Nikolaus- und Sankt Martinstag sollten keine Eintagsfliegen bleiben. Wie wollen wir künftig leben?

In die Tage, da ich in der Türkei weile, fiel auch der Nikolaus-Tag. Ich hatte nichts im und auch – wie man landläufig sagt – keinen im Schuh. Aber es fiel mir eine Geschichte ein. Vor Jahren erzählte mir ein Orchestermusiker abends in der Theaterkantine, als er am Morgen aufgestanden und in seine Hausschuhe geschlüpft sei, habe er etwas Feuchtes an einem seiner Füße gespürt. „Da hat mir doch meine Frau“, erzählte er dem gespannt lauschenden Kantinenpublikum, „gefüllte Schokolade in die Hausschuhe gesteckt!“ Zur Rede gestellt, habe sie ihm geantwortet: „Heute ist doch Nikolaus! Irre. Eine Sauerei“, echauffierte sich der Musiker, „man ist doch kein Kind mehr!“ Wir versammelten Theaterleute lachten lauthals. Manchem spritzte das Bier aus den Mund …

In der Türkei ist der Nikolaus so gut wie nicht bekannt, die Deutschen wissen größtenteils wohl nichts über dessen Herkunft

Hier in Izmir fand ich in meinem Umfeld niemanden, der den Nikolaus kennt. Dabei lebte er doch in der Türkei. Na, ganz stimmt das nicht: es muss heißen, er lebte seinerzeit auf dem heutigen Gebiet der Türkei. Wiederum dürften umgekehrt viele Deutsche nichts über die Herkunft des Nikolaus wissen.

Wer war Nikolaus?

Nikolaus wirkte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts als Bischof von Myra in der kleinasiatischen Region Lykien, damals Teil des römischen, später des byzantinischen, noch später des osmanischen Reichs. […] Myra in Lykien, mittlerweile Demre, ist ein kleiner Ort etwa 100 km südwestlich von Antalya in der heutigen Türkei. Im 4. Jahrhundert war der Ort Bischofssitz […]“ Quelle: via Wikipedia. Weiter heißt es: „Über das Leben des historischen Nikolaus gibt es nur wenige belegte Tatsachen.“ Und weiter zu den Reliquien: „Nach der Evakuierung der Stadt Myra und vor ihrer Eroberung durch seldschukische Truppen 1087 raubten süditalienische Kaufleute die Reliquien aus der Grabstätte des Heiligen in der St.-Nikolaus-Kirche in Demre und überführten sie ins heimatliche Bari. Die Reliquien befinden sich in der eigens errichteten Basilika San Nicola. Die türkische Nikolaus-Stiftung fordert allerdings die Reliquien des Heiligen zurück. Die Stadt Bari feiert jedes Jahr zu Ehren des Heiligen vom 7. bis 9. Mai, dem vermutlichen Tag der Ankunft der Reliquien, das Fest der Translatio. Die Statue des Heiligen wird, begleitet von über 400 Personen in historischen Kostümen, in einer Prozession von der Basilika bis zum Hafen getragen und auf ein Boot geladen. Anschließend wird mit ihr die Bucht umrundet.“

Der folgende Text zum Vorlesen für Kinder von Efi Goebel (via Erzbistum Köln) erzählt vom Heiligen Nikolaus:

»Ihr kennt doch den Heiligen Nikolaus? Vor vielen hundert Jahren lebte er in dem Land, das wir heute Türkei nennen.

In seinen jungen Jahren war Nikolaus natürlich noch kein Bischof. Und noch lebte er auch nicht in Myra, sondern in einer anderen Stadt. Nikolaus war damals ein reicher Mann. Von seinen Eltern hatte er viel Geld, ein großes Haus und manch anderen Besitz geerbt.

In den Sommermonaten, wenn es schön warm war, spielte sich das Leben der Menschen auf den Straßen ab. Gern spazierte Nikolaus dann umher und hörte auf das manchmal muntere, manchmal traurige, manchmal komische Stimmengewirr in den Gassen.

Doch plötzlich hört er hinter einer Mauer eine traurige Stimme. Und auch weinende Stimmen sind nicht zu überhören: „Morgen werdet ihr zu euren neuen Dienstherren gehen,“ sagt eine tiefe Männerstimme. „Wie gerne würde ich euch bei mir behalten. Aber ich bin arm. Ich schaffe es nicht, genug Geld zum Leben für uns alle zu verdienen.“

Die traurige Stimme des Vaters und das Weinen der Mädchen stimmen Nikolaus nachdenklich. Kann er nicht helfen? Rasch läuft er zurück in sein Haus. Dort füllt er einen Sack mit Goldstücken. Er eilt zurück zur Gartenmauer. Er geht bis zu der Stelle, an der die Mauer ein Fenster zum Wohnhaus hat. Schnell schaut Nikolaus sich um: niemand hat ihn gesehen. Da nimmt er den Sack mit den Goldstücken und wirft ihn hinein! Bevor noch jemand aus dem Fenster schauen kann, dreht er sich um und läuft davon.

Im Haus hat der arme Vater das ungewöhnliche Geräusch am Fenster gehört. Und wie groß ist seine Überraschung, als er den aufgeplatzten Sack und die vielen Geldstücke entdeckt! Woher das Geld wohl kommt? Wer hat es durch die Fensteröffnung geworfen? Rasch schaut der Vater auf die Straße hinaus. Aber dort ist es menschenleer! Nur etwas weiter oben in der Straße, dort, wo die Häuser der Reicheren stehen, meint er eine Bewegung an der Haustüre wahrzunehmen. Dort wohnt doch der reiche junge Mann, dieser Nikolaus?! Er wendet seinen Blick wieder dem Geld zu: Ob es wirklich für ihn und seine Töchter bestimmt ist? Dann wäre er allen Kummer und alle Sorgen los! Die Frage, wer der gute Geber ist, lässt ihm keine Ruhe. Er beschließt, im Haus von Nikolaus nachzufragen. All seinen Mut nimmt er zusammen und klopft an. Der Diener führt ihn zu Nikolaus in den Garten. „Junger Herr“, spricht der Vater, und sinkt vor Nikolaus auf die Knie, „sag, bist du es, der einen Geldsack durchs Fenster in mein Haus geworfen hat? Ist es wirklich gedacht, mir und meinen Töchtern zu helfen?“

„Steh nur auf“, antwortet Nikolaus und hilft dem Mann auf die Füße. „Ich hörte zufällig von deiner Not. Es ist doch nicht schwer, von dem Vielen, was ich besitze, abzugeben. Du brauchst mir nicht zu danken. Ich freue mich mit euch, wenn es dir und deinen Töchtern gutgeht.“

Jahre sind vergangen. Nikolaus ist älter geworden. Nun unternimmt er Reisen, um andere Städte kennenzulernen. Eines Morgens will er in der Stadt Myra die Kirche besuchen. Zu Tagesbeginn möchte er dort beten. Die Lehren Jesu sind ihm wichtig! Er weiß, dass Gott ihn liebt. Er möchte wie Jesus den Menschen helfen. Er ist gerne Christ.

Als er den dunklen Kirchenraum betritt, stellt sich ihm plötzlich ein alter Mann entgegen: „Das ist er, das ist unser neuer Bischof!“, ruft er in die Kirche hinein. Nikolaus ist verwirrt: „Ich bin kein Bischof!“, sagt er und will sich abwenden. Doch der Mann hält ihn fest: „Unser alter Bischof ist vor kurzer Zeit gestorben. Nun brauchen wir einen neuen Bischof, der sich um uns sorgt und uns führt. In der vergangenen Nacht haben wir gebetet, dass Gott uns zeigen möge, wer unser Bischof sein soll.“ Die Augen des alten Mannes glänzen. „Wir meinten, dass Gott sicher einen guten und frommen Menschen zu uns schicken wird. Und du bist nun schon so früh am Morgen in die Kirche gekommen! Wer seinen Tag im Gebet unter den Schutz Gottes stellt, der ist sicher ein guter Bischof für uns!“

Nikolaus ist verwirrt: Sollte es wirklich Gottes Wille sein? Er will darüber nachdenken. Er möchte überlegen, ob er als Bischof den Menschen und Gott dienen kann. Plötzlich merkt er, dass in der Kirche noch viele andere Menschen sind. Alle hoffen, dass er ihr Bischof werden wird! Die hoffnungsvollen Augen der Menschen und ihre Bitten bleiben bei Nikolaus nicht ungehört. Einige Zeit später wird Nikolaus zum Bischof von Myra geweiht. Nikolaus spürt, dass er Gott und den Menschen als Bischof gut helfen kann[…]

Was sagt uns diese Geschichte heute?

Es ist natürlich eine schöne Tradition und den Kindern alljährlich eine Freude, wenn sie am Nikolaustag am Morgen etwas Süßes in ihren Schuhen finden. Aber denken wir auch daran, dass heutzutage bei vielen unseren Kindern die Schuhe am 6. Dezember gewissermaßen leer bleiben. Oder hinein Getanes von den Eltern anderswo eingespart werden muss. Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.Seit 2015 ist dieser Wert laut eines Mikrozensus um mehr als einen Prozentpunkt gewachsen“, lasen wir am 19.9.2022 in der Welt. Ein Skandal für eines der reichsten Länder der Erde! Eine Schande ist des Weiteren die Anzahl der Tafeln in Deutschland, die inzwischen an ihre Grenzen kommen. Und noch dazu einst gar nicht ins Leben gerufen worden waren, um Arme zu versorgen. Dagegen werden die Reichen in diesem Land immer noch reicher.

Was bedeutet den Menschen heute das Thema „Teilen“ und Solidarität?

Vor 1700 Jahren teilte Martinus von Tours, oder St. Martin, seinen Mantel mit einem Bettler am Tor der französischen Stadt Amiens. Bis heute gilt das als ein Symbol für Barmherzigkeit und Solidarität und, das viele Menschen in Europa und anderswo in der Welt seit Jahrhunderten inspirierte und weiter inspiriert. Im Jahr 2017 liefen mein holländischer Freund Tjerk Ridder zusammen mit Esel Lodewijk (Ludwig) die neue europäische Kulturroute „Het Martinus-Weg“ von Paris nach Utrecht.

Zuvor war Ridder am 1. Juli 2017 mit Esel Lodewijk anlässlich der Internationalen Martinus-Parade in Tours in Frankreich.

Unter dem Titel „In Het Licht Van Martinus“ wandelten beide auf den Spuren keines geringeren als Sankt Martin. Und in Folge dessen interessierte sich Tjerk Ridder natürlich für das Thema „Teilen“ und dafür, was den Menschen heute Solidarität bedeutet. Meinen damaligen Bericht finden Sie hier.

Sich mit Nikolaus- und Sankt-Martins-Tag zu befassen ist nicht verkehrt

Mir scheint es nicht verkehrt zu sein, dass uns Nikolaus-Tag und der Sankt-Martins-Tag daran erinnern, dass wir wieder einmal daran denken, dass es anderen schlechter als einem selbst geht – und das wir mit ihnen teilen oder ihnen anderswo helfen sollten. Allein, das ist zu wenig! Es mit allen diesen Tagen so. Auch mit Internationalen Frauentag am 8. März, wo den Frauen etwas Gutes getan und daran erinnert wird, dass sie in der Arbeitswelt noch immer schlechter entlohnt werden als Männer. Und danach? Alles vergessen. Es läuft alles weiter wie gehabt. Vergessen die Schwüre und hehren Politiker-Worte von gestern. Das kann es doch wahrlich nicht gewesen sein!

Wie wollen wir leben?

Wir, vom »Stichpunkt Magazin», wollen „Das Magazin für eine Gesellschaft mit Kultur“ sein. Was durchaus heißt, auch Optimismus zu verbreiten. Was jedoch nicht ausschließt festzustellen – feststellen zu müssen -, dass mit unserer Gesellschaft vielfach etwas nicht (mehr) stimmt. Sie ist und wird weiter gespalten. Herrschende Politik sowie Mainstream- und Konzernmedien betreiben das quasi Hand in Hand. Viele Menschen trauen einander nicht mehr. Andere feinden sich an.

Es gibt Stimmen, die meinen, wir befänden uns bereits im Dritten Weltkrieg. Zumindest ist es bereits nach Zwölf. Wie auch immer: Es gilt unsere Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Zu Bedenken ist, dass wir schon einmal weiter waren. Zunächst einmal müssen wir jeder für sich und letztlich alle zusammen, überlegen: Wie wollen wir leben?

Darüber müssen wir einen Diskurs führen und – auch über Ländergrenzen hinweg – in einen Austausch treten. Warum uns nicht an Willy Brandts Worten seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag orientieren? Brandts Kernbotschaften lauteten damals: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen.“ Gerade und erst recht jetzt, da es heutzutage Politiker und Medien gibt, die diese richtige Politik als falsch bezeichnen und das damals Wegweisende in jeder Hinsicht diffamieren.

Tage wie der Nikolaus- sowie der St.Martins-Tag sollten uns ruhig auch weiterhin daran erinnern, was Solidarität zu leben heißt. Nur sollten das keine Eintagsfliegen bleiben. Es sollte und muss an einer Gesellschaft gebaut werden, wo künftig solidarische Verhaltensweisen wie sie Nikolaus von Myra und Martin von Tours gezeigt haben so alltäglich sind, dass alles andere einfach als nicht mehr vorstellbar gilt.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint ebenfalls im >>Stichpunkt Magazin<<.

Beitragsbild: Sascha Hübers via Pixelio.de

#LongWalk4Assange – Aktivist Kolja besuchte auf dem Weg von Hamburg nach London Dortmund

Der Artikel „Der Freiheitsläufer“ meiner Journalistenkollegin Andrea Drescher im „Rubikon“ (erschienen ebenfalls auf tkp.at) machte mich auf eine wichtige und lobenswerte Aktion eines entschlossenen Mitbürgers und wahrhaften Demokraten für Julian Assange aufmerksam. Drescher schreibt eingangs: „Es heißt immer, der Einzelne könne nichts tun, er sei zu schwach. Aber es braucht nur mutige Menschen, die etwas tun, und schon ist Veränderung möglich.“

Ein wenig erinnerte mich das entfernt an die Aktion „Trekhaak gezocht!“ (deutsch: „Anhängerkupplung gesucht!“) des niederländischen Theatermachers Tjerk Ridder aus Utrecht vor einigen Jahren. Die Idee war ihm im Beisein von Freunden während eines Kneipenabends gekommen: Die Metapher über all dem: „Man braucht andere, um voranzukommen“. Wer wollte das bestreiten? Nur ist uns das sehr oft überhaupt nicht (mehr) bewußt. Ganz einfach. Ridder hatte einen Wohnwagen. Damit hatte er vor, von Utrecht nach Istanbul zu gelangen. Allerdings ohne eigenes Zugfahrzeug. Also stellte er sich an die Straße und hielt ein Schild mit der Aufschrift „Anhängerkupplung gesucht!“ hoch. Und siehe da: der Mann wurde Stück für Stück von Leuten mit einem Auto mit Anhängerkupplung mitgenommen …

Aktivist ist, wer aktiv ist!

