Kindergrundsicherung: Neuer Streit um aufgeblasene Bürokratie-Attrappe ohne Wirkung

Die deutsche Politik streitet weiter um die Kindergrundsicherung. Einmal mehr wird deutlich: Bei den Armen wird geknausert, für die Reichen rollen die Euros. Und: Der deutsche Sozialstaat ist ein repressives Bürokratie-Ungetüm, das nicht für, sondern gegen Bedürftige arbeitet.

Von Susan Bonath

Der deutsche Kriegsetat explodiert, die Rüstungsindustrie kassiert und Reiche scheffeln Milliarden-Subventionen. Doch für die lohnabhängige Masse geht es abwärts. Kinder bleiben Armutsrisiko Nummer eins. Drei Millionen Minderjährige und ihre Familien leben in Deutschland am Existenzminimum. Ihnen versprach die Ampel beim Regierungsantritt Verbesserung. Herausgekommen ist fast nichts, gestritten wird nun um „Peanuts“ und vom versprochenen Bürokratieabbau kann keine Rede sein.

Gebremster Sozialstaat für ungebremste Rüstung

Für die Rüstungsindustrie ist der deutsche Sozialstaat sehr verlässlich. In den Taschen ihrer Aktionäre wird das Steuergeld am Ende landen, das in den wachsenden bundesdeutschen Kriegsetat fließt. Über 70 Milliarden Euro, etwa doppelt so viel wie vor zehn Jahren, sollen es 2024 werden. Hinzu kommen wohl zehn Milliarden Euro nebenher für NATO-Sonderposten.

Das scheint alles kein Problem zu sein. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) wird nicht müde, immer neue Vorschläge zu verbreiten, wie aus den 80 Milliarden noch mehr zu machen sei. Gespart wird dafür an anderer Stelle: Für Rente, Sozialhilfe, Bürgergeld und Co. gilt die Schuldenbremse, während Steuermilliarden bei den Großkonzernen versickern.

Wie ernst es Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit der ungebremsten Aufrüstung Deutschlands ist, verdeutlichte er jüngst in einem Interview. Das geht zulasten der Masse, von deren Realität sich Minister und Abgeordnete zunehmend entfernen. Ihre Bezüge erklimmen ebenso ungebremst immer neue Höhen.

„Peanuts“ für arme Kinder

Über Kinderarmut wird in Deutschland zwar gern philosophiert, doch ihre Existenz fiel erst in Coronazeiten so richtig auf – als arme Schüler häufig mangels technischer Ausstattung im verpflichtenden Homeschooling immer weiter zurückblieben. Mit den Bildungslücken wuchsen die psychischen Erkrankungen bei den Minderjährigen. Dass man nun wirklich endlich gegensteuere, versprach die Ampel bei ihrem Antritt Ende 2021.

Zwölf zusätzliche Milliarden Euro sollten von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen adäquate soziale Teilhabe und weiterführende Bildung ermöglichen. Das ist nicht viel, angesichts dieser schätzungsweise drei Millionen Minderjährigen.

Doch das war bald vom Tisch. Im Sommer letzten Jahres einigten sich schließlich die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP auf einen Bruchteil dessen: 2,4 Milliarden Euro insgesamt für alles und dies erst ab 2025. Auch wenn man es hinbekäme, die Hälfte davon tatsächlich den Bedürftigen zukommen zu lassen, bliebe davon pro Kind ein Jahresplus von 400 Euro – macht 33 Euro im Monat.

Aufgeblasene Repressionsbürokratie

Echte Armutsbekämpfung sähe wohl anders aus. Man könnte von einem populistisch aufgeblasenen Täuschungsmanöver sprechen – mit einem weiter aufgeblasenen Bürokratie-Apparat. Obwohl mit diesem Vorstoß eigentlich Leistungen für Kinder gebündelt und der Zugang dazu für Familien erleichtert werden sollte, hielt man es dann wohl doch für zu kompliziert, das derzeitige Bürokratiemonster umfassend zu entflechten. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) beantragte daher 5.000 zusätzliche Behörden-Arbeitsstellen.

Mit anderen Worten: Eine weitere, komplexe Behördenstruktur mit 5.000 neuen Mitarbeitern soll entstehen, um Anträge zu bearbeiten, das Einkommen der Eltern zu prüfen, Bedarfe festzustellen und so weiter. Das klingt nach einem schikanösen Apparat, nach dem bekannten Spießrutenlaufen bei Arbeitsagenturen, Jobcentern, BAföG-Stellen, Wohngeldämtern oder gesetzlichen Krankenkassen.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, scheint die neuerliche Kritik der FDP daran berechtigt zu sein. Nur zielt sie nicht auf wirkliche Verbesserungen ab, im Gegenteil: Parteichef Lindner steht für weitere „Nullrunden“, die angesichts der Inflation tatsächlich Kürzungen wären.

An seiner Seite hat Lindner viele hoch bezahlte „Wirtschafts- und Finanzexperten“, unter anderem den Präsidenten des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo, Clemens Fuest. Der sprach kürzlich deutlich aus, was Lindner meint:

„Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht, sondern Kanonen ohne Butter.“

Mit anderen Worten: Der deutsche Staat soll aufrüsten und den Ärmeren dafür das letzte bisschen Butter vom Brot nehmen. Kriegsbereitschaft gebe es nur zu dem Preis eines „kleiner ausfallenden Sozialstaats“. Mindestlohnarbeiter, Alleinerziehende, altersarme Kassenrentner sollen den Gürtel eben noch enger schnallen, während Großindustrielle abkassieren – eine klassisch neoliberale Denkweise.

Milliarden-Subventionen für Profite

Das Schlaraffenland hingegen existiert sehr wohl: für Superreiche, Großaktionäre und Konzernbosse zum Beispiel. Steuerliche Subventionen an diese fließen so reichlich wie nie. 67,1 Milliarden Euro sieht der Bundeshaushalt dieses Jahr für Wirtschaftssubventionen insgesamt vor – fast 2,5-mal so viel wie im Jahr 2020. Der Markt regelt offensichtlich nicht einmal die Profite für Großkonzerne von ganz allein.

Mit den Problemen, die das Stutzen des Sozialstaats so mit sich bringt, soll indes die Masse ganz allein klarkommen. Wo ein wachsender Teil der Bevölkerung ärmer wird und auf soziale Teilhabe verzichten muss, sinkt der gesellschaftliche Zusammenhalt, erblüht der Neid und steigt die Kriminalität. Das Geschrei nach noch mehr Repressionen gegen Arme wird immer lauter, während sich die Superreichen in der sozialen Hängematte aalen. So stabilisiert die Politik vor allem eines: die neoliberale Hackordnung.

Quelle: RT DE

Beitragsfoto: C. Stille

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Europarat: Politik ignoriert soziale Schieflage in Deutschland

Die Armut in Deutschland wächst. Das lässt die Zahl der Obdachlosen steigen, versperrt den Zugang zu sozialen Rechten, wie Bildung, und fördert Diskriminierung und Ausgrenzung. Der Europarat sieht die Bundesregierung in der Pflicht: Sie unternehme viel zu wenig gegen die Abwärtsspirale.

Von Susan Bonath

Armut, Wohnungsnot, Ausgrenzung: Wenn es um die Wahrung grundlegender sozialer Menschenrechte geht, kritisiert Deutschland gerne andere Länder. Doch die Schieflage im eigenen Land wird von der Politik am liebsten ignoriert. Diese habe sich zuletzt erneut zugespitzt, doch die Regierung unternehme viel zu wenig dagegen, rügte jüngst der Europarat.

„Soziale Rechte werden in Deutschland oft nicht als Grund- und Menschenrechte angesehen, die der Staat verwirklichen muss“, kritisiert die europäische Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović in dem vor wenigen Tagen veröffentlichten neuen Bericht des Europarats. Ihr Zeugnis wirft ein miserables Licht auf den angeblich demokratischen Vorzeigestaat der EU. Eine besondere Schlagzeile war das den deutschen Leitmedien aber nicht wert.

Hetze statt Hilfe

Die Berichterstatterin mahnt insbesondere fehlende wirksame Strukturen in Deutschland an, die allen Einwohnern hinreichenden Zugang zu sozialen Grundrechten bieten. Die gravierendsten Mängel sieht sie beim Schutz vor Armut, Diskriminierung und Obdachlosigkeit. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt spitze sich zulasten der ärmeren Teile der Bevölkerung immer weiter zu, ohne dass sich die Politik ausreichend bemühe, dem Abhilfe zu schaffen. Auch zu Bildung hätten Arme keinen angemessenen Zugang.

Der Europarat sei „besorgt“ über eine hohe Zahl von Menschen in Deutschland, die in Armut lebten und von sozialer Ausgrenzung betroffen seien, heißt es. Dies stehe „in keinem Verhältnis zum Wohlstand des Landes“. Die Einführung des Bürgergelds sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Allerdings gleiche der aktuelle politische und mediale Diskurs einer Hetzkampagne gegen arme Menschen. Öffentlich kolportiert werde vor allem das Narrativ, wonach Arme ausschließlich selbst schuld an ihrer Lage seien.

Ausgrenzung der Schwächsten

Strukturelle Probleme hingegen, die zu dauerhafter Verarmung und Ausgrenzung führten, würden weitgehend ignoriert. Dies treffe die Schwächsten: Behinderte Menschen litten in fast allen Bundesländern unter mangelnden Teilhabemöglichkeiten, Migranten und Flüchtlinge hätten vielerorts kaum Zugang zu Integrationsangeboten, wie etwa Sprachkurse. Das sozial angespannte Klima fördere zahlreiche Formen rassistischer und sozialer Diskriminierung, heißt es.

Dazu gehöre auch eine wachsende Kinderarmut, die wiederum Wege zur Bildung und sonstigen sozialen Teilhabe versperre und oft zu dauerhafter Armut führe. Das Kindeswohl stehe bei Behörden oftmals nicht im Fokus, Rechte für Kinder seien trotz mehrfacher Anläufe weiterhin nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden. In den meisten Bundesländern gebe es keine politischen Ansprechpartner für das Thema Kinderrechte, beklagte die Kommissarin. Sie fordert sofortige Abhilfe:

„Alle relevanten Akteure sollten auf zwischenbehördlicher und interministerieller Ebene zusammenarbeiten, um den Zugang zu sozialen Rechten zu verbessern, und die Rechtsinhaber sollten frühzeitig über ihre Ansprüche informiert und beraten werden.“

Ignoranz von oben

Der Sozialrechtsexperte Harald Thomé vom Verein „Tacheles“ bekräftigte die Warnungen des Europarats und rügte: Statt sich um effektive Gegenmaßnahmen zu bemühen, gössen Bundesregierung und ein Teil der Opposition weiter Öl ins Feuer. Thomé erklärte:

„Der derzeitige Kurs der Regierung und der Opposition sorgt dafür, dass sich Armut, Elend und Menschenrechtsverletzungen stetig verschärfen.“

So beinhaltet der kürzlich verabschiedete Haushalt für 2024 zahlreiche weitere Maßnahmen des Sozialabbaus. Trotz eines anderslautenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2019 führte das Parlament damit etwa die 100-Prozent-Sanktionen als Bestrafungsinstrument gegen Bezieher von Bürgergeld, ehemals Hartz IV, wieder ein. Das ließ schon 2005 den Andrang an den privat organisierten Tafeln sowie die Obdachlosenzahlen explodieren. Kritiker werfen der Regierung vor, das höchste Gericht, somit das Grundgesetz zu umgehen.

Kein Plan gegen Wohnungsnot

Dass die Obdachlosigkeit zunimmt, findet Thomé nicht verwunderlich. Mit dafür verantwortlich seien viel zu niedrig angesetzte Mietobergrenzen für Menschen, die auf Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter oder Bürgergeld angewiesen sind. Sie fänden keine Wohnung, die vom Amt akzeptiert werde, weil es diese vielerorts schlicht nicht gebe, bemängelte er.

Kurzfristige Abhilfe sei hier nur mit einer Erhöhung dieser Obergrenzen zu erreichen. Langfristig sei ein groß angelegtes Programm für den Bau von Sozialwohnungen notwendig, so der Sozialrechtler. Auch die europäische Menschenrechtskommissarin pochte auf „umfassende und langfristige Maßnahmen“. Die deutsche Regierung müsse „alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen“. Notfalls müsse sie in den Wohnungsmarkt und in das Mietrecht eingreifen.

Bald Slums wie in den USA?

Besonderer Eifer beim Kampf gegen die Wohnungsnot ist in der Politik unterdessen nicht erkennbar. Sie hätte eigentlich schon längst mehr unternehmen müssen. Das Problem ist schließlich nicht erst seit der Bekanntgabe des neuen Berichts evident. Die Obdachlosenzahlen steigen bereits seit den 1990er-Jahren an. Kommunen verscherbelten ihre Wohnungen an Privatiers, andere verloren ihre Sozialbindung.

Ein wenig ähnelt die Entwicklung in Deutschland jener in den USA. Der dort seit den 1980er-Jahren exzessiv praktizierte neoliberale Kurs hat längst zu riesigen Slums und Elendsvierteln geführt. Um dies von Deutschland abzuwenden, bräuchte es wohl mehr als Lippenbekenntnisse.

Quelle: RT DE

Beitragsbild: Claus Stille

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Wer nicht pariert, soll verhungern: CDU stellt neue Asozial-Agenda vor

Die CDU unter Friedrich Merz tritt immer aggressiver nach unten. Ihr nun vorgestellter neuer Plan sieht vor, das Bürgergeld in ein repressives Gängel- und Bepitzelungssystem zu überführen und alle Erwerbslosen, die Jobcentern nicht gehorchen, im schlimmsten Fall verhungern zu lassen.

