Abgeschleppt. „Bist du verrückt? Das sind ja Russen!“

Vorwort

Es war einmal. In den 1980er Jahren der DDR…

Unsere Besatzungsmacht war die UdSSR. Während die Besatzungsmächte in Westdeutschland USA, Großbritannien und Frankreich hießen. Was meine Heimatstadt Halle an der Saale anbelangt, so war sie zunächst von amerikanischen Truppen besetzt worden. Perladesa informiert: Dass die Sowjetunion des Josef Stalin schon bald Halle/Saale übernehmen würde, soll schon vor Kriegsende zwischen den Alliierten ausgehandelt worden sein. Im Juli 1945 rückte dann die 8. Gardearmee der Roten Armee, die als 62. Armee Stalingrad verteidigt hatte, in die Stadt Halle ein.

Die „Russen“. Das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zu ihnen war durchaus ambivalent

Ich wurde also unter Besatzung der UdSSR groß. Die „Russen“ wie es im Volksmund immer pauschal hieß, bekam man – was Soldaten anging – nur in jeweils von einem Offizier geführten Gruppen zu Gesicht. Einzeln konnten sie nicht in Ausgang gehen. Ansonsten galten sie manches Mal als Ärgernis. Etwa wenn sie mit ihren Panzern durch unsere Straße rumpelten. Deren Ketten hinterließen kräftige Spuren auf dem Asphalt. Oder zerknackten die Betonplatten, in welchen die Straßenbahnschienen verliefen, in Stücke. Manche Leute schimpften: „Da waren wohl die «Freunde« wieder unterwegs.“ Ein anderes Wort für die sowjetischen Besatzer. Schließlich waren sie unsere Freunde, weil sie uns befreit hatten. Propagandistisch verordnet wurde das an allen Ecken und Enden der DDR mittels Plakaten verkündet: „Die Freundschaft mit der Sowjetunion ist unverbrüchlich“.

Die Stimmung in der DDR-Bevölkerung gegenüber den «Russen« durchaus ambivalent. Manche Leute hassten sie, anderen wiederum waren sie gleichgültig. Aber es gab ihnen bzw. der Sowjetunion gegenüber durchaus auch freundschaftliche Gefühle. Vor allem, wenn man sowjetische Menschen persönlich kennengelernt hatte. Zuweilen rauschten auch Lkws, vollbesetzt mit sowjetischen Soldaten durch die Stadt. Oft winkten sie den Passanten freundlich zu. Es wurde ihnen auch ebenso freundlich zurück gewunken. Nicht selten raunten Passanten dann: „Sind ja arme Schweine, die Soldaten.“ Sicher, das Soldatendasein dieser Männer, die aus allen möglichen Sowjetrepubliken – tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt – stammten, dürfte gewiss kein Zuckerschlecken gewesen sein. Aus späteren Gesprächen mit Sowjetsoldaten hörte ich jedenfalls heraus, dass sie durchaus sehr gern in der DDR waren. Angeblich bekamen sie 15 Mark pro Monat zur eigenen Verfügung. Sie sagten mir, es gebe durchaus Orte und Kasernen – auch im Inneren der UdSSR – in denen das Soldatenleben viel schlechter und weitaus beschwerlicher sei.

Die Sowjetarmee und die Kultur

Ansonsten traten in der DDR Kulturensemble, Orchester, Bands und einzelne Künstlerinnen und Künstler der Sowjetarmee immer wieder in öffentlichen Veranstaltungen auf.

Dass das Kulturleben in Halle nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auflebte, hat nicht zuletzt auch mit Wladimir Gall zu tun. Aus Mitteldeutsche Zeitung: «An einem Abend im Spätherbst 1947 begann alles: Gall war von den sowjetischen Truppen als Kulturoffizier in Halle eingesetzt worden. Blutjung war er damals, sprach fließend deutsch, liebte Goethe – und vor allem Halle. „Andere Kinder in meiner Klasse träumten von der Südsee, ich träumte von Halle“, erinnert sich der heute 87-Jährige. An seinem Namen lag das, denn: „Gall bedeutet so viel wie Halle.“ « Die Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Abschied von Wladimir Gall“

Haben wir denn rein gar nichts aus unserer Geschichte gelernt?