„Es sind gerade die Aktionen der Einzelnen, die diese herbeiführen können“, schreibt Kollegin Drescher weiter. „Wenn sie wahrgenommen werden.“ Da klangen mir die Worte eines mir bekannten politischen Aktivisten im Ohr: „Aktivist ist, wer aktiv ist!“ Und Kolja Rewin, „Der Freiheitsläufer“ aus Hamburg, wurde – ist! – aktiv.

Kolja startete die Aktion LongWalk4Assange. Dabei geht es nicht mehr aber auch nicht weniger um das Leben des Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange. Seit über elf Jahren wird der australische Journalist und Publizist Julian Assange wegen der Veröffentlichung unbequemer Wahrheiten – u.a. betreffs Kriegsverbrechen der USA – politisch verfolgt, seit fast drei Jahren unter nachgewiesenen Folter-Bedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London gefangengehalten. Es ist ein Skandal und deutet auf eine verkehrte Welt hin: Die Kriegsverbrecher sind auf freiem Fuß und derjenige, welcher die Kriegsverbrechten öffentlich machte, ist eingekerkert! Liefert Großbritannien Julian Assange an die USA aus, drohen ihm dort 175 Jahre Haft unter erschwerten Bedingungen. Für einen geschwächten und – wie der frühere UN-Beauftragte für Folter, Nils Melzer, selbst vor Ort im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gewesen, sich auf die Befunde der ihn dorthin begleitet habenden Ärzte stützend, öffentlich gemacht und auch Regierungen – u.a. die deutsche – informiert hat, gesundheitlich schwer angeschlagenen Menschen wie Julian Assange könne die Auslieferung an die USA letztlich den Tod bedeuten.

Im Rubikon-Beitrag lesen wir weiter:

„Der LongWalk4Assange sollte von viel mehr Menschen wahrgenommen werden. Kolja Rewin ist ein Mitstreiter der Mahnwachen für Julian Assange in Hamburg. Durch seinen Marsch nach London will er mehr Menschen auf den Fall des WikiLeaks-Gründers, seine Verurteilung und seine drohende Auslieferung an die USA aufmerksam machen. Dadurch brachte er viele Menschen, denen er begegnete, innerlich in Bewegung.Aus Protest gegen die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange an die USA hat sich am 2. Juli 2022 der Aktivist Kolja Rewin zu Fuß vom britischen Konsulat in Hamburg auf den Weg nach London gemacht. Ziel seines LongWalk4Assange ist das Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, in dem der mehrfach ausgezeichnete Journalist Assange (z.B. hier) seit mittlerweile fast 1.200 Tagen festgehalten wird. Die Route führt unter anderem über Köln und Brüssel. Wer mag, kann beim LongWalk4Assange dabei sein.“

Und weiter informiert Andrea Drescher: „Seit über zwei Jahren steht die Mahnwache in Hamburg jede Woche für Julian auf der Straße und organisiert Demos und Kundgebungen. Es ist sehr mühselig, Menschen zu erreichen, zu sensibilisieren und zu motivieren. Kolja Rewin ist ein Mitstreiter der Gruppe und sieht bei den Demos, dass sich nur wenige für den Fall interessieren. Er will durch seinen Marsch mehr Menschen auf den Fall Julian Assange, seine Verurteilung und seine drohende Auslieferung an die USA aufmerksam machen. Unterwegs mit Handwagen und Zelt wird er Hotels meiden und nur bei lieben Menschen, die es ihm anbieten, übernachten. Auch Bahn fahren will er nur im Notfall. Ein Paar neue Schuhe waren schon fällig, und der Handwagen hatte einen Radbruch und musste repariert werden.

Es ist kein professionelles, durchorganisiertes Projekt, es entstand einfach aus dem Bauch heraus. Aber es hebt sich wohltuend von vielen professionellen Projekten ab: Kolja macht das aus eigenen Mitteln, er bittet nicht um Spenden, es gibt kein Spendenkonto. Vor seiner Abreise haben ihm auf der letzten Demo einige Aktivisten und Teilnehmer etwas Geld zugesteckt.

Ein Ankunftstermin steht nicht fest. Bei geschätzt über 1.000 km Wegstrecke und unzähligen möglichen Problemen lässt sich dieser auch nicht mal annähernd abschätzen. Der Weg ist das Ziel.“

Was treibt Kolja an? Weitere Informationen (dem Rubikon-Beitrag entnommen)

Auf der letzten Demo und Kundgebung, die von der Gruppe organisiert wurde, erklärt Kolja auch ganz persönlich, warum er sich auf die Straße begibt. Er findet es sehr schade, dass über westliche Kriegsverbrechen, die Deutschland mit Milliarden unterstützt hat, nicht berichtet werden darf. Er erinnert sich an 60 Milliarden für den Irakkrieg von der Bundesregierung — also deutsche Steuergelder. Geteilt durch 80 Millionen kann jeder Deutschen seinen Beitrag berechnen. Er möchte Julian Assange danken, deswegen macht er diesen Lauf, da Julian das derzeit nicht möglich ist.

Sein Ziel ist es, Bilder für Julian zu sammeln, Menschen daran zu erinnern, dass es ihn noch gibt, dass er immer noch im Gefängnis sitzt und dass jeder Einzelne die Macht hat, für Werte einzustehen, für Demokratie und Pressefreiheit. Er ist ihm für seine Arbeit unheimlich dankbar, und deswegen macht er sich auf die Strecke.

Seine Erwartungen schildert er folgendermaßen:

„Ein bisschen müde und aufgeregt bin ich. Jeder ist willkommen mitzumachen, meine Route verläuft durch Deutschland. Dabei habe ich nicht den kürzesten Weg gewählt, sondern den, wo ich vermutlich die meisten Menschen erreichen kann. Ich gehe durch große Städte wie Bremen und Osnabrück, Münster, dann kommt Essen, Dortmund, Köln, und dann biege ich nach Westen ab, durch Maastricht und Brüssel bis nach Calais. Dann über den Kanal, wie, wird sich noch zeigen, ob man schwimmen muss. Ja, ich hoffe, die Briten lassen mich auch rein, sodass ich den Lauf fortsetzen kann. Ich hoffe, ich komme bis zum Gefängnis und werde meinen persönlichen Protest dem Gefängnis überreichen können. Ich werde einen kleinen Schlenker über London machen, um die aktiven Leute in London mitzunehmen, und dann – es sind 7 Meilen von London Zentrum bis Belmarsh — gehen wir zusammen hin und lassen Julian wissen, dass es Menschen gibt, die an ihn denken und ihm dankbar sind.“

Er hat mehrere Social-Media-Kanäle eingerichtet, aber erst einmal keinen Plan, was er damit tun wird. Er wusste beim Start noch nicht, welcher der Hauptkanal sein wird. Es gibt einen Telegram-Kanal, einen Facebook-Account und eventuell auch jeweils einen auf Signal und Instagram. Alle heißen LongWalkfourAssange beziehungsweise LongWalk4Assange.

Er will abends oder mittags, wenn die Sonne zu heiß ist, um zu gehen, von der Reise berichten. Er hofft auf massive Unterstützung, damit möglichst viele Menschen den Protest zur Kenntnis nehmen, will aber auch gehen, wenn ihn niemand unterstützt.

„Ich mache das dann für Julian auch alleine. Also hoffentlich komme ich an. Pläne sind ja immer so, dass sie dazu tendieren, schiefzulaufen, aber dennoch nehme ich mir das vor, und ich habe ganz fest vor, dort anzukommen.“

Er freut sich auf jeden, der eine Stunde, einen Tag oder eine Woche mit ihm geht, und sagt:

„Das 9-€-Ticket darf gerne genutzt werden, zumindest deutschlandweit, kommt mich besuchen für Julian.“

Angela Berg, eine der Organisatorinnen der Hamburger Mahnwache, gibt weitere Informationen zum Marsch und zu begleitenden Aktionen.

Andrea Drescher: Wie unterstützt ihr Kolja?

Angela Berg: Wir arbeiten etwas hinterher, da alles aus dem Bauch heraus organisiert wurde und man überhaupt nicht von einer Planung sprechen kann. Er hat uns mit seiner Idee ja völlig überrascht, es uns erst kurze Zeit vorher erzählt. Wir mussten ihm erst mal ein Smartphone besorgen, damit er die sozialen Medien, die er bis dato kaum nutzte, von unterwegs bedienen kann. Er mag diese Form der Kommunikation eigentlich gar nicht, lebt lieber im richtigen Leben.

Wir sind alle Laien, versuchen jetzt, das Beste daraus zu machen. Ich bin seit heute telefonische Ansprechpartnerin für ihn und übernehme die Koordination mit den anderen Mahnwachen in Deutschland. Es gibt weitere Unterstützer, wie zum Beispiel Heike, die ich über die nächsten Standorte seines Walks informiere. Heike wird dann die jeweiligen Lokalredaktionen anrufen, um diese zu informieren, dass Kolja mit seiner Aktion vor Ort sein wird. Bei Interesse gibt sie Koljas Nummer weiter, damit die Redakteure ihn direkt kontaktieren können. Heike hat auch die erste Pressemitteilung geschrieben und an verschiedene Medien geschickt. Da hoffen wir auch auf Resonanz. Am 12.7.2022 hatte er sein erstes Interview bei der Diepholzer Kreiszeitung, nachdem am Anfang das Interesse eher verhalten war. Medienseitig wird er jetzt besser unterstützt.

Nachdem auf Facebook eine Gruppe und eine Seite eingerichtet wurden, pflege ich die Inhalte dort ein. Er stellt die Informationen auf seinem Telegram-Kanal ein, und von dort übernehme ich Texte und Bilder, schreibe manchmal auch noch einen Satz dazu. Aber das Wichtigste sind seine persönlichen Berichte.

Wie sind die Reaktionen auf seinem Marsch?

Er hat schon ersten Zuspruch bekommen, Autofahrer haben angehalten und sich bedankt, andere hupen im Vorbeifahren und winken ihm zu. Als seine Schuhe kaputt waren und er sich neue kaufen musste, bekam er im Schuhgeschäft ein paar Socken geschenkt.

Er führt immer wieder Gespräche mit Passanten auf der Straße und hat unter anderem festgestellt, dass verschiedene Menschen auf solch eine Einzelaktion besser reagieren als auf Demonstrationen oder Mahnwachen. Er hat sich mit Handwagen und gut erkennbarem Schild auf eine Autobahnbrücke gestellt — da gab es innerhalb weniger Minuten sieben Hup-Reaktionen. Das sind die kleinen positiven Erlebnisse, von denen es aber noch viel mehr werden dürfen.

Er hofft immer noch, auf der Straße jemanden zu treffen, der ihn mal übernachten lässt. Das ist aber noch nicht passiert. Auf Facebook steigen langsam die Follower-Zahlen, bei Telegram stagniert es leider noch bei circa 160 Teilnehmern. Bisher sind das wohl primär die Organisatoren der Mahnwachen, die auf die tägliche Meldung darüber, was er so am Tag erlebt hat, warten. Diese kleinen Geschichten sind für uns alle ganz, ganz wichtig.

Wie kann man Kolja unterstützen?

Das Verbreiten seiner Aktion ist das Wichtigste. Aber natürlich hoffen wir auch, dass ganz viele Menschen ihm auf seinen Kanälen folgen und ihn im besten Fall vor Ort begleiten. Die Aktion soll ja publik werden.

Er selbst steht nicht gerne in der Öffentlichkeit, mag keine Selfies machen. Er will sich nicht so gerne ablichten, nicht in den Vordergrund drängen. So haben wir ihn auf der Mahnwache in Hamburg kennengelernt. Er ist eher introvertiert, redet nicht viel, sondern überlegt sich etwas und tut. Darum ist es wichtig, dass andere auf ihn aufmerksam machen, wenn er das schon selbst nicht tut.

Wo findet man ihn?

Aktuelle Informationen findet man unter:

https://t.me/longwalk4assange
https://www.facebook.com/profile.php?id=100083178522266
https://www.facebook.com/groups/1235139973964566

Am vergangenen Dienstag erreichte Kolja Dortmund

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Dienstagnachmittag erreichte Kolja Rewin die Ruhrgebietsmetropole Dortmund, wo ich ihn an der Reinoldikirche traf. Es war meinerseits der zweite Anlauf ihn zu treffen. Einen Tag zuvor hatte es Kolja nicht geschafft, Dortmund zu erreichen. Was verständlich ist, denn eine Ankunftszeit genau vorauszusagen ist im Grunde nicht möglich. Irgendetwas auf dem Wege kann immer dazwischen kommen. Außerdem begleiteten ihn derzeit eine Freundin und drei Kinder ein Stück des Weges. Klar, dass da beim Lauftempo darauf Rücksicht genommen wird. Zusammen haben sie heiße Tage auf dem Weg von Münster über Lünen hinter sich gebracht. Ab und zu gab es auch einmal Schauer. Materialermüdungen beim geschobenen Wagen, die kleine Reparaturen notwendig machten, sowie beim Schuhwerk traten auf. Kolja und sein kleiner Trupp erreichte aus Richtung Norden kommend das Dortmunder Zentrum über den multikulturell geprägten Schmelztiegel Nordstadt, wo 60.000 Menschen aus 138 Nationen ihr Zuhause haben.

Hut ab und Respekt, meinerseits ob der bislang erbrachten menschlichen Leistung beim Marsch nach London! Besonders hervorgehoben und gelobt gehören da mitlaufenden drei Kindern. Bewundernswert, wie sie klaglos sozusagen ihren Stiefel laufen. Und sie wissen sehr wohl, weswegen und für wen sie dies tun. Nämlich für den in Belmarsh eingesperrten Julian Assange im Besonderen und die Pressefreiheit im Allgemeinen. Zwischendurch – etwa am Dortmund-Ems-Kanal in Münster – wurde schon einmal Abkühlung in dem Gewässer gesucht, dass bis in die Nordsee fließt. Mit dem sympathischen, bescheidenen Kolja kam ich rasch ins Gespräch. Über Persönliches und die momentan negative, besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklung haben wir gesprochen. Sowie über vieles andere mehr.

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Am Europabrunnen auf der Dortmunder Kleppingstraße gab es erst einmal erfrischende Melone, zu welcher ich herzlich eingeladen wurde. Mit zwei Passanten kam Kolja über sein Anliegen ins Gespräch. Beide standen der Aktion wohlwollend gegenüber. Die Polizisten eines vorbeifahrenden Streifenfahrzeugs nickten freundlich herüber.

Allerdings hat Kolja unterwegs in den Einkaufszonen anderer bisher besuchter Städte leider auch erleben müssen, dass Passanten eher Desinteresse betreffs seiner Aktion zeigten. Er vermutet, dass viele Menschen allzu sehr auf Konsum fixiert sind. Andererseits dürften nicht wenige Menschen gar nicht oder auch falsch über die Causa Julian Assange informiert sein, zieht Kolja in Betracht. Von den Mainstream-Medien und der Politik wird das Thema ja eher bedauerlicherweise vernachlässigt. Wo doch sonst doch immer so viel die Rede von Menschenrechten und vom „Wertewesten“ ist.