Von Susan Bonath

Kriegslüstern, russophob, asozial: Die CDU unter Friedrich Merz wird zunehmend zur explosiven Gefahr für Frieden, Wohlstand und sozialen Ausgleich in Deutschland. Am liebsten tritt sie nach unten. Am Montag holte sie erneut zum Schlag gegen die Ärmsten aus: Die Parteispitze der CDU besiegelte ein Papier für die Abschaffung der jetzigen Grundsicherung namens Bürgergeld. Ihr Plan: Ein neues Regelwerk soll die Schwachen hart drangsalieren, ausspionieren und bei Ungehorsam wohl verhungern lassen.

Straf- und Gängelinstrument

CDU-Chef Merz, der sich beim Millionenscheffeln unter anderem bei BlackRock als äußerst „leistungsbereit“ erwiesen hat, erklärte dazu, er wolle eine „Partei der Leistungsbereiten“ formen. „Wer arbeiten gehen kann, wird es müssen“, tönte er. Vermeintliche „Totalverweigerer“ sollen Jobcenter „schneller, einfacher und unbürokratischer“ finanziell auf null setzen können, mit anderen Worten: obdachlos machen und verhungern lassen.

Dass es Langzeiterwerbslosen meist nicht am Willen mangelt, sondern in aller Regel zahlreiche familiäre, psychische oder physische Hindernisse ihrer Anpassung an den Arbeitsmarkt im Wege stehen, interessiert die CDU ersichtlich nicht. Wer arbeiten könne, das sollen Jobcenter-Angestellte mit dem „Sanktionshammer“ entscheiden. Da in solchen Fällen nicht einmal ein Widerspruch schelle Abhilfe schaffen könnte, weil die aufschiebende Wirkung im Sozialrecht bereits seit 2005 nicht mehr gilt, würden sich die Plätze unter den Brücken wohl weiter füllen und die Zahl der Bettler und Kleindiebe explodieren.

Den schlimmsten Ausbeutern in Deutschland und allen, die es gern wären, käme das wohl sehr gelegen. Vor 20 Jahren hatte Altkanzler Gerhard Schröders Agenda 2010, mit der unter anderem Hartz IV an den Start gegangen war, zu einer Explosion des Niedriglohnsektors und einer massiven Schwächung der Gewerkschaften geführt. Genau das war damit beabsichtigt gewesen – und ist es heute: ein Paradies für Ausbeuter auf der einen, ein Straf-, Disziplinierungs- und Gängelinstrument für Lohnabhängige, nicht nur erwerbslose, auszubauen.

Drangsalieren und bespitzeln

Mehr noch: Auch das Experiment „gläserner Bürger“, dessen Opfer Asylbewerber dank Bezahlkarten bereits sind, wollen die sogenannten Christdemokraten auf Erwerbslose und Aufstocker stärker ausweiten. Die CDU fordert nämlich den „vollständigen Datenaustausch zwischen Sozial-, Finanz- und Sicherheitsbehörden“, um „Leistungsmissbrauch“ zu verhindern. Schon jetzt betreiben die Jobcenter diese Form der Schnüffelei von Jahr zu Jahr exzessiver. So geht es Schritt für Schritt in die totale Unfreiheit für alle unterhalb der Spitze.

Merz‘ Parteikollege Philipp Amthor blies schon im Vorfeld in das gleiche Horn. Der Jungpolitiker, der sein ganzes Erwachsenenleben am Aufstieg in der CDU arbeitete und dafür ordentlich Stütze aus dem Steuersäckel kassiert, faselte von „Dauerfaulheit“ und warb für eine „Agenda der Fleißigen statt immer mehr Stütze fürs Nichtstun“. Darin steckt schon eine dicke Lüge: Die „Stütze“ wurde lediglich längst überfällig der Inflation angepasst. Aber lügen gehört bekanntlich zum politischen Geschäft.

Auf dem Weg in den Asozialstaat

Der Ampelregierung, die schon die erste Sozialkürzungswelle zum angeblichen „Stopfen des Haushaltslochs“ hinter sich gebracht und mit ihrer „Zeitenwende“-Politik Millionen Menschen in finanzielle Not getrieben hat, kommt das wohl gelegen. Sie darf sich als Retter des Sozialstaats inszenieren.

Die Union spiele „arbeitende Menschen gegen die aus, denen es gerade nicht so gut geht“, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil Medienvertretern als Reaktion auf den CDU-Vorstoß. Er mahnte, die Höhe des Bürgergelds sei durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts festgelegt worden, daran könne man nicht rütteln. Umgesetzt worden sei dieser überdies mit Zustimmung der CDU, rief Klingbeil in Erinnerung. Ähnlich scheinsozial äußerten sich Vertreter der Grünen, während die FDP der CDU die Stange hielt.

Dabei hat die Ampel den Weg in den Asozialstaat längst geebnet. Nach kürzlich geänderter Rechtslage dürfen Jobcenter schon jetzt jeden Bürgergeld-Bezieher für zwei Monate auf null setzen, wenn er mehrfach ein „Jobangebot“ ablehnt. Dann soll lediglich die Miete weiter gezahlt werden. Die Stromrechnung muss liegen bleiben, gegessen werden soll wohl aus der Mülltonne – ein Rückschritt in Richtung Sozialdarwinismus, der die Gesellschaft nur weiter in den Unfrieden treiben kann.

Ungehorsame verhungern lassen

Dies ahnt wohl der stellvertretende Bundeschef des CDU-Flügels Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), Christian Bäumler, zumindest vage. Den Öffentlich-Rechtlichen erklärte Bäumler, er unterstütze zwar grundsätzlich die geplante Umbenennung des Bürgergeldes in „Grundsicherung“. Auch Sanktionen finde er in Ordnung, um Arbeitslose unter Druck zu setzen, Jobs (egal wie niedrig entlohnt) anzunehmen. Doch ganz so wie im CDU-Plan vorgesehen, könne man es dann wohl doch nicht tun.

„Eine vollständige und dauerhafte Streichung der Grundsicherung ist jedoch mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar“ kritisierte Bäumler. Dieses verbiete es, in einem „Land wie Deutschland“ Menschen „verhungern oder obdachlos werden zu lassen“.

Wohl wahr: Mit christlicher Nächstenliebe hat so etwas nun wirklich nichts zu tun. Sein Chef, der CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann, hat mit dem Verhungernlassen aber offensichtlich kein Problem. Das Machwerk nannte er „ausgewogen“ – ein Fußtritt auf die Rechte aller Lohnabhängigen.

Christdemokratisch-wertewestliche Barbarei

Man stelle sich einmal vor, das alles würde eins zu eins umgesetzt. Kaum ein Beschäftigter, der auf seinen Lohn angewiesen ist, würde sich wohl dann noch trauen, auch nur ein klein wenig aufzumucken gegenüber seinem Chef, geschweige denn, sich an einem Streik oder sonstigen Protest zu beteiligen, wenn eine Entlassung ihn letztlich in Obdachlosigkeit und Hunger katapultieren könnte. Die rechtlosen Leibeigenen von einst und das Recht des Stärkeren lassen grüßen.

Im Volksmund nennt man so etwas gewöhnlich Barbarei, in diesem Fall wohl „christdemokratische“ und „wertewestliche“ Barbarei. Dazu passen die außenpolitischen Wünsche der Merz-CDU allerdings sehr gut. Ginge es nach ihr, würden die Taurus-Marschflugkörper längst gen Moskau fliegen, und wer weiß: Vielleicht wäre Deutschland dann nicht nur innenpolitisch längst mittendrin in einem großen Krieg.

Quelle: RT DE

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Acht Euro für ein Päckchen Essensreste: Inflation treibt Deutschlands Tafel-Preise in die Höhe

Bedürftige in Deutschland müssen sich inzwischen die Armenspeisung bei der Tafel leisten können. Die ausrangierten und gespendeten Lebensmittel werden immer teurer. In Weimar kostet ein Beutel ausrangierter Lebensmittel bereits acht Euro. Grund sei die Inflation, heißt es.

Von Susan Bonath

Vor gut 30 Jahren schwappte das private Armen-Charity-Modell der USA nach Deutschland: Die ersten Tafeln hatten sich 1993 zum Ziel gesetzt, der steigenden Zahl obdachloser Menschen mit Essen zu helfen, das sonst weggeworfen werden würde. Ihr ehrenamtlicher Charakter ist geblieben, doch sind sie längst zu einem bundesweit agierenden Unternehmen geworden, das schleichend den Sozialstaat zu ersetzen droht. Und wer denkt, ein Tafelgang koste nichts, der irrt: Die Inflation treibt auch dort die Preise in die Höhe.

Wie in dieser Woche der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) berichtete, verhängen nicht nur immer mehr Tafeln Aufnahmestopps, weil sie vom Massenandrang völlig überlastet sind. Auch die Preise schnellen dort wie im Rest der Bundesrepublik zusehends in die Höhe. Wer also völlig pleite ist, hat auch bei der Tafel keine Chance auf einen vollen Magen.

Teure aussortierte Lebensmittel

Dem Bericht zufolge verlangt die Tafel im sachsen-anhaltischen Zerbst inzwischen vier Euro für eine warme Mahlzeit, die sie von montags bis freitags ausgibt. Zum Vergleich: Der Regelsatz des Bürgergeldes enthält 195 Euro für Nahrungsmittel pro Monat für eine alleinstehende Person. Das sind rund 6,50 Euro für jeden Tag.

Eine Kiste Lebensmittel ist sogar noch teurer, sie kostet in Zerbst mittlerweile sieben Euro. Dies variiert von Ort zu Ort. Laut eines früheren MDR-Berichts vom Februar müssen beispielsweise Bedürftige im thüringischen Weimar acht Euro für so ein Essenspaket bezahlen.

Zu bedenken ist, dass es sich in aller Regel um Waren handelt, die Supermärkte, Discounter und andere Geschäfte wegen ablaufender Haltbarkeit oder diversen Qualitätsmängeln als unverkäuflich aussortiert und an die Tafeln gespendet haben. Die Läden müssten diese Lebensmittel eigentlich wegwerfen und sparen sich durch Weitergabe die Kosten der Entsorgung. Auch der Inhalt der Kisten ist nicht immer gleich, sondern variiert sehr stark. Ausgegeben werden kann schließlich nur, was an die Tafeln abgegeben wurde.

Hohe Energie- und Spritkosten

Die Leiterin der Zerbster Tafel, Ute van Tulden, sagte, schuld sei die Inflation, die besonders Energie, Benzin und Nahrungsmittel stark verteuert habe. Zwar steige die Inflation aktuell nicht mehr so stark. Doch die Kosten für die Tafel seien damit nicht gesunken. Sie seien, so van Tulden, „im Gegenteil noch höher durch die Nachzahlungen für Strom, und die Benzinpreise sind erhöht; da wir viel fahren, merken wir das ganz schön“.

In dem Bericht vom Februar heißt es, dass der Aufwand für die Tafeln, um an Essensspenden heranzukommen, immer stärker zugenommen habe. Regionale Geschäfte spendeten nicht mehr genug. Im sächsischen Weißwasser beispielsweise gebe es deswegen mittlerweile ein Zentrallager mit Kühlhaus, wohin Supermärkte größere Mengen dieser unverkäuflichen Lebensmittel liefern.

Das Lager wiederum müsse hohe Mieten und Energiekosten abdrücken. Außerdem seien hauptamtliche Mitarbeiter nötig, die man entlohnen müsse, fügte dessen Leiter Dietmar Haase hinzu. Weil auch die Spenden für die Tafeln dem wachsenden Andrang nicht mehr gerecht würden, müssten die Einrichtungen dies über höhere Preise ausgleichen, bezahlt von den Bedürftigen.

Schleichender Ersatz für Sozialstaat?

Ende 2023 verzeichnete der deutsche Dachverband der Tafeln bis zu zwei Millionen Menschen, die regelmäßig um Essen anstehen. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2022 in Deutschland 14,7 Millionen Menschen unterhalb der sogenannten „Armutsgefährdungsgrenze“, das sind über 17 Prozent der Einwohner Deutschlands – Tendenz steigend, Dunkelziffer unbekannt.

Obwohl die Tafeln keine staatlichen Einrichtungen sind, verweisen beispielsweise Jobcenter durch Sanktionen mittellos gemachte Menschen gerne mit einem Achselzucken an sie weiter. Das wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Die privaten Tafeln sind aber nicht verpflichtet, Bedürftige zu versorgen. Auch müssen Hungrige ihre Bedürftigkeit nachweisen. Wer weder Geld vom Amt noch Rente bekommt, was viele Obdachlose und EU-Migranten betrifft, hat keine Chance auf einen vollen Magen.

Armut explodiert im Westen

Die Anzahl der Tafeln und Essensausgabestellen ist seit 1993 geradezu explodiert. Im Jahr 1994 gab es, statistischen Daten zufolge, sieben dieser Einrichtungen in Deutschland, 2004 waren es bereits 430.

Mit der Einführung von Hartz IV 2005 kam es nochmals zu einem steilen Anstieg: Nur fünf Jahre später hatte sich die Zahl der Tafeln in Deutschland auf 877 mehr als verdoppelt, inzwischen sind noch einmal rund 100 hinzugekommen. Auf den wachsenden Andrang reagieren viele Tafeln mit Aufnahmestopps und teils langen Wartelisten.

Die kontinuierliche Zunahme der Armut ist im Westen aber kein Alleinstellungsmerkmal von Deutschland. In der gesamten Europäischen Union wird dieser Anstieg verzeichnet. Betroffen ist dort schon fast jedes fünfte Kind, in Rumänien sogar fast jedes zweite. Die gleiche Entwicklung registrieren Analysten in den USA sowie in Großbritannien.

Manch einer munkelt, das könnte eventuell am aggressiven marktradikal-imperialistischen Wirtschaften des Westens liegen, vorangetrieben von einer kriegerischen Politik, die nur noch die Profite der monopolisierten Finanz- und Hightech-Riesen, meist mit Sitz in den USA, im Fokus hat, die Kandare für die Oligarchen scheut und den Mittelstand sowie die Lohnabhängigen in den Ruin treibt.

