Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Rezension

Egon Krenz, einstiger Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Meine Rezension zum ersten Teil seiner Memoiren unter dem Titel „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg“ (»dass ein gutes Deutschland blühe«) leitete ich folgendermaßen ein:

„Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden.“

Biografien wie die seine waren durchaus so selten nicht. Sie sind freilich nicht ohne den Hintergrund des zu Ende gegangenen verheerenden Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Krenz` Schwester lebte in Westerland in der britischen Zone, als der zehnjährige Egon mit seiner Mutter illegal zu Besuch dorthin hinreiste. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit ihrem Sohn wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“ Der Westen war für Egon Krenz keine Alternative.

Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg (heute Kołobrzeg, Republik Polen) , fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Die DDR schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der erste Teil seiner Biografie hat mich als einstigen DDR-Bürger gefesselt. Wir waren ja jeden Tag mit ideologisch überladenen Sätzen und dementsprechend ausgewalzten Wortungetümen in unseren Zeitungen konfrontiert. Der darin mit der Zeit in Form immer langweiliger werdenden Bleiwüsten daherkommenden, Propaganda waren wir überdrüssig. Weder aber war ich persönlich ein Gegner der DDR noch unbedingt ein „Fan von Egon Krenz“.

Wir lesen im zweiten Teil seiner Biografie, dass Krenz gar nicht amüsiert darüber war, dass er bei einem Besuch von DDR-Brigaden, welche am Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion beteiligt waren, mit dem Ausspruch: „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ empfangen worden war. Hier ein Video vom Offenen Kanal Magdeburg über die „Trasse“.

Egon Krenz fühlte sich halt als einer von vielen SED-Funktionären (er stand ja zunächst der FDJ vor). Und wollte nicht hervorgehoben werden. Aber er nahm das ehrliche Bekenntnis der Trassenleute nicht übel.

Seine Biografie erster Teil bringt uns neben dem einstigen FDJ-Chef und SED-Funktionär den Menschen Egon Krenz und dessen Ansichten in sachlicher und ehrlicher Form nahe. Auch spart er nicht daran, eigene Fehler, Irrtümer und diejenigen der Partei- und Staatsführung offen zu benennen.

»Wir hatten es in der Hand!«

Dessen bleibt sich Egon Krenz nun auch im inzwischen herausgekommenen zweiten Teil seiner Biografie, welche unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ steht nichts schuldig. Das Buch befasst sich mit den Jahren 1973-1989: »Wir hatten es in der Hand!« Egon Krenz
— Teil II der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR —

Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«.

„Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt“, informiert der Verlag, „setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste.“

Zum jüngsten, zweiten Band der auf drei Bände angelegten Memoiren von Krenz schreibt edition ost:

„Der zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR führt direkt in den Inner Circle der Staatsführung und in jene Phase, die mittels Wandel durch Annäherung die friedliche Koexistenz sichern soll. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die neue Ostpolitik der SPD-Regierung in der BRD und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Inzwischen vom Westen als »Honeckers Kronprinz« aufmerksam beäugt, ist er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöst. Was angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet der Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste. Krenz berichtet faktenreich und selbstkritisch und reflektiert von heutigem Erkenntnisstand aus differenziert die Ereignisse, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren.“

Für uns Leser ist all das aus erster Hand berichtete abermals sehr interessant. Die DDR-Bürger erfuhren nicht was hinter den Kulissen sich in der Regierung, in Partei- und Staatsführung abspielte. Freilich machten sie sich ihre Gedanken. Und nebenan in der BRD wurde versucht alles Mögliche aus dem Tun und Lassen der DDR herauszulesen. Man betrieb im Prinzip Kaffeesatzleserei. Besonders die Springer-Medien, vornweg die Bild waren darin besonders engagiert. Zuweilen lag man sogar richtig bzw. fast richtig. Man hatte wohl auch Zuträger, die aus dem Nähkästchen plauderten. Und über Westradio und Westfernsehen drangen die Halbwahrheiten, Vermutungen sowie auch manches, was einen wahren Kern hatte, auch in die Wohnstuben der DDR-Bürger. Und dort versuchte man sich einen Reim darauf zu machen. Hoffnungen gab es ohnehin, neue wurden geweckt. Was freilich auch die Partei- und Staatsspitze beschäftigte. Und man sich dort wiederum Gedanken machte wie darauf zu reagieren sei. Was sollte in den DDR-Medien veröffentlicht oder lieber verschwiegen werden. Und dennoch drang manche Information – vor allem später als Gorbatschow in Moskau am Ruder war – an die DDR-Öffentlichkeit. Egon Krenz stellt dar, wie dazu auch innerhalb des Politbüros unterschiedlich gespielt wurde. Wie er selbst gezwungen war mit dergleichen umzugehen. Vor allem als er selbst ins Politbüro berufen worden war – wovon er selbst ziemlich überrascht gewesen sei.

