht mit am Verhandlungstisch, aber ohne ihre Zustimmung wurde nichts vereinbart. Dafür sorgte Breshnew persönlich. Regelmäßig rief er Honecker an, stimmte sich über wichtige Schritte der Verhandlungen mit ihm ab.“

Egon Krenz weist zum Abschluss dieses Kapitels auf eine Fehlstelle hin: „Heutzutage ist es üblich die Ostpolitik der SPD als Beitrag zur Entspannung zu loben. Den Beitrag der DDR kennt kaum jemand. Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“ (S.224)

Egon Krenz auf der Parteihochschule in Moskau und der Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialismus

Nicht nur im Kapitel „Parteihochschule Moskau“ erinnert sich Krenz gewiss leicht schlechten Gewissens daran, dass es während seines Aufstiegs in der Politik immer wieder seine Frau Erika (sie starb 2017) war, die ihm immer wieder Kraft gab, obwohl sie oft mit dem Alltag daheim allein da stand. Dabei hätte auch sie durchaus das Zeug dafür gehabt, höher aufzusteigen. Das Studium in der Sowjetunion bedeutete Krenz viel. Er lernte die Leute dort kennen. Schließlich erlernte er die Russische Sprache perfekt sprechen und schreiben. Und da er darauf bestanden hatte mit einem sowjetischen Kommilitonen auf einer Studentenbude zu wohnen, wurde er auch schon mal beschämt. Während er Anzüge und reichlich Kleidung mitgebracht hatte, die kaum in den schmalen Einbaukleiderschrank passten, war sein sowjetischer Stubengenosse Wolodja mehr als bescheiden ausgestattet: „Er öffnete seinen Kleiderschrank. Darin hing eine Hose und eine Jacke. ‚Das ist Kommunismus‘. Dann zeigte er auf meinen vollen Schrank: ‚Das ist euer Sozialismus.’“ (S.157)

Einmal traf Krenz einen Mann am Tag der Oktoberrevolution in einer Runde anderer Menschen. Der besaß nur ein halbes Gesicht. Krenz: „Als er deutsche Worte hörte, belegte er mich mit russischen Flüchen. ‚Ich kann diese Mördersprache nicht hören‘, rief er in den Raum. Krenz schwieg betreten, erzählt er. Krenz entgegnete ihm auf Russisch: „Was sind Sie für ein Kommunist? Marx und Engels waren auch Deutsche!“

Der in der Runde wohl hoch respektierte Mann antwortete: „Sie sind Kommunist?“ Krenz bejahte.

Der Gast, ein in seiner Funktion als Partisanenkommandeur im Zweiten Weltkrieg schwer verwundetet gewesener Mann, schwieg. Er verlangte einen Wodka. Nachdem er das Wasserglas leergetrunken hatte, drückte er Krenz ein gefülltes Glas in die Hand und sprach: „Entschuldigen Sie. Trinken wir auf die Zukunft.“

Egon Krenz früher in ein Licht gesetzt haben, in welches er nicht gehört – den Schuh muss ich mir anziehen

Zugegebenermaßen hielt ich Egon Krenz – wie viele andere führende Genossen – zu DDR-Zeiten für einen der üblichen Apparatschiks in der DDR, noch dazu für einen „Berufsjugendlichen“, wie er ob seiner früheren Funktionen geschimpft wurde. Für einen der Leute eben, die im stocksteifen, ideologiegetränkten Deutsch, in der SED-Propaganda, namentlich im Neuen Deutschland, aber auch andren SED-Blättern und in leicht abgeschwächter Form auch in den Zeitungen der Blockparteien vorkamen. Auch Krenz, der ja vorhatte, Journalist zu werden, kritisiert diese Sprache heute. Und wohl auch damals gefiel es ihm bereits nicht.

Ich fühle, dass ich Egon Krenz damals in ein Licht gesetzt habe, in welches er nicht gehört. Den Schuh muss ich mir anziehen. Da habe ich zu kurz gedacht. Ich muss einiges revidieren.

Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind, schrieb ich eingangs.

Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt. Aber er erfuhr auch Beistand

Die Autobiografie ist sehr gut geschrieben. Mit Herzblut, ohne ideologisch oder agitatorisch zu tönen. Es erklärt den Menschen Egon Krenz. Sein Wirken. Und den Anspruch, welcher er dabei an sich selbst gelegt hat. Da wird auch nicht mit Selbstkritik gespart. Auch nicht an Kritik an der DDR und deren führender Partei der SED, sowie an bestimmen politischen Entscheidungen und eingeschlagenen Entwicklungswegen, gerade auch auf ökonomischen Gebiet. All das klingt an. Nun wird es sicher Leserinnen und Leser geben, denen im Buch zu wenig Kritik an der DDR vorkommt. Mag sein. Dann ist das eben so.

Die Lektüre des ersten Bandes von Krenz‘ Erinnerungen ist spannend von Zeile zu Zeile. Es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Und es enthält einiges an Informationen, welche einen entweder so oder eben auch noch gar nicht untergekommen sind.

Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt.

Aber fast ähnlich wie bei Erich Honecker gab es auch bei Egon Krenz jemand, in dem Fall ein Superintendent, welcher ihm – noch dazu am Heiligen Abend 1989 – versprach, Beistand zu leisten.

Zu lesen gleich im Prolog zum ersten Erinnerungsband. Beide, der Kirchendiener und der vor kurzem noch gewesene Parteidiener, sprachen am Heiligen Abend über Gott und die Welt. Kirchenmann Krätschell sprach Krenz gegenüber, „dass er nun vom Leben beurlaubt sei“. Krenz: „Mit 52 Jahren? Soll alles vergebens gewesen sein, wofür ich seit meiner frühsten Kindheit gelebt hatte?“

Klein ließ sich Krenz durch die und auch durch andere nicht kriegen

Seine Partei, die SED, entledigte sich seiner schnöde. „Manche Weggefährten nannten sich jetzt ‚demokratischen Sozialisten‘, mich einen ‚Stalinisten‘. In der ihrer Partei gebe es keinen Platz für mich, meinten die Eifrigsten. Wirklich kurios. Dieser Partei nannte sich seit einigen Tagen SED-PDS. Ich war seit 1953 in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aus der diese SED-PDS hervorgegangen war. Die eilig Gewendeten beabsichtigten, mich zum Parteilosen zu machen?“ Krenz entschied sich nicht zu schmollen.

In ihm reifte ein Entschluss, dem er bis heute folgt: „klein kriegen die dich nicht. Ich hatte zwar verloren, war gestrauchelt, gestürzt, aber ich würde nicht liegenbleiben. Ich nicht. Schon um niemanden diesen Triumph zu gönnen, mich Fall gebracht zu haben. Da bin ich wie meine Landsleute hier oben im Norden: eindeutig, stur und beharrlich. Prinzipien brauchen eben einen harten Schädel. Das ist auch gut für die Beulen, die mir nicht nur der politische Gegner zugefügt hat.“

Lest dieses Buch! Auch den Altbundesbürgern rufe ich zu: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch

Leute, lest dieses Buch! Es erweitert den Denkhorizont. Auch wenn in den Altbundesländern sozialisierte Menschen womöglich das Gesicht verziehen mögen (jahrzehntelange Indoktrination sitzt halt tief), wie ich früher, wenn mir meine Mutter Wirsingkohlsuppe vorsetzte: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch.

Zum Buch

»dass ein gutes Deutschland blühe«
Die Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR

Der einstige Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Partei machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«. Als er dessen Nachfolger an der Spitze des Staates wurde, war der Untergang des Landes nicht mehr aufzuhalten. Durch sein gesamtes Leben zieht sich gleichsam leitmotivisch die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft, »dass ein gutes Deutschland blühe«, wie es in Brechts »Kinderhymne« heißt, die in jener Zeit entstand, in die auch der Beginn des politischen Lebens von Krenz fällt. Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt, setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste. Dadurch bekommt dieser erste – wie auch jeder weitere – Teil der Autobiografie des DDR-Staatsmannes absolute Eigenständigkeit.
Der in Kolberg geborene Krenz berichtet über seine Kindheit, die durch die Kriegsflucht mit seiner Mutter nach Ribnitz-Damgarten 1945 ein ungewolltes jähes Ende fand. Zu diesem Lebensabschnitt gehört der Umstand, dass der siebenjährige Krenz in einer der Massenszene des Ufa-Films »Kolberg« mitspielte. Es sollte der letzte Spielfilm sein, der im untergehenden Reich Premiere hatte. In seiner neuen Heimat, bei den Wahlen 1946, machte Krenz für die CDU Wahlkampf, indem er SED-Plakate überklebte. Aus dieser ersten Begegnung mit Politik entwickelten sich Kontakte, die für ihn prägend wurden und zu seinem entschiedenen Ja zum Sozialismus führten. Wer waren die Leute, die in der DDR Politik machten? Welche Politik? War der Wechsel von Ulbricht zu Honecker eine Umbruchszeit? Krenz erzählt pointiert, verwebt Damaliges mit Heutigem, liefert Fakten, reflektiert seine Erfahrungen tief, kritisch und streitbar. Dadurch entsteht ein dichter, lebhafter, höchst informativer Text, der die Memoiren zu einem herausragenden Leseerlebnis macht und darüber hinaus auch eine Quelle für all jene ist, die sachlich an Geschichte, Politik und einem Nachdenken über die Gesellschaft interessiert sind.