Gerade aber, der Journalismus als vierte Säule in der Demokratie und watchdog der Regierenden und Mächtigen, findet Kolja Rewin, hätte bei diesem Thema (wie übrigens auch in der Corona-Krise) zum größten Teil versagt. Ein zupackendes Engagement gegen die Verfolgung von Journalisten wie Assange – auch das der maßgebenden Journalistenverbände – täte seitens der schreibenden und sendenden Zunft bitter Not. Denn müssten sich nicht gerade Journalisten im Klaren darüber sein, dass sie, wenn sie ähnliche investigative Arbeit täten wie Assange, ebenfalls – zumal wenn sie Kriegsverbrechen der USA offenbare – damit rechnen, ein ähnliches Schicksal wie Julian Assange zu erleiden?

Möglichst viele Menschen erreichen, um eine größere Öffentlichkeit für den Fall Julian Assange und dessen Schicksal herzustellen

Kolja Rewin wünscht und erhofft sich, dass möglichst viele Menschen, welche durch seine Aktion mit dem Fall Assange konfrontiert wurden, das Gespräch mit anderen Menschen suchen, um eine größere Öffentlichkeit herzustellen. Im Gespräch mit mir, gestand er ein zutage liegendes Manko ein: Um über die Fall Julian Assange zu informieren sei es eigentlich nötig, dementsprechende Flyer mitzuführen. Bislang wäre man jedoch nicht dazu gekommen. Wenn er nach Dortmund die Stadt Witten erreiche, so Kolja, würde er versuchen Flyer drucken zu lassen.

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Ich begleitete den sympathischen und hoch engagierten Aktivisten noch bis in den Dortmunder Südwesten. An der Friedenssäule auf dem Friedensplatz zwischen altem und neuem Rathaus (derzeit wird es renoviert) wurde noch einmal haltgemacht, um Fotos zu machen.

Vorbei ging es am Platz der Alten Synagoge, wo das Dortmunder Opernhaus mit seiner interessanten Kuppel steht, die Hohe Straße hinauf. Sowie via Wittekindstraße und Krückenweg, das Westfalensstation – Signal Iduna Park geheißen – ,Spielstätte von Borussia Dortmund, links liegen lassend, nach Barop. Unterwegs hupten noch einige Autofahrer und bekundeten ihre solidarische Zustimmung zur Aktion

Dort verabschiedeten sich der Freiheitsläufer und seine Begleiter, um noch ein ziemliches Stück Richtung Witten zu laufen. Dort erwartete sie jemand, der sie für diesen Abend beherbergen wollte.

Ein beeindruckende Begegnung war das, liebe Leserinnen und Leser. Ich werde den #longwalk4assange für Sie so gut es eben geht verfolgen. Was ich Ihnen ebenfalls empfehle. Wie und auf welche Weise Kolja nach Großbritannien gelangen wird, weiß er noch nicht zu sagen. Drücken wir ihm die Daumen, dass er gut nach London und bis hin zum Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gelangt. Behalten wir das Schicksal von Julian Assange im Auge. Und hoffen wir, ihn baldmöglichst in Freiheit begrüßen zu können!

Bedauerlich anzumerken, dass die über Koljas Besuch in Dortmund offenbar informiert gewesenen anderen Medien (auch der Lokalzeit Dortmund des WDR hätte es gut angestanden, einen kleinen Beitrag zu machen) gestern durch Abwesenheit glänzten.

Fotos: Claus Stille

Update:

„Laut-Werden“ von der Sondermahnwache für Julian Assange mit Video vom 5. August 2022 in Köln:

https://laut-werden.de/v/243?seite=#it

 

 

Der Musiker und Theatermacher Tjerk Ridder aus Utrecht erhielt den „Le Prix de Partage Européen“ für seinen Beitrag zur Vernetzung Europas

Im Jahre 2010 ging der niederländische Musiker, Theatermacher und Autor Ridder mit dem Projekt „Trekhaak Gezocht!“ („Anhängerkupplung gesucht!“) von seiner Heimatstadt Utrecht aus auf eine ganz besondere Tour. Mit einem Campinganhänger.

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Peter Bijl und Tjerk Ridder mit Hundedame Dachs vor ihrem Wohnwagen auf dem Gelände der Zechen Zollverein Essen im Jahre 2010; v.l.n.r. (Foto: Claus Stille)

Ohne Zugmaschine. Die musste er sich jeweils unterwegs suchen. Und somit Leute finden, die ihn und seinen Eriba-Campingwagen anhaken und ein Stück des Wegs ziehen. Dem Ziel, Istanbul, entgegen. Dieses Projekt sollte die Metapher „Man braucht andere, um voranzukommen“, transportieren. Dazu hier, hier und hier etwas. Mein Foto (unter diesen Zeilen) von der Aufführung von „Anhängerkupplung gesucht!“ auf der Zeche Zollverein in Essen im Hintergrund  das Stadtbild von Utrecht, wo 2010 die Tour ihren Anfang nahm.

Später folgten weitere bemerkenswerte Projekte des Holländers. Er begab sich auf die „Spuren der Freiheit“. Tjerk Ridder hat zu diesem Behufe mit vielen unterschiedlichen Menschen aus diversen EU-Ländern über ihre persönliche Freiheit gesprochen. Später 20140628_201447

während einer theatralen Begegnung auf der Ruhrtriennale erzählte und sang Tjerk Ridder über diese berührenden wie inspirierenden Erfahrungen auf den Spuren des vereinten Europa und mit den Menschen, die es bevölkern.“ Ridder konnte aus einer Vielzahl an Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen in den Niederlanden und Nachbarländern interessante Meinungen gewinnen und mithin interessante persönliche Lebensweisheiten aufzeichnen. Aus dem unterwegs Erlebten konzipierte er eine reflektierende theatrale Performance. Hier mein Bericht darüber.

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Die Band mit Tjerk Ridder. Verdienter Premierenapplaus seinerzeit in Utrecht. Foto: Stille

Und abermals schloss sich diesem Projekt ein weiteres an. Ridder wandelte zusammen mit Esel Lodewijk auf den Spuren von Martinus. Und ging der Frage nach: „Was bedeutet den Menschen das Teilen und Solidarität heute?

Mit allen aus seinen Projekten entstandenen Theateraufführungen gastierte Tjerk Ridder in seinem Heimatland. Mit „Anhängerkupplung gesucht!“ auch in Deutschland. Zu „Anhängerkupplung gesucht!“ erschien zusätzlich auch ein Buch.

255376966_5145518332141564_5432610504960593066_nHeute gab Tjerk Ridder via Facebook bekannt:

„Gestern war ich ins Rathaus von Utrecht eingeladen und es wartete eine große Überraschung; ich erhielt von Bürgermeisterin Sharon Dijksma ‚Le Prix de Partage Européen‘! Drei weitere, in Italien, Frankreich und Ungarn, erhielten diesen Preis für ihren Beitrag zur Vernetzung Europas! Was für eine schöne Anerkennung und Ermutigung, danke an alle die dazu beigetragen haben!“

Verdient, Tjerk Ridder! Mein Blog gratuliert herzlich! Hartelijk gefeliciteerd!

   

Der Preis. Foto: via Tjerk Ridder/Facebook

Beitragsbild: Via Tjerk Ridder/Facebook

DANCE OR DIE. Die Loveparade-Katastrophe – Ein Roman, geschrieben mit großer emotionaler Tiefe und Dichte von Jessika Westen

In schrecklich trauriger Verfassung fuhr ich am Sonntagmorgen des 25. Juli 2010 mit dem Zug von Dortmund nach Essen. Ich stand noch ganz unter dem Eindruck der von den Medien tags zuvor verbreiteten schockierenden Meldungen:

Am 24. Juli 2010 war die furchtbare Loveparade-Katastrophe in Duisburg geschehen. Die Zahl der Toten war ständig nach oben korrigiert worden. Schließlich stand später fest: Das Unglück hatte 21 Tote und 650 Verletzte gefordert. Im Kulturhauptstadtjahr!

Eigentlich stand mir verständlicherweise nicht der Sinn nach diesem Ausflug nach Essen. Als Blogger wollte ich aber über eine um zehn Uhr anfangende Veranstaltung im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres meines niederländischen Freundes Tjerk Ridder berichten. Es war der Abschluss seine Projektes „Trekaak gezocht!“ („Anhängerkupplung gesucht!“. Alle Autofahrer aus dem Ruhrgebiet, die Tjerks Campingwagen angehängt und ein Stecke weit auf dem Weg, der Tjerk, sein Mitstreiter Peter und Dackel Dachs (inzwischen leider verstorben) von Utrecht aus bis nach Istanbul führen sollte, gezogen hatten, waren als Dank zu einem gemeinsamen Frühstück auf dem Kunstprojekt „The Flying Grass Carpet“, welcher auf dem Willy-Brandt-Platz in Essen „gelandet“ war, eingeladen. Auch meine Wenigkeit. Ich hatte in Abständen über das Projekt berichtet. Auf Readers Edition sowie in der Istanbul Post.

Traurige Gestalten auf dem Essener Hauptbahnhof. Sie hatten also überlebt …

Mit meinem oder vor meinem Zug mussten auch andere Züge angekommen sein. Durchs Bahnhofsgebäude schlurften jedenfalls Gruppen von meist junge Leute beiderlei Geschlechts um die Zwanzig oder auch älter in bunten, schlabberigen Raverklamotten. Die Menschen sahen übermüdet aus. Traurige Gestalten. Die Gesichter grau. Augenringe. Die Haare verwuselt. Manche der Mädchen trugen Netzstrümpfe, die beschädigt waren. Die Kleidung der jungen Männer war teilweise schmutzig. Viele sahen zu Boden. Einige der Leute hatten Bierdosen am Hals, andere Coladosen. Sie mussten – schoss es mir in den Kopf – von Duisburg gekommen sein. Sie hatten also überlebt …

Geplantes Unglück – Verantwortliche blieben unbestraft

Bald schon nach dem folgenschweren Unglück wurde klar, dass viel schiefgelaufen war. Schon die Planung zu diesem Event hätte eigentlich den damals Verantwortlichen zeigen müssen, dass der Veranstaltungsort vom Sicherheitsstandpunkt her völlig ungeeignet war. Aber die Stadt, Oberbürgermeister Sauerland wollte wohl die Loveparade – gerade auch zu Zeiten des Kulturhauptstadtjahrs in der Stadt haben. Damals war ich ziemlich überzeugt davon, dass im Strafprozess – übrigens eines der aufwendigsten Gerichtsverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte – Verantwortliche eine Schuld an der Katastrophe nachweisen und sie entsprechend bestrafen würde.

Doch es dauerte nicht lange und die Hoffnungen, dass dergleichen geschähe, starben eine nach der anderen.

Schließlich im Mai dieses Jahres ging dieses Gerichtsverfahren nun allerdings – ohne (!) Urteil – zu Ende.

Ein Schlag ins Gesicht für Betroffene und Angehörige der Opfer! Das Urteil erging zweieinhalb Monate vor Ablauf der absoluten Verjährungsfrist für fahrlässige Tötung, die am 27. Juli 2020 gegriffen hätte, zehn Jahre nachdem das letzte Opfer der Katastrophe im Krankenhaus verstorben ist.

Wegen der Corona-Maßnahmen war das Verfahren Mitte März 2020 unterbrochen worden. Am 7. April hatte das Gericht vorgeschlagen, den Prozess einzustellen. Es sei nicht absehbar, wann und wie die Verhandlung fortgesetzt werden könne.

Dabei war die zuständige Kammer der Ansicht gewesen, dass man den Angeklagten die ihnen zur Last gelegte Tat nachweisen könne – nur eben nicht bis zum Ablauf der Verjährungsfrist. Ohnehin sei die Schuld der Angeklagten vermutlich gering. Die Staatsanwalt stimmte zu. Und was wunder: Die Angeklagten waren ebenfalls dafür.

Eine Vielzahl von Personen – so das Gericht – habe Fehler gemacht. Ein „kollektives Versagen“ konstatierte man. Zum Schluss wandte sich der Richter mit dieser lapidaren Erklärung an die Angehörigen: „Diese Katastrophe ist eine Katastrophe ohne Bösewicht. Wir haben ihn jedenfalls nicht gefunden.“

Jessika Westen – damals selbst mitten in der Katastrophe hat ein Roman geschrieben, der von Loveparade-Katastrophe handelt

Jessika Westen, Reporterin, Moderatorin und Autorin, hat es gewagt einen Roman zu schreiben, der am Tag der Loveparade-Katastrophe spielt. Der Roman trägt den Titel „DANCE OR DIE. Die Loveparade-Katastrophe“. Dass das Schreiben dieses Buches ein ziemliches Unterfangen gewesen sein muss, kann man sich denken. Aber dieser Tag hat Jessika Westen nicht losgelassen. Und ihr Freund hat ihr Mut gemacht, den Roman zu schreiben. Danke dafür! Dieser Tag hätte sie ohnehin nie losgelassen – er wird sie wohl nie ganz loslassen. Jessika Westen war nämlich Berichterstatterin für den WDR an diesem furchtbaren Tag und aus diesem Grund quasi hautnah am Katastrophengeschehen. Die Diplom-Journalistin hatte selbst – sowohl privat als auch beruflich – an vorangegangen Loveparade-Events teilgenommen und war schon deshalb Feuer und Flamme nun darüber berichten zu können.

Gut recherchiert

Um es vorweg zu sagen: Die Autorin hat es bestens verstanden, alle möglichen Klippen zu umschiffen, die einen einfallen können, hört man, jemand habe einen Roman geschrieben, der von Katastrophen-Loveparade in Duisburg handelt.

Was wohl hauptsächlich damit zu erklären ist, dass sie selbst direkt am Unglücksort und als Reporterin ein Teil des Geschehens war. Und sie kann gut schreiben! Technische und gesundheitliche Details, die Arbeit des Rettungsdienstes und vieles andere mehr hat Westen akribisch recherchiert. Das merkt man als Leser im Grund jeder Zeile im Buch an.

Freilich ist sich wohl jeder Leser vor dem Lesen des Buchs im Klaren darüber, dass es in diesem Roman kein Happy End gibt – gewiss keines geben kann.

Schon beim Eintritt ins Buch tauchen im Kopf des Lesers die Bilder auf, welche man selbst am Tag des Unglücks oder später im Fernsehen sah.

Da fängst es im Kopf schon an zu arbeiten.

Der Roman beginnt mit einem sozusagen mit einem Ausrufezeichen

Und schon das erste Kapitel mit Datum „21. Juli 2010“ und „René“ (S.7) macht klar: Das geht nicht gut. Der Roman fängt sozusagen mit einem unübersehbaren Ausrufezeichen an.

Die zwei Rettungssanitäter, die sich für den Tag der Loveparade zum Dienst gemeldet haben, sehen sich schon einmal drei Tage vorher vor Ort am Veranstaltungsgeländer um. René fragt: „Und die Rampe ist wirklich der einzige Eingang?“

Ja, ich glaub schon. Und auch der Haupt-Ausgang“, antwortet der Kollege.