Warum schreibe ich das? Heute sind die Beziehungen Deutschlands zu Russland auf einen Tiefpunkt gebracht worden. Angefangen hatte das schon vor dem Ukrainekrieg. Wenn heute über Russen gesprochen wird, dann allzu oft als «RuZZen«. Verächtlich in den sozialen Netzwerken, besonders dort, wo sich woke Grüne tummeln, die offenbar völlig von Sinnen, Russen und Putin Nazis nennen. Und fast wieder in einem Ton, wie er in Hitlerdeutschland üblich gewesen war. Vor allem unsere Medien machen eine Propaganda gegen die Russische Föderation, die, weil voller Hetze, immer unerträglicher wird. Was nicht heißen soll, dass man den völkerrechtwidrigen Ukrainekrieg Russlands, rechtfertigen soll. Aber man darf immerhin fragen: Haben wir denn rein gar nichts aus unserer Geschichte gelernt? Zumal wieder einmal deutsche Leopard-Panzer mit dem Kreuz darauf in die Ukraine

rollen …

Auf der Strecke geblieben

… Nächtens auf der Fernverkehrsstraße 100 (heute B 100) gegen Viertel zwölf Uhr abends. Ich war zusammen mit meinen Kollegen der Beleuchtungsabteilung in meinem Wartburg 311 unterwegs auf dem Heimweg vom Kulturpalast Bitterfeld – wo wir eine Abstechervorstellung unseres Theater betreut hatten – zurück nach Halle an der Saale. Leichter Regen fiel. Wir hatten etwas mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns, als die alte Kiste verreckte. Den Wartburg in der fürchterlichen Farbe kackbraun hatte mir ein Mitarbeiter unseres Malsaals aufgeschwatzt. Und ich hatte ihn mir aufschwatzen lassen. Als Dreingabe erhielt einen Satz Räder. Ich habe sie nie benötigt. Des Weiteren etliche Dosen Kfz-Farbe – Grün! Ich habe den Wagen nie neu lackieren lassen.

Foto: LutzBruno Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert. Via Wikipedia.

Ich startete den Wagen neu. Nichts. Der Motor sprang nicht an. Auch weitere Startversuche blieben erfolglos. Also: Warnblinkanlage an und Motorhaube auf. Ich überprüfte die Zündkerzen. Den Ölstand etc. Sprit war auch genügend da. Nichts. Der Motor wollte nicht anspringen. Was machen? Zur nächsten Tankstelle laufen? Irgendwo telefonieren? Ich weiß gar nicht mehr, ob es auf der F 100 Rufsäulen gab wie auf der Autobahn. Die Kollegen machten lange Gesichter. Sie hatten gehofft mit mir schneller zu sein als der Bus vom VEB Kraftverkehr Halle, welcher stets vom Theater für die Rückfahrt bestellt wurde. Hinzu transportierte er die Künstler, die Requisite, die Maske, die Ankleiderinnen usw. Zurück die Künstler, Bühnentechniker und Beleuchter.

Nun mitten auf der Strecke im Regen dürften meine Kollege es bereut haben mit mir gefahren zu sein. Nun sahen sie ihre Felle wegschwimmen. Sie fürchten nun viel später als der Bus in Halle anzukommen. Die Kollegen zuppelten hier und an diversen Kabeln herum – aber einen Fehler fanden auch sie nicht. Mit guten Ratschlägen sparten sie nicht. Schließlich schlugen sie vor, den Wartburg anzuschieben. Sie schwitzten, keuchten und fluchten. Nichts davon nutzte. Ich stellte das Warndreieck auf.

An sich war der Abstecher wirklich gut gelaufen. In der Arbeitspause nach dem beleuchtungstechnischen Einrichten – die Umsetzung der halleschen Lichtstimmungen auf die Bitterfelder Anlage – der Vorstellung am Nachmittag, war ich in die dem Kulturpalast direkt benachbarte Schwimmhalle gegangen und hatte meine Runden gedreht. Mit den Kollegen und unserem Meister ging ich in dieser Pause damals schon länger nicht mehr zusammen außerhalb in eine Kneipe. Deren oft blödsinniges Gequatsche – erst recht das arrogante Gesäusel des von sich sehr eingenommen Meisters! – ging mir einfach auf den Senkel. Vor der Vorstellung fanden wir uns allerdings quasi traditionell wie immer Kulturpalast-Restaurant ein. Sie hatten eine gute Speisekarte. Meist aßen wir Zigeunersteak (darf man das überhaupt noch schreiben?). Das Mahl war stets lecker. Dazu Bier …

Nun war guter Rat teuer! Ich versuchte noch einmal zu starten. Vergeblich. Also beschlossen wir einen anderen Wagen anzuhalten, der uns vielleicht abschleppen würde. Doch entweder rauschten ein paar Autos – mein Winken ignorierend – an uns vorbei oder es kam zu dieser späten Zeit kein Wagen mehr.