Quelle: RT DE

Beitragsbild: Claus Stille

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Alles Betrüger? Wie deutsche Medien Bedürftige kriminalisieren und Leser täuschen

Zehntausende Betrugsfälle bei Hartz IV sollen Jobcenter in den vergangenen vier Jahren aufgedeckt haben. Mit dieser Schlagzeile entfachten Bild und Co. erfolgreich Empörung. Tatsächlich unterschlagen die Medien dabei wichtige Informationen und täuschen ihre Leser.

Von Susan Bonath

Die Feindpropaganda in Deutschland läuft auf Hochtouren. Während Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) das Land „kriegstüchtig“ machen will und von der Bevölkerung einen entsprechenden „Mentalitätswechsel“ forderte, sehen einige Leitmedien auch einen Feind im Inneren: Bedürftige, die angeblich massenhaft in krimineller Absicht den Sozialstaat plünderten. Diese Botschaft an die Leserschaft beruht jedoch auf Falschdarstellung.

Reißerische Propaganda

Vorneweg verbreitete Springers Boulevardblatt Bild die Schlagzeile „So oft tricksen Bürgergeld-Empfänger“ – obwohl es um die zurückliegenden vier Jahre geht, wo es noch kein Bürgergeld gab. Der Focus schloss sich der Kampagne an und titelte reißerisch: „Tausende Bürgergeld-Betrüger werden betraft – 93 müssen sogar ins Gefängnis“.

Einige regionale Medienportale sprangen darauf an. So schrieb das Braunschweiger Online-Magazin regionalHeute.de von „fast 166.000 Betrugsfällen“, obwohl es sich bei dieser Zahl nicht um bewiesene Taten, sondern lediglich um Verdachtsfälle von Jobcentern in den vergangenen vier Jahren handelt. Auch die Webseite ludwigsburg24.com übersah das Detail und ordnete die Verdachtsfälle mal eben einem „umfangreichen Sozialhilfe-Betrug“ zu.

Kurz zuvor hatte der Münchner Merkur suggeriert, Schwarzarbeit sei automatisch mit Bürgergeld-Bezug verbunden. Konkrete Zahlen, die beispielsweise einen Anstieg bei den aufgedeckten Fälle belegen würden, präsentierte das Blatt aber nicht.

Verdacht mit Betrug gleichgesetzt

Doch die gesamte Berichterstattung weist bei allen Medien drei grundlegende Probleme auf: Erstens setzt sie ungeklärte Verdachtsfälle, die für Jobcenter schon nach einem anonymen Hinweis vorliegen, mit bestätigten Betrugsfällen gleich – zumindest in der Überschrift.

Zweitens bauscht sie das Problem auf, indem sie den Kontext, nämlich die Anzahl durchgeführter Überprüfungen und den langen Zeitraum, nur beiläufig im Text erwähnt und nicht hervorhebt. Drittens fehlen die realen Geldsummen, um die der Staat auf diese Weise letztendlich betrogen wurde.

Auch eine Gegenüberstellung mit vergleichbaren Delikten, wie Steuerhinterziehung, hätte der Berichterstattung nicht geschadet, um das wahre Ausmaß zu verdeutlichen. Das alles war offensichtlich nicht gewünscht. Man könnte Absicht hinter diesen reißerischen Schlagzeilen vermuten: Der Zorn in der Bevölkerung auf die desaströse Politik soll offenbar auf die Ärmsten umgeleitet werden. Das wäre keine neue Strategie.

Komplett durchleuchtet

Worum geht es? Hintergrund ist ein großangelegter interner Datenabgleich zwischen den Jobcentern und der Rentenversicherung. Demnach übermittelte Letztere den Jobcentern innerhalb von vier Jahren bis 2022 insgesamt 9,1 Millionen Datenpakete von Hartz-IV-Beziehern. Das zeigt erst einmal, dass Menschen, die Hartz IV ‒ heute Bürgergeld ‒ beziehen, umfangreich durchleuchtet werden.

In diesen vier Jahren hätten die Jobcenter auf diese Weise „165.971 Fälle möglichen Leistungsbetrugs aufgedeckt und angezeigt“, berichtet der Focus. Die Betonung liegt auf „möglich“, denn das ist kein nachgewiesener Betrugsfall, wie die reißerischen Überschriften vermuten lassen.

Setzt man diese Zahl nun in den Bezug zu den 9,1 Millionen gezielten und prophylaktischen Datenabgleichen, sind das genau 1,8 Prozent, bei denen die Jobcenter tatsächlich Ungereimtheiten feststellten, die sie für klärungsbedürftig hielten. Andersherum: Bei 98,2 Prozent gab es keinerlei Hinweise auf irgendeinen Verdacht. Das klingt schon anders.

Nur 0,2 Prozent belegte Betrugsfälle

Weiter schreibt der Focus, dass laut einer Linken-Anfrage im Bundestag allein im letzten Jahr „82.269 Hinweise für diese sogenannten Überzahlungen festgestellt“ wurden. Ein Hinweis ist es aber bereits, wenn jemand aus Frust seinen ungeliebten Nachbarn beim Amt meldet. Diese Zahl sagt also gar nichts aus.

Letzten Endes seien davon vergangenes Jahr 39.622 Fälle auf dem Tisch der Staatsanwaltschaften oder des Zolls gelandet, wo sie überprüft werden sollten. Auch das ist kein Beleg für tatsächliche Straftaten. Hier könnte die nächste Zahl einen Anhaltspunkt liefern. So heißt es: „17.892 Hartz-IV-Empfängern wurden die Leistungen wegen ihrer geheim gehaltenen Einkünfte gestrichen.“

Allerdings sind die Jobcenter schnell dabei, Leistungen zu streichen, dafür reicht bereits ein bloßer Anfangsverdacht. Tatsächlich verurteilten Gerichte schließlich nur knapp 4.200 Leistungsbezieher für solche Vergehen im Jahr 2022 zu Geldstrafen, 93 weitere zu einer Haftstrafe. Festzuhalten bleibt: Knapp 4.300 Hartz-IV-Beziehern konnte tatsächlich das Verschweigen von Einkünften juristisch nachgewiesen werden.

Für wie viele der knapp 166.000 sich dieser Vorwurf in den vergangenen vier Jahren insgesamt bestätigt hat, geht aus den präsentierten Daten nicht hervor. Rechnet man die vorliegende Zahl für letztes Jahr hoch, kommt man auf etwa 72.000 Fälle, in denen Jobcenter zwischen 2018 und 2022 deshalb Leistungen strichen oder kürzten, sowie rund 17.200 Fälle tatsächlich juristisch belegten Leistungsmissbrauchs – in vier Jahren.

In Prozenten ausgedrückt, klingt das ganz anders als die Schlagzeilen: In weniger als zwei Prozent der überprüften Fälle erhoben Jobcenter also einen Anfangsverdacht verschwiegener Einkünfte und schalteten Ermittlungsbehörden ein. Bei etwa 0,8 Prozent der Prüffälle waren die Jobcenter so überzeugt von einem Leistungsbetrug, dass sie diesen Hartz-IV-Empfängern die Leistungen kürzten. Hiergegen können die Betroffenen noch gerichtlich vorgehen, sofern sie von ihrer Unschuld überzeugt sind. Das letzte Wort steht noch aus.

Die relevante Zahl bleibt also vorerst: Weniger als 0,2 Prozent der komplett Durchleuchteten wurden tatsächlich wegen nachgewiesenen Leistungsmissbrauchs verurteilt, und dies für einen Zeitraum von vier Jahren. Das spricht eher dagegen, dass Leistungsmissbrauch eine weit verbreitete Masche wäre, wie es die Medien in der offensichtlichen Absicht, Stimmung zu machen, andeuten.

Um welche Summen geht es?

Um welche Summen der Sozialstaat durch verschwiegene Einkünfte tatsächlich geprellt wurde, geht aus den Daten nicht hervor. Man kann aber eine ungefähre Größe berechnen. Dazu könnte man ermitteln, wie viel ein Hartz-IV-Bezieher 2022 durchschnittlich an Leistung bekam.

Laut Bundestag gab der Bund im vergangenen Jahr rund 21 Milliarden Euro für die Regelsätze und weitere 10 Milliarden für die Mietkosten aus, das sind insgesamt rund 31 Milliarden Euro. Aufgeteilt auf rund 5,5 Millionen Leistungsberechtigte kommt man auf eine durchschnittliche Gesamtleistung pro Kopf von knapp 5.640 Euro pro Jahr, also 470 Euro pro Monat. Die niedrige Summe liegt daran, dass viele nebenher arbeiten und daher nicht den vollen Regelsatz erhalten. Außerdem erhalten Kinder weniger.

Da aber nicht bekannt ist, wie viel die ermittelten Leistungsbetrüger bekamen, kann man nur mit dem durchschnittlichen Regelsatz rechnen. Die auf vier Jahre hochgerechnete Zahl ermittelter Betrüger von 17.200 kann man in der Annahme, dass vor 2022 etwas mehr Verdachtsfälle bestätigt wurden, auf 20.000 erhöhen. Diese multipliziert mit dem durchschnittlichen Jahresbudget eines Hartz-IV-Empfängers von 5.640 Euro ergibt eine Summe von knapp 113 Millionen Euro in vier Jahren. Pro Jahr sind das, nochmals hochgerechnet, etwa 30 Millionen Euro.

Als Obergrenze des möglichen Verlustes könnte man die rund 72.000 unbewiesenen Verdachtsfälle nehmen, in denen Jobcenter zumindest Leistungen gestrichen haben. Hiermit käme man auf einen maximalen Verlust von gut 400 Millionen Euro in vier Jahren, also 100 Millionen pro Jahr. Der anzunehmende Verlust dürfte also pro Jahr zwischen 30 und 100 Millionen Euro liegen.

Steuerbetrug tausendfach höher

Gehen wir ruhig von der höchsten Annahme aus, die eine gewisse Dunkelziffer mit einschließen würde: 100 Millionen Euro pro Jahr Verlust durch Sozialleistungsbetrug mittels verschwiegenen Einkommens. Dem gegenüber steht allerdings eine ungleich höhere Zahl: 125 Milliarden Euro. Das ist die vor vier Jahren geschätzte Summe, die dem deutschen Fiskus jährlich durch Steuerbetrug durch die Lappen geht.

Das ist mehr als ein Viertel des gesamten Bundeshaushaltes, fast so viel, wie der gesamte Sozialetat für 2023 und etwa 1.230-mal mehr Geld, als dem Fiskus – konservativ geschätzt – durch den beschriebenen Sozialleistungsmissbrauch verloren geht. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete 2019 über die zugrundeliegende Studie.

Der größte Teil dürfte dabei auf das Konto Reicher und Superreicher gehen. Zur Wahrheit gehört, dass auch von Schwarzarbeit vor allem Unternehmen profitieren. Diese maximieren ihre Gewinne, indem sie Steuern und Sozialbeiträge für ihre Arbeiter nicht abführen. Die so veruntreuten Summen liegen meist weit über den paar tausend Euro jährlich, die sich ein mutmaßlicher Bürgergeld-Betrüger unrechtmäßig einsteckt.

Außen- und innenpolitische Feindbilder

Die Innenpolitik steht somit der Außenpolitik in Sachen Feindpropaganda in nichts nach. Für Letztere stehen ganz oben auf der Liste derzeit „die Russen“, inzwischen wieder dicht gefolgt von „den Islamisten“ – erinnert sei an den von den USA 2001 erklärten „Krieg gegen den Terror“ –, diesmal besonders personifiziert als „die Palästinenser“.

Innenpolitisch geht es derweil nicht nur gegen vermeintliche „Putinversteher“, „Querdenker“ und sonstige politisch Unliebsame, sondern, wie gewohnt, vor allem gegen Arme, denen man pauschal kriminelle Absichten unterstellt. Dabei sitzen die größten Leistungsbetrüger noch immer viel weiter oben. Über sie berichtet die deutsche Presse nur nicht allzu häufig.

Quelle: RT DE

Ein treffender Text zum 1. Mai. Und eine Erinnerung an einen „der besten Musiker und Poeten der Arbeiterklasse“

Gastbeitrag von Susan Bonath

Gerhard Gundermann ist und bleibt wohl für mich einer der besten Musiker und Poeten der Arbeiterklasse. Er war ein lebender Widerspruch seiner Zeit – geprägt von gut drei Jahrzehnten in der DDR, gestolpert durch die westliche Annexion derselben. Es gelang ihm meisterlich, all diese Widersprüche in seiner Musik in einfachen Worten zu verarbeiten und damit zugleich eine proletarische Subkultur zu schaffen, die ihresgleichen sucht.

Der Baggerfahrer und Musiker Gundermann, der am 21. Juni 1998 mit nur 43 Jahren starb, zeigt uns, wie grundsätzlich nötig eine Kultur von UNTEN ist, um das Bewusstsein innerhalb der arbeitenden Klasse für ihre Lage zu entwickeln, ihre von oben forcierte ideologische Spaltung zu überwinden und den Herrschenden die Hoheit über Debatten- und Bildungsräume wieder zu entziehen. Und mit Kultur von unten meine ich KEINE Kultur der sog. Mittelschicht, die vor idealistischen Mythen und Geschichtsklitterung nur so strotzt und die materielle Realität weitgehend ausblendet.

Erinnert sei hier daran, dass jegliche Rechte, die Arbeiter heute (noch) haben und die seit 1990 sukzessive wieder abgebaut werden, von der Arbeiterklasse blutig über viele, viele Jahrzehnte erkämpft wurden. Nichts wurde der an Produktionsmitteln besitzlosen, lohnabhängigen Klasse, die ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen muss, geschenkt. Die Herrschenden wissen, dass ihre Macht daran hängt, das Proletariat davon abzuhalten, sich einig zu werden. Sie teilen und herrschen, wie eh und je. Daran hat sich auch im globalisierten imperialistischen Monopolkapitalismus NICHTS geändert.