Die Romanhandlung steigert sich wie ein kleiner Schneeball zur alles zerstörenden Lawine wird – zur schrecklichen Tragödie

Der Roman geht langsam an. Und doch ist es gleich, als ob sich schon ein schwacher, aber doch spürbarer Wind aufmacht. Wolken ziehen allmählich auf. Aber noch kein Grund zur Unruhe. Wenn da nur nicht das im Hirn gespeicherte Wissen des Lesers wäre! Und das Ausrufezeichen vom ersten Kapitel. Von Mal zu Mal steigert sich der Wind. Bis er letztlich zum gefährlichen Sturm anwächst, der alles durcheinanderwirbelt und zerstört, was er erfassen kann.

Oder man stelle sich den Fortgang der Romanhandlung als einem zunächst kleinen Schneeball vor, der immer weiter rollt, unaufhaltsam größer und größer wird, so dass aus ihm eine gefährliche Lawine wird, die alles niederwalzt, was ihr in Weg kommt. Der Leser selbst ist mitgerissen. Allerdings ist diese Vorstellung wohl – um das verhängnisvolle Geschehen zu verdeutlichen . weniger geeignet. Obgleich es einen am Romanende die Tränen zu Eis frieren lässt. Das Buch selbst lässt keinen kalt.

Ich schäme mich nicht zu sagen, an bestimmten Stellen des Romans Tränen vergossen zu haben. So emotional, dass beinahe persönlich die Tragik zumindest nachspürbar wird, hat Jessika Westen ihr Buch, basierend auf den Ereignissen des Schreckenstages im Juli 2010 verfasst.

Das berührt das Herz so stark, dass es sich zusammenkrampft. Gleichzeitig schießt einem Tränenflüssigkeit in die Augen, die man zurückhalten möchte, dann aber doch fahren lässt.

Man meint mittenmang im Geschehen zu sein. Wie hätte man wohl selbst reagiert? Im panischen Gedrängel der Menschen, die sich zu Menschenknäuels verkeilen – unmöglich für die Einzelnen eingequetschte Hände oder Füße, die vielleicht auch noch gebrochen sind, zu bewegen, geschweige denn freizubekommen.

Zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder zitierte Originalfunksprüche

Auf Seite 78:

Wedau 44 an die eigenen Kräfte:

Auf der Westseite im Bereich Düsseldorfer Straße.

Karl-Lehr-Straße fallen die ersten Zäune.

Liegt wohl daran, dass der Tunnel dicht ist

und die Leute nicht weiterkommen.

Das nur zur Kenntnis. Dass wir da nicht ins Getümmel geraten.“

Der Romanhandlung wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Aus der von René, Katty und Emma. René ist ein Rettungssanitäter. Katty eine Abiturientin, die das Leben noch vor sich hat. Emma ist die Live-Reporterin des WDR, die mit mehreren Schalten die Situation vor Ort schildert. Also die Autorin des Buches selbst, Jessika Westen.

Die Situation spitzt sich unaufhaltsam zur Tragödie zu. Wie ein zunächst anscheinend harmloser Wind zum wütenden Sturm wird, erleben wir Leser eigentlich hautnah. Ein Sturm, der eine Verheerung sonst dergleichen anrichtet. Der einst unscheinbare Schneeball ist zur alles niederwalzenden Lawine angewachsen und verletzt und tötet eiskalt.

Das Ende kennen wir aus den Nachrichten und Sondersendungen des Fernsehens von damals. Und doch sind wir geschockt, als wären wir ganz neue in das tragische Geschehen eingetaucht. Wir leiden mit den in höchster Lebensgefahr befindlichen Menschen auf der Loveparade. Schockiert ergreift uns das Grauen – wir zittern. Wir können uns vorstellen, wie den Eltern zumute ist, deren Sprösslinge dorthin gegangen sind, um Spaß zu haben. Nachdem sie aus den Nachrichten von dem Unglück erfahren haben, aber vergeblich versuchen ihre Kinder per Handy zu erreichen. Wenn wir lesen, wie Schuhe, Sonnenbrillen und andere Utensilien, welche die Besucher der Loveparade von den Rettungskräften gefunden werden, läuft es uns eiskalt den Rücken herunter.

Ich musste dabei unweigerlich an ein Erlebnis aus der Kindheit in meiner Heimatstadt Halle an der Saale denken. Ein Straßenbahnunglück war in der Nachbarschaft geschehen. Der Triebwagen des Straßenbahnzuges war entgleist. Im Asphalt der Straße hatten sich Räder der tonnenschweren Straßenbahn hineingeschnitten. Ein Kind hatte man auf eine Obstkiste, die offensichtlich aus dem nahen Obst- und Gemüsegeschäft geholt hatte, abgelegt. An einer Decke, das über das Kind gebreitet war, rote Flecke. War das Blut? Lebte das Kind noch? Ich zitterte, dorthin starrend, wie Espenlaub und konnte doch mein Blick aus gebotener Entfernung nicht von dem Kind und der entgleisten Trambahn wenden. Von weiten kam ein Barkas-Krankenwagen mit Sondersignal und flatternder Rotkreuzflagge angerast …

Sach- und fachgerecht geschrieben

Jessika Westen – ein großes Lob dafür! – hat für ihr Buch sorgfältig recherchiert und für technische Einzelheiten, betreffs Fachbegriffen und verwendeter Codes, die bei Rettungseinsätzen bestimmte Lagen kennzeichnen sowie über spezielles medizinisches Wissen und die Arbeit des Rettungsdienstes sowie der Polizei Expertenrat eingeholt. Am Ende des Buches bedankt sie sich bei den Experten. Mir ist da im ganzen Buch – soweit ich das beurteilen kann – kein Fehler unterkommen. Alles sach- und fachgerecht! Das ist wahrlich nicht bei jedem Buch so.

Jessika Westen ist ein sehr einfühlsam geschriebener Roman gelungen. Dem ein großes Publikum zu wünschen ist. Zumal das Gerichtsverfahren nun eingestellt ist. Und die Angehörigen der Opfer aus mehreren Staaten des Auslands sowie Deutschland traurig und enttäuscht zurückgelassen worden sind. Und niemand für offenkundig gemachte Fehler zur Verantwortung gezogen worden ist. Wie hatte der Richter noch gesagt: „Diese Katastrophe ist eine Katastrophe ohne Bösewicht. Wir haben ihn jedenfalls nicht gefunden.“ Nicht hinnehmbar. Oder soll man Corona auch dafür verantwortlich machen – wie es später wohl für eine wirtschaftliche Katastrophe, die schon vorher anrollte, als Schuldige vors Loch schieben wird – weil der Prozess deswegen im März gestoppt werden musste und wegen der Unterbrechung in Kürze die Verjährung drohte? Den Hinterbliebenen der Opfer und die schwer traumatisierten Menschen, die das fürchterliche Unglück überlebten, kann das weder Trost sein und schon gar nicht zur Entschuldigung dienen.

Emons schreibt über Jessika Westen u.a.: „Sie sprach mit Verletzten, Traumatisierten und hatte Einblicke in anwaltliche Unterlagen. Entstanden ist ein Roman mit emotionaler Tiefe, der ungemein berührt und niemanden kaltlässt.“

Der Buchtitel „DANCE OR DIE“ ist dem Namen einer gleichnamigen electronic Band entlehnt. Treffend! Ach ja: Lesen, liebe Leute – unbedingt lesen und weiterempfehlen!

Das Buch

Jessika Westen

DANCE OR DIE
Die Loveparade-Katastrophe. Ein Roman

Klappenbroschur

13,5 × 20,5 cm

ca. 320 Seiten

ISBN 978-3-7408-0887-7

Preis: Euro 16,00 [D] , 16,50 [AT]

Die Autorin

Jessika Westen

Die Autorin Jessika Westen. Via Emons Verlag.

Jessika Westen ist Nachrichtenmoderatorin bei ntv und Reporterin für den WDR. Die Diplom-Journalistin wurde für ihre »herausragende Leistung« als Live-Reporterin von der Loveparade-Katastrophe in Duisburg bei der Verleihung zum »Axel-Springer-Preis für junge Journalisten« geehrt. Im Nachgang zum Unglück berichtete Jessika Westen regelmäßig für den WDR über die Zusammenhänge und Ursachen, die zu dem tödlichen Gedränge geführt haben. Zwischen 1998 und 2007 war Jessika Westen selbst insgesamt acht Mal auf der Loveparade, sowohl privat als auch beruflich.

Sommer-Kulturgeschichte: Tjerk Ridder und Esel Lodewijk wandeln weiter auf den Spuren von St. Martin – #BonneRoute

Tjerk Ridder ist einmal mehr unterwegs. Meinen LeserInnen dürfte der Musiker und Theaterkünstler aus der Domstadt Utrecht kein Unbekannter sein. Abermals hat nun er seine geliebte Heimatstadt zu Fuß verlassen. Das Projekt in diesen Sommer trägt den Titel „Bonne Route“ – das kann man mit „Glückliche Straße“ übersetzen. Sie erinnern sich: im Jahr 2017 liefen Tjerk Ridder und sein Esel Lodewijk die neue europäische Kulturroute „Het Martinus-Weg“ von Paris nach Utrecht. Unter dem Titel „In Het Licht Van Martinus“ wandelten beide auf den Spuren keines geringeren als Sankt Martin. Und in Folge dessen interessierte sich Tjerk Ridder natürlich für das Thema „Teilen“ und dafür, was den Menschen heute Solidarität bedeutet. (Mein Bericht dazu hier.)

Seit dem 1. Juli 2018 nun setzen Tjerk und Lodewijk die Wanderung auf dem Martinus-Weg von Utrecht über Noord-Holland in die Provinz Friesland im Rahmen des Programms Leeuwarden 2018, Kulturhauptstadt Europas, fort. Der Spaziergang wird beide inzwischen gut aufeinander eingespielte Wanderer zu den Martinitoren in Groningen führen, wo Tjerk Ridder seine neue Aufführung „Bonne Route“ spielt. Vom 23. bis 27. August wird er sie ebenfalls beim Theaterfestival Noorderzon und dann an anderen Orten in den Niederlanden und Belgiens darbringen.

Informationen zum Ansinnen des Projektes (via Tjerk Ridder)

Sint Maarten (Sankt Martin)

Vor 1700 Jahren teilte Martinus von Tours, oder St. Martin, seinen Mantel mit einem Bettler am Tor der französischen Stadt Amiens. Bis heute gilt das als ein Symbol für Barmherzigkeit und Solidarität und, das viele Menschen in Europa und anderswo in der Welt seit Jahrhunderten inspirierte und inspiriert.

Rückblick: Martinus-Pfad 2017

Von Paris über Amiens und Ypern nach Utrecht

Die neue europäische Kulturroute „Der Martinusweg“ ist eine Route entlang des historischen Erbes von Krieg und Frieden. Im Jahr 2017 haben Tjerk und sein Eselchen Lodewijk diese 800 Kilometer lange Strecke von Paris nach Utrecht zurücklegt. Tjerk erlebte tagtäglich, was es bedeutet, auf sich alleine gestellt zu sein auf den Chausseen zu wandeln und stets von anderen abhängig zu sein. Er sah sich konfrontiert mit fortschreitender Zeit, einer ziemlichen Distanz des Weges und Grenzen, die ihm gesetzt waren, aber auch mit seinen Wünschen, sowie dem Druck diese zu kontrollieren.

Aktuell: Martinus-Weg 2018: von Utrecht über Leeuwarden nach Groningen

In diesem Sommer durchquert Tjerk mit seinem Kameraden Lodewijk den Martinusweg in den Norden der Niederlande, von Domtoren nach Martinitoren. Zusammen mit Esel Lodewijk geht er von Nord-Holland, über den Damm in die Provinz Friesland – im Rahmen des Programms Leeuwarden 2018 (Kulturhauptstadt 2018). Des Thema Ulme Mienskip (Westfriesisch für „offene Gemeinschaft“) hat eine direkte Verbindung mit dem Thema „Teilen“. Unterwegs besuchen Tjerk und Lodewijk alle möglichen Projekte und Programmteile der europäischen Kulturhauptstadt. Dann werden sie im August ihr endgültiges Ziel, den Martini-Turm in Groningen erreichen.

Inspiriert von der Lebensgeschichte St. Martins tauscht sich Tjerk über das Thema des Teilens mit Menschen aus, denen er auf dem Weg begegnet. Wie teilen sie Zeit, Geschichten, Liebe, Trauer und Besitz? An den Reiseerfahrungen können Sie über Tjerks Blog sowie dessen YouTube-Kanal und über seine anderen sozialen Medien (Twitter; Hashtag #BonneRoute und Facebook) Anteil nehmen.

Crowdfunding-Kampagne 2018 und teilen

Da Martinus die Hälfte seines Umhangs teilte, teilt Tjerk die Hälfte der Summe, die er durch die Crowdfunding-Kampagne sammelt, mit speziellen persönlichen Initiativen, denen er auf dem Weg begegnet. Möchten Sie mehr darüber lesen und die Reise und das Projekt unterstützen? Das ist sehr willkommen: Klicken Sie hier für die Crowdfunding-Kampagne.

Bonne Route! – die Aufführungen

Dieser gewiss auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, inspirierende Spaziergang – nimmt man die Reise vom letzten und von diesem Sommer zusammen – vom Eiffelturm zu den Martinitoren voller sicherlich besonderer Geschichten führt geradewegs zur dritten Theaterproduktion des Utrechters Tjerk Ridder. Er wird diese vom 23. bis 27. August auf dem Theaterfestival Noorderzon in Groningen und an anderen Orten in den Niederlanden und Belgien spielen. Alle Aufführungstermine sind hier zu finden.

Die vorangegangenen Projekte Tjerk Ridders, die ebenfalls in Multimedia-Show und Theateraufführungen, sowie ein Buch übersetzt wurden

Tjerk Ridder (rechts), musikalisch begleitet von Mattijs Spek (links). Aufführung „Anhängerkupplung gesucht!“ auf Zeche Zollverein in Essen. Foto: C. Stille

Sie werden sich da womöglich an das Projekt „Anhängerkupplung gesucht!“ erinnern, wo Tjerk Ridder auch Erfahrungen auf deutschem Boden sammelte bzw. später seine Multimedia-Show auch erstmals auf Deutsch spielte.

Oder auch an seine zweite Reise A Slow Ride – Spuren der Freiheit“ .

Und hier nochmals nachzulesen der Bericht über denn ersten Teil seiner Reise im Sommer 2017 auf den Wegen von St. Martin „In Het Licht Van Martinus“ zu welcher nun die gegenwärtige Wanderung unter dem Titel „Bonne Route“ als Pendant im wahrsten Sinne des Wortes im Gange ist. Alle Beiträge zu Tjerk Ridders künstlerischen

Tjerk Ridder zurück auf Zollverein auf der Bühne des Salzlagers; Fotos: Stille

Projekten auf meinem Blog finden Sie hier.