Quelle: edition ost

Egon Krenz

Aufbruch und Aufstieg

Erinnerungen

352 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen, Personenregister

erscheint 02. August 2022

Buch 24,– €

ISBN 978-3-360-02805-1

eBook 19,99 €

ISBN 978-3-360-51052-5

Anbei Video zur Buchpremiere:

Anbei: Interview-Film von TV BERLİN

Ramon Schack interviewt Egon Krenz

Das 20. UZ-Pressefest in Dortmund bot an drei Tagen viele politische Diskussionen und reichlich Kunst und Kultur

Gruppenbild zwecks Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen in der Pflege vor der Hauptbühne des UZ-Pressefestes. Foto: Jo via UZ

Das Pressefest der DKP-Zeitung „Unsere Zeit“ (UZ) gilt als das größte Fest der Linken in Deutschland. Es ist ein Treffpunkt für Widerständige, AntimilitaristInnen, AntifaschistInnen, KollegInnen und aktive GewerkschafterInnen aus Deutschland und Gästen aus vielen anderen Ländern. Es wurde bei bestem Wetter vom 7. bis 9. September im Dortmund Revierpark Wischlingen veranstaltet. Das letzte UZ-Pressefest liegt zwei Jahre zurück. Diesmal waren einige Geburtstage zu feiern: Der 50. Geburtstag der DKP und des sozialistischen Jugendverbands SDAJ und der 100. Jahrestag der Gründung der KPD. Überdies wurde daran erinnert, dass vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren wurde. Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, schätzte im Gespräch mit Nordstadtblogger ein, dass in diesem Jahr die Zahl der PressefestteilnehmerInnen bei mindestens die 50.000 Menschen liegen dürfte. Der Eintritt war frei. Wer wollte und es ich leisten konnte, zahlte einen Solidaritätsbeitrag.

Interessante Vorträge, Diskussionen, viele musikalische Beiträge und ein Kinderfest

An den drei Pressefesttagen waren Veranstaltungen in Hülle und Fülle auf mehreren kleinen Bühnen, einer Hauptbühne und in Zelten zu erleben. Darunter viele interessante Vorträge und Diskussionen zu brennenden Fragen unserer Zeit sowie eine Reihe von Auftritten von Bands und Sängern. Für die jüngsten Besucher gab es ein Kinderfest mit Programmpunkten wie Stelzen laufen,verkleiden, malen und schminken.

Spannende Diskussion zum NSU-Prozess im Zelt des Pressefestgastgebers

Diskussion über den NSU-Prozess (v.l.n.r: Moderator, Ekincan Genc, Eberhard Reinicke und Markus Bernhardt.

Ein ernstes Thema, das durch den Mord an Kioskbetreiber Mehmet Kubasik auch Dortmund betrifft, wurde am Freitagabend in der „Die Perle vom Borsigplatz“, dem Zelt des Pressefestgastgebers, der DKP Dortmund, diskutiert: „NSU-Prozess – Vorhang zu und alle Fragen offen“. Die Zeltbesucher wurden Zeugen einer spannende Diskussion mit UZ- und junge-Welt-Autor Markus Bernhardt, Ekincan Genc (DIDF) und dem Kölner Anwalt der Nebenklage Eberhardt Reinecke.

Ein Fest der Kunst und Kultur

Für nahezu jeden musikalischen Geschmack war etwas dabei: Klezmer, Punk, Liedermacher, Rumbia und Ska. Es fanden Theateraufführungen und Lesungen statt. Ein Flohmarkt konnte besucht werden. Diskussionen erhielten großen Zulauf. Ausstellungen waren zu sehen, u.a. wurden Grafiken von Dieter Süverkrüp, dem Liedermacher gezeigt. Erich Schaffner, der „proletarische Schauspieler“, welcher

Das Duo Betty Rossa.