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Zu Susan Bonath

Pressemitteilung: Immer noch kein DT-Sozialticket in Sicht

Ab dem 1. Mai 2023 wird es mit dem „Deutschlandticket“ (DT) ein bundesweit einheitliches Nahverkehrs­angebot für monatlich 49 Euro geben. Der Preis kann durch Unternehmen zudem als Jobticket auf 34,30 Euro reduziert werden. Schleswig-Holstein bietet seinen Landes­beschäftigten sogar ein ebenfalls deutsch­landweit geltendes Ticket für nur 16,55 € an. Was aber fehlt, ist die gleichzeitige Einführung einer preislich abgesenkten Variante für Menschen, die von Transferleistungen oder einer schmalen Rente leben müssen. Zur Erinnerung: Laut Paritätischem Armuts­bericht 2022 hat die Armut in NRW mit einer Armutsquote von 19,2 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. Auch die Einführung des Bürgergeldes hat an der Tatsache, dass die Regelsätze viel zu knapp bemessen sind, nichts geändert. Hier ein Beispiel: Der für „fremde Verkehrsdienstleistungen“ vorgesehene Anteil im Regel­satz bei Sozialleistungen ist bundesweit gleich und beträgt bei alleinlebenden Erwachsenen nur 40,58 Euro. In allen anderen Bedarfsstufen sogar nur anteilig, also noch weniger. Hinzu kommen Menschen, denen noch nicht einmal diese staatlichen Leistungen zugestanden werden. Nach wie vor bekommen Asylbewerbern*innen kein Bürgergeld. Leider wurde beim Deutschlandticket versäumt, eine entsprechende soziale Komponente einzubauen. Daher muss nun in jedem Bundesland eine abgestufte Ticketvariante für Einkommensschwache und Sozial­leistungsbeziehende eingeführt werden. Herr Minister Oliver Krischer hat uns in einem Brief vom 23.3.2023 versichert, dass es ihm „ein persönliches Anliegen ist, weiterhin ein sozial verträgliches Ticket anzubieten“. Die Prüfung für ein Sozialticket durch das Ministerium und die beteiligten Verkehrsverbünde dauere noch an. Es ist leider zu befürchten, dass darüber noch einige Monate ins Land gehen werden. Bis dahin kostet das Sozialticket als Monatsticket im größten Verkehrsverbund VRR weiterhin 41,20 € pro Monat und ist nur kreis- bzw. stadtweit gültig. Wir halten es für skandalös, dass Menschen mit geringem Ein­kommen für ihr minderwertiges Ticket mehr zahlen müssen als normal oder gutverdienende Bürger und Bürgerinnen, die in die Gunst eines Jobtickets kommen können. Wir haben am Mittwoch (26. April) die Fraktionen des Landtages NRW per Brief aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass möglichst schnell eine akzeptable Lösung für die Einführung eines bundesweit geltenden Sozialtickets gefunden wird. Nach unseren Vorstellungen sollte es nicht mehr als 29 Euro kosten und eine Mit­nahmemöglichkeit aller eigenen Kinder einschließen. Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite des Bündnisses (s.u.). Bis zur abschließenden Klärung bitten wir die Fraktionen zudem, sich für eine Übergangslösung einzusetzen, bei der die bislang von den Verkehrsverbünden angebotenen Sozialtickets zumindest landesweit gültig werden.

Wesel/Dortmund, 28. April 2023 Ansprechpartner (für Rückfragen): Klaus Kubernus-Perscheid, Pastor Wolf Str. 12, 46487 Wesel, klaus.kubernus@t-online.de, Tel.: 02803 8303 Heiko Holtgrave, Huckarder Str 12, 44147 Dortmund, info@akoplan.de, Tel. 0231 580 34 250 https://www.buendnis-sozialticket-nrw.de

Foto: Claus Stille

Hurra, Hurra! Das Bürgergeld ist da!

(lesenswerter Betrag von Jörg Kleine,  gefunden auf der Website des Kreisverbands der Linken in Dortmund)

Liebe Sozialstaatsbürger*innen, es ist vollbracht. Nach langem und zähem Ringen steht mit der erzielten Einigung zwischen Regierungskoalition und der CDU/CSU-Fraktion fest: Armut in Deutschland bleibt eine verlässliche Größe. Das dürfte vor allem auch die Dortmunder*innen sehr freuen, denn die Armutsquote ihrer Stadt liegt laut Paritätischem Armutsbericht 2022 in der Deutschlandrangliste nach Bremen/Bremerhaven (28,0%) und Hannover (22,6%) mit 21,7% bundesweit auf einem soliden 3. Platz und ist in Nordrhein-Westfalen sogar Spitzenreiter. Man muss kein ausgesprochener Optimist sein, um davon auszugehen, dass Dortmund das Podium auch in Zukunft halten kann. Und Luft nach oben gibt es allemal.

Mit dem neuen Bürgergeld ist eine Reihe großartiger Verbesserungen verbunden. Die wichtigste ist mit Geld gar nicht aufzuwiegen: Der neue Name. Endlich Schluss mit der Stigmatisierung als „Hartzer*in“. Auch wenn die Wohnung kalt bleiben muss, um die Butter auf dem Brot zu bezahlen – Bezieher*innen des Bürgergelds können sich nun endlich auf Augenhöhe fühlen mit Porsche fahrenden Ministern und Privatjet fliegenden Parteivorsitzenden, die ja auch nur Bürger sind. Der Schub der neuen Namensgebung für das Selbstbewusstsein dürfte ungeahnte Kräfte und Motivationen mobilisieren.

Deshalb ist es auch gut und richtig, dass die Sanktionsschonzeiten zurückgenommen und auch das „Schonvermögen“ deutlich herabgesetzt wurden. Beides wäre geradezu kontraproduktiv gewesen. Wo kämen wir hin, wenn man vom kläglichen Ersparten ein Leben lang in Saus und Braus leben könnte und niemand mehr wüsste, was „Arbeit“ überhaupt ist? Noch fataler für die deutsche Wirtschaft wäre es, wenn niemand mehr durch Sanktionsdruck zügig in prekäre Beschäftigungsverhältnisse (zurück-) gedrängt werden könnte. Ganze Branchen würden abwandern. Wer würde denn noch bei Flaschenpost, Lieferando oder Amazon bestellen, wenn die Lieferkosten aus Bangladesh aufgeschlagen werden müssten?

Gut auch, dass die Erhöhung der sozialen Leistungen nicht einmal die Inflationsrate ausgleicht. So bleibt die Tätigkeit aller Ehrenamtlichen bei den Tafeln und anderen sozialen Organisationen gesichert. Sie würden sonst ihren Lebenssinn verlieren, die Depressionsraten der vielen Helfer*innen würden durch die Decke gehen. Und auch die dann nicht mehr Schlange stehenden Bedürftigen würden in ihren kalten und kaum bezahlbaren Wohnungen auf sich allein gestellt noch einsamer werden. Nichts geht über soziale Notbegegnungen.

Bleibt zu hoffen, dass auch menschenunwürdige Ideen wie Mieten-, Gas- und Strompreisdeckel, Mehrwertsteuersenkung auf Grundnahrungsmittel, preisgünstiger bzw. kostenloser ÖPNV und bezahlbare Gesundheit und Bildung nicht eines Tages Realität werden. Es käme einer Katastrophe gleich, wenn solcher Unfug durch höhere Besteuerung der Reichen und eine Übergewinnsteuer auch noch finanziert würde.

Der Untergang des kapitalistischen Abendlandes muss unbedingt verhindert werden. Und Deutschland muss hier Vorbild sein und bleiben.

In diesem Sinne: Frohe Vorweihnachtszeit! <<

Quelle:
URL des Beitrags: https://www.dielinke-dortmund.de/presse/aktuell/detail/hurra-hurra-das-buergergeld-ist-da/

Die strafende Stadt – Bestrafen der Armen

Einleitende Worte (Claus Stille)

Der Autor Loïc Wacquant hat den Strafrechtsstaat in den USA einer gründlichen Analyse unterzogen. Damit gewinne man, schreibt er auf Seite 41, „unentbehrliches Material für eine historische Anthropologie der sich derzeit vollziehenden Erfindung des Neoliberalismus, denn seit dem Bruch Mitte der 1970er Jahre war Amerika der theoretische und praktische Motor der Entwicklung und weltweiten Ausbreitung eines politischen Projektes, dessen Ziel es ist, alle menschliche Tätigkeit der Vormundschaft des Marktes zu unterstellen“. Das bedeutet eben auch die Menschen in „Würdige“ und „Unwürdige“ einzuteilen. Will sagen: Nützliche und überflüssige Menschen. Millionen Menschen dümpeln in den USA von prekärem Job zu prekärem Job.

Wieder andere landen wegen der eingeführten „Nulltoleranz“ schon wegen Bagatelldelikten im Gefängnis. Neben dem die Menschen drückenden und unter Kontrolle stellenden und bei Verstössen gegen die Auflagen sanktionierendem System des workfare kommt für einen Teil der Überflüssigen ein anderes in Anwendung, das prisonfare. Der Autor spricht von einer „Gefängnisbulimie“. Seit den 1970er Jahren stieg die Zahl der in den USA Inhaftierten stetig an. Nach der Reform des Sozialstaats in der Amtszeit des Präsidenten Bill Clinton im Jahre 1996 bei der die Ärmsten der Armen noch einmal tiefe Einschnitte hinnehmen mussten, erfolgte überdies eine Verschärfung des Strafrechts. Sicherheitsfirmen hatten Hochkonjunktur. Private Gefängnisse – geradezu ein regelrechter Gefängnisinkomplex entstand – hatten sozusagen Hochkonjunktur.

Wacquant nimmt den Leser mit auf eine Reise des Grauens  in das „US-amerikanische Gefängnis-Archipel“. Gefangene werden zwischen den einzelnen Bundesstaaten hin und her verschoben. Die Anstalten seien, notiert der Autor, nicht selten bist zum Bersten überfüllt. Einmal ist davon die Rede, wie Neuankömmlinge vor Gefängnissen mit Bussen sogar hin- und hergekarrt werden (müssen), bis endlich wieder Plätze im Knast frei werden. Die frischen Gefangenen dürfen dabei die Busse auch bei brütender Hitze nicht verlassen. Nicht selten sind sie gezwungen darin zu urinieren. In ihrer Platznot griff New York sogar auf Gefängnislastkähne zurück. Unmenschliche Zustände, die den Leser tief beeindrucken, ja: im Innersten bedrücken dürften! Diese Zustände bedenkend, dämmert einen an mancher Buchstelle, woher das kommen mag, dass Gefangene der USA in Guantánamo und anderso wie Vieh oder noch schlimmer behandelt werden. Manches mal möchte man ob des Beschriebenen angewidert und wütend das Buch sinken lassen. Doch nur Mut: Wir sollten diese Zustände und die „Denke“ die sich hinter diesem menschenunwürdigen System steht unbedingt zur Kenntnis nehmen. All dies hat auch mit der Geschichte der USA zu tun, wie Wacquant ausführt. Gewiss auch mit der Sklaverei und der Rassentrennung.

Scheinlösungen, der Einfluss der Medien und intellektueller Schwindel

Uns Europäer sollte vor allem schwer zu denken geben, wieso einige unserer Regierungen (und von denen ausgerechnet auch noch sozialistisch, sozialdemokratisch geführte wie die von Lionel Jospin (Frankreich), Tony Blair (Großbritannien) und BRD (Schröder) Anleihen beim US-amerikanischen workfare und prisonfare genommen haben. Gewiss hat dies mit neoliberalen Einflüsterungen seitens Kapital und Großkonzernen zu tun. Wacquant geht besonders auf das Beispiel Frankreich bezogen sehr genau darauf ein. Dabei kommt ihm (und uns) zugute, dass er sowohl in den USA als auch in Frankreich forscht. Hauptsächlich dort, konstatiert er, sei diese US-amerikanische Nulltoleranz-Politik und Wegsperrmentalität stark abgekupfert worden. Auch andere westeuropäische Politiker seien regelmäßig in die USA gepilgert um sich von diesem System überzeugen zu lassen und in der Heimat schließlich als Heilmittel zu preisen. Dabei entbehren diese US-amerikanischen Heilmittel, erfahren wir, hauptsächlich die angeblichen Erfolge auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung meist jeder wissenschaftlichen Untermauerung. (…)

Quelle: Aus meiner Rezension des Buches „Bestrafen der Armen“ von Loïc Wacquant.

Das Buch kam mir dieser Tage wieder in den Sinn als ich den Artikel „Die strafende Stadt“ von Laurenz Lurk (Gewerkschaftsforum.de) zu Gesicht bekam. So schlimm, wie es Wacquant beschrieben hat, ist es hierzulande (noch) nicht.

Wir müssen aber begreifen, dass bestimmte Politiker die Anregungen, wie man mit Menschen verfährt, die quasi für die Gesellschaft nicht von Nutzen sind, weil das neoliberale System sie nicht mehr braucht, aus den USA oder Großbritannien bekommen haben. Bedenkenswert: Daraus resultierende Maßnahmen wurden meist von sozialdemokratischen Regierungen ins Werk gesetzt.

Ein Teil dieser ausgegrenzten, aus einer früheren Normalität herausgeworfenen Menschen stören diejenigen, die noch drin sind und meinen, sie betreffe die Not und die Armut der anderen Menschen nicht. Sie wollen diese Armut und deren Bild in ihrer Stadt deshalb auch nicht sehen.

Da greifen manche Städte quasi zu Vergrämungsmaßnahmen. Vergrämung – der Begriff kam mir erstmals zu Ohren, als es darum ging, dafür zu sorgen, dass Tauben von bestimmten Orten in der Stadt vergrämt – heißt vertrieben – werden sollten. Ist es nicht zynisch, den Begriff „Vergrämungsmaßnahmen“ auf Tauben. Menschen zu beziehen? Ja, freilich! Aber es gibt tatsächlich Städte die zu Maßnahmen greifen, um Menschen, die aus dem System gefallen sind zu vertreiben. Wie störende Tauben. Teils mit perfiden Methoden. Ist das nicht eine Vergrämung? Rücksicht braucht man auf diese Menschen so wieso kaum zu nehmen. Sie sind eh keine Wähler (mehr). Weil sie wissen, für sie tut ohnehin keine Partei etwas – außer vielleicht ein paar wohlklingende Worte fallen zu lassen, die nichts kosten, da sie ohnehin nie in Taten umgestzt werden. Diese Menschen stören. Sie sollen weg und möglichst nicht das Straßenbild verunzieren.