Wem konnte man voll vertrauen, bei wem war in mancher Beziehung Vorsicht geboten. Gegenüber Honecker, schreibt Krenz, sei er stets loyal gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und und sich beschreibt er als vertrauensvoll und auch kollegial. Wenn auch Krenz schon mal einen Rüffel vom Chef wegstecken musste. Öfters musste er seinen Chef bei Terminen vertreten. Krenz erlebte Honecker zunächst als durchaus geistig wie körperlich fit und immer gut vorbereitet. Auch bei Begegnungen mit Westpolitikern, die Honecker durchaus schätzten. Was ebenso für wichtige Industrielle in Westdeutschland, wie beispielsweise etwa Berthold Beitz, aber auch andere galt. Wovon allerdings so mancher dieser BRD-Politiker nach dem Ende der DDR nichts mehr wissen wollten.

Durchaus anders zeichnet Krenz Honecker als die DDR-Normalbürger ihn für gewöhnlich erlebten bzw. sich selbst ein Bild machten. Beim Lesen von Krenz` Zeilen ist man als einstiger DDR-Bürger durchaus versucht manch eigenes damaliges Gemecker oder irgendeine gemachte Witzelei, die Person Honecker betreffend, im Nachhinein eher als unpassend zu empfinden. Nur was die spätere Zeit anbetrifft konstatiert Egon Krenz einen gewissen Altersstarrsinn bei Honecker. Er dachte ja bis zum bitteren Ende nicht daran seinen Sessel für einen Jüngeren freizumachen. Was auch nicht unwichtig ist: Erich Honeckers strikter Antifaschismus und sein Eintreten für den Sozialismus beruhte gewiss auch auf dessen Verfolgung durch das Naziregime. Honecker wurde damals für zehn Jahre ins Gefängnis geworfen. All das prägt schließlich.

Michail Gorbatschow

Was das Agierens von Michail Gorbatschow betraf war Honecker mit der Zeit immer skeptischer geworden, war mit Vielem was dessen Politik und Handeln betraf, so nicht einverstanden.

Krenz selber bekennt, von Anfang an Gorbatschows Politik eher positiv bewertet und von Herzen unterstützt zu haben. Da spricht er allerdings über die Zeit „vor dem Verrat Gorbatschows“, wie er im Vorwort „Wo ist denn Ihre Klingel, Herr Krenz?“ (S.9) schreibt.

Krenz kritisiert nicht nur Gorbatschows Alkoholverbot als mehr als fragwürdig, was den Nutzen anging. Sondern auch dessen Wirtschaftspolitik. Was dazu führte, dass in manchem sowjetischen Geschäft die Regale leer blieben. Und schließlich war auch der DDR-Führung nicht verborgen geblieben, wie die sowjetische Wirtschaft im Großen und Ganzen unter Gorbatschow quasi den Bach herunterging. Die UdSSR sah sich deshalb veranlasst den Ölpreis für den Bruderstaat DDR immer weiter zu erhöhen. Was in der DDR wiederum zu Schwierigkeiten führte.

Später – und erst recht nach dem Ende der DDR – hat Egon Krenz erleben müssen, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch nicht immer ganz ehrlich spielte. Sogar manches gar nicht so gesagt haben wollte. Was Egon Krenz bei einem Zusammentreffen in einem Berliner Hotel die Stirne runzeln ließ. Sogar Raissa Gorbatschowa bestätigt Egon Krenz damals. Ihr Mann bestritt das Gesagte auch seiner Frau gegenüber.

Mehrmals hält Krenz Gorbatschow im Buch vor, dass er den sozialistischen Bruderstaaten versprochen hatte, sie könnten von völlig souverän handeln. Davon habe er, so Krenz, jedoch nichts bemerkt.