Die Kollegen rauchten im Innern des Wagens. Endlich sah ich ein Scheinwerferpaar in der Ferne! Ich stellte mich hinter meinen Wartburg und winkte. Tatsächlich schien der Wagen halten zu wollen. Und ja: er fuhr langsam rechts heran. Es war ein Lkw. Als sich mich ihm näherte, sah ich, dass es ein Pritschenwagen mit Plane der Marke Sil handelte. Als der Beifahrer seine Tür öffnete, sah ich das runde, rotweiße Emblem mit den kyrillischen Buchstaben CA. Der Sil stellte sich also als Militärfahrzeug heraus. Eines der Sowjetarmee.

Ich radebrechte mit dem Beifahrer, einem Offizier recht und schlecht auf Russisch. Wir hatten zwar in Schule ab der fünften Klasse Russischunterricht gehabt, doch davon war bei mir wenig hängen geblieben. Da kam mir ein Kollege aufgeregt entgegen und zog mich beiseite und zischte mir ins Ohr: „Bist du verrückt? Das sind ja Russen!“

Ich zischte zurück: „Na und? Wie lange willst du hier noch stehen?“

Der sowjetische Offizier winkte mir. Und macht mir ein Zeichen. Ich verstand. Und holte mein Abschleppseil aus dem Wartburg. In der Zwischenzeit fuhr der Armeelastkraftwagen an, überholte meinen Pkw und setzte sich vor ihn.

Der Kollege, der mich angesprochen hatte, blies den Rauch seiner Zigarette trotzig in die Luft, trat die Kippe aus und schüttelte mit den Kopf.

Die zwei anderen Kollegen, die die angelaufenen Fenster mit der Hand frei gewischt hatten, guckten besorgt, aber auch neugierig durch das so entstandene Guckloch.

Auf der Senderstation während der Armeezeit

Ich war nicht beunruhigt. Schließlich hatte ich noch nie schlechte Erfahrungen mit russischen Soldaten gemacht. Während meines 18-monatigen Dienstes bei der Nationalen Volksarmee musste ich aller paar Wochen als Senderwart jeweils für eine Woche auf einen Sonderposten außerhalb der Kaserne. Mit einem Kameraden zusammen als Senderwache. Unsere Nachbarn waren Sowjetsoldaten aus einer dem alten Flugplatz nahegelegenen Kaserne. Sicher war uns der Kontakt zu ihnen nicht erlaubt, obwohl sie doch von den „Freunden“ – wie es stets hieß – waren. Aber es kam dennoch öfters zu Kontakten. Einmal verkaufte mir ein junger Soldat, der aus Kasan stammte, eine ganz gute sowjetische Armbanduhr. Später schenkte ich sie meiner Mutter. Andere Geschenke der „Russen“ waren sowjetische Abzeichen oder Kokarden. Einmal tauschten wir unsere NVA-Kokarden mit den sowjetischen und fuhren so später in unsere Kaserne zurück. Der Torwache fiel das nicht einmal auf.

Den unserer Senderstation benachbarten einfachen Sowjetsoldaten schenkten wir „Zwei vom Sender“ schon ab und an ein paar Flaschen Bier. Die sie heimlich austranken. Die brachte uns der Einsatzfahrer zusammen mit dem Essen, das er täglich von der Kaserne zu uns transportierte in seinem G 5 mit. Was natürlich verboten war. Ein paar Mal hatten wir kein Bier. Da ging ich in das nächste Dorf mit meiner großen schwarzen Tasche und holte dort im Konsum so viel Flaschen, wie da hinein passten. Fast der Inhalt eines Kastens. Der in der Station zurückgebliebene Kamerad musste dann, wenn von der Kaserne jemand anrief, eine Ausrede erfinden, um zu erklären, warum ich nicht anwesend war, wenn der Offizier verlangt hätte mich zu sprechen. Und wie es der Teufel wollte: Einmal geschah das tatsächlich. Ich war gerade ein paar Minuten aus dem Haus! Der Kamerad log, ich sei in der Badewanne. Ja, wir hatten von unserer Station, die sich am Ende eines einstigen Flugplatzes der Firma Juncker befand, etwa 30 Meter entfernt ein kleines Bad! Mit warmem Wasser sogar. Erhitzt musste es durch einen Badeofen werden, welcher vorher mit Kohle anzuheizen war. Der Oberleutnant, der angerufen hatte, nahm die Geschichte ab! Bis heute glaube ich, dass er in Wirklichkeit Lunte gerochen hatte, aber sozusagen beide Augen zudrückte. Wenn das anders gelaufen wäre, hätte mich das in die Militärstrafanstalt Schwedt bringen können!