Laurenz Nurk hat aufgeschrieben, wie sich das für ihn in Dortmund darstellt. Apropos Dortmund: Ich hörte vor einigen Jahren einen leitenden Mitarbeiter des Ordnungsamtes bezüglich des Klientiels seiner Mitarbeiter*innen sagen: „Wir haben es hauptsächlich mit Abschaum zu tun“. Das schockte mich. Das sagte ein verantwortlicher Mensch in einer von einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister geführten Stadt über Mitmenschen! Der Stadt, die einst „Herzkammer der SPD“ genannt wurde.

Die strafende Stadt

Gastbeitrag Laurenz Nurk (Gewerkschaftsforum.de)

Dortmund war über Jahrzehnte die Hauptstadt der bundesdeutschen Naziszene. In der Stadt gab und gibt es eine gefährliche Meute, die von den Sicherheits- und Verfassungsbehörden systematisch aufgepäppelt wurde und dann im mörderischen NSU-Sumpf mündete. Die Polizei nahm nach dem Mord an Mehmet Kubaşık nicht die Mitglieder der rechten Gruppen in der Stadt ins Visier, sondern ermittelte bei den nach Fahndersprech genannten „Döner-Morden“ vorrangig gegen die Opferfamilie.

Seit dieser Zeit wurden parallel dazu Polizei- und Ordnungskräfte systematisch aus- und aufgerüstet, allerdings für den Einsatz gegen den ärmeren Teil der Bevölkerung in der Stadt.

Eine Stadt, in der in einem Stadtteil 124 Straßen und Plätze von der Polizei als „gefährlich und verrufen“ eingeordnet und die Beamten mit Sonderrechten dort ausgestattet wurden.

Eine Stadt, in der aus dem Kampf gegen Drogen und Armut der Kampf gegen Drogenkonsumenten und Arme wurde und in der die Übergriffe von Polizei- und Ordnungskräfte auf wehrlose Bewohner stetig angestiegen ist.

Eine Stadt, die ein Ort von Sandkastenspielen und Experimentierfeld der aktuellen Polizeigesetze wurde, bei denen die Freiheitsrechte der Einwohner und Besucher massiv mit den Füßen getreten werden.

Eine Stadt, in der im Rahmen der neuen, sogenannten Strategischen Fahndung, mit ihren anlasslosen Kontrollen die Polizei berechtigt ist, wie vormals in der Nordstadt, nun auch in der City „Personen ohne konkreten Verdacht anzuhalten, nach ihrer Identität zu befragen sowie Fahrzeuge und mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen“ und damit das gelinde gesagt, angespannte Verhältnis zwischen Einwohnern und Polizei- und Ordnungskräften weiter zu verschärfen. Die neuen Polizeigesetze bieten dafür eine Steilvorlage.Die Auswirkungen der „Agenda 2010“ die von der rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet.

Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, der Sozialstaat demontiert, eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht und auch der Mittelschicht deutlich gemacht hat, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. Damit reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab. Begleitet wird das Ganze von dem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen und wenn man sieht, dass der Staat überall ein Sicherheitsproblem entdeckt, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheitskräfte entschärft werden muss, dann wird die gefühlte Bedrohung real erlebt und nach dem noch stärkeren Staat gerufen.

Dabei ist es erforderlich, denen, die nichts mehr haben als strafender und disziplinierender Staat entgegen zu treten und den Menschen mit Abstiegsängsten sowie denen mit großen Vermögen einen starken Staat zu demonstrieren.

Dieser Prozess hat sich mittlerweile auch in die Kommunen verlagert.

Da ist es schon erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit eine einzelne Person, hier der Polizeipräsident Gregor Lange, gelernter Verfassungsschützer mit SPD-Parteibuch, eine „strategische Fahndung anordnet, bei der Personen ohne konkreten Verdacht angehalten, nach ihrer Identität zu befragt sowie Fahrzeuge und mitgeführte Sachen in Augenschein genommen werden können“. Betroffen ist der größte Teil der Innenstadt plus angrenzende Bereiche. Bereits im Sommer 2021 ordnete er in der Zeit von Mitte Juni bis Mitte Juli eine strategische Fahndung in der Dortmunder Nordstadt an. Grund dafür war eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen zwei größeren Personengruppen, bei der Molotowcocktails und „weitere gefährliche Gegenstände eingesetzt“ worden seien.  Durch „den konsequenten Kontrolldruck konnten weitere Auseinandersetzungen verhindert werden. Im Rahmen der 1.723 Personenkontrollen konnten Strukturen von handelnden Personen der Auseinandersetzung aufgehellt werden. Die Polizisten nahmen in der Nordstadt 21 Personen fest und fertigten 187 Strafanzeigen sowie 98 Ordnungswidrigkeitenanzeigen an“. Der Polizeipräsident weiter: „Nach einer langen Zeit der Einschränkungen freuen wir uns alle auf die wieder erlangte Freiheit. Wir werden alles daransetzen, dass diese herbeigesehnte Normalität nicht von Straftätern ausgenutzt wird. Wir werden so ein Verhalten nicht tolerieren. Deshalb habe ich die strategische Fahndung angeordnet, um all denen ein klares Signal zu senden, die hier Straftaten begehen wollen. Mit der Anordnung der strategischen Fahndung nehmen wir unseren Auftrag wahr, alle rechtlichen Maßnahmen auszuschöpfen um alle Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen“.

Die Neufassung des Polizeigesetzes NRW Ende 2018 ermöglicht es der Polizei, neue Wege bei der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität zu gehen. Es erlaubt die strategische Fahndung der Polizei nach § 12a PolG NRW – Polizeiliche Anhalte- und Sichtkontrollen (strategische Fahndung):

„(1) Die Polizei darf im öffentlichen Verkehrsraum

  • zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne des 8 Absatz 3 und zur Verhütung von terroristischen Straftaten nach § 8 Absatz 4,
  • zur Verhütung gewerbs- oder bandenmäßig begangener grenzüberschreitender Kriminalität oder
  • zur Unterbindung des unerlaubten Aufenthalts

Personen anhalten und befragen sowie die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen nach § 12 Absatz 2 treffen. Fahrzeuge und mitgeführte Sachen dürfen in Augenschein genommen werden. Die Polizei darf verlangen, dass mitgeführte Sachen sowie Fahrzeuge einschließlich an und in ihnen befindlicher Räume und Behältnisse geöffnet werden; im Übrigen ist die Durchsuchung von Personen, mitgeführten Sachen und Fahrzeugen unter den Voraussetzungen der §§ 39 und 40 zulässig.

Die Maßnahme ist nur zulässig, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass in diesem Gebiet Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen werden sollen und die Maßnahme zur Verhütung dieser Straftaten erforderlich und verhältnismäßig im Sinne von § 2 ist.

(2) Die Maßnahme ist schriftlich zu beantragen und bedarf der schriftlichen Anordnung durch die Behördenleitung oder deren Vertretung. Umfasst das festgelegte Gebiet die Zuständigkeit mehrerer Behörden, so trifft die Anordnung das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste. Die Anordnung ist zeitlich und örtlich auf den in Absatz 1 genannten Zweck zu beschränken. Sie darf die Dauer von 28 Tagen nicht überschreiten. Eine Verlängerung um jeweils bis zu weiteren 28 Tagen ist zulässig, soweit die Voraussetzungen für eine Anordnung weiterhin vorliegen…“

Verschärfung der Polizeigesetze

In fast allen Bundesländern wurden in den letzten 4 Jahren die Polizeigesetze verschärft. Man muss dies als ein politisches Handlungsziel sehen, dass die präventive Gefahrenabwehr, die in den Polizeigesetzen der Länder geregelt ist, nun auf der Bundesebene einheitlich gestaltet werden soll. Hatte man doch genau diese föderalen Strukturen deshalb aufgebaut, weil im deutschen Faschismus eine ungeheuer große zentralisierte Machtkonzentration geschaffen wurde, was man Ende der 1940er Jahre noch vermeiden wollte.

Heute wird wieder angestrebt, unter dem Deckmantel sich ähnelnder neuer Landespolizeigesetze und so mit einem faktisch bundesweiten Polizeigesetz eine neue Zentralisierung der Staatsmacht zu konstruieren.

Bei der Verschärfung der Polizeigesetze der Länder richtet sich das Hauptaugenmerk gar nicht so sehr auf die vorgebliche Strafverfolgung, die schon einheitlich in der Strafprozessordnung geregelt ist, sondern auf den Bereich der präventiven Gefahrenabwehr, die in neue Polizeigesetze gegossen, dann so etwas hervorbringt:

  • Das präventive Polizeirecht soll eine Gefahr schon dann abwehren, bevor der Schaden eintritt. Das kehrt den bisherigen Grundsatz um, dass ein Eingriff erst dann erfolgen darf, wenn eine konkrete Gefahrenlage vorliegt. Hier wird die Schwierigkeit entstehen, zu entscheiden, bei welchen Szenarien eine Gefahr droht und welche Maßnahmen gerechtfertigt sind.
  • Alle neuen Polizeigesetze haben sich die Vorfeldkategorie der drohenden Gefahr zu eigen gemacht und daran vielfältige Eingriffe wie Telefonüberwachung oder On-line-Durchsuchungen geknüpft. Hier steht die Quellen-Kommunikationsüberwachung (TKU) im Vordergrund, wobei die „Staatstrojaner“ direkt an der Quelle die Geräte beeinflussen. Gemeinsam mit der Online-Durchsuchung wird der Nutzer vollkommen durchleuchtet und man erhält ein allumfassendes Persönlichkeitsprofil.
  • Die Videoüberwachung ist ein weiteres, gemeinsames Element der neuen Gesetze, es sollen dabei nicht nur die bekannten Örtlichkeiten mit erhöhter Zahl an Straftaten überwacht werden, sondern auch solche Orte, bei denen nach der polizeilichen Prognose zukünftig erhöhte Straftatenzahlen erwartet werden können. Das gleiche Prinzip soll auch bei großflächigen, verdachtsunabhängigen Kontrollen angewandt werden, wenn abstrakt eine Erwartung bestimmter Straftaten besteht, dann sind auch ohne konkreten Verdacht Personen zu durchsuchen, eine typische Einfallstür für das Racial Profiling.
  • Die Strafprozessordnung legt fest, dass jemand, der eine Straftat begeht, nach einem Prozess von einem Gericht verurteilt wird. Das Polizeirecht aber fragt nicht nach Beweisen, sondern nach der Gefahrenlage. Die festgehaltene Person muss nicht wie bisher spätestens am Tag nach der Festsetzung den polizeilichen Gewahrsam verlassen, auch hier wird neuerdings das Prinzip der Präventivhaft eingeführt. In den einzelnen Bundesländern ist die Dauer dieser Haft unterschiedlich geregelt werden, benannt werden Haftzeiträume von einem bis zu drei Monaten.
  • Bisher war der Platzverweis die gängige Maßnahme, Menschen von einem bestimmten Ort zu entfernen. Das soll dahingehend umgekehrt werden, dass die Polizei ermächtigt wird, Personen dazu zu verdonnern, sich nicht von einem bestimmten Platz zu entfernen. Die Befugnisse gehen so weit, auch Kontaktverbote zu bestimmten Personen oder Gruppen auszusprechen. Dieser Hausarrest soll die Person von ihrem sozialen und politischen Umfeld isolieren, wenn nötig, auch mit der elektronischen Fußfessel.

Die neuen Polizeigesetze stärken die Befugnisse der Polizei ungemein, sie wird mit einer riesigen Machtfülle ausgestattet. Der einst positiv besetzte Begriff der Prävention bekommt nun eine ganz neue, unheimliche Bedeutung und die Zahl der Menschen, die in eine konfliktträchtige Konfrontation mit der Staatsmacht geraten, wird ansteigen.

Das Verhältnis zwischen Einwohnern und Polizei- und Ordnungskräften ist aber seit Jahren schon gelinde gesagt angespannt. Die Steigerung der Kosten für Personaleinsatz, für Auf- und Ausrüstung geht gleichzeitig mit einer Steigerung der Konfrontationszenen einher.

124 Straßen und Plätze in der Dortmunder Nordstadt gelten laut Polizei als „gefährliche und verrufene Orte“

Aus der Antwort der NRW-Landesregierung auf eine Anfrage aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass 124 Straßen und Plätze in der Dortmunder Nordstadt als „gefährliche und verrufene Orte“ gelten. Festgelegt wird diese Kennzeichnung von der jeweiligen örtlichen Polizeibehörde, im Fall Dortmund vom Polizeipräsidenten.

Für die Polizei ergeben sich durch diese Kennzeichnung einige Vorteile, so dürfen Polizisten dort vorbeugend gegen verdächtige Personen vorgehen. Nach Paragraf 12 des Polizeigesetzes NRW dürfen Polizisten auch die Identität von Personen feststellen, die sich an einem Ort aufhalten, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass

  • dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben,
  • sich dort Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen

oder sich dort gesuchte Straftäter verbergen.

Normalerweise braucht die Polizei einen Anlass, um Personen zu kontrollieren, z.B. weil sich diese verdächtig verhalten oder ihre Beschreibung zu einer gesuchten Person passt. Diese Voraussetzung fehlt aber an Orten, die als „gefährlich und verrufen“ gelten, und ein Zusammenhang mit der zu kontrollierenden Person unterstellt wird. Dass dies in der Dortmunder Nordstadt schon seit einem Jahr mit der Einführung des Instruments der „Strategischen Fahndung“ möglich ist, macht die Sache nicht besser, sondern verstärkt die Vorwürfe von Willkürmaßnahmen und „Racial Profiling“ noch weiter.