Tjerk Ridder erfährt auch diesmal Unterstützung

Die Universitätstierklinik, Fachgebiet „Pferde“, der Universität Utrecht unterstützt die Bonne Route ein weiteres Mal durch Beratung und tierärztliche Versorgung für den kleinen Esel Lodewijk. Die Firmen Anemone – Pferde, Trucks und Triorep“ sorgen für einen guten und sicheren Transport.

Video: via Tjerk Ridder/You Tube)

Es ist am Afsluitdijk (Abschlussdeich) aufgenommen.

Tjerk Ridder unterwegs im Licht von Martinus: Was bedeutet den Menschen das Teilen und Solidarität heute?

Tjerk Ridder dürfte meinen Leserinnen und Lesern bekannt sein. Der niederländische Theatermacher und Musiker aus der Domstadt Utrecht hat bereits mit zwei interessanten Projekten auf sich Reden gemacht. Sie waren stets mit einer Reise verbunden. In „Trekaak Gezocht!“ („Anhängerkupplung gesucht!“) im Jahre 2010 ging es darum mit einem Campingwagen (ohne Zugfahrzeug) von Utrecht nach Istanbul zu gelangen. Der Grundgedanke dabei: Man braucht andere, um voranzukommen.

Erlebnisse und Eindrücke von unterwegs flossen in Videos, ein Buch und Bühnenprogramme ein

Ridders fünf Jahre später unternommenes zweites Projekt trug den Titel „A Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ („Langsame Reise – Spuren der Freiheit“). „A Slow Ride – Spuren der Freiheit“ wurde eine symbolische und poetische Reise über Freiheit und Befreiung. Aber spürte auch Gefühlen der Unfreiheit nach. Tjerk Ridders Ziel: „Dich und alle unterwegs Beteiligten auf der Suche nach ihrer persönlichen Bedeutung von Freiheit zu

Tjerk Ridder mit Esel Lodewijk. Foto via Tjerk Ridder

befragen, um anschließend das eigene Erleben von Freiheit weiter zu entwickeln.“

Auf jeweils beiden Reisen entstanden Videos und Songs, welche von den Begegnungen mit Land und Leuten erzählen. Zu „Anhängerkupplung – gesucht!“ kam ein Buch heraus. Songs fanden Eingang in die jeweiligen Bühnenprogramme. Welche der Utrechter in den Niederlanden, Deutschland und im niederländischen Konsulat in Istanbul aufführte und welche auch jetzt weiter gezeigt (hier) werden.

Begleitet wurde Ridder auf der Anhängerkupplung-gesucht-Tour von einem Freund, dem Journalisten Peter Bijl, sowie seinem Hund Dachs. In „Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ war eine kleine Kutsche ein wichtiges Transportmittel, das vom belgischen Arbeitspferd Elfie gezogen wurde.

Tjerk Ridder – In het Licht van Martinus“ mit „ezeltje Lodewijk“

Nun wirft ein weiteres Reiseprojekt von Tjerk Ridder seine Schatten voraus.

Logo der Grande Parade Saint-Martin Tours. Grafik via Stadt Tours.

Ridder wird am 1. Juli 2017 mit dem Esel Lodewijk (Ludwig) anlässlich der Internationalen Martinus-Parade in Tours in Frankreich sein.

Die Geschichte von Sankt Martin (Martinus) wird den meisten von uns gewiss geläufig sein. Sankt Martin teilte am Stadttor der französischen Stadt Amiens seinen Mantel mit einem Bettler. Seither symbolisiert die Mantel-Teilung Mitgefühl und Solidarität für viele Menschen in Europa und andernorts auf der Welt.

Eine soziokulturelle Wallfahrt entlang Martins europäischer Kulturroute möchte Tjerk Ridder unternehmen. Der Pilgerweg soll am 4. Juli 2017 von Paris aus beschritten werden. Die Reise führt über Arras, Ieper, Gent, Brüssel, Antwerpen, Bergen op Zoom und Breda nach Utrecht. Es ist geplant, dass Tjerk Ridder mit Lodewijk am 2. September 2017 auf dem Domplein ankommt. Dort soll die Heimkehr gefeiert werden.

Was bedeutet Teilen für uns?

Tjerk Ridder erforscht wiederum wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen. Was bedeutet Teilen für die Menschen in Zeiten der Veränderung? Wie ist es mit der Solidarität mit unseren Mitmenschen bestellt? Wie teilen wir gemeinsame Zeit, Wissen, Trauer, Liebe, Essen und vielleicht Eigentum? Wie sind wir sind in der Lage, miteinander in unserem täglichen Leben wirklich zu kommunizieren, wenn es um unsere eigene Nachbarschaft geht – in Europa und auf unseren Planeten? Inspiriert ist die Reise von der Tat, der Mantel-Teilung, des barmherzigen Martins. Tjerk ist einmal mehr an einem Erfahrungsaustausch über das Thema des Teilens mit Menschen, welche er auf dem Weg wird, interessiert.

Unterstützt werden kann das Projekt via Crowdfunding. Informationen auf YouTube und in den sozialen Medien

Verfolgt werden kann die Reise via eines wöchentlichen Blogs (ab dem 15. Juni jeden Donnerstag um 17:00 Uhr online auf dem YouTube-Kanal Tjerk Ridder) und auf dessen Socia-Media-Kanälen (Facebook und Twitter). Ridder wird die unterwegs gemachten Erfahrungen mit uns teilen.

Unterstützer

Die Pferdeklinik der Universität Utrecht kümmert sich tierärztliche Versorgung für „ezeltje Lodewijk“. Die Firma „Anemone – Pferde, Trucks und Triorep“ sorgt für einen guten und sicheren Transport.

Es wird gewiss wieder ein Projekt, von dem wir auf die eine oder andere Weise profitieren werden

Wir können uns also abermals auf ein interessantes Projekt – über das auch an dieser Stelle berichtet werden wird – des Künstlers Tjerk Ridder aus Utrecht freuen. Es läuft unter dem Titel „Tjerk Ridder – In het Licht van Martinus“ und kann über Crowdfunding unterstützt werden. Wer Lust hat, schreibt Ridder, kann Tjerk Ridder auf der letzten Strecke vor Utrecht begleiten.

Update vom 14. Juli 2017 Tjerk Ridders Reiseblog

Ruhrtriennale: Tjerk Ridder gastierte mit „Spuren der Freiheit“ im Refektorium

Musizierten brillant: Konrad Koselleck, Tjerk Ridder und Jochem Braat (v.ln.r). Fotos: C.-D. Stille

Musizierten brillant: Konrad Koselleck, Tjerk Ridder und Jochem Braat (v.ln.r). Fotos: C.-D. Stille

Das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt 71 Jahre zurück. Die Unterzeichnung des Schengener Abkommens ist 31 Jahre her. Im Jahre 2015 beginnen der niederländische Theatermacher und Musiker Tjerk Ridder und sein Pferd Elvi eine Reise durch Europa, die sie zu den verschiedensten Europäern führt. Auch durch das kleine Schengen ritt Ridder damals.

Tjerk Ridders Reise ist ein Prozess. Nun führte sie ihn erstmals nach Bochum

Vergangenen Freitag gastierte der Künstler aus Utrecht bei der Ruhrtriennale in Bochum. Und zwar im Refektorium auf dem Vorplatz der Jahrhunderthalle. Tjerk Ridders „Reise ist ein Prozess’“, so stand es in der Ankündigung zu seiner Performance, „der sich immer weiter fortsetzt, 20160923_183742unterwegs und auf der Bühne. Inzwischen hat Ridder mit vielen unterschiedlichen Menschen aus diversen Ländern über ihre persönliche Freiheit gesprochen. In dieser theatralen Begegnung erzählt und singt Tjerk Ridder über diese berührenden wie inspirierenden Erfahrungen auf den Spuren des vereinten Europa und mit den Menschen, die es bevölkern.“ Ridder konnte aus einer Vielzahl an Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen in den Niederlanden und Nachbarländern interessante Meinungen gewinnen und mithin interessante persönliche Lebensweisheiten aufzeichnen. Aus dem unterwegs Erlebten konzipierte er eine reflektierende theatrale Performance.

Erfolgreich schon mit „Anhängerkupplung gesucht!“

Dem deutschen Publikum, besonders dem im Ruhrgebiet – das er, samt seines Menschenschlages ins Herz geschlossen hat – ist Tjerk Ridder kein Unbekannter. Hier fand er vor zwei Jahren auf der Zeche Zollverein begeisterte Aufnahme mit seinem Multimediaprojekt „Anhängerkupplung gesucht!“.

Mit einer leicht umgebauten Fassung mit „Spuren der Freiheit“ im Refektorium an der Jahrhunderthalle Bochum

Die aktuelle Performance lebt von einer behutsam zusammengestellten und in der Umsetzung (von mir am 2. Dezember 2015 im Theater in der Paardenkathedraal Utrecht gesehenen Voraufführung „Sporen van Vrijheid“) weitgehend überzeugen könnenden Kombination aus Erzählungen und Liedern, die mit dem on the road im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Kutschbock im Gespräch mit Mitfahrerinnen und Mitfahrern Erfahrenem – gezogen vom Arbeitspferd Elvi – bestens korrespondieren.

Letzten Freitag nun ist Tjerk Ridder mit „Spuren der Freiheit“ in Deutschland angekommen. Mit einer von Ablauf und Inhalt leicht umgebauten Show. Er kommunizierte mit seinem Publikum in deutscher Sprache. Auch wurden einige Lieder auf Deutsch vorgetragen. Ein Lied war eigens

Einfühlsames Zusammenspiel.

Einfühlsames Zusammenspiel.

kurzfristig in der Sprache des Gastlandes geschrieben worden. Hingegen waren einige Videos in den denen Niederländisch gesprochen wird mit englischen Untertiteln versehen. Was der Sache keinen Abbruch tat: Das Wesentliche dürfte vom Publikum gut verstanden worden sein. Selbiges gilt gewiss auch für den Inhalt des Gespräches, das Tjerk Ridder während einer Kutschfahrt durch Utrecht mit dem Nobelpreisträger Muhammad Yunus auf Englisch geführt und in einem Video aufgezeichnet hat. Einem Mann, so Tjerk Ridder, der „von einer Welt ohne Armut träumte“ und sich für Mikrokredite stark gemacht habe.

Ebenfalls wich die Besetzung der Instrumentalisten in Bochum von der in Utrecht erlebten ab. Neben Tjerk Ridder (Gesang und Gitarre) brillierten auf dem Akkordeon und der Klarinette Jochem Braat und Konrad Koselleck (Bass) in der intimen Atmosphäre, die das Refektorium bietet: Die Zuschauer – mit Getränk oder ohne – hatten an Tischen in unmittelbarer Nähe der kleinen Bühne des aus Holz gebauten Gebäudes Platz genommen.

Was ist Freiheit, was Unfreiheit?

Ridders Lieder rankten sich alle ums Thema Freiheit. Er berichtete von seine Reise durch Europa im Jahr 2015. Und darüber, wie ihm dabei die im vergangenen Jahr nach Europa gekommenen Flüchtlinge immer wieder in den Sinn gekommen waren. Für jeden Menschen bedeutet Freiheit etwas anderes. Das gilt für die Menschen, die Ridder auf seiner Reise traf. Wie für die Geflüchteten, die ihr Leben retten konnten.

Immer wieder gab es zwischen den Liedern kleine Einschübe, um mit dem Publikum zum Thema Freiheit respektive Unfreiheit ins Gespräch zu kommen. Freiheit bedeutet für die Eine ungestört oder einsam zu sein. Vielleicht am Meer. Unfreiheit bedeutet für eine andere Besucherin Bewertungen (bei Prüfungen oder vom Chef) zu unterliegen. Ein Herr benennt das Fehlen von Freiheit in Zeiten von Arbeitslosigkeit. Auch Perspektivlosigkeit und Angst schränke Freiheit sein, wirft jemand anderes ein. Ridder: „Ja, Angst blockiert.“ Eine Dame sinnierte: „Vielleicht muss man erst mal die Unfreiheit erleben, um Freiheit schätzen zu können?“ Und es war zu hören: „Freiheit ist nicht selbstverständlich. Freiheit hat auch Grenzen.“ Zum Beispiel wenn die Freiheit des Anderen eingeschränkt werde. Und ja, auch das liegt auf der Hand: „Soziale Unsicherheit macht unfrei.“

Spring!

Freiheit zu erlangen bedeutet gewiss auch ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Jeder, daran erinnerte Ridder, kenne wohl das Gefühl sich zu überwinden. Und wisse wie schwer das ist. Habe Niederlagen erlitten, weil man sich nicht traute. Das kann der Sprung vom Zehnmeterbrett im Schwimmbad, das Erklettern eines Baumes oder etwas anderes sein vor dem man sich ängstigt es zu tun. Seine eigene Erfahrungen damit verarbeitet haben schrieb er bereits für „Anhängerkupplung gesucht!“ den Titel „Spring“, welcher nun – passenderweise – auch Eingang in dieses Programm gefunden hat.

In einem anderen Part fragte sich Ridder: Was macht mich groß? Was macht mich groß? Was macht mich froh?

Ein besinnlicher Abend

„Tjerk Ridder – Spuren der Freiheit“, einmal mehr ein besonderer, warmer, herzlicher, aber auch nachdenklich stimmender Theaterabend, konzipiert von dem sympathischen Theatermacher und Sänger aus den Niederlanden. Eine theatrale Performance, welche womöglich den einen oder anderen

Dreh dich nach der Sonne!

Dreh dich nach der Sonne!

im Publikum auch Mut machen konnte, dem nicht selten mit Fallstricken durchzogenem Leben aufs Neue zu trotzen. Nach dem Motto: Spring – ins Leben hinein. Wieder hatte Tjerk Ridder Tütchen Sonnenblumensamen (siehe Foto) dabei. Schließlich dreht sich die Sonnenblume immer nach dem Licht. Das sollten wir auch versuchen, meint der Theaterkünstler aus Utrecht. Wenn uns die Freiheit dazu gegeben ist.

Hommage an Utrecht: „Domstad“

Als Zugabe besang Tjerk Ridder, begleitet von seinen hervorragenden Musikerkollegen, dann mit „Domstad“ noch seine geliebte Heimatstadt Utrecht. Und als Zuschauer hätte man sich danach am liebsten gleich dorthin aufgemacht. Um am nächstem Morgen den hoch in den Himmel über der Stadt ragenden Dom zu besuchen. Und hernach eine Fahrt durch die Grachten der niederländischen Stadt zu unternehmen …

Ein Bild gelebten Europas in Bochum

Von Herzen kommender Applaus belohnte die niederländische Künstler. Mit einigen Zuschauerinnen und Zuschauern kam Tjerk Ridder dann noch

Wohl verdienter Applaus.