Der „Pfiffikus“ und die Benzindusche

Später als Elektriker im Dienste der Energieversorgung Halle hatten wir ab und zu in einer großen Kaserne der Sowjetarmee zu tun, in die wir zu fahren hatten, wenn es dort ein größeres Problem mit der Elektrik gab. Die kleinen Reparaturen übernahm ein älterer deutscher Zivilangestellte. Der war schon Rentner. Er erzählte uns, dass er bereits früher gegen Ende der Hitler-Zeit dort gearbeitet hatte. Sie ließen ihn einfach nicht gehen, weil er die Kaserne und die elektrischen Anlagen wie seine eigene Westentasche kannte. Brauchte er Hilfe, kommandierte man ihm einen Trupp Soldaten ab und unterstellte sie dem Kasernenelektriker.

Wir hatten aber mit der Kaserne auch von außerhalb zu schaffen. Ein älterer Kollege von uns – ein wahrer Pfiffikus im Organisieren von jeglichem Brauchbaren – hatte Beziehungen zu bestimmten Wachposten der Sowjetarmee aufgenommen. Sie schritten innerhalb der Kaserne die Mauer ab. Wir fuhren also mit unserem Wagen von der anderen Seite an die Mauer heran. Unser Pfiffikus stieg auf unseren Wagen und machte den Soldaten ein Zeichen. Über diesen Kontakt kamen wir an billigen Sprit heran. Die Soldaten reichten uns 20-Liter-Plastekanister über die Mauer. Einmal war ich dran, diesen Kanister anzunehmen. Das Gewicht hatte es in sich. Ich hatte Schwierigkeiten das Behältnis anzunehmen. Ich kippelte leicht. Da schwappte mir ein Schwall Benzin über den Kopf! Ein Glück, dass niemand meiner Kollegen rauchte! Die Ursache für die Benzindusche: Der Kanister hatte keinen Verschluss! Aber alles ging gut. Wir füllten das Benzin in unsere normalen metallenen Benzinkanister um und gaben den Kanister wieder zurück über die Mauer. Auf diese Weise hatten die Kollegen immer einmal eine Ration Benzin für ihren Trabant für kleines Geld. Und ich für mein Moped der Marke „Star“. Die Sowjetsoldaten erhielten im Tausch etwas Geld, für die sich im Magasin Zigaretten kaufen konnten …

Gen Halle!

Nachdem ich mein Abschleppseil an der dafür vorgesehenen Öse an meinem Wartburg befestigt hatte, hatte auch der Fahrer des Sil, ein einfacher Soldat, das andere Ende an der Kupplung an der Rückseite des Lkw befestigt. Ich machte ihm klar, er sollte schön langsam anfahren, bis das Seil straff sein würde. Und dann auf mein mit der Lichthupe gegebenes Signal langsam anfahren. Es regnete nach wie vor. Der Soldat fuhr tatsächlich vorsichtig an. Das klappte hervorragend! Ich nahm den Fuß von der Bremse und wir fuhren an. Wir rollten gen Halle! Die bislang immer noch besorgt dreingeblickt habenden Kollegen entspannten sich etwas und zündeten Zigaretten. Na, also, dachte ich! Dann aber passierte es: Der Militärtransporter hatte kurz abgebremst. Der Chauffeur hatte wohl gekuppelt und einen höheren Gang eingelegt. Das Seil wurde ein wenig schlaff. Ehe ich mich versah, machte der Lkw ein Satz nach vorne. Der Fahrer musste Gas gegeben haben. Zuviel. Dann fiel er wieder ein Stück zurück. Ich versuchte leicht abbremsend auszugleichen. Doch dann machte der Lkw ein noch heftigeren Satz nach vorn und das Abschleppseil löste sich, durch die Luft flippend, vom Lkw! War es gerissen? Meine Kollegen waren nicht weniger erschrocken als ich. Der Lkw fuhr weiter! Ich betätigte mein Signalhorn und mehrmals die Lichthupe. Nichts! Ich verfuhr verzweifelt mehrfach so. Der Lkw fuhr – zwar nicht schnell – weiter. Wollten die uns quasi in der nächtlichen Pampa zurücklassen? Wieder betätigte ich abwechselnd beide Hupen, die akustische und die optische. Endlich stoppte der Sil. Fahrer und Offizier stiegen aus. Ich ebenfalls. Erleichtert stellte ich fest, dass das Seil nicht gerissen war. Weiß der Kuckuck, warum es aus der Kupplung des Lkw’s herausgeflutscht war. Schließlich hatte der Offizier eine Idee: Er schlang das Ende des Abschleppseils um den Rahmen des Lkw. Dann kam der Soldat mit einem großen Schäkel. Mit dem verband der Offizier Seil und Öse. Das hielt! Ich gab mir alle Mühe dem Fahrer einzuschärfen, jegliches heftiges Anrucken zu vermeiden und dann ja bloß sachte zu fahren. „Da, da!“ versicherten mir der Sowjetsoldat bejahend. Also: ein neuer Versuch konnte starten.