Für die Polizei ist die Einstufung von Straßen und Plätzen der Dortmunder Nordstadt als „gefährliche und verrufene Orte“ mit den damit erweiterten polizeilichen Möglichkeiten eine willkommene Gelegenheit, bei ihrer permanenten, öffentlichkeitswirksamen Präsentation sinkender Zahlen der Kriminalitätsstatistik in der Nordstadt zu glänzen. Sie meint sogar, schon mit der Identitätsfeststellung sei eine sehr umfangreiche Ermittlungsarbeit verbunden, bei der viele Akteure und Einheiten, beispielsweise die Ermittlungskommission Nordstadt, die Schwerpunktstaatsanwaltschaft und der polizeiliche Schwerpunktdienst Nord, viele Puzzleteile zusammentragen, Strukturen klären und schon im Vorfeld einer möglichen Straftat eingreifen können.

Wie das in der Praxis geschieht, zeigen die Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.

Einwohner unter Generalverdacht

Es wird immer mal wieder die seit Jahren schon ständige Präsenz der Ordnungskräfte im Alltagsbild der Nordstadt erhöht und zwar so, dass sich die Einwohner der Nordstadt ständig einschränken müssen und sich unter Beobachtung gestellt fühlen:

  • Die Nutzer des Nordmarktes müssen sich gefallen lassen, dass immer wieder Personenkontrollen bei ihnen durchgeführt werden, bei denen Einzelpersonen von bis zu 6 Ordnungskräften umringt sind, Befragungen ausgesetzt werden und Platzverweise bekommen. Als friedliche Nutzer der Sitzbänke, werden sie mal vom südlichen, mal vom westlichen Teil des Platzes verjagt und förmlich weg gehetzt. Ganze Teile des Nordmarktes werden ohne Grund geräumt, die Sitzbänke sind leer, nur so.
  • Demonstratives Befahren des Nordmarktes von Polizei und Ordnungsamt sind Alltag. Die sogenannten Problemgruppen werden auf Trapp gehalten. Der Nordmarkt als letzter Rückzugsraum soll für sie unattraktiv gemacht werden, ihr Unerwünscht sein überhaupt soll demonstriert werden.
  • Das Abriegeln ganzer Quartiere mit Personenkontrollen, keiner kommt rein, keiner geht raus, soll die Tatkraft der Ordnungskräfte unter Beweis stellen. Dazu gehört auch das martialische Auftreten von Polizei und Ordnungskräften und das öffentlichkeitswirksame Zelebrieren von Durchsuchungen mutmaßlicher Dealer. Hier werden elementare Grundrechte der Nordstadtbewohner verletzt.
  • Es gibt immer wieder Schwerpunkteinsätze der Ordnungs- und Polizeikräfte in der Nordstadt mit besonderem Fokus auf dem Nordmarkt und der näheren Umgebung. Als Grund dafür wird genannt, dass nach „überwiegend regelkonformen Verhalten“ der unterschiedlichen Nutzergruppen (Drogenkonsumenten, Alkohol trinkende Menschen, Zuwanderer aus Südosteuropa) sich das „Verhalten zunehmend verschlechtert“ hätte. Bei so viel Bemühen, um eine Verhaltensänderung herbei zu führen und die vollkommene Rückendeckung durch die Politik, schießen die Ordnungskräfte schnell über ihr gesetztes Ziel hinaus.
  • Da schaukeln sich Stresssituationen zwischen Ordnungskräften und alten Menschen hoch zu einem Katz- und Mausspiel, wie das Beispiel der 78 –jährigen Frau zeigt, der förmlich aufgelauert wurde, um ihr immer wieder Ordnungswidrigkeiten vorzuwerfen. Die Vorwürfe lauten: einen Hund verbotswidrig unangeleint ausgeführt zu haben. Geahndet wurde dieses Vergehen mehrfach: z.B. Kassenzeichen 5414301_ _ mit 48,50 Euro und Kassenzeichen 5450317_ _ mit 73,50 Euro. Ihr 16 Jahre alter Hund, alterserlahmt, war jedes Mal ohne Leine hinter der Frau her zu ihrer Stammsitzbank auf dem Spielplatz getrottet. Als sie das Tier einige Zeit später ordnungsgemäß angeleint auf dem Bürgersteig führte, wurde dem Hund vorgeworfen, einen Unfall verursacht zu haben und ihr ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 Euro – Kassenzeichen 2260055_ _- auferlegt. Der Grund: Sie hatte gegen die Ordnungsverfügung verstoßen, „ihren Hund mit mehr als der erlaubten 1,50 m Leinenlänge geführt zu haben, so dass der Hund ca. 3 Meter in Richtung Straße laufen konnte.“ Die Frau muss ihre kleine Altersrente mit der Grundsicherung aufstocken.
  • Um die angeblichen Regelverstöße auf dem Nordmarkt zu unterbinden, kann der Nordstadtbewohner beobachten, wie Ordnungskräfte mit Hinweis-Tafeln auf rumänisch und bulgarisch ausgestattet über den Platz laufen. Falls die Angesprochenen des Lesens nicht mächtig sind, zücken sie Piktogramm-Tafeln. Die Darstellung von sich in der Öffentlichkeit entleerenden Menschen ist entwürdigend.
  • Selbst auf den Bürgersteigen werden Platzverweise ausgesprochen. Die Personenansammlungen auf den Gehwegen der Mallinckrodtstraße wurden durch die Ordnungskräfte aufgelöst. Fußgänger aus den schrittfahrenden Bullis der Ordnungskräfte angesprochen und gemaßregelt und junge Migranten Personenkontrollen unterworfen, denen eine öffentlichkeitswirksame Körperdurchsuchung vorausging. Was hatten die Jugendlichen verbrochen? Sie sind schneller als üblich gegangen – also scheinbar geflüchtet.
  • Nachdem vor einigen Jahren schon die drogenabhängigen Menschen aus der Innenstadt verdrängt wurden und sich nicht mehr im öffentlichen Raum treffen können, da ihr letzter Treffpunkt auf dem Nordmarkt systematisch zerschlagen wurde, sind viele von ihnen völlig aus dem öffentlichen Bild verschwunden. Sie mussten sich dem Verfolgungsdruck beugen. Kommt es zu größeren Ansammlungen, wie manchmal auf dem Nordmarkt, dem Schleswiger Platz oder der Heroldwiese, wird sofort der Verfolgungsdruck wieder erhöht. Die Menschen sind dann den Drogenfahndern und Strafverfolgern mit den immer neuen Grundrechte einschränkenden Fahndungsmethoden, die das Betäubungsmittelgesetz und die Rechtsprechung mehr oder weniger bieten, ausgesetzt.
  • Schon seit einigen Jahren ist man in der Dortmunder Nordstadt nicht mehr im „Kampf den Drogen“, sondern kämpft jetzt angeblich gegen die Dealer und die Drogenkriminalität. Die Polizei will dem Drogenhandel in einem Verbund aus Bürgern, Stadt, Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei den Nährboden entziehen. Bei der Polizei wurden die verschiedenen Kommissariate und Einheiten besser vernetzt. Die Mitarbeiter der Wache Nord, der Schwerpunkteinheit Nordstadt, zivile Einsatztrupps und Beamte des Rauschgiftkommissariats, sowie Stadt und Polizei gehen gemeinsam vor und nutzen repressive Maßnahmen der Polizei parallel zu ordnungsrechtlichen-, baurechtlichen- und gewerberechtlichen Maßnahmen der Stadt.
  • Nach dem die Sperrbezirksverordnung seit Mai 2011 gilt, wurden Hunderte von Anzeigen gegen Prostituierte, die ihren Drogenkonsum so finanzieren müssen, ausgesprochen – einzelne Frauen erhielten mehr als 20 Anzeigen. Im Verbund mit typischen Drogendelikten wurden Frauen zu Haftstrafen von mehreren Monaten bis hin zu vier Jahren verurteilt. Im Durchschnitt sind rund 20 Frauen, die in der Nordstadt als Prostituierte arbeiten, inhaftiert.
  • Die praktische Handhabe des Betäubungsmittelgesetzes bietet den Strafverfolgern mittlerweile eine Vielzahl von erlaubten und nicht erlaubten Mitteln, wie Funkzellen-Auswertungen, elektronische Auswertung von Datenströmen, Trojanereinschleusung, Zugriff auf ausländische Server, Handy-Überwachungen, Bewegungsbilder, Wanzeneinsatz, Positionsbestimmung per GPS, IMSI-Catcher (Geräte zum Auslesen von Handys), Observationen, Innenraum-Überwachungen, heimliche Durchsuchungen, Strukturermittlungsverfahren, Video-Überwachungen, Finanzermittlungen, Verfallsanordnungen von Geld und Wertsachen, Einsatz von V-Leuten, vorgefertigte Sperrerklärungen zur Aktenunterdrückung und vieles mehr. Hierbei sind nicht mehr die Staatsanwälte und Richter die Herren des Verfahrens, sondern der Zoll und die Polizei. Bei ihren konspirativen Aktionen entziehen sie sich weitgehend der Kontrolle. Die „Bekämpfung der Drogenkriminalität“ rechtfertigt für sie all das, was sie machen und wie sie es machen.
  • Schon im Juni 2014 wurde bekannt, dass die Überwachung mit „stiller SMS“ erheblich zugenommen hat. Schon damals war Dortmund Spitzenreiter in NRW: Unglaubliche, knapp 30.000-mal wurde diese umstrittene Methode in Dortmund im Jahr 2013 angewandt – wie viele Handy- Anschlüsse damit erreicht wurden, liegt im Dunkeln. Weder das Innenministerium in Düsseldorf noch der Polizeipräsident in Dortmund äußern sich dazu. Die Partei Piraten in Dortmund geht nach einer großen Anfrage allerdings davon aus, dass vom Polizeipräsidium Dortmund vom 01.01. bis zum 20.03.2014 allein 20.512 „stille SMS“ entsandt wurden.
  • Die Stadtverwaltung ist sehr daran interessiert, dass innerhalb des Walls bzw. rund um die Konsummeile Hellweg Armut nicht sichtbar wird. Auch hier geht es um Vertreibung, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen. Damit dies ungestört gewährleistet ist, kommt es immer wieder vor, dass obdachlose Menschen mit einem Bußgeld überzogen werden. So geschehen zuletzt, als ein Mann an einem Kiosk am Wall übernachtete und von Mitarbeitern des Ordnungsamts aufgeweckt wurde. Man verpasste ihm ein Knöllchen wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht dem Mann eine Ersatzfreiheitsstrafe. Erst nach massivem öffentlichem Druck wurde diese Praxis eingestellt.
  • An einem Sommerabend gegen 21.00 Uhr taucht in der Münsterstraße in Höhe des „Nordpol“ ein bulliger junger Mann mit Hooligan-Outfit auf, wirft sich unvermittelt auf einen jungen schwarzen Mann und schlägt ihn zu Boden. Drei junge Leute mischen sich ein und wollen dem Überfallenen helfen. Da gibt der Angreifer sich als Zivilpolizist aus und eine junge Frau, die sich ebenfalls als Zivilpolizistin ausgibt, kommt dazu. Der junge Mann am Boden wird weiter geschlagen und dann verhaftet. Die drei jungen Leute, die dem Opfer helfen wollten, fahren zum Polizeipräsidium, um eine Anzeige gegen den Zivilpolizisten zu stellen. Während die Anzeige aufgenommen wird, klingelt das Telefon im Polizeipräsidium. Nach dem Telefonat wird dem jungen Mann vorgeworfen, sich in einen Konflikt zwischen dem schwarzen jungen Mann und den Zivilpolizisten eingemischt und versucht zu haben, den Verhafteten zu befreien. Es wurde Anzeige erstattet. Gegen den jungen Mann, der wegen Gefangenenbefreiung angezeigt war, wurde im November 2014 verhandelt. Er wurde freigesprochen. Der Richter und der Staatsanwalt lobten ihn noch für seine mutige und uneigennützige Hilfe für das Opfer dieser Polizeiaktion. Das Verfahren gegen den prügelnden Zivilpolizisten wurde schon vorher eingestellt!
  • In Anlehnung an das neue NRW-Polizeigesetz hat der Dortmunder Polizeipräsident aktuell auch weitergehende Videobeobachtungen in der Münsterstraße ins Spiel gebracht und dafür viel Beifall erhalten. Dem Polizeipräsidenten reicht das jedoch alles noch nicht, er droht: „Wir wollen weitere Verbesserungen für die Nordstadt erzielen und auf keinen Fall bei dem Erreichten stehen bleiben.“
  • Im Kampf gegen die „Clan-Kriminalität“ werden fragwürdige Durchsuchungen
    durch Polizei im Verbund mit Zoll, Ordnungs- und Gesundheitsbehörde durchgeführt. Kritiker weisen darauf hin, dass die Polizei hier eigentlich nicht tätig werden darf. Bei genau einer solchen Aktion soll ein Beamter eine schwangere Frau geschlagen, gewürgt und bedroht haben. Dieser Übergriff macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern die „Körperverletzung im Amt“ ein strukturelles Problem der Polizei geworden ist, die für den einzelnen Beamten meistens ohne Folgen bleibt, weil die Anzeigebereitschaft gering und Beweisführung bei dem Geschädigten schwerlich ist. Erstmalig konnten die Übergriffe, hier gegen die schwangere Frau, dokumentiert werden, was normalerweise für den Ausgang des Verfahrens ungeheuer wichtig ist. Geholfen hat der Frau das aber nicht, gegen den Schläger in Uniform wurde das Verfahren eingestellt.
Obdachlose Menschen geraten schnell in die Mühlen der Ordnungsbehörden

Das folgende Beispiel zeigt, dass sich am Vorgehen der Stadt Dortmund trotz vielfacher Proteste nichts geändert hat.