Wohl verdienter Applaus.

ins persönliche Gespräch. Besinnlich war dieser Abend und auch hier und da von Melancholie durchströmt. Auch wurde gelacht. Ein Abend – da bin ich sicher, der nachwirkt. Man kam aus unterschiedlichen Ländern zusammen, sprach über ein so wichtiges Thema wie Freiheit und verstand sich. Da hat sich für gute sechzig Minuten ein Bild von einem gelebten Europa der Menschen gezeigt. Das Gegenteil von dem aber auch, wie sich gegenwärtig das politische Europa – sinnentleert und im Niedergang begriffen? – jammervoll präsentiert.

Tjerk Ridder – Voraufführung in Utrecht: „A Slow Ride – Sporen van Vrijheid“

Tjerk Ridder aus Utrecht ist Theaterkünstler und Musiker. Mit seinem Projekt „Anhängerkupplung gesucht!“ wurde er auch in Deutschland bekannt. Die Metapher dazu lautete: Man braucht andere, um voranzukommen. Neben einer multimedialen Theatervorstellung entstand auch ein Buch zur Reise. Während einer Aufführung von „Anhängerkupplung gesucht!“ im November 2014 auf der Zeche Zollverein in Essen stellte Ridder bereits ein neues Projekt in Aussicht. Der seinerzeitige Arbeitstitel: „Slow Ride With Short Stories For Freedom“. Tjerk Ridder ging es darum, siebzig Jahre nach dem Ende des schrecklichen Zweiten Weltkriegs, Menschen in Europa zu befragen – herauszubekommen, was ihnen Freiheit bedeutet.

In diesem Sommer nun startete der sympathische Utrechter – nun unter dem Motto „A Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ (A Slow Ride – Spuren der Freiheit“) vom Theaterfestival Oerol auf Terschelling aus zu seiner neuen Reise. Hinein nach Europa. Mit dem belgischen Arbeitspferd Elvi und Dachs, einen Dackel, seinem langjährigen Begleiter – nunmehr neun Jahre alt geworden. Elvi zog einen Wagen, der nicht nur zu langsamen Fortbewegung durch Europa gedacht war, sondern auch die nötige Technik transportierte und auf welchem zuweilen auch unterwegs Interviewgäste Platz nehmen würden. Finanziert wurde die Reise via Crowdfunding auf dem Portal Voordekunst. Seine der Reise zugrundeliegende Motivation erklärte der niederländische Künstler so:

A Slow Ride – Spuren der Freiheit“

Was bedeutet Freiheit und Befreiung für Dich? Was kannst Du tun, um etwas von Dir zu befreien? Was ist die Bedeutung von Freiheit im Jahr 2015 und wie können wir unsere Erfahrung von Freiheit weiterentwickeln?“ Mit diesen Fragen mache ich mich auf den Weg. Im kommenden Sommer mache ich eine Reise durch Europa. „A Slow Ride – Spuren der Freiheit“ ist eine symbolische und poetische Reise über Freiheit und Befreiung. Mein Ziel ist es, Dich und alle unterwegs Beteiligten auf der Suche nach ihrer persönlichen Bedeutung von Freiheit zu befragen, um anschließend das eigene Erleben von Freiheit weiter zu entwickeln.

Warum diese Reise und warum jetzt?

Reisen ist ein Symbol für Neugier und das Versetzen von Grenzen. Und ist eine Metapher für Freiheit und Entwicklung. Wir leben in einer freien Gesellschaft, glücklicherweise. Unsere Freiheit wird allerdings auf vielen Gebieten beeinflusst: enormen Medien-Input, Datenschutz, internationale Spannungen, Leistungsdruck, eine größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Auch existieren viele Missverständnisse bezüglich Freiheit. Ich möchte untersuchen wie Menschen hiermit umgehen und möchte nah heranzoomen an persönliche Geschichten über das Erleben von Freiheit. Auf diese Weise hoffe ich, mich selbst und Menschen um mich herum zu inspirieren, persönliche Freiheit zu entdecken und Talent zu entfalten.

Wie gehe ich auf die Reise?

Ich mache mich auf den Weg mit meinem belgischen Zugpferd Elvi. Am 19. Juni breche ich mit Elvi und meinem Dackel Dachs vom Theaterfestival Oerol auf Terschelling auf. Drei Monate lang geht es durch die ersten fünf Schengen-Staaten, in Richtung der Kulturhauptstadt Europas 2015, Mons in Belgien. Unterwegs suche ich das Gespräch mit Menschen über ihre Erfahrungen mit Freiheit und Befreiung und besuche Stätten der Freiheit und Unfreiheit, wie zum Beispiel Kulturfestivals und –Veranstaltungen, Asylbewerberzentren, Schulen, eine psychiatrische Klinik und relevante historische Orte. Der „Slow Ride“ geht langsam in Elvis Tempo, wodurch wir die Ruhe haben um uns in Gespräche zu vertiefen, etwas, was in der heutigen Welt stets seltsamer zu werden scheint. Die Gespräche werden gefilmt und fließen in eine neue multimediale Theatervorstellung ein. Selbstverständlich ist die Reise auch über die Website, Facebook und Twitter zu verfolgen.

Dreh Dich zur Sonne hin

Sonnenblumen besitzen die Fähigkeit, sich zur Sonne hin zu drehen. Diese Gegebenheit inspiriert dazu, dasselbe zu tun und sich zu dem Ort auszurichten, an dem Energie ist. Die sprichwörtlichen Blumen, die bei meinen Gästen blühen werden, bekommen physische Form in einer Spur von Sonnenblumen, die während der Reise gepflanzt werden. Und auch Du kannst Teil dieser stets breiter werdenden, durch fünf europäische Länder führenden Spur sein. Bei fast jeder Spende bekommst Du eine spezielle „Dreh Dich zur Sonne“-Box: eine Box mit Sonnenblumensamen, Erde und einem bisschen Mist von Elvi, um diese in Deinen Garten zu pflanzen.

Multimediale Theatervorstellung

Nach der „Slow Ride“-Reise mache ich aus den Erfahrungen von unterwegs eine multimediale Theatervorstellung: eine Kombination aus Film, Songs und Erzählungen. Die Premierenwoche findet vom 2. bis 6. Dezember 2015 in der Paardenkathedraal in Utrecht statt. Bei einer Reihe von Spenden bekommst Du hierfür Tickets und sogar ein Spezial-Slow Ride & Slow Food-Dinner im Restaurant Goesting, das neben dem Theater liegt! Nach der Premiere wird die Vorstellung auf nationalen und internationalen Kulturfestivals zu sehen sein und auch bei Veranstaltungen von Organisationen, Schulen und Universitäten.

Voraufführung im Theater De Paardenkathedraal Utrecht

Der Eingang zum Theater De Paardenkathedraal in Utrecht; Photos: Claus Stille.

Der Eingang zum Theater De Paardenkathedraal in Utrecht; Photos: Claus Stille.

Inzwischen ist die aktuelle Reise des Tjerk Ridder längst beendet. Auch wenn die Unternehmung letztlich nicht im vollen, geplanten Umfange (eine in jeder Beziehung ja insgesamt doch riesige Anstrengung für ein kleines Team) stattfand, konnte aus einer Vielzahl an Begegnungen Tjerk Ridders mit unterschiedlichsten Menschen in den Niederlanden und Nachbarländern interessante Meinungen gewonnen und mithin interessante persönliche Lebensweisheiten aufgezeichnet werden. Aus den unterwegs Erlebten wurde eine multimediale Theatervorstellung komponiert. Von der Konzeption (Tjerk Ridder) ähnlich angegangen wie schon zuvor bei der erfolgreich realisierten Show „Anhängerkupplung gesucht!“. Die aktuelle multimediale Theateraufführung lebt von einer behutsam zusammengestellten und in der Umsetzung (Premiere am 2. Dezember im Theater in der Paardenkathedraal Utrecht) weitgehend überzeugenkönnenden Kombination aus Erzählungen und Liedern, die mit dem on the road Erfahrenem bestens korrespondieren.

Die Voraufführung von „Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ fand einem historischen Gebäude der Stadt Utrecht statt, der so genannten Paardenkathedraal (Paarde bedeutet zu Deutsch Pferde). Das Theater in der Paardenkathedraal wird u.a. auch vom Theater Utrecht als Spielstätte benutzt.

Die Paardenkathedraal

Das Theater befindet sich einem Stadtteil nahe des Zentrum von Utrecht auf der Veeartsenijstraat (Tiermedizinstraße).
Die ehemalige Manege des Tierärztliche Hochschule beherbergt heute das Theater De Paardenkathedraal.
Der authentische Charakter des historischen Gebäudes ist erhalten geblieben. Es besteht aus einem großen Raum.
Vom architektonischen Charakter unterscheidet sich dieses Theater stark von anderen Theatern. Im Wesentlichen jedoch nicht viel von anderen alternativen Spielstätten. Dafür wartet es mit einer ganz besonderen Atmosphäre auf. Allein die Holzkonstruktionen und samt der alten Balken an der Decke versprühen ein ganz besonderen Charme.
Allein schon die markante Fassade und mit ihren neugotischen Fenstern – auf den ersten Blick meint wirklich vor einer kleinen Kirche zu stehen – zieht den ankommenden Besucher in ihren Bann. Das Gebäude diente in früheren Zeiten als Manege der Tierärztlichen Hochschule Utrecht. Weshalb sie im Volksmund „de Paardenkathedraal“ – die Pferdekathedrale – genannt wurde. (Quelle: theagenda.nl).

Historischer Einstieg

Eingangs des Theaterabends hielt Prof. Dr. Lagerweij einen hochinteressanten, detailreichen und ausgeprochen humorvollen Vortrag – begleitet mit Bildprojektionen – über das Viertel in welchem sich die Paardenkathedraal befindet, sowie die Historie der Tierärztlichen Hochschule Utrecht.

Mit auf die Reise genommen, dem Begriff Freiheit auf die Spur(en) zu kommen

Sodann wurden die gespannten Zuschauerinnen und Zuschauer mit auf die filmische Reise genommen, um den von Tjerk Ridder verfolgten Spuren der Freiheit zu folgen. Zunächst ging es ans Meer an Start der Reise zum Theaterfestival Oerol auf Terschelling. Und schon warteten, gebannt auf Video (Film- und Bildregie Tobias Mathijsen) dortige Besucher sowie der Festivaldirektor mit persönlichen ihren Vorstellungen von Freiheit auf.

Zwischendurch immer wieder musikalische Einsprengsel der an diesem Theaterabend bestens aufgelegten Band, sich zusammensetzend aus Jochem Braat (Piano), Matthias Konrad (Posaune) sowie einfühlsam reagierenden Wieke Garcia (Gesang und Perkussion).

Filme und Musik verbindet tritt Tjerk Ridder an verschiedenen Punkte der Manege. Er berichtet von seiner Kindheit. Vom ersten Zusammentreffen mit Pferden. Und seiner Beziehung zum eignen Bruder. Kommentiert die Aussagen der für den Film über ihre Ansichten zum Begriff Freiheit befragten Menschen. Fast inspirieren Ridders hier und da ins Philosophische driftenden, vorgetragenen, auch von Erinnerungen und Erlebnisse in der Vergangenheit gespeisten Gedanken eine Art von Diskurs. Zwar antwortet man als Zuschauer freilich nicht, aber durch Kopf gehen einem aber doch ähnliche Gedanken und Erinnerungen. Auch und gerade, wenn man darüber sinniert, wie es denn gegenwärtig wohl um unsere, die eigne Freiheit stehen mag. Wenn die Zuschauer an den Zweiten Weltkrieg, der 70 Jahren zu Ende ging, denken – haben sie den nun erlebt oder nur aus der Geschichte Kenntnis von ihm und über die im Zuge dessen angerichteten Verheerungen erhalten. Von dieser historischen Zeitmarke ist ja auch Tjerk Ridder betreffs seines aktuellen Projektes ausgegangen.

Tjerk Ridder hat über Freiheit mit Studentinnen, einer Zirkusdame (die ungewohnt in die Mühlen der Bürokratie geriet), und einer Polizeibeamtin (die über die auf den Kutschbock sitzend über die Entwicklung von Kriminalität und ihre persönlichen Gefühle Auskunft erteilte) geredet. Und darüber Kenntnis erhalten, welchen Begriff sich vom Staat Eingesperrte von Freiheit machen. Und wir sahen Tjerk Ridder im Film, brav im gemächlichen Tempo von Elvi gezogen, in die kleine, aber sehr bekannte Ortschaft des luxemburgischen Moselortes Schengen einfahren. Den Ort, welcher dem Schengener Abkommen zu seinem Namen verhalf. Sogleich musste der Zuschauer an die Flüchtlingskrise denken und wie es heute nicht nur um dieses Abkommen sondern um das Europäische Projekt überhaupt steht.

Sehr zu Herzen dürfte den meisten Zuschauern gewiss der emotionale Moment im Verlaufe des Theaterabends gegangen sein, da Tjerk Ridder von einem Besuch bei Zugpferd Elvi im Tiermedizinischen Institut der Universität Utrecht – wo es, wie Ridder sagte „wohnt“ – berichtete. Dabei kam er an einem Raum vorbei, wo tote Pferde abgelegt waren. Ridder erzählte, wie er den toten Pferden die Köpfe streichelte. Und es war an der Stelle tatsächlich totenstill in dieser „Pferdekathedrale“ und ebenfalls fast körperlich zu spüren wie Ridder selbst diese Erinnerung, das Bild von den toten Pferden nachging.

Fazit

Die Band mit Tjerk Ridder. Verdienter Premierenapplaus.

Die Band mit Tjerk Ridder. Verdienter Premierenapplaus.

Ein ganz besonderer, warmer, herzlicher, aber auch nachdenklich stimmender Theaterabend (Produktionsleitung: Johan van der Kooij, Tontechnik: Peter van Kalleveen und Lichttechnik: Joep Hendrix) im Utrechter Theater Paardenkathedraal war das! Verdienter Applaus.

Und die Moral von der Geschicht‘? – Ein persönlicher Nachklapp

Jeder Mensch hat wohl ganz spezielle Vorstellungen vom Freiheit. Aber deutlich wurde: Ohne Frieden nimmt auch der Wert von Freiheit ab. Siebzig Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkriegs her. Seit 1945 sind viele Freiheiten erkämpft, erarbeitet und ins Werk gesetzt worden. Nun anscheinend sind unverantwortliche Politiker dabei, einiges davon wieder zu zertrümmern. Und offenbar merken sie das nicht einmal. Denn sie wissen nicht was sie tun? Papst Franziskus spricht von einer Art dritten Weltkrieg, der im Gange sei. Wie dem auch sei: In vielerlei Hinsicht ist es bereits wieder einmal fünf nach zwölf! Im Jahr 2014 jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der australische Historiker Christopher Clark schreibt in seinem Buch „Die Schlafwandler“, dass damals keiner so richtig diesen Krieg (die Urkatastrophe, die den Grundstein für den Zweiten Weltkrieg ins sich trug) gewollt habe, jedoch man quasi schlafwandelnd in den Ersten Weltkrieg hineingeraten sein. Zusätzlich hätten wichtige Institutionen versagt und auch Regierende verkehrt gehandelt. Auch heute wieder sind Schlafwandler und augenscheinlich geschichtsvergessene und auch in anderer Hinsicht unfähige Regierungspolitiker unterwegs in Europa. In der Welt. Europa droht zu zerfallen. Droht gar ein großer Krieg? Freiheit, das sagt uns auch die multimediale Theatervorstellung „Slow Ride – Sporen van Vrijheid“, ist etwas ganz elementares. Mögen wir alle miteinander unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit haben – nutzen wir sie, um den Frieden zu bewahren. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen! Im Kleinen, der Familie und im Großen im Zusammenleben der Völker mit einander. Friede zuhause, sagte einst Mustafa Atatürk, Friede in der Welt. Mit Freiheit verhält es sich nicht anders. Ein wichtiger Anstoß aus Utrecht. Jedenfalls, was meine spezielle Sicht auf die Dinge anbelangt.