Es ging tatsächlich gut. Wir hatten uns offenbar eingespielt. An der Ampel an der Abfahrt der F 100 an der Dessauer Brücke, wo es dann nach links über die Straßenbahnschienen in die Stadt geht, war glücklicherweise grün. Der Fahrer des Sil nahm die Kurve vorsichtig. Ich schwitzte mit dem Fuß auf der Bremse Blut und Wasser, um jeder Zeit eingreifen zu können. Ein Stück nach einer Linkskurve sah ich den Arm des Offiziers, welcher mir aus dem Fenster der Beifahrertür ein Zeichen machte, dass wir stoppen sollten.

Dann kam er zu mir. Ich war ausgestiegen. Klar! Ich musste ihm ja sagen, wohin ich überhaupt wollte. Der Offizier sagte, wo ihr Ziel war. Das sowjetische Krankenhaus am Mühlweg. Das lag nicht sehr weit von der Straße, wo ich wohnte. Ich zeigte ihm eine Abkürzung. Schließlich gab ich Lichthupe bevor die Goethestraße auf die Ludwig-Wucherer-Straße stieß. Der Sil bremste ab. Ich ebenfalls. Wir lösten das Abschleppseil von beiden Wagen. Ich machte ihm klar, dass ich den Wartburg stehenlassen würde. Und den Rest des Weges zu meiner Wohnung zu Fuß gehen wolle.

Die anderen zwei Soldaten waren nun auch zu uns herangekommen. Ich drückte allen herzlich die Hände und umarmte sie abwechselnd. Dann kramte ich in meiner Hosentasche. Dort fand ich zwanzig Mark. Ich hielt sie dem Offizier hin und sagte: „Spasibo!“ Er wich heftig zurück. Und sagte: „Nein, nein!“ Als ich insistierte setzte er hinzu: „Freundschaft! Druschba! Nix Geld.“ Fast wären mir die Tränen gekommen. Schließlich zeigte ich auf alle Drei: „Kauft euch etwas. Papirossa vielleicht?“ Der Offizier schüttelte immer noch den Kopf. Ich drückte ihn noch einmal und steckte ihm das Geld bei der Gelegenheit in die Uniformjacke. Dann wies ich den dreien den Weg.

Ich hoffe sehr, dass sie damals den Weg gefunden haben und keinen Ärger von ihren Vorgesetzten bekommen haben. Dann ruckte der Sil, eine schwarze Abgaswolke ausstoßend an und fuhr davon. Wir drei winkten dem Lkw von der Straße aus nach, der Offizier mit seinem Arm aus dem Seitenfenster des Sil, bis er auf die Ludwig-Wucherer-Straße abbog und verschwand.

Ein Kollege stieß mich an und sagte auflachend: „Das werden uns die Kollegen am Theater niemals glauben!“ Und anderer Kollege fiel in dessen Lachen ein: „Tatsächlich! Das gibt es ja in keinem Russenfilm!“ Dieser Ausspruch fiel damals öfters, wenn einem etwas passierte, das unfassbar war.

Epilog

Was werden diese Soldaten und der Offizier wohl heute machen? Wird es ihnen gutgehen? Werden sie womöglich zusammen mit ihren Familien in den russischen Fernsehnachrichten hören, dass die deutsche Regierung Leopard-Panzer in die Ukraine schickt? Aus der Geschichte oder von ihren Großvätern werden sie wissen, dass schon einmal deutsche Panzer mit dem Kreuz über die Ukraine kamen und dann weiter hinein in die Sowjetunion rollten und den Tod brachten? Was werden sie darüber denken?