Seit Mitte Februar 2021 ist der Stadt Dortmund bekannt, dass obdachlose Menschen ein Lager an der Sporthalle Nord in der Nähe eines Städtischen Kindergartens eingerichtet haben. Da sich der Bereich, in dem das Lager errichtet wurde nicht im öffentlichen Raum befindet, konnte das Ordnungsamt keine weiteren Maßnahmen wie Platzverweise aussprechen oder gar eine Räumung durchsetzen, weil Maßnahmen nur über die Ausübung des Hausrechts (z.B. Hausverbote) durchgesetzt werden können. Weil die Durchsetzung von Hausverboten Polizeisache ist, wurde diese um Amtshilfe gebeten und sie sprach den dort angetroffenen campierenden Leuten Platzverweise aus. Die Entsorgung Dortmund wurde beauftragt die Folien, Matratzen, Decken und teilweise auch Lebensmittel als Müll zu verbringen. Die Maßnahme war jedoch nicht nachhaltig, schon einen Tag später wurden dort 3 Personen schlafend angetroffen. Die Stadt Dortmund forderte die Polizei erneut auf, Platzverweise inklusive Anzeigen auszusprechen und veranlasste, dort eine Absperrung durch Bauzäune anzubringen, um eine weitere Nutzung der Fläche zu verhindern.

Beim Umgang mit den „Problemgruppen“ klebt die Stadt Dortmund seit Jahrzehnten immer an dem gleichen Konzept, das eigentlich gar keins ist, denn mit ihren Ordnungskräften und der Polizei die marginalisierten, kriminalisierten und stigmatisierten Menschen immer nur zu vertreiben und ständig in Bewegung zu halten, jegliches Niederlassen und Ausruhen zu verhindern, ist schlicht nur widerwärtig.

Kontrollen der Einhaltung von Corona-Maßnahmen lassen Situationen eskalieren

Für ausgeschlafene Einwohner in der Stadt Dortmund ist es nichts neues und langjährige reale Praxis, dass obdachlose Menschen mit Ordnungswidrigkeiten drangsaliert werden und saftige Bußgelder zahlen müssen.

Im Rahmen der Kontrollen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus wurden obdachlose Menschen systematisch von Polizei und Angestellten des Ordnungsamtes, in fast immer in bis zu 10 Personen umfassenden Einsatztrupps von der Kaufmeile verjagt und mit Bußgeldern überzogen. Auf Ansprache reagieren die Einsatzkräfte äußerst gereizt bis aggressiv und verbieten unrechtmäßig Video- und Fotoaufnahmen von ihrem Handeln.

Widerstand gegen Übergriffe bzw. Rechtsmittel gegen Bußgelder einzulegen ist für die armen Betroffenen keine Lösungsmöglichkeit. Niemand wehrt sich gegen die Bußgelder und der Verwaltungsablauf nimmt schnell Fahrt auf. Die obdachlosen Menschen werden bei Nichtzahlung des Bußgeldes direkt von der Straße für Wochen, manchmal für Monate ins Gefängnis zur Erzwingung gebracht. In der Regel sind bei der Entlassung die Bußgelder noch nicht einmal abgesessen, sondern bestehen weiterhin und oben drauf drohen weitere Vollstreckungen und Gefängnisaufenthalte.

Das Vorgehen der Ordnungskräfte und Behörden im Rahmen der Kontrollen der „Corona- Maßnahmen“ gegen einen obdachlosen Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen ist und für das Treffen draußen mit Bekannten in die Mühlen der Ordnungsbehörden geriet, wurde kürzlich endlich einmal in größerer Öffentlichkeit diskutiert. Dies wurde allerdings erst dadurch möglich, dass das Amtsgericht Dortmund ein sensationelles Urteil fällte und die Erzwingungshaft gegen den Mann abgelehnt hatte.

Der Mann hatte im vergangenen Jahr vom Ordnungsamt mehrere Ordnungsgelder wegen Verstößen gegen die Coronaschutzverordnung und wegen Bettelns erhalten. In relativ kurzer Zeit kamen insgesamt 7.325 Euro plus Verfahrenskosten zusammen, aus insgesamt 17 Delikten, von jeweils 25 Euro bis zu 2.200 Euro Bußgeld. Als der Mann nicht zahlte, wollte die Stadt Dortmund ihn ins Gefängnis schicken, um ihn zur Zahlung zu zwingen. Die Behörde stellte Anträge auf Erzwingungshaft.

Die Anträge auf Erzwingungshaft hat das Amtsgericht Dortmund im Dezember 2021 abgelehnt und war in seiner Begründung klar und deutlich: „Sinn und Zweck der Erzwingungshaft ist es, einen Zahlungsunwilligen – nicht Unfähigen – zur Zahlung einer Geldbuße zu zwingen.“ Der Betroffene verfüge „über keinerlei Einkommen“ und „lebt ‚von der Hand in den Mund‘“. Es sei „nicht ersichtlich, inwieweit der Betroffene denn seine Lebensführung bei derart hohen Geldbußen und derart bescheidenen Lebensverhältnissen noch einschränken können soll.“

Das Gericht kritisierte auch die konkrete Vorgehensweise des Ordnungsamtes. Bei der Ahndung der Verstöße „ist das Bußgeld in schematischer Anwendung teilweise enorm erhöht worden, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200,00 Euro geführt hat. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden.“ Es sei aber „Sache der Bußgeldbehörde schon bei der Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben.“ Die Erzwingungshaft soll „ausdrücklich gerade nicht den Zahlungsunfähigen treffen“.

Das Gericht stellte explizit fest, dass eine Erzwingungshaft nicht als Ersatzfreiheitsstrafe missbraucht werden dürfe oder Gerichte das tun dürfen. Deshalb würden sich Rechtsdezernent und Rechtsamt gegenüber Obdachlosen rechtswidrig verhalten.

Kriminelle Personen, Gruppenstrukturen und Zusammenhänge entdecken

In der Kriminalitätsstatistik für die Nordstadt geht die Zahl der Straftaten kontinuierlich Jahr für Jahr zurück, sie haben den niedrigsten Stand seit vier Jahren erreicht. Gleichzeitig werden die ordnungspolitischen Maßnahmen im Stadtteil hochgefahren. Polizei und Ordnungskräfte sehen da einen seltsamen Zusammenhang. Sie meinen im Ernst, dass sie mit der ständigen Präsenz, kontinuierlichem Druckaufbau, Gängelung von „Problemgruppen“ und freiheitseinschränkenden Maßnahmen Straftaten verhindern würden. Die Strategische Fahndung, als vorläufiger Höhepunkt der umstrittenen Polizeiarbeit in der Stadt, so glaubt die Dortmunder Polizei, sei das Mittel überhaupt für das „Sinken der Kriminalitätszahlen und für ein deutlich verbessertes Sicherheitsgefühl der Bürger“.

Strafen im Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten

Anstelle des polizeilichen Eigenlobs sollte jedoch vielmehr das Strafen in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten gesetzt werden. Dann wird schnell deutlich, dass die Straftatenraten in der Stadt umso höher liegen, je größer die Einkommensunterschiede in der Stadtgesellschaft sind und arme Menschen immer härtere Strafen erfahren als reiche und schon für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren.

Die Versuche der zunehmend autoritär auftretenden Stadt, mit Polizei und Ordnungskräften die angeblich entstandenen Kontrollverluste mittels verschärften Strafrechts wieder herzustellen, führen in die Sackgasse. Um die Ruhe in der Stadt zu wahren, muss die Dosis immer wieder erhöht, die Überwachung noch umfassender, die Polizeigesetze verschärft und zur Durchsetzung des Gewaltmonopols weiter aufgerüstet werden.

Überlegt werden sollte, ob eine Lösung nicht in etwas Besserem als dem Strafrecht bestehen könnte. Es könnte beispielsweise eine frühe Konfliktlösung im und durch das soziale Umfeld von Schädigern und Geschädigten gesucht werden, die sich an Wiedergutmachung und Entschuldigung orientiert. Bekannt geworden ist das Konzept der „Restorativen Justice“ nach dem insbesondere das Opfer an der Suche nach alternativen Formen der Konfliktlösung beteiligt wird. Das Konzept könnte eine Alternative zu gängigen gerichtlichen Strafverfahren darstellen oder auch gesellschaftliche Initiativen außerhalb des Staatssystems entwickeln. Untersuchungen ergaben, dass dadurch der Rückfall reduziert und die Zufriedenheit der am Konflikt Beteiligten erhöht werden kann.

Bei der Alternative zur strafenden, autoritären Stadt muss es um eine Politik gehen, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss des einzelnen Menschen gerichtet ist. So eine Politik umzusetzen kommt im realen Neoliberalismus schon der Quadratur des Kreises gleich.

Quellen: Stadt Dortmund, WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, zeit-online, monitor.de, tagesspiegel.de
Bild: 123rf cco

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Literatur-Empfehlung: „Das Bestrafen der Armen“ Von Loïc Wacqant

Über die konkrete Lebenssituation armer Menschen in der Großstadt: In Dortmund sollte ein obdachloser Mann wegen 7.000 Euro Coronabußgelder inhaftiert werden

(Übernahme von Gewerkschaftsforum.de)

Die Auswirkungen der Reformen der „Agenda 2010“ die von der rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurden, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, der Sozialstaat demontiert, eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht hat und auch der Mittelschicht deutlich gemacht, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. Damit reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab.

Begleitet wird das Ganze von dem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen und wenn man sieht, dass der Staat überall ein Sicherheitsproblem entdeckt, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheits- und Ordnungskräfte entschärft werden muss, dann wird die gefühlte Bedrohung real erlebt und nach dem noch stärkeren Staat gerufen.

Dabei ist es erforderlich, denen, die nichts mehr haben, als strafender und disziplinierender Staat entgegen zu treten und den Menschen mit Abstiegsängsten und denjenigen mit großen Vermögen einen starken Staat zu demonstrieren.

Der Bereich in dem der strafende Staat schon seit Jahrzehnten eine besonders tragische Kontinuität an den Tag legt, ist die Ahndung von Bagatelldelikten, die von den ärmeren Menschen begangen werden. Seit den Maßnahmen gegen die Verbreitung des Conoronavirus ist in den großen Städten das aggressive Ausleben der strukturellen und personalen Gewalt von Behörden, Polizei und Ordnungskräften gegenüber armen Menschen bedrohlich angewachsen.

Im Rahmen von „Präsenz zeigen“ und „Null-Toleranz“ gegenüber der ärmeren Bevölkerung in der Stadt, boten die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus und die behördliche Kontrolle über deren Einhaltung, eine neue Gelegenheit, wer den Part von Koch und Kellner in der Kommune einnimmt. Für obdachlose Menschen ist die Rollenaufteilung schon lange grausige Realität

Gejagt von Polizei und Ordnungskräften

Die Menschen auf der Straße erleben hautnah die Ausgrenzung im öffentlichen Raum. Wer gezwungen ist, im Freien zu schlafen, wird aber immer wieder von warmen und relativ geschützten Plätzen vertrieben, weil man ihn dort nicht sehen will, aus Angst vor Geschäftsschädigung, insbesondere im Innenstadtbereich.

Die Stadt Dortmund ist sehr daran interessiert, dass innerhalb des Walls bzw. rund um die Konsummeile Hellweg Armut nicht sichtbar wird. Auch hier geht es um Vertreibung, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen. Damit dies ungestört gewährleistet ist, kommt es immer wieder vor, dass obdachlose Menschen mit einem Bußgeld überzogen werden. So geschehen zuletzt, als ein Mann an einem Kiosk am Wall übernachtete und von Mitarbeitern des Ordnungsamtes aufgeweckt wurde. Man verpasste ihm ein Knöllchen wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht dem Mann eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Dass dieses skandalöse Vorgehen nichts Neues ist, zeigen Zahlen aus dem Jahr 2017, in dem Jahr hat die Stadt Dortmund insgesamt 407 Verstöße gegen „Lagern, Campieren und Übernachten auf öffentlichen Plätzen“ ausgesprochen.

Das folgende Beispiel zeigt, dass sich am Vorgehen der Stadt Dortmund trotz vielfacher Proteste nichts geändert hat.

Seit Mitte Februar 2021 ist der Stadt Dortmund bekannt, dass obdachlose Menschen ein Lager an der Sporthalle Nord in der Nähe eines Städtischen Kindergartens eingerichtet haben. Da sich der Bereich, in dem das Lager errichtet wurde nicht im öffentlichen Raum befindet, konnte das Ordnungsamt keine weiteren Maßnahmen wie Platzverweise aussprechen oder gar eine Räumung durchsetzen, weil Maßnahmen nur über die Ausübung des Hausrechts (z.B. Hausverbote) durchgesetzt werden können. Weil die Durchsetzung von Hausverboten Polizeisache ist, wurde diese um Amtshilfe gebeten und sie sprach den dort angetroffenen campierenden Leuten Platzverweise aus. Die Entsorgung Dortmund wurde beauftragt die Folien, Matratzen, Decken und teilweise auch Lebensmittel als Müll zu verbringen.

Die Maßnahme war jedoch nicht nachhaltig, schon einen Tag später wurden dort 3 Personen schlafend angetroffen. Die Stadt Dortmund forderte die Polizei erneut auf, Platzverweise inklusive Anzeigen auszusprechen und veranlasste, dort eine Absperrung durch Bauzäune anzubringen, um eine weitere Nutzung der Fläche zu verhindern.

Beim Umgang mit den „Problemgruppen“ klebt die Stadt Dortmund seit Jahrzehnten immer an dem gleichen Konzept, das eigentlich gar keins ist, denn mit ihren Ordnungskräften und der Polizei die marginalisierten, kriminalisierten und stigmatisierten Menschen immer nur zu vertreiben und ständig in Bewegung zu halten, jegliches Niederlassen und Ausruhen zu verhindern, ist schlicht nur widerwärtig.

Kontrolle der Einhaltung von Corona- Maßnahmen lassen Situationen  eskalieren

Für ausgeschlafene Einwohner in der Stadt Dortmund ist es nichts neues und langjährige  reale Praxis, dass obdachlose Menschen mit Ordnungswidrigkeiten drangsaliert werden und saftige Bußgelder zahlen müssen.