Wobei wir bei einer Tatsache sind, die beide deutsche Staaten betraf (und die BRD aktuell wohl noch immer betrifft): Letztlich konnten sie wichtige Entscheidungen nicht selbst treffen ohne grünes Licht aus Washington oder Moskau dafür erhalten zu haben.

Rückmeldungen

In seinem Vorwort zum zweiten Teil seiner Biografie schreibt Egon Krenz, dass er viel Zuspruch für seinen ersten Band erhalte. Aus Ost wie aus West. Ein 90-jähriger Leser aus Gransee ließ ihn wissen: «Alles, was Sie beschreiben, habe ich so ähnlich erlebt.«

„Ein 22-Jähriger aus einem kleinen Dorf in Norden Baden-Württembergs bekundete sein Interesse für die DDR-Geschichte, die nach seiner Wahrnehmung im Westen entstellt werde. Und ein ehemaliger Schüler der Erweiterten Oberschule (EOS) äußerte, man habe in der DDR im Fach Staatsbürgerkunde gehört, «was Kapitalismus ist«. Damals hielt er es für übertrieben und wollte es nicht glauben. Seit 1990 wisse er, dass es eher untertrieben war.“ (S.10) Meine Wenigkeit sieht das nebenbei bemerkt übrigens ebenso.

Weiter notierte Krenz: „Professor Kurt Starke, ein international bekannter Soziologe, Sexualwissenschaftler und Jugendforscher, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin, schrieb mir vor einiger Zeit: «Je mehr ich über unser gewesenes Land nachdenke und je öfter ich in den vergangenen Jahren mit Ost-West-Unterschieden in meinen Untersuchungen zu tun hatte, desto mehr sehe ich mich in der Erkenntnis bestätigt, dass die DDR ein Unikat von bleibender historischer Bedeutung ist.«

Egon Krenz: „Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte“

Egon Krenz merkt weiter an: „Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und es militärischen Engagements der Bundesrepublik sollte ebenfalls daran erinnert werden: Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte. Kein NVA-Soldat setzte je seinen Fuß auf fremdes Territorium, um an Kampfeinsetzen teilzunehmen. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit Achtung und Respekt zu erinnern. Ein Drittel Deutschlands war hier dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen, und das mehr als vierzig Jahre lang. Das ist aus dessen Sicht die eigentliche Sünde der DDR, die ihr – und damit uns, die wir sie aufbauten und verteidigten – niemals vergeben werden wird. Nach 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. Nach 1945 wurden in Westdeutschland dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten in die Wüste. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Zukunft. Nicht zu reden von den vielen Werktätigen aus den über achttausend volkseigenen Betrieben, die die Treuhandanstalt übernahm und asozial abwickelte.“ (S.12)

Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt“, macht Krenz unumstößlich klar

Zusammenhänge von Politik, Kapital und wirtschaftlichen Interessen würden verschleiert. Sie und die Geschichte müsse man aber kennen, meint Egon Krenz. Um zu verstehen, „warum so viel Menschen im Osten beispielsweise gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind“.

Und einen wahren, unumstößlichen Satz schreibt Krenz da: „Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt. Die Berliner Mauer sei „von Osten verschoben (worden) – sie steht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland“

„Sie ist dort, wo die Frontlinie im Prinzip an jedem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Diese «Grenzziehung« ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde.“

In Briefen äußern die Menschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg

In Briefen an Krenz äußerten Menschen: „Angst. Angst vor einem Dritten Weltkrieg, in den uns die deutsche Regierung durch ihre pro-amerikanische Politik führen könnte. Dass die Bundesregierung das Streben der USA, einzige Weltmacht zu bleiben höher stellt als deutsche Interessen, hat ebenfalls zum sinkenden Ansehen der gegenwärtigen Ampel-Koalition beigetragen.“

Verantwortungslos und folgenlos habe die deutsche Außenministerin davon gesprochen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, dessen Ziel darin bestünde, «Russland zu ruinieren«. Krenz ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sprache ist bekanntlich Ausdruck des Denkens.“

Die Tatsache, dass in Deutschland Nazijargon öffentlich verbreitet wird, mache ihm Angst.