Über einen Ukrainer, der sagte „Deitschland gutt, Hitler gutt!“, einen „Vogelfreien“ und die Weisheit: „Die Politik ist die größte Hure!“

Wie sooft um Ostern war es noch sehr kalt. Eine Privatunterkunft nahegelegen eines Dorfes fernab von Liberec war rasch gefunden. Am späten nächsten Morgen erkundeten wir zu Fuß die nähere Umgebung. Der ausgewählte Weg sollte uns hinein in die Berge führen. Doch am Fuß des Weges lockte eine Kneipe. Mein Kollege meinte zum kühlen Wetter passe ein Rum und ein leckeres tschechisches Pils. Was stimmte. Nun aber hinauf in die Berge. Doch da war ein Zigeuner* vor. Lange schwarze schulterlange Haare. Er spielte auf einer Gitarre. „Ahoj!“ grüßten wir freundlich. Er grüßte zurück und fragte nach einer Zigarette. Die sollte er haben. Sogar eine halbe Schachtel der Marke „Mars“. Zum Dank spielte er irgendeine Weise. Nun aber hinauf!

Der dunkle Wald nahm uns kühl aber freundlich auf. Aber nach einer guten halben Stunde begann es stark zu regnen. Da passte es, dass wir bald an einer Art Baude aus Holz anlangten. Bier und Kräuterschnaps sollten uns die Zeit überbrücken, solange es regnete. Die Beine wurden von Bestellung zu Bestellung schwerer. Unser Gemüt lockerte sich auf. Was sollte es? Wir hatten doch schließlich Urlaub. Noch ein Bier. Noch ein Schnaps … Die Gaststube füllte sich. Das Gemurmel verstärkte sich. Gläser klangen. Zigaretten wurden geraucht. Bald sahen wir die Hand fast nicht mehr vor Augen. Die Stunden vergingen. Der Regen blieb. Und wir blieben auch.

Mit zunehmenden Konsum von Alkohol schwoll das Stimmengewirr in der gastlichen Stätte an. Plötzlich fiel uns ein Mann auf. Er trug eine Kordhose und ein Holzfällerhemd. Sein Gesicht war rot. Offenbar hatte er schon einige Gläser intus. Ein Halbliterglas Pils in der Hand klapperte er die um liegende Tisch ab. Augenscheinlich suchte er einen Platz an einem der Tische. Er sprach die Leute an. Sie machten ablehnende Gesten.

Dann kam was kommen musste: er erreichte unsere Tisch. Nachdem er eine Weile, die Ohren spitzend, in dessen Nähe gestanden hatte, schritt er dicht an unseren Tisch heran. Sein bislang düstere Blick hellte sich einem Male auf. „Ihr Deitsch?“, fuhr er uns regelrecht an und reichte uns seine Hand zum Gruß. Perplex schlugen wir ein. „Nemec, ja wir sind Deutsche“, brachte ich leicht stotternd hervor. Unaufgefordert nahm er an unserem Tisch Platz. Er mochte um die Sechzig gewesen sein. Seine gläsernen Augen leuchteten glückselig auf. Dann forderte er uns dazu auf mit ihm anzustoßen. Der Alte knallte sein Glas gegen unsere Biergläser und rief sehr laut aus: „Deitschland gutt! Hitler gutt!“ Erschrocken drehte ich mich nach Reaktionen um. Nichts. Dann setzte er hinzu: „Kommunismus scheiße, Hitler gutt“ Ich blickte meinen Gefährten an und machte ihm eine Andeutung, dass wir vielleicht besser verschwinden sollten. Was, wenn der Mann ein Provokateur der Staatssicherheit war? „Hitler“, sagte ich rasch mit Schweiß auf der Stirn, aber ernstgemeint: „nicht gut. Faschismus, Krieg.“ Da sprang der Alte auf. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Immerhin hatte er noch immer sein halbvolles Glas in der Hand, aus welchem etwas Bier schwappte. Stolz warf er seinen Kopf in den Nacken und reckte sein Kinn in die Höhe und brüllte leicht lallend: „Ich Ukraine! Deitschland gutt! Hitler gutt! Wir Kameraden!“ Mein Kollege sagte noch: „Wir sind keine Kameraden! Und außerdem aus der DDR.“