Lieder und Gedichte vortrug, hatte sein Publikum. Jane Zahn, Calum Baird, das Duo

Diether Dehm (Mitte) wird begleitet von Michael Letz und Hartmut König.

Betty Rossa aus dem österreichischen Linz, Kai Degenhardt, Heinz Ratz mit der Band Strom & Wasser und der wie gewohnt vor Energie und Engagement sprühende Klaus der Geiger begeisterten. Am Sonntagnachmittag sang Diether Dehm (MdB DIE LINKE) begleitet von Michael Letz und Hartmut König Lieder von Brecht und eigens Songs.

Konstantin Wecker mit Liedern von Wut und Zärtlichkeit mit Gästen

Konstantin Wecker zog am vergangenen Samstagabend das Publikum in seinen Bann, welches dicht an dicht den Platz vor der Hauptbühne gefüllt hatte. Wecker stieg sofort mit seinem Kultlied „Willy“ ein. Einem antifaschistischen Song, den der Münchner 1977 schrieb, welcher angesichts der Rechtsentwicklung hierzulande (leider)und anderswo mindestens so aktuell ist wie zur Zeit seiner Entstehung. Den Text am Schluss des Liedes hat Wecker etwas umgemodelt: „… und heut‘ und heut‘ stehen wir zusammen“. Die Menschen sangen entschlossen und laut

Nahezu alle Veranstaltungen war gut frequentiert. Hier die Fläche am Wischlinger See.

mit. Zusammenstehen gegen die wieder aufkeimende braune Brut, so der Liedermacher, sei die Devise. Lieder von Wut und Zärtlichkeit erklangen in dieser Nacht. Am Flügel begleitet wurde Wecker wie immer von Jo Barnikel. Der in Berlin lebende Liedermacher Roger Stein amüsierte mit seinem sarkastischen Hochzeitslied (auch als Scheidungslied zu verwenden). Als weiterer Gast brillierte der aus Afghanistan stammende Sänger Shekib Mosadeq. Zum grandiosen Abschluss des Abends sangen Konstantin Wecker (auf Italienisch) und Shekib Mosadeq (auf Farsi) zusammen mit dem Publikum eindrucksvoll „Bella Ciao“.

Internationale Spezialitäten zur Stärkung der Pressefestgäste

An vielen Verkaufsständen auf dem im Revierpark wunderschön gelegenen Pressefestgelände wurden internationale Spezialitäten, sowie aus mehreren deutschen Bundesländern angeboten.

Über Chinas Arbeitswelt sprach Rechtsanwalt Dr. Rolf Geffken

Darüber, was von der Arbeiterklasse der Volksrepublik China zu lernen sei, referierte der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Rolf Geffken aus Hamburg, der China mehrfach bereist hat. Sein Vortrag vermittelte interessante bis verblüffende Einsichten in ein freilich reichlich komplexes China, das in letzten Jahrzehnten eine rasante technologische Entwicklung genommen hat, die man so detailliert und differenziert – und ohne etwas zu beschönigen – leider in unserem Mainstream-Medien kaum vermittelt bekommt.

Egon Krenz hat China aus seiner Sicht beschrieben

Referat Dr. Geffkens überschnitt sich nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch mit der Vorstellung des neuen Buches des einstigen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz, das den Titel „China, wie ich es sehe“ trägt. Das Ernst-Thälmann-Zelt, direkt am Ufer des Wischlinger Sees gelegen, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch vor dem Zelt hatte sich noch eine Menschentraube gebildet, als Krenz einige Passagen aus seinem

Egon Krenz (links) spricht über sein neues Buch.

Buch vorlas. Krenz beleuchtet in seinem Buch nicht nur die Beziehungen der DDR zu China, sondern wirft darin auch einen interessanten Blick auf die heutige beeindruckende Entwicklung des Landes, dass nach wie vor von der Kommunistischen Partei gelenkt wird, aber gleichzeitig auch kapitalistisch wirtschaftet, aus eigener Ansicht. Egon Krenz riet uns Deutschen China nicht nur immer mit dem Zeigefinger belehren zu wollen, sondern uns stets auch um eine differenzierende Betrachtung des aus tiefster Armut kommende Landes, das 2049 – im Jahr seiner der Gründung der Volksrepublik – Armut gänzlich beseitigt haben will, zu bemühen. Krenz lobte Angela Merkel, die dass das Land immerhin schon mehrfach besucht habe und wichtige Gespräche dort geführt hat.