Er bezieht sich dabei auf die von einer Boulevardzeitung gewählte Schlagzeile: «Deutsche Panzer stoßen gegen russischen Stellungen vor«

Und Krenz beklagt die hierzulande herrschende Russophobie. Sie erinnere ihn an seine Kindheit, „als die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs große Plakate klebten, auf denen Russen als Untermenschen dargestellt wurden“.

Die Russophobie und Hetze gegen Russland mit Sorge zur Kenntnis nehmend fragt sich Krenz: „Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führenden Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.“

Wenn Westdeutsche einstigen DDR-Bürgern erklären, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen

Aus dem Herzen spricht mir Egon Krenz, wenn man von altbundesrepublikanischer Seite einstigen DDR-Bürgern erkläre wie man in der DDR gelebt habe. Ich selbst kann ab September 1989 ein Lied davon singen. Denn diese Erklärungen kamen in der Regel aus den Mündern von Westdeutschen, die die DDR nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus der Westpresse kannten. Mir selbst platzte irgendwann 2019 der Kragen als mir ein Kollege wieder einmal sagte, wie ich in der DDR gelebt haben sollte: „Bei euch war das doch so …“ Ich wurde kurz laut. Seither hat mich dieser Kollege nie wieder dazu angesprochen.

Krenz betrachtet sich selbst als eine Biografie von 17 Millionen Biografien in der DDR besteht darauf: „Wir müssen uns wegen unseres Lebens nicht entschuldigen.“

Dass es in Politik und Medien noch immer Versuche gibt, DDR-Bürgern erklären zu wollen, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen, beweist, dass die deutsche Einheit mental noch lange nicht vollzogen ist.“ (S.15)

Egon Krenz: „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin“

Egon Krenz malt nicht rosarot, sondern gesteht so manchen Fehler der DDR ein. „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin. Allzu oft ließen wir uns etwa bei der Auswahl von Kadern blenden von Worten der Ergebenheit. Das förderte Heuchelei, die nicht zu einer Partei wie der unseren passte. Die Quittung dafür erhielten wir 1989.“ (S.38/39)

Mit der Biermann-Sache legte sich die DDR ein Ei

Auch die Biermann-Geschichte bringt Krenz zur Sprache. Der Dichter Wolf Biermann war nach einem Auftritt in der BRD, die in der DDR Kritik hervorgerufen hatte, die Wiedereinreise in die DDR versagt worden. Der Westen tönte, er sei aus ausgebürgert worden. Als der Fall im Politbüro erörtert und abgehakt wurde, habe sich nur Kurt Hager kritisch geäußert, der gegenüber Erich Honecker eingewendet hatte: „Erich, war denn das notwendig?“ Krenz erinnert sich: Es habe geknistert. Niemand habe geantwortet, so sprach Hager weiter: „Biermann ist es nicht wert, dass wir uns deshalb mit den Künstlern anlegen und unsere Kulturpolitik ändern. Wir machen in erst groß, wenn wir ihm solche Aufmerksamkeit widmen. Wir sollten ihn ignorieren. Das trifft diesen Gernegroß mehr als alles andere.“

Werner Lamberz, der als Politikerpersönlichkeit eine große Hoffnung nicht nur für die SED gewesen war (der tragischerweise später und viel zu früh bei einem Hubschrauberabsturz in Libyen sterben sollte) habe zustimmend genickt. Hager muss Recht gegeben werden. Mit diesem Schritt, Biermann nicht wieder in die DDR einreisen zu lassen, hatte sich das Land sozusagen ein Ei gelegt. Zumal Wolf Biermann den meisten DDR-Bürgern bis dato unbekannt war. Zuweilen sah man ihn vielleicht mal in der Tagesschau, wie der einstige Jungkommunist mit einem Korrespondenten des westdeutschen Fernsehens in seiner Berliner Wohnung am Kachelofen saß und auf Opposition machte. Diesen Herrn, dem eine enge Beziehung zu Margot Honecker nachgesagt wird, hätte die DDR aushalten können – und auch müssen. Der Filmregisseur Konrad Wolf habe einmal zu Egon Krenz gesagt: «Egon, Dir mag der Begriff des Ausbürgerns weniger sagen als mir. Du hast den Faschismus nicht mehr erlebt. Aber die Menschen, die von Nazis aus Deutschland vertrieben wurden wie wir -, hätten nicht zulassen dürfen, dass jemand aus der DDR «ausgebürgert« wird. Sag Erich, er möge sich seiner eigenen Vergangenheit erinnern.“