Was machte ein Ukrainer in der ČSSR? War er ausgewandert? Hatte er eine Tschechin geheiratet?Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Und wie konnte ein Ukrainer – vielleicht ein Bürger oder ehemaliger Bürger der Sowjetunion, die doch 27 Millionen Tote – davon nicht wenige Ukrainer – im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte; zu verantworten durch das faschistische Hitlerdeutschland – Hitler und „Deitschland gutt“ finden? Ohne Zweifel ein Nazi reinsten Wassers! Was wir damals unerklärlich fanden. Da hatte ich wohl noch einige Wissenslücken in Geschichte. Von Stepan Bandera, dem Nazikollaborateur, von dem heutzutage der ukrainische Botschafter in Deutschland offenbar soviel hält, hatte ich seinerzeit auch nichts gewusst.

Schließlich beglichen wir nach dieser unschönen Begegnung einigermaßen verwirrt die Rechnung und verließen die Baude. Der Ukrainer schrie uns noch hinterher: „Kommunistenschweine!“ Und spuckte aus. Es hatte aufgehört zu regnen. Als wir uns auf den Weg nach unten in den Ort wendeten, trafen wir auf zwei junge Mädchen. Jünger jedenfalls als wir, die wir Mitte zwanzig waren damals. Mein Kollege, vom Alkohol aufgedreht begann sogleich mit ihnen zu flirten. Dabei sprachen die beiden Mädchen kein Deutsch und der Kollege kein Wort Tschechisch. Lange Rede kurzer Sinn: Das eine Mädchen war meinem Kollegen durchaus zu getan. Keine Ahnung wieso? Eng umschlungen verknoteten sie ihre Zungen und wollten sich gar nicht wieder voneinander lösen.Das andere Mädchen, sie hieß Ivana, war schüchterner. Und ich auch. Da wollte sich nichts richten. Ich wurde eifersüchtig auf meinen Kollegen. Ich rief ihm, der sich mit dem Mädchen etwas entfernt hatte, hinterher: „Die sind doch noch viel zu jung! In Wirklichkeit hätte ich es ihm doch gern gleichgetan. Mein Kollege und auch das Mädchen waren nicht zu bremsen. Was sagt man da? Herz, Schmerz und dies und das …Unten, wo der Weg auf die Hauptstraße stieß, trennten sich die Mädchen von uns. Sogar ich bekam von der schüchternen Ivana ein Küsschen. Dann waren die beiden weg. Als sei nichts gewesen.

Inzwischen war es längst dunkel geworden. Wo jetzt noch Alkohol herkriegen, fragte ich mich. Nach diesen Begebenheiten. Da gab es was zum runterspülen! Doch wir fanden die wenigen Geschäfte und Kneipen geschlossen. Und die Bürgersteige sozusagen hochgeklappt.Plötzlich kam aus einer Seitenstraße ein Mann gelaufen mit zwei dieser riesigen tschechischen einfachen Tischweinflaschen. Eine hatte er am Hals. Die andere in er Hand.Er kam näher und sprach uns auf Deutsch an. Im breitesten Sächsisch. Der Dialekt ließ mich aber auch ans Vogtländische denken. Während der NVA-Zeit hatten wir einen Vogtländer auf der Stube. Den man fast nicht verstand. Sein Dialekt hörte sich an wie eine Mischung aus Sächsisch und Bayerisch.

Der Mann fragte uns nach unserer Herkunft und die Pläne für unseren Urlaub. Zudem bot er von seinem Wein an. Es war Kirschwein. Schließlich fragte ich neugierig: „Woher kommst du denn? Machst du auch Urlaub?Der Mann lachte und antwortete: „Ich wohne hier. Ich bin vogelfrei.“ Ursprünglich stamme er wie wir auch aus der DDR. Er habe aber keinen Ausweis mehr. Auch keinen der ČSSR. Wir stutzten: Vogelfrei?