Im Rahmen der Kontrollen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus wurden obdachlose Menschen systematisch von Polizei und Angestellten des Ordnungsamtes, in fast immer in bis zu 10 Personen umfassenden Einsatztrupps von der Kaufmeile verjagt und mit Bußgeldern überzogen. Auf Ansprache reagieren die Einsatzkräfte äußerst gereizt bis aggressiv und verbieten unrechtmäßig Video- und Fotoaufnahmen von ihrem Handeln.

Widerstand gegen Übergriffe bzw. Rechtsmittel gegen Bußgelder einzulegen ist für die armen Betroffenen keine Lösungsmöglichkeit. Niemand wehrt sich gegen die Bußgelder und der Verwaltungsablauf nimmt schnell Fahrt auf. Die obdachlosen Menschen werden bei Nichtzahlung des Bußgeldes direkt von der Straße für Wochen, manchmal für Monate ins Gefängnis zur Erzwingung gebracht. In der Regel sind bei der Entlassung die Bußgelder noch nicht einmal abgesessen, sondern bestehen weiterhin und oben drauf drohen weitere Vollstreckungen und Gefängnisaufenthalte.

Das Vorgehen der Ordnungskräfte und Behörden im Rahmen der Kontrollen der „Corona- Maßnahmen“ gegen einen obdachlosen Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen ist und für das Treffen draußen mit Bekannten in die Mühlen der Ordnungsbehörden geriet, wurde kürzlich endlich einmal in größerer Öffentlichkeit diskutiert. Dies wurde allerdings erst dadurch möglich, dass das Amtsgericht Dortmund ein sensationelles Urteil fällte und die Erzwingungshaft gegen den Mann abgelehnt hatte.

Vorgehen der Ordnungsbehörde

Der Mann hatte im vergangenen Jahr vom Ordnungsamt mehrere Ordnungsgelder wegen Verstöße gegen die Coronaschutzverordnung und wegen Bettelns erhalten. In relativ kurzer Zeit kamen insgesamt 7.325 Euro plus Verfahrenskosten zusammen, aus insgesamt 17 Delikten, von jeweils 25 Euro bis zu 2.200 Euro Bußgeld. Als der Mann nicht zahlte, wollte die Stadt Dortmund ihn ins Gefängnis schicken, um ihn zur Zahlung zu zwingen. Die Behörde stellte Anträge auf Erzwingungshaft.

Amtsgericht Dortmund lehnt Erzwingungshaft ab

Die Anträge auf Erzwingungshaft hat das Amtsgericht Dortmund im Dezember 2021 abgelehnt und war in seiner Begründung klar und deutlich: „Sinn und Zweck der Erzwingungshaft ist es, einen Zahlungsunwilligen – nicht Unfähigen – zur Zahlung einer Geldbuße zu zwingen.“ Der Betroffene verfüge „über keinerlei Einkommen“ und „lebt ‚von der Hand in den Mund‘“. Es sei „nicht ersichtlich, inwieweit der Betroffene denn seine Lebensführung bei derart hohen Geldbußen und derart bescheidenen Lebensverhältnissen noch einschränken können soll.“

Das Gericht kritisierte auch die  konkrete Vorgehensweise des Ordnungsamtes. Bei der Ahndung der Verstöße „ist das Bußgeld in schematischer Anwendung teilweise enorm erhöht worden, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200,00 € geführt hat. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden.“ Es sei aber „Sache der Bußgeldbehörde schon bei der Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben.“ Die Erzwingungshaft soll „ausdrücklich gerade nicht den Zahlungsunfähigen treffen“.

Das Gericht stellte explizit fest, dass eine Erzwingungshaft nicht als Ersatzfreiheitsstrafe missbraucht werden dürfe oder als Gerichte das tun dürfen. Deshalb würden sich Rechtsdezernent und Rechtsamt gegenüber Obdachlosen rechtswidrig verhalten.

 ———————

Das Urteil
Amtsgericht Dortmund

 Ausfertigung

730 OWi 237/21 [b]

Der Betroffene ist drogenabhängiger und obdachloser Rollstuhlfahrer.

718551_original_R_by_FotoHiero_pixelio.de

Armut. Foto/Quelle: FotoHiero via Pixelio.de

Die Stadt Dortmund hat in verschiedenen Verfahren gegen den Betroffenen  Bußgelder in Höhe von insgesamt 7.325,00 € zuzüglich Verfahrenskosten festgesetzt, die sich im Einzelnen wie folgt ergeben:

AZ                                      Betrag in €

730 Owi 224/21(b)     –   25

730 Owi 225/21(b)     –  200

730 Owi 226/21(b)     –   400

730 Owi 227/21(b)     –   800

730 Owi 228/21(b)     –   1.400

730 Owi 229/21(b)     –   75

730 Owi 230/21(b)     –   2.200

730 Owi 231/21(b)     –  100

730 Owi 232/21(b)     –  250

730 Owi 233/21(b)     –  50

730 Owi 234/21(b)     –  1.400

730 Owi 235/21(b)     –  25

730 Owi 236/21(b)     –  50

730 Owi 237/21(b)     –  75

730 Owi 238/21(b)     –  75

730 Owi 239/21(b)     – 100

730 Owi 240/21(b)     –  100

Summe:                  7.325,00

—————————————–

Nachdem der Betroffene diese Bußgelder nicht bezahlt hat, begehrt die Stadt Dortmund die Festsetzung von Erzwingungshaft gegen den Betroffenen für sämtliche Bußgelder.

II.

Die Anträge auf Anordnung von Erzwingungshaft sind überwiegend unbegründet.

Denn der Betroffene ist zahlungsunfähig hinsichtlich der festgesetzten Bußgelder, die sich teils in enormen Höhen bewegen. Erzwingungshaft kann gern. § 96 Abs.1 Nr.4 OWiG ausdrücklich dann nicht angeordnet werden, wenn Umstände bekannt sind, die Zahlungsunfähigkeit des Betroffenen ergeben.

Solche Umstände sind hier aktenkundig.

Sinn und Zweck der Erzwingungshaft ist es, einen Zahlungsunwilligen – nicht Unfähigen –  zur Zahlung der Geldbuße zu zwingen. In diesem Zusammenhang sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Betroffenen, seine Verbindlichkeiten, seine Arbeitsfähigkeit und die Höhe der Geldbuße zu berücksichtigen.

Von Zahlungsunfähigkeit ist insbesondere bei Betroffenen auszugehen, die nur über das Existenzminimum verfügen, kein verwertbares Vermögen besitzen und im Blick auf Alter, Ausbildung, Gesundheitszustand oder Arbeitsmarktlage kein oder kein höheres Einkommen erzielen können (vgl. zum Ganzen für viele Göhler, OWiG 16. Auflage, § 96 Rdn 13).

Dementsprechend ist allgemein anerkannt, dass Sozialhilfeempfänger, die in absehbarer Zeit nicht mit der Erlangung einer Arbeitsstelle rechnen können, als zahlungsunfähig anzusehen sind (vgl. OLG Hamm,  Beschluss vom 29. November 1990 -Az.: 3Ws739/89).

Der Betroffene verfügt nach den aktenkundigen Feststellungen über keinerlei Einkommen – auch nicht ALG II – oder Vermögen. Zudem liegen auch noch vorrangige Pfändungen gegen den Betroffenen vor. Die Bußgelder resultieren zum größten Teil daher, dass sich der Betroffene im Trinkermillieu zum Biertrinken in der Öffentlichkeit getroffen hat und die Stadt Dortmund insoweit wiederholt wegen Verstoßes gegen die Coronaschutzverordnung Bußgelder verhängt hat. Dabei ist das Bußgeld in schematischer Anwendung teilweise enorm erhöht worden, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200,00 € geführt hat. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden.

Wie der Betroffene bei Zahlung der festgesetzten Geldbußen auch nur noch annähernd seinen Lebensunterhalt bestreiten können bzw. wie er überhaupt nur ansatzweise in der Lage sein soll, die festgesetzten Geldbußen zu zahlen, ist nicht ersichtlich. Da er obdachlos und drogenabhängig ist und im Rollstuhl sitzt, ist auch unerfindlich, wie sich an dieser Situation etwas ändern soll. Der Betroffene lebt von „der Hand in den Mund“ – teilweise wurden Bußgelder wegen „Bettelns“ festgesetzt – so dass er selbst die geringeren Geldbußen nicht bezahlen können wird, ohne seinen Lebensunterhalt zu gefährden.

Soweit die Verwaltungsbehörde argumentiert, dass auch vermögenslose Personen ,,unter Einschränkung ihrer Lebensführung die notwendigen Mittel“ aufbringen sollen, damit sie sich nicht sanktionslos über Ordnungswidrigkeit hinwegsetzen können sollen, ändert dies nichts an der Zahlungsunfähigkeit des Betroffenen. Auch ist nicht ersichtlich, inwieweit der Betroffene denn seine Lebensführung bei derart hohen Geldbußen und derart bescheidenen Lebensverhältnissen noch einschränken können soll. Insoweit wäre es Sache der Bußgeldbehörde schon bei Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben. Die Erzwingungshaft soll lediglich den Willen eines zahlungsunwilligen Betroffenen beugen, aber ausdrücklich gerade nicht den Zahlungsunfähigen treffen. Im Gegensatz zur Ersatzfreiheitsstrafe im Strafrecht ist die Erzwingungshaft gerade nicht ersatzweises Übel für die begangenen Ordnungswidrigkeiten  (vgL viele Göhler, OWiG, 16. Auflage, 96 Rdn. 1).

Dortmund, 08.12.2021 Amtsgericht

Dröge

Richter am Amtsgericht

Ausgefertigt

Cavus, Justizsekretärin

Als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

 

——————————

Die Stadt Dortmund reagiert auf das Urteil, wie gewohnt bockig, ohne Empathie und säuerlich

Eine Anfrage der örtlichen Presse an die Stadt Dortmund wurde erst elf Tagen später beantwortet. Stadtsprecher Maximilian Löchter teilte der Redaktion mit, (Quelle: WAZ vom 21.01.2022) „aus datenschutzrechtlichen Gründen können wird keine Informationen bezüglich eines konkreten Bußgeldverfahrens mitteilen“. Die Anordnung einer Erzwingungshaft sei grundsätzlich auch bei „vermögenslosen Personen“ möglich. Es sei zu prüfen, ob jemand tatsächlich zahlungsunfähig oder nur zahlungsunwillig ist. „Nach der ständigen Rechtsprechung des Landegerichts Dortmund ist in der Regel zumindest die Begleichung der Bußgeldforderung in monatlichen Raten zumutbar, um sich im Ergebnis nicht sanktionslos über Ordnungswidrigkeitentatbestände hinwegsetzen zu können“.

Amnestie aller Bußgelder gegen wohnungs- und obdachlose Menschen

Es wird höchste Zeit, dass die Stadt Dortmund generell ihre Ordnungspolitik gegenüber  armen Menschen überdenkt.
Die Entscheidung des Amtsgerichts Dortmund könnte Anlass für konkrete Verbesserungen im Umgang der Behörden mit diesen Menschen sein und die Bußgelddrangsalierung gegen wohnungs- und obdachlose Menschen sofort zu beenden.

Der erste Schritt sollte eine Amnestie aller Bußgelder gegen diesen Personenkreis sein!

Ende des Beitrags vom Gewerkschaftsforum.

„Eine deutliche gerichtliche Klatsche für die Stadt Dortmund hat heute (25. Januar 2022) im Sozialausschuss ein politisches Nachspiel“, schreibt Nordstadtblogger.de. Und weiter: „Die Vertreter:innen mehrerer Parteien wollen wissen, wieso die Stadt Erzwingungshaft zur Durchsetzung von Geldstrafen gegen einen Obdachlosen verhängen lassen wollte, die dieser u.a. wegen Bettelns bekommen hatte – und diese nicht bezahlen konnte. Die Reaktionen aus der Zivilgesellschaft waren und sind heftig – und die Politik will, dass sich die Stadtverwaltung nun erklärt.“

Nordstadtblogger: „Die Fraktion „Die Linke+“ wartet nicht erst die Bewertung ab, sondern spricht von einem handfesten Skandal im Umgang mit Obdachlosen in der Stadt Dortmund: „Ich bin fassungslos. Schlechter hätte das Jahr politisch gar nicht starten können“, betont Fatma Karacakurtoglu, sozialpolitische Sprecherin der Ratsfraktion.

Sie macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass das Amtsgericht sogar explizit festgestellt habe, dass eine Erzwingungshaft nicht als Ersatzfreiheitsstrafe missbraucht werden dürfe. „Oder schärfer ausgedrückt, als Gerichte das tun dürfen: Rechtsdezernent und Rechtsamt verhalten sich gegenüber Obdachlosen rechtswidrig. Dieses Verhalten der Stadt wird Die Linke+ in der nächsten Ratssitzung thematisieren.

Es sei skandalös, wie in Dortmund immer noch mit den Schwächsten der Gesellschaft umgegangen werde. Das müsse endlich aufhören. Die Stadt Dortmund habe eine Verantwortung für jeden Menschen, der hier lebt. Deshalb müsste es die Aufgabe von städtischen Mitarbeitern sein, Obdachlosen zu helfen statt sie zu gängeln. Ihnen Strafzettel in insgesamt unrealistischer Höhe zu verpassen, das sei abartig, so Karacakurtoglu. (…) Eine solidarische Gemeinschaft dürfe jedenfalls keinen Menschen allein lassen. Auch wenn dieser möglicherweise nicht in das gängige Bild des Ordnungsamtes von Sauberkeit und Ordnung passe, fasst Fatma Karacakurtoglu zusammen.“

Quellen: WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, zeit-online, monitor.de, Stadt Dortmund, Amtsgericht Dortmund

Zuerst erschienen auf gewerkschaftsforum.de

Laurenz Nurk, besten Dank für die Überlassung des Beitrags.