Weiter erinnert sich Egon Krenz: „Der Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant (1926-2014), übte Kritik, zurückhaltend zwar, aber öffentlich im Neuen Deutschland: «Ich will nicht verhehlen, dass ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich braucht niemand vor ihm zu schützen.«

Honecker habe wohl dann nachgedacht (jedoch viel zu lange) wie man wieder aus der unangenehmen Biermann-Sache herauskäme. Aber der Schaden war gemacht. Dann erfuhr Honecker von der Protestresolution von 12 DDR-Schriftstellern und -Künstlern die sich gegen das Einreiseverbot von Biermann richtete. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte sie entworfen und auch westlichen Agenturen übergeben. Krenz: „Dass er sie zuvor der Zeitung Neues Deutschland angeboten hatte, wo sie lediglich der Pförtner entgegennehmen wollte, erfuhr Honecker erst viel später.“ Ja, auch hier trifft der Satz »Wir hatten es in der Hand!« zu. Manches jedoch entglitt leider dieser Hand.

*Staatssicherheitsminister Erich Mielke berichtete, „dass der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“

Eines Tages hatte Honecker Krenz einen Packen Briefe von Bürgern aus Rostock übergeben, in denen Bürger sich vom dort stattfindenden Kirchentag belästigt fühlten. Seinetwegen war ein Fußballspiel der DDR-Oberliga verlegt worden. Und auf öffentlichen Plätzen wehten anstelle die Staatsflaggge oder rote Fahnen wehten Kirchentagsfahnen. Man sei, wurde beklagt vom Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat abgewichen. Krenz schickte Mitarbeiter nach Rostock, die Gespräche mit den Briefeschreibern führten. Sie teilten Krenz mit, alles sei durch zentrale Entscheidungen geregelt gewesen. Zentrale Entscheidungen seien in der Regel Festlegungen des Ministers für Staatssicherheit gewesen. Krenz rief Mielke an. Der berichtete ihm unter anderem, „dass Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“

*Bärbel Bohley lag mit ihrer damaligen Befürchtung nicht falsch

In einem andereren, an Erich Honecker gerichteten, Brief ging es um die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und des Bürgerrechtlers Werner Fischer. Beiden war im Februar 1988 „bei Vermeidung von Strafverfahren ein befristeter Auslandsaufenthalt vermittelt worden war.“ Geschrieben worden war er von Bischof Dr. Gottfried Forck. Postbote sei Manfred Stolpe gewesen. Krenz informierte den im Urlaub befindlichen Honecker. Der stimmte der Wiedereinreise zu. Bohley und Fischer hätten versprochen, die Gesetze der DDR nicht zu verletzen. Krenz: „Eine Ausbürgerung wäre nicht nur juristisch, sondern auch politisch ein großer Fehler gewesen. Es ist schon interessant, dass die – um es freundlich zu sagen – von der DDR nicht gerade freundlich behandelte Bärbel Bohley schon 1991 kurz nach der staatlichen Vereinigung über die Zeit sagte: <<Die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständigen Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“<< Ein Zitat nebenbei bemerkt, dass man dieser Tage öfters in sozialen Medien lesen kann. Und wenn man den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft in Augenschein nimmt, beschleicht einem das Gefühl, dass Bärbel Bohley mit ihrer Befürchtung nicht falsch lag.

Wichtige Themen wurden beackert

Alle wichtigen Themen hat Egon Krenz beackert. Und das dürfte wohl nicht nur für gewesene DDR-Bürger sondern auch Bundesbürger als den alten Bundesländern von Interesse und spannend sein. Ob das nun die Zeiten der Entspannungspolitik der Brandt- und Schmidt-Regierungen betreffs der Sowjetunion und Polen sind, oder die Bemühungen zwischen BRD und DDR gute Beziehungen in der Sache und auch für die jeweilige Bürger zu erzielen. Da gab es einige Kontakte und Besuche von Westpolitikern in der DDR, die wir in der DDR mit hohem Interesse verfolgten. Auch die damaligen Gespräche von SPD und SED bargen Hoffnungsschimmer.