Wie konnte das sein. Man erklärt jemanden für vogelfrei, wenn man ihm bisher gewährten Schutz entzieht, ihn aus dem Schutz der Gesellschaft ausstößt. Derjenige ist also schutzlos. War so etwas möglich? Schließlich lebten wir nicht mehr im Mittelalter! Diese Redensart ist schon sehr alt, las ich später, jedoch sei sie früher anders verwendet als heute. Noch zu Zeiten Luthers verstand man unter einem Vogelfreien jemanden der „frei wie ein Vogel“ lebt. Das deutete eigentlich auf ein unbeschwertes, vielleicht sogar im Wesentlichen glücklichen Menschen hin. So wirkte aber der etwa 30-jährige ganz und gar nicht …

Er könne jederzeit verhaftet werden, meinte er. Er müsse sehen, nirgends aufzufallen. Hatte er Arbeit? Von was lebte er? So recht wollte er nicht mit Sprache heraus.Dass interessierte mich, als jemanden, der schon damals ehrenamtlich journalistisch arbeitete.Kurzerhand luden wir den jungen Mann ein, mit in unsere Privatunterkunft zu kommen. Wir bangten zunächst erwischt zu werden. Aber die Fenster des Vermieters waren dunkel. Außerdem hatten wir einen separaten Eingang. Oben in unserer Kemenate sprachen wir reichlich dem Wein zu. Und unterhielten uns. Unterhielten? Es war schwierig den nuschligen Dialekt unseres Gastes zu entschlüsseln. Was hieß, immer wieder nachzufragen. Stimmte das überhaupt, was der erzählte? Vielleicht band er uns einen Bären auf. Aber wie das nachprüfen? Wir sprachen durchaus über Politisches. Darüber etwa, dass das so mit dem Sozialismus nicht weitergehen könne. Aber die Nacht war vorangeschritten. Der Alkohol tat seine Wirkung. Nicht besonders guten Gewissens baten wir den „Vogelfreien“ schließlich zu gehen. Was würde der Vermieter sagen, wenn er früh einen „Gast“ bei uns anträfe.

Um noch eine Mütze Schlaf zu nehmen, legten wir uns nach der Verabschiedung hin. Als ich vor acht Uhr früh als erster erwachte, blickte ich aus dem Fenster und erschrak: Es hatte geschneit! In der Ferne sah ich wir ein mit gelben Rundumleuchten bestückter Schneeflug eine Straße vom Schnee räumte. Mein Trabant hatte keine Winterreifen! Auch Schneeketten hatte ich nicht mit. Dann beruhigte ich mich: Solange die wichtigsten Straßen geräumt sein würden, bekämen wir gewiss keine Probleme. Nur den Ausflug zur Schneekoppe den konnten wir wohl abschminken. Am nächsten Tag erfuhren wir vom Vermieter ohnehin, hinauf zur Schneekoppe (tschechisch: Sněžka) könne man momentan nicht. Schließlich lag die andere Seite der Schneekoppe (polnisch: Śnieżka) auf polnischer Seite. Da gelte bekanntlich noch Kriegsrecht. Weshalb man von tschechischer Seite niemanden herauflasse.

Denn oben könne ja die Grenze nach Polen übertreten werden.

Wir beschlossen unseren Kurzurlaub noch mit einer kleinen Tour durch das Riesengebirge. Der Schnee war glücklicherweise bald getaut. Als es nach einer Wanderung wieder einmal regnete, suchten wir abermals ein Kneipe auf. Am letzten Tag sollte es noch einmal einen heißen Grog mit tschechischem Rum geben. Wieder einmal kamen wir mit einem Menschen ins Gespräch. Es handelte sich um einen älteren Herrn, einen Sudetendeutschen. Einer der nach 1945 offenbar nicht hatte auswandern müssen. Vielleicht war er mit einer Tschechin verheiratet? Zum Abschluss des Abends gab er uns seine Lebensweisheit mahnend mit auf dem Weg: „Denkt daran Burschen, die Politik ist die größte Hure!“Das machte uns nachdenklich. Aber hatten wir es wirklich richtig verstanden? Heute besteht in höchstem Male darüber Gewissheit. Klar, der Sinn der Lebensweisheit des sudetendeutschen Mannes ist verstanden. Aber auch hundertprozentig stimmig?Ich wende ein: Betrachte ich die heute Verantwortung tragenden Politiker*innen so und das, was sie über die Jahrzehnte angerichtet haben und gegenwärtig weiter anrichten, dann würde ich gern meine Hand schützend über die Huren halten. Mit diesen Leuten in Verbindung gebracht zu werden – das haben sie nicht verdient. Viele von ihnen haben nämlich eine gute Seele und so manche der Sexarbeiterinnen hat auch ein großes Herz.

*Die Bezeichnung Zigeuner war damals gebräuchlich. Im Tschechischen: Cikán.

Beitragsbild: via Pixelio.de – Foto: Renate Tröße. Eine Aufnahme aus dem Riesengebirge.