 

Tjerk Ridder geht 5 Jahre nach „Anhängerkupplung gesucht!“ mit dem Projekt „Slow Ride – Spuren der Freiheit“ auf Tour

Tjerk Ridder aus Utrecht ist Theaterkünstler und Musiker. Sein Projekt „Anhängerkupplung gesucht!“ machte ihn auch in Deutschland bekannt. Die Metapher dazu lautete: Man braucht andere, um voranzukommen. Mit seinem Teckel Dachs und einem Wohnwagen (das Holländer-Klischee hierzulande!) brach er – ohne Zugfahrzeug – in Anfang 2010 in Utrecht auf, um in der Kulturhauptstadt Istanbul anzukommen. Notwendigerweise war Tjerk auf „Anhaaker“ (Leute, die seinen Wohnwagen an ihren Wagen hakten und ein Stück des Weges zogen) angewiesen. Und diese Menschen fanden sich tatsächlich! Wenn es auch manchmal einige Zeit dauerte. Tjerk Ridder – später begleitet vom Journalisten Peter Bijl – kam an den Bosporus und auch wieder zurück.

Und was er unterwegs nicht alles erlebte! Man sagt: Wenn einer  eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Und ob Ridder etwas zu erzählen hatte!  Was Tjerk Ridder und Co-Autor Bijldann auch  taten: Sie schrieben gemeinsam ein Buch zur Reise. Dazu erschien eine DVD, die ihm beigelegt ist. Die Erlebnisse on the road, die zahlreichen kleinen und große Abenteuer, die vielen – überwiegend herzlichen – Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen in den Transitländern wurden darin verarbeitet. Tjerk Ridder schrieb eine Reihe Lieder dazu. All dies  floss nicht nur in das Buch ein, sondern wurde auch Bestandteil einer begeisternden multimedialen Theatervorstellung. Diese erlebte gefeierte Premieren in Holland (Utrecht) und Deutschland (Zeche Zollverein in Essen). Zu all dem hier, hier und hier mehr.

Auf dem Weg zu sich selbst

Fünf Jahre nach dem Start von „Anhängerkupplung gesucht!“ ist sich Tjerk Ridder treu geblieben. Weiter spürt er – so könnte man es vielleicht sehen – dem Sinn des Lebens nach. Und versucht sich auf diese Weise ein Bild von Alltagssorgen, Vorstellungen von Leuten zu machen, sowie Kunde über deren ganz persönliche Lebenserfahrungen zu erlangen. Tjerks Herangehensweise ist in gewisser Weise auch eine journalistische. Ridder kommt damit sozusagen sicher auch auf einem langen Weg Schritt für Schritt weiter voran: nämlich auch zu sich selbst. Eine – dass ist so sicher wie das Amen in der Kirche – für uns alle nie endende, weil lebenslängliche Aufgabe. Vielleicht nach Pindar: „Lerne zu werden, der du bist, und sei danach.“

Der Theaterkünstler und Musiker Tjerk Ridder mit seinen Tourbegleitern Hund Dachs und und Zugpferd Elvi; Foto via Tjerk Ridder

Der Theaterkünstler und Musiker Tjerk Ridder mit seinen Tourbegleitern Hund Dachs und und Zugpferd Elvi; Foto via Tjerk Ridder

Nun tritt Tjerk Ridder, der sympathisch-bescheidene Künstlers aus Utrecht ein weiteres Mal mit einem interessanten Projekt auf den Plan. Es trägt den Titel: „A Slow Ride – Spuren der Freiheit“. Man darf sehr darauf gespannt sein. Ridder arbeitet bereits eine Zeitlang daran. Im Verlaufe des Jahres gesellte sich zum treuen Begleiter, Hundchen Dachs, Elvi, ein Zugpferd aus Belgien. Alle drei haben sich offenbar schon ein wenig aneinander gewöhnt. Das Ross ist es, was der Künstler diesmal braucht, um voranzukommen. Elvi soll auch Rhythmus Tempo der Reise bestimmen.

Um was geht es genau? Tjerk Ridder beschreibt es:

A Slow Ride – Spuren der Freiheit“

Was bedeutet Freiheit und Befreiung für Dich? Was kannst Du tun, um etwas von Dir zu befreien? Was ist die Bedeutung von Freiheit im Jahr 2015 und wie können wir unsere Erfahrung von Freiheit weiterentwickeln?“

 

Mit diesen Fragen mache ich mich auf den Weg. Im kommenden Sommer mache ich eine Reise durch Europa. „A Slow Ride – Spuren der Freiheit“ ist eine symbolische und poetische Reise über Freiheit und Befreiung. Mein Ziel ist es, Dich und alle unterwegs Beteiligten auf die Suche nach ihrer persönlichen Bedeutung von Freiheit zu befragen, um anschließend das eigene Erleben von Freiheit weiter zu entwickeln.

Warum diese Reise und warum jetzt?

Reisen ist ein Symbol für Neugier und das Versetzen von Grenzen. Und ist eine Metapher für Freiheit und Entwicklung. Wir leben in einer freien Gesellschaft, glücklicherweise. Unsere Freiheit wird allerdings auf vielen Gebieten beeinflusst: enormen Medien-Input, Datenschutz, internationale Spannungen, Leistungsdruck, eine größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Auch existieren viele Missverständnisse bezüglich Freiheit.

 

Ich möchte untersuchen wie Menschen hiermit umgehen und möchte nah heranzoomen an persönliche Geschichten über das Erleben von Freiheit. Auf diese Weise hoffe ich, mich selbst und Menschen um mich herum zu inspirieren, persönliche Freiheit zu entdecken und Talent zu entfalten.

Wie gehe ich auf die Reise?

Ich mache mich auf den Weg mit meinem belgischen Zugpferd Elvi. Am 19. Juni breche ich mit Elvi und meinem Dackel Dachs vom Theaterfestival Oerol auf Terschelling auf. Drei Monate lang geht es durch die ersten fünf Schengen-Staaten, in Richtung der Kulturhauptstadt Europas 2015, Mons in Belgien. Unterwegs suche ich das Gespräch mit Menschen über ihre Erfahrungen mit Freiheit und Befreiung und besuche Stätten der Freiheit und Unfreiheit, wie zum Beispiel Kulturfestivals und –Veranstaltungen, Asylbewerberzentren, Schulen, eine psychiatrische Klinik und relevante historische Orte.

 

Der „Slow Ride“ geht langsam in Elvis Tempo, wodurch wir die Ruhe haben um uns in Gespräche zu vertiefen, etwas, was in der heutigen Welt stets seltsamer zu werden scheint. Die Gespräche werden gefilmt und fließen in eine neue multimediale Theatervorstellung ein. Selbstverständlich ist die Reise auch über die Website, Facebook und Twitter zu verfolgen.

Dreh Dich zur Sonne hin

Sonnenblumen besitzen die Fähigkeit, sich zur Sonne hin zu drehen. Diese Gegebenheit inspiriert dazu, dasselbe zu tun und sich zu dem Ort auszurichten, an dem Energie ist. Die sprichwörtlichen Blumen, die bei meinen Gäste blühen werden, bekommen physische Form in einer Spur von Sonnenblumen, die während der Reise gepflanzt werden.

 

Und auch Du kannst Teil dieser stets breiter werdenden, durch fünf europäische Länder führenden Spur sein. Bei fast jeder Spende bekommst Du eine spezielle „Dreh Dich zur Sonne“-Box: eine Box mit Sonnenblumensamen, Erde und einem bisschen Mist von Elvi, um diese in Deinen Garten zu pflanzen.

Multimediale Theatervorstellung

Nach der „Slow Ride“-Reise mache ich aus den Erfahrungen von unterwegs eine multimediale Theatervorstellung: eine Kombination aus Film, Songs und Erzählungen. Die Premierenwoche findet vom 2. bis 6. Dezember 2015 in der Paardenkathedraal in Utrecht statt. Bei einer Reihe von Spenden bekommst Du hierfür Tickets und sogar ein Spezial-Slow Ride & Slow Food-Dinner im Restaurant Goesting, das neben dem Theater liegt!

 

Nach der Premiere wird die Vorstellung auf nationalen und internationalen Kulturfestivals zu sehen sein und auch bei Veranstaltungen von Organisationen, Schulen und Universitäten.

Erfolgreiches Crowdfunding

Um „A Slow Ride“ zu ermöglichen, hatte Tjerk Ridder eine Crowdfunding-Kampagne auf der niederländischen Plattform voordekunst gestartet. Sie war zu hunderprozentig erfolgreich. 19 092 Euro sind zusammengekommen!

Am 19. Juni 2015 geht Tjerk Ridder von Terschelling aus auf die Reise

Die Reiseroute; Grafik via Tjerk Ridder

Die Reiseroute; Grafik via Tjerk Ridder

Bleibt abzuwarten, ob das neue Projekt des holländischen Künstlers Tjerk Ridder aus Utrecht,  „A Slow Ride – Sporen van Vrijheid“  an den Erfolg von  „Anhängerkupplung gesucht!“ quasi wird ankoppeln können.  Am Freitag, den 19 Juni 2015 geht Tjerk Ridder jedenfalls  mit Elvi und Dachs von Terschelling aus auf Tour – viel Glück und Erfolg dafür! Ich werde weiter darüber informieren.

Tjerk Ridder zurück auf Zollverein. Ein Erlebnis! – 2015 neues Projekt: „Slow Ride with short Stories for Freedom“

Tjerk Ridder zurück auf Zollverein auf der Bühne des Salzlagers; Fotos: Stille

Tjerk Ridder zurück auf Zollverein auf der Bühne des Salzlagers; Fotos: Stille

Mehr solche Täter wünscht man sich. Der Niederländer Tjerk Ridder ist einer dieser Exemplare. Besser: Macher. Auf Holländisch So steht es auch auf seiner Website: „muzikant en theatermaker“. Angelehnt an Erwin Strittmatters Romantrilogie möchte ich ihn beinahe als „Wundertäter“ bezeichnen. Theatermacher. Und was Ridder für ein Theater macht! Mehr als Theater sogar. Die Bretter, die bekanntlich die Welt bedeuten, allein langten ihm nicht. Ihn zog es hinaus. Auf die Straße. Hinaus aus seiner Heimatstadt Utrecht. Bis hin ins ferne Istanbul.

Zurück auf Zollverein

Für den 21. und 22. November zog es Täter Tjerk Ridder wieder hin zum Tatort. „Täter“ führt in diesem Falle möglicherweise auf die falsche Spur. Obwohl der niederländische Liedermacher, Theaterkünstler und Schriftsteller eine nicht gerade unbedeutende Tat vollbracht hat. Mit einem Eriba-Campingwagen trampte der Utrechter sage und schreibe 3.700 Kilometer von seiner Heimatstadt bis ins ferne Istanbul! Kein Pappenstiel. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Ridder ohne Zugfahrzeug trampte. Drei Monate lang trampte er durch Europa. (Dazu mein Artikel für die Istanbul Post vom Februar 2010) Ridders Projekt folgte der Philosophie „Man braucht andere, um voranzukommen“. Tjerk Ridder trampte 2010 von Utrecht aus durch insgesamt acht Länder, unter anderem durch die drei damaligen Kulturhauptstädte Europas: Essen, Pécs und Istanbul. Es sollte eine außergewöhnliche Tour werden.

Ein Sprung ins Ungewisse war das. Eine Begegnung mit eigenen Ängsten und davor fremde Grenzen zu überschreiten. Auch eine Suche nach Gastfreundschaft und Vertrauen im heutigen Europa. 53 Fahrer hakten den Niederländer an. Dank ihnen konnte er sein Ziel Istanbul erreichen.

Erstes Etappenziel dieser außergewöhnlichen Reise im Jahr 2010 war das UNESCO-Welterbe Zollverein. Auf dem Rückweg war es für Tjerk Ridder selbstverständlich damals im Sommer selben Jahres wieder auf Zollverein Station zu machen. Überhaupt hat Ridder das Ruhrgebiet und den dort lebenden  herzlich-warmen, auch robust-ehrlichen Menschenschlag selbst  tief  ins Herz geschlossen. Das drückt er im für das Erzählprojekt „Mein Zollverein“ verfassten Text zum Ruhrpott unter dem Titel „Tief be-Ruhr-t“ aus. Darüber hinaus im Stück „Befrei mich“. Noch heute spricht Tjerk Ridder von „purer Magie“, wenn er an die Menschen denkt, die er im Revier kennenlernte.
Seither war Tjerk Ridder, Hundchen Dachs – er wurde dieses acht Jahre alt, darf dabei nicht fehlen, öfters auf der ehedem modernsten Kohlenzeche der Welt: auf Zollverein.

Riesenerfolg mit Deutschland-Premiere auf der ExtraSchicht

Anlässlich der ExtraSchicht 2014 spielte Ridder, begleitet vom hervorragenden Musiker Matthijs Spek, das multimediale Bühnenprogramm „Anhängerkupplung gesucht!“ an einem Abend gleich dreimal auf Zeche Zollverein in Essen. Auf Deutsch. Ein Riesenerfolg: Insgesamt erlebten es fast 1000 Menschen.

Nun, da das Jahr 2014 allmählich ausläuft, kam Tjerk Ridder abermals mit „Anhängerkupplung gesucht! – Ein Roadtrip durch Europa“ auf die Zeche Zollverein. Nach großem Erfolg (im Herman-van-Veen-Artscenter und anderswo in den Niederlanden) sowie nach Gastspielen in Brüssel und im Konsulat der Niederlande in Istanbul sowie in seinem Heimatland wurde die Produktion von der Initiative „Welterbe Zollverein – Mittendrin“, vergangenen Freitag und Samstag wieder auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen präsentiert.

„Anhängerkupplung gesucht!“ ist ein europäisches Kunstprojekt, das Menschen, Kulturen und Welten verbinden möchte. Angeregt durch seine Reiseerfahrungen entwickelte der Künstler das multimediale Bühnenprogramm „Anhängerkupplung gesucht! Man braucht andere, um voranzukommen”. Neben dem Bühnenprogramm in englischer, holländischer und deutscher Sprache entstand ein zusammen mit dem Journalisten Peter Bijl von Ridder verfasstes Buch über die außergewöhnliche Reise von Utrecht nach Istanbul. Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel „Anhängerkupplung gesucht!“ im Patmos Verlag (meine Buchvorstellung im „Freitag“) erschienen.