Krenz beim Antikriegsmeeting mit Besorgnis über Rechtsentwicklung und der Forderungen nach der Normalisierung der Beziehung der deutsch-russischen Beziehungen

Später beim Internationalen Antikriegsmeeting auf der Hauptbühne hielt Egon Krenz am Samstagabend mit fester Stimme noch eine mit viel Beifall bedachte Rede. Darin beklagte er scharf und mit tiefer Besorgnis die Rechtsentwicklung in Deutschland. Und er warb dafür, die beschädigten, so wichtigen, deutsch-russischen Beziehungen zum Wohle beider Länder wieder zu normalisieren und auszubauen. Dass deutsche Soldaten heute wieder vor der russischen Landesgrenze stehen, findet Egon Krenz angesichts von 27 Millionen Sowjetmenschen, die durch das faschistische Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, unerträglich.

Dafür sprach sich aus russischer Sicht auch ein Vertreter der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) aus, der seine Rede auf Deutsch vortrug.

DKP-Vorsitzender Patrik Köbele: Widerstand gegen die Erhöhung des Kriegshaushaltes leisten, damit die Mittel für Gesundheit, Bildung und KiTa-Plätze eingesetzt werden können

DKP-Vorsitzender Patrik Köbele (seine Rede als Video-Beitrag unter diesem Tex) kritisierte Bundesinnenminister Horst Seehofer heftig für dessen Aussage, die Migration sei die „Mutter aller Probleme“. Die Liste der Auslandseinsätze – die müsse man endlich nennen, was sie sind, so Köbele:

Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker las eindrucksvoll das Kommunistische Manifest. Fotos: C. Stille

nämlich Kriegseinsätze – der Bundeswehr werde immer länger, skandalisierte Köbele. Auch die Verteidigungsministerin sollte eigentlich richtigerweise „Kriegsministerin“ geheißen werden. Es mache Sorge, dass der Ton vor allem gegenüber Russland und China wird immer schärfer werde und die Bundesregierung mit allen Mitteln das 2%-Ziel der NATO erreichen wolle. Schon in diesem Jahr seien für den Kriegshaushalt 38,5 Milliarden Euro veranschlagt. Bis 2021 sollen es 42 Milliarden Euro sein – Milliarden, die für Arbeitsplätze, im Gesundheitswesen, für gute Bildung für alle, für höhere Löhne und Renten, für ausreichend KiTa-Plätze etc. fehlten. Das mache spürbaren Widerstand notwendig. Auch gelte es die Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum weiterzuführen.

Friedensaktivist Reiner Braun übergab weitere Unterschriftenlisten für die Aktion „Abrüsten statt Aufrüsten“ – jetzt sind es 90.000

Von Herzen erfreut war Patrik Köbele, als der langjährige Friedensaktivist Reiner Braun (International Peace Bureau), der zuvor ebenfalls eine kämpferische Rede für Frieden, gegen Krieg gehalten hatte, weitere Listen mit Unterschriften für die Aktion „Abrüsten statt Aufrüsten“ auf offener Bühne übergab. Nun sind 90.000 Unterschriften zusammengekommen. Braun verlieh enthusiastisch seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Zahl bald um eine weitere Null ergänzt werden möge.

Im junge-Welt-Zelt: Gespräch über Moshe Zuckermanns neues Buch

Gespräch über das neue Buch von Moshe Zuckermann (v.l.n.r: Rolf Becker, Susann Witt-Stahl und Stefan Huth.

Bereits am Samstagnachmittag hatte Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker mit der Journalistin Susann Witt-Stahl und junge-Welt-Chefredakteur Stefan Huth über das neue Buch von Moshe Zuckermann „Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ gesprochen.