Natürlich ging es uns in der DDR auch darum Reisen in die BRD oder das andere westlichen Ausland machen zu können. Es tat sich was. Aber doch viel zu wenig. Was nicht nur mit politischen sondern auch mit Fragen von Devisen zu tun hatte, die die Menschen ja dann im kapitalistischen Ausland benötigten. Nachdem BRD-Politiker zu Besuch gewesen waren war Erich Honecker auch zum Gegenbesuch eingeladen worden. Der Einladung wäre Erich Honecker gern nachgekomme. Er empfand das nach Anerkennung der DDR in vielen anderen Ländern auch als eine Ehre für die DDR. Es war ja ein offizieller Empfang ins Auge gefasst. Es brauchte letztlich mehrere Anläufe dahin, bis Erich Honecker in die BRD reisen und auch seine alte Heimat im Saarland besuchen konnte. Immer wieder war Moskau dagegen. Honecker ließ sich allerdings immer weniger hereinreden. Und es kristallisierte sich heraus, dass Honecker eben auch Deutschland als Heimat in seinem Herzen trug.

Krenz schreibt, in der DDR träumte man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten

Erich Honecker sei immer wieder auch am Weltfrieden und dem Frieden auf deutschem Bode interessiert gewesen, so Krenz. Im Buch macht das Egon Krenz auch an der Frage der Raketenstationierung auf BRD-Boden deutlich. Die Pershing II -Raketen sollten nach dem Willen des Westens gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion abschrecken. Stichwort Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte für die Stationierung in Westdeutschland votiert. Der sowjetischen Seite war nichts weiter übrig geblieben als nachzuziehen. In der DDR wurden dann neue sowjetische Raketensysteme aufgestellt. (S.215: „Atomraketen in der DDR)

Krenz schreibt, in der DDR träumten man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten. „Honecker hat dafür mit hohem Einsatz gespielt. […] Wir wollten unsere Maxime, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, ohne dieses Teufelszeug erfüllen. Spätestens 1983/84 hatten wir die politische Schlacht um die Aufstellung der Raketen verloren.“

»Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt

Egon Krenz sagt in einem Interview, am 16.12.2023 von junge Welt veröffentlicht: „Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.“ Und Honecker tat das. Honecker forderte, dass alle Raketen, diese Teufelszeug, von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen. Alles zu diesem Thema finde Sie ausführlich im Teil 2 der Biografie von Egon Krenz veröffentlicht.

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler und Entscheidungen, die zu Unmut führten. Ich erinnere mit noch gut daran, als es in der DDR hieß, die sowjetische Zeitschrift Sputnik sei verboten worden. Sie war kurzerhand von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Nach Rücksprache mit dem Postminister erfuhr Egon Krenz, dass Honecker diese Verfügung diktiert hatte. „Die Zeitschrift, so hieß es, bringe keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen würden darin verzerrende Beiträge zur Geschichte veröffentlicht. Konkreter Anlass waren Beiträge zum sogenannten «Hitler-Stalin-Pakt«. Krenz’ Ehefrau, in der Lehrerbildung tätig, fragte sich mit ihren Kollegen, „kopfschüttelnd, ob die alten Herrschaften im Politbüro überhaupt noch wüssten, was im Lande los sei. Wie könne man noch Öl ins Feuer gießen.“ Selbst die „FDJ-Führung hatte auf acht Seiten aufgeschrieben wie empört junge Leute über die Bevormundung durch die Partei- und Staatsführung waren.“

Honecker zeigte sich ungerührt.

An der Basis brodelte es

Auf der letzten Seite berichtet Egon Krenz von der sich vergrößernden Misere im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Viel Vertrauen war in diesem Jahr verloren gegangen. An der Basis brodelte es. Das Politbüro aber tat, als sei alles in bester Ordnung.“

Und Krenz schließt so: „Es brodelte an der Basis. Die Zeichen standen auf Sturm.“

Ich weiß: Vergleiche hinken. Ich will auch nichts vergleichen. Dennoch: Die derzeitige von der Politik der Ampel – aber auch von Vorgängerregierungen – herbeigeführte in vielen Hinsichten prekäre Lage unseres Landes lässt auch hier und da – wir haben gerade die Bauernproteste – ein Wind in meine Nase wehen, der etwas nach 1989 riecht. Erste Rufe „Wir sind das Volk“ und Forderungen nach Veränderung sind zu vernehmen …