„Anhängerkupplung gesucht!“ am 21. November im Salzlager auf dem Gelände der Kokerei Zollverein

Auf dem Gelände des UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen gilt es immer etwas interessantes zu
entdecken. Diesmal ist es ein weiterer Ort auf dem riesigen Gelände. Es ist eines der Relikte der zum Betrieb der Kokerei auf Zollverein gehört: das Salzlager. Eine große, hohe Halle. Darin ist im hinteren Teil die Ausstellung „Ein Palast der Ideen und Träume“, „The Palace of Projects“, des Künstlerpaares Ilya und Emilia Kabakow untergebracht.
Im vorderen Teil des Salzlagers steht die Bestuhlung für die Aufführung Tjerk Ridders. Davor Bühnenaufbau und Projektionswand.

Stolpernd über Zollverein

Das Wahrzeichen von Zollverein bei Nacht.

Das Wahrzeichen von Zollverein bei Nacht.

Angelangt im Salzlager war ich nach einem ziemlichen Marsch und einer kurzen Verirrung bei spärlicher Beleuchtung über holperiges Pflaster und Gleise stolpernde, kommend von der Straßenbahnhaltestelle auf der Gelsenkirchener Straße über die „schlafende“, menschenleere minimal erleuchtete Zechenanlage Zollverein  mit dem sie überragenden  Förderturm („Doppelbock“), vorbei an der bei Dunkelheit unheimlich anmutenden Industriekulisse der Kokerei.

Küchen- und Espressomobil des HUkultur-Projektes Boch.

Küchen- und Espressomobil des HUkultur-Projektes Boch.

Erleichtert treffe ich auf einen Posten in orangener Warnweste: „Da hinten rechts“, sagt der Mann, „Wo sie das Licht sehen.“
Besagtes Licht strahlen zwei Buchstaben ab. Sie sind auf einen mobilen Verkaufswagen montiert. Ein „H“ und ein „U“. Es handelt sich um ein Küchenmobil, wie ich erfahre. Daneben parkt das Espressomobil. Beide Mobile sind Teil und Ergebnis des gemeinsamen Kunstprojektes von ESTU NO ES UN SOLAR (Zaragoza) und HUkultur (BocHUm) im Rahmen des THIS IS NOT DETROIT-Projektes. Das Küchenmobil bot kulinarische Köstlichkeiten und das Espressomobil nicht nur Kaffee, Tee, sondern auch alkoholfreie Getränke sowie Bier und Weine an.

Korrespondierende Mobile

20141121_193802Diese beiden Mobile korrespondieren sozusagen mit dem rechts in der Halle abgestellten Wohnwagen mit welchem Tjerk Ridder von Utrecht nach Istanbul trampte. Er ist von außen von LED-Scheinwerfers angestrahlt. Im Innern vom bordeigener Beleuchtung mit warmen Licht erhellt. Am Fenster eine Lichterkette. Die auf das nahenden Weihnachtsfest verweist? Rechts gleich neben der Tür ein

Tisch mit Straßenkarte.

Tisch mit Straßenkarte.

Tisch, dessen Platte eine Straßenkarte bedeckt. Gemütlich. Einladend. Hundedame Dachs streunt um den Campinghänger herum. Wedelt mit dem Schwanz, schnuppert an der Deichsel und wackelt dann an den Stuhlreihen vorbei, hin zum Licht- und Tonpult an der anderen seitlichen Hallenwand vis-á-vis der Bühne.

Die Show läuft nun runder

Tjerk Ridder (links), musikalisch begleitet von Mattijs Spek (links)

Tjerk Ridder (rechts), musikalisch begleitet von Mattijs Spek (links)

Zur Show selbst kann weitgehend gelten, was ich schon anlässlich der Deutschland-Premiere während der ExtraSchicht 2014 an dieser Stelle schrieb. Nur ist nun im November alles wesentlich runder, noch stimmiger. Einige Songs, wie etwa „Spring“, sind jetzt an anderer Stelle. Auch die Video- und Fotoeinblendungen fügen sich besser in den Ablauf der Show.  Ab- und Überblendungen sind nun weicher, gefühlvoller. Ohnehin schon berührend gewesen „brennt“ sich an einer Stelle nach der Überarbeitung der Show erst recht die Hoffnungslosigkeit bis tief in die Seele des Publikums ein. Man kann förmlich mitfühlen, was Tjerk Ridder an einer Stelle auf dem Balkan fühlte, erlitt, als sich dort vielen, vielen Stunden niemand fand, der ihn an sein Auto hakte. Die durch die einfühlsamen musikalische Untermalung dieser langen Videosequenz durch Matthijs Spek atmet Melancholie und Hoffnungslosigkeit: Soll man die Tour vielleicht abbrechen? Tjerk Ridder bearbeitet an dieser Stelle Schlagzeug. Seine Augen sind geschlossen: In diesem Moment ist er wieder an diesen warmen Sommertag an der kleinen Tankstelle, wo es lange, zu lange nicht weitergeht. Bedrohlich rauschen schwere Lastwagen nahe an Tjerk Ridder vorbei. Das Schlagzeug verstärkt diese Bedrohung noch einmal. Der Zuschauer meint direkt dabei zu sein an dieser Tankstelle. In dieser Nacht der Hoffnungslosigkeit, der Ängste, des sich einschleichenden Zweifels …

 

Tjerk Ridders Auftritt zu Beginn von hoch droben.

Tjerk Ridders Auftritt zu Beginn von hoch droben.

Eingangs der Show hätte sich freilich für Tjerk Ridder angeboten aus dem rechts neben der Bühne stehenden Campingwagen aufzutreten. Dann aber hatte man sich, wie wir von der begrüßenden Moderatorin Hella Sinnhuber erfahren, dazu entschlossen die sagenhaften örtlichen Gegebenheiten des Salzlagers zu nutzen. Eine grandiose Entscheidung! Plötzlich taucht Tjerk Ridder hoch droben mittig über der Bühne, fast unterm Dach der Location im scharfen Spot eines Scheinwerfers am Geländer eines dort verlaufenden seitlichen Stegs auf und begrüßt die Leute.

Hätte man wohl selbst den Mut  solch Reise anzutreten?

Was soll man schreiben? Es war wieder eine einfach tolle Show! Warm. Herzlich. Zum Nachdenken anregend. Informativ. Auch Melancholie hervorrufend. Ein Rädchen griff ins andere. Rund und stimmig in der Aussage, der dem Projekt zugrunde liegenden Metapher: Du brauchst andere, um voranzukommen. Nicht nur einmal kommt bei mir der Gedanke auf: Wie hättest du da und da selbst gehandelt? Hättest du den Mut aufgebracht, diese Reise ins quasi Ungewisse anzutreten? Das Sympathische und vor allem Ehrliche an Tjerk Ridder ist, dass er zutiefst menschlich nachvollziehbar zugibt, selbst Bammel vor der Reise gehabt zu haben. In der Nacht bevor es losging hatte er so gut wie nicht geschlafen. Sollte er es lassen? War es denn nicht eigentlich verrückt was er vorhatte: Mit einem Wohnwagen trampen?! Wo er doch zuvor im Leben gerade einmal ein Strecke von fünf Minuten getrampt war?
Gut, dass Ridder es getan hat. Für ihn. Wie für uns, die wir nun ob via der Show oder über das Buch dessen erlebnisreiche Tour nach-, ja beinahe miterleben können. So, als seien wir selbst mit on the road gewesen.

Nach der Vorstellung und dem langem, warmherzigen Applaus des Essener Publikums stellte sich Tjerk Ridder dessen Fragen. Er erzählt, dass nun auch die Menschen und den bereisten Teil Europas besser kennt. Zuvor war es eben nur die Straßenkarte. Aber auch die Ängste, die man ihm gemacht habe, betreffs des vermeintlich so „gefährlichen Balkan“. Die Reise sie etwas ganz Besonderes gewesen. Daraus habe sich sozusagen eine ganz „andere Spur“ ergeben. Und was ist mit den Wünschen der von Ridder unterwegs nach deren Träumen befragten Menschen, die er – wie die Moderatorin sagt – „eingetopft“ (in Konservendosen verschlossen und mit Haltbarkeitsdatum versehen) habe? Ja, sagt Tjerk Ridder, das kommt öfters vor. Er hatte mit den Menschen die Kontaktdaten ausgetauscht. Ein Mann etwa in Serbien, wo er damals auf der Reise 2010 gegessen hatte, schicke ihm jedes Jahr Weihnachtsgrüße per SMS. Auch „Hans-Jürgen, ein Mann aus Dortmund“ meldete sich. Der hatte eingedost, dass er beim „Iron Man“ dabei sein möchte. Der Mann schickte Ridder eine Mail mit einem Bild, dass Hans-Jürgen „sehr stolz mit seiner Medaille“ zeigte.

Was macht Guy aus Paris?

Etwas betrübt ist Tjerk Ridder darüber, dass er mit einem Franzosen, Guy, einem Pensionisten, aus Paris, welchen er unterwegs mit seinem Fahrrad getroffen hatte – der von Paris aus ebenfalls  nach Istanbul unterwegs gewesen war, die Kontaktdaten nicht ausgetauscht hat. Was wohl aus dem geworden ist?

Ein „Zelt auf Rädern“ in China und Gewehre auf den „illegalen“ Niederländer auf Zollverein 2010

Wie hören, dass Ridder auch auf der Weltausstellung in Shanghai spielte. Auf Mandarin aber gibt es kein Wort für Wohnwagen, man sagt einfach „tent on wheels“ (Zelt auf Rädern).
Ridder erzählt, dass er inzwischen viel für Firmen, an Unversitäten und sogar bei der Nationalpolizei, Schulen und Einrichtungen des Gesundheitswesens spiele – eben auf ganz „verschiedenen Levels“ der Gesellschaft. Die Moderatorin zum Projekt: „Es ist ein sozusagen eine Expedition, eine angewandte Forschung.“

Zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf Zollverein Essen, gibt Ridder zu, sei er „illegal“ gewesen. Eingeladen war ja keineswegs. Am Freitagabend – Eröffnung durch den damaligen Bundespräsident Köhler sollte am darauffolgenden Tag sein – sei er bei bitterkaltem Wetter auf Zollverein angekommen. Ein „Schlagbaum und Personen mit Gewehren“ hätten ihn erwartet. Ridder stellte sich vor: „Ich bin ein Künstler aus Utrecht. Wo ist mein Platz?“ Gewehre habe man auf ihn gerichtet. Er solle das Weite suchen, befahlen die Sicherheitsleute. Nun stand der in der kalten Nacht. Zwei Uhr sei es dann sehr still gewesen. Die Probe für die Eröffnung war vorbei. Mit Beleuchtung habe Zollverein im „Rauch“ wie ein „Wunderland“ oder „Märchenwald“ gewirkt. Ein Wintermärchenwald ohne Leute.

Ruhrgebietsherzlichkeit bei Tom

Am nächsten Tag war später alles für alle offen. Früh war er mit seinem Fahrrad nach Essen-Stoppenberg gefahren. Von „Toms Kiosk“, wo er klopfte, wurde er ruhrgebietsherzlich empfangen. „Ein Wohnwagentramper, was?“ Der Mann lud ihn für die nächsten Tag wie selbstverständlich ein, dessen Küche und das WLAN zu benutzen. Er bekam Bratwurst mit Kartoffelsalat und Tee. Eine Frau, die dort arbeitete, sagte: „Du könnest die Dusche gebrauchen.“ Heiterkeit im Publikum. All das habe Tjerk Ridder sehr beeindruckt: „Das ist richtig meine zweite Heimat geworden.“ Und wer war „so richtig doof?“, fragt die Moderatorin Sinnuber. Sehr wenig schlechte Erfahrungen habe er  gemacht. Vielleicht fünf Prozent der Menschen waren abweisend. Dagegen jedoch 95 Prozent von ihnen verhielten sich kooperativ.

Hymne auf Zollverein gewünscht

Nun Fragen ans Publikum. Jörg Schmitz merkt an, Ridder habe „so eine schöne Hymne geschrieben“ ans Ruhrgebiet. Schmitz: „Ich habe ein Wunsch an dich.“  Tjerk  solle doch einmal eine Hymne über Zollverein schreiben. „Dann führen wir die in zwei Jahren hier auf“, verspricht Schmitz. Und Ridder: „Das machen wir!“
Und was hat Tjerk Ridder für neue Ideen?
Natürlich! Ein neues Projekt ist angepeilt. Das aber mache er freilich nicht alleine, so Ridder.

Neues Projekt: Mit dem Pferd durch Europa zur Weltausstellung in Milano 2015

Siebzig Jahre werden nächstes Jahr nach dem Zweiten  Weltkrieg vergangen sein. Tjerk Ridder informiert, er werde 2015 mit dem „größten Briefkasten der Welt auf Rädern mit einem großen Arbeitspferd davor“  auf Tour gehen. Der Titel des neuen Projektes: „Slow Ride with short Stories for Freedom“  Ridder will von Holland aus durch Deutschland , Belgien, Luxemburg und Frankreich zur Weltausstellung in Mailand unterwegs sein. Auf der Strecke möchte er die persönlichen Geschichten der Leute „von Befreiung und Freiheit anno 2015“ sammeln. Aber es gehe grundlegend um die brennende Frage: „Brauchen wir immer in der Welt Freiheit und Krieg, Freiheit und Krieg, Freiheit und Krieg? Was eigentlich brauchen wir Menschen?“ Tjerk Ridder möchte im Juni von einem Theaterfestival in Holland aus seine Tour nach Mailand beginnen.

Im Oktober jedenfalls, so hofft Ridder, in Milano zu sein.
Tjerks Wunsch: „Vielleicht könnte ich hier auf Zollverein singen, wenn ich mit meinem Pferd aus Milano zurückkomme?“
Der aufbrandende, herzlich tönender Beifall des Publikums ist die Antwort: Sicher freut man  sich auf den niederländischen Künstler.

Ein erfüllter Abend

Verdienter Applaus.

Verdienter Applaus.

Die Veranstaltung beschließen  einige Zuschauer, indem sie von ihren ganz besonderen, persönlichen Träumen erzählten. Dann geht  es zum gemütlichen über. Tjerk Ridder gibt  Autogramme. Sein Buch wird  verkauft. Rührig von der engagierten Inhaberin der Buchhandlung „Katzenprung“, Frau Zepig,  aus der Stoppenberger  Hanielstraße. Und draußen vor der Tür des Salzlagers kommt man sich noch einmal bei  orientalischen Speisen und einem Bier  näher.   Angeboten von den netten Leuten des Hukultur-Projektes, das ein  Bürgerprojekt aus der Hustadt in Bochum finanzieren soll. Gespräche zwischen Zuschauern und mit den Künstlern kommen in Gang. Welch erfüllter Abend! Rauschender Applaus.

Hier via  PRO ein kurzer Video-Beitrag von der Veranstaltung.