Schauspieler Rolf Becker hinterließ mit seiner Lesung des Kommunistischen Manifests beim Publikum einen tiefen Eindruck

Am vergangenen Sonntag dann, dem Abschlusstag des dreitägigen Pressefestes, las (siehe Videoaufzeichnung von R media base unter diesem Text) Rolf Becker das 1848 erschienene Kommunistische Manifest von Marx und Engels unter hinterließ bei seinem Publikum – auch bei denen, die diesen programmatischen Text womöglich bereits kannten – einen tiefen Eindruck: es ist nämlich in seiner Analyse der Verhältnisse in vielerlei Hinsicht, betreffs er gegenwärtigen gesellschaftlichen Situationen nach wie vor aktuell und lehrreich für unser heutiges Handeln. Beckers Lesung war nicht nur unterhaltsam, sondern ließ nicht selten

Die Jazzpolizei.

aufgrund des professionellen Vortrags, prägnant betont, den Einen oder Anderen an Stellen aufmerken, die man selbst als Leser vielleicht gar nicht bis ins letzte Detail sofort begriffen hatte.

Der kubanische Botschafter Ramón Ignacio Ripol Diaz informierte über „Kuba vor dem 60. Jahrestag der Revolution

Hoher Besuch hatte die Casa Cuba bekommen: Der Botschafter der Republik Kuba in Deutschland, Ramón Ignacio Ripol Diaz informierte in dem Zelt ein interessiertes Publikum aus erster Hand über die aktuellen Entwicklungen, Ziele, aber auch Probleme von „Kuba vor dem 60. Jahrestag der Revolution“. Etwa berichtete er, dass allen KubanerInnen über einen längeren Zeitraum hinweg die ins Auge gefasste neue Verfassung zur Abstimmung vorgelegt wird. Die Kubanerinnen können dann auch eigene Vorschläge einbringen. Und auch von den Bemühungen von kubanischen

Der Botschafter Kubas (rechts) spricht über sein Land.

WissenschaftlerInnen auf der Insel ein wirksames Mittel im Kampf gegen Ebola in Afrika entwickeln, berichtete der Botschafter.

Solidarität mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen

Die DKP unterstrich noch einmal, dass sie die Forderungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen nach besserer personeller Ausstattung etwa im Klinikum Essen voll unterstütze. Das wurde durch eine spezielle Manifestation verdeutlicht. Nämlich durch eine Fotoaktion vor der Hauptbühne des Pressefestes. Es wurde ein machtvolles Gruppenbild mit allen Zuschauern erstellt. Das Bild soll den MitarbeiterInnen der Klinik als Zeichen der Solidarität der PressefestbesucherInnen mit ihnen zugesendet werden soll.

Neben den vielen politischen Diskussionen bot das 20. Pressefest der UZ auch reichlich Kunst und Kultur

Auf dem nach UZ-Angaben größtem Fest der Linken in Deutschland wurde der Widerstand gegen den Aufstieg der AfD und der Rechtsentwicklung

Plakat mit denn Märtyrern der iranischen Tudeh-Partei.

und der Wunsch nach Frieden mit Russland großgeschrieben. Das Pressefest bot allen Aktiven eine einmalige Gelegenheit, sich auszutauschen, die gemachten Erfahrungen auszuwerten, sich zu vernetzen und kommende Aktionen zu planen.

Es ging auch darum die Notwendigkeit aufzuzeigen, dass Menschen Widerstand gegen die herrschende neoliberale Politik für Konzerne und Superreichen leisten.

Eingeladen waren Gäste aus Europa, Lateinamerika, Asien, Afrika und dem Mittleren und Nahen Osten eingeladen, welche über die Situation in ihren Ländern und die Arbeit fortschrittlicher Kräfte berichteten. Zwei Parteienvertreter aus dem Ausland hatten leider kein Visum für Deutschland erhalten. Zentral war für die DKP: „Nur gemeinsam sind wir stark – wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen als Deutsche gegen Migranten oder Flüchtlinge, als Junge gegen Alte, als Männer gegen Frauen. Die Solidarität ist unsere schärfste Waffe!“.  Neben den vielen im Revierpark Wischlingen diskutierten politischen Themen bot dieses 20. Pressefest der UZ drei Tage lang auch reichlich Kunst und Kultur, sowie kulinarische Genüsse für seine Gäste. Ein Video mit Impressionen vom Pressefest finden Sie unter diesem Text.

 

Mit dabei: der linke Motorradclub Kuhle Wampe.

 

Weitere Videos vom UZ-Pressefest hier und hier.

Hier noch der aufgezeichnete Vortrag von RA Dr. Rolf Geffken zu Chinas Arbeitswelt