Lest dieses Buch in Ost und West

Ich empfehle, dass möglichst viele Menschen in West und Ost dieses Buch zu lesen. Es ist wichtig. Egon Krenz gebührt das Lob, aufgeschrieben zu haben, was ansonsten wohl der Vergessenheit anheim fallen könnte. Die Leser werden vieles nicht wissen, von dem Krenz hier geschrieben hat. Die Leser mögen sich ein eigenes Bild machen. Ich fürchte, die üblichen Verdächtigen in den Mainstream-Medien werden, auch diesen zweiten Band von Krenz’ Biografie wieder als Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei auf Honecker und die DDR missverstehen (wollen). Das bleibt ihnen unbenommen. Ich sehe das anders. Auch dieser Band ist wieder sachlich verfasst und es fehlt auch nicht an der Aufführung von gemachten Fehlern. Ein Verdammen des Staates DDR in Grund und Boden wird man jedoch darin nicht finden. Was aus der Biografie des Autors heraus verständlich ist und dem Ganzen absolut kein Abbruch tun. Auch ich als gewesener DDR-Bürger werde das nie tun. Manche versteinerten Ewiggestrigen oder Woke mit Gutmensch-Ideologie werden das nicht verknusen können. Andere wiederum, die mit objektiverer Brille auf die Sache blicken, werden – wenn sie vielleicht auch nicht alles teilen können – einiges verstehen. Lassen wir die von mir hochverehrte Gabriele Krone-Schmalz betreffs zu Worte kommen: „Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann“.

Ich freue mich jedenfalls bereits auf den dritten Band der Erinnerungen von Egon Krenz, der bis in die Gegenwart führt.

*Eingefügt am 19.01.2024

Egon Krenz

Gestaltung und Veränderung

Erinnerungen

472 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen

sofort lieferbar

Buch 26,– €

ISBN 978-3-360-02811-2

Egon Krenz (Autor, Hrsg.)

Egon Krenz (links). Foto: C. Stille

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Wir und die Russen« (2019) und »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (mit Friedrich Wolff, 2021).

„Das Zeitalter der Idiotie – Wie Europa seine Zukunft verspielt“ von Ramon Schack – Rezension

Der Titel des hier zu besprechenden Buches sprach mich ad hoc an. Und wer in den letzten Jahrzehnten wach durchs Leben gegangen ist, dem müsste es genauso ergehen. Heißt: Wer noch selbst zu denken pflegt und sich nicht von vielen Medien – welche heute statt Journalismus fast nur noch Propaganda liefern – hat weit hinter die Fichte führen lassen.

Der Titel „Das Zeitalter der Idiotie“ hätte besser nicht gewählt werden sein können. Sagt er doch alles!

Die Wahl des Titels wurde durch ein Interview inspiriert, das Ramon Schack mit Peter Scholl-Latour führte

Dazu der Autor Ramon Schack im Vorwort zum Buch: «Diese Titelwahl wurde inspiriert von einem Interview, welches ich mit Peter Scholl-Latour anlässlich seines neunzigsten und letzten Geburtstages geführt habe. Das war am 9. März 2014.

Dieser große Chronist eines Zeitalters sagte damals: „Wir leben in einem Zeitalter der Massenverblödung, besonders der medialen Massenverblödung.“ Und weiter meinte er, und das gab dem Interview eine beklemmende Aktualität: „Wenn Sie sich einmal anschauen, wie einseitig die hiesigen Medien, von taz bis Welt über die Ereignisse in der Ukraine berichten, dann kann man wirklich von einer Desinformation im großen Stil sprechen, flankiert von den technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, dann kann man nur feststellen, die Globalisierung hat in der Medienwelt zu einer betrüblichen Provinzialisierung geführt. Ähnliches fand und findet ja bezüglich Syrien und anderen Krisenherden statt.“« Anbei: Interview von Ramon Schack mit Peter Scholl-Latour via Telepolis.

Inzwischen wurde alles noch schlimmer

Ja, dass war schon damals fürchterlich. Und jetzt ist es in Sachen Ukraine noch viel schlimmer geworden. Erst recht im derzeitigen Gaza-Krieg. Da müssen wir von einem „Glossar Berichterstattung Nahostkonflikt. Zur internen Nutzung“ lesen, das dieser Tage den NachDenkSeiten zugespielt worden war: 44 Seiten Sprachregelung der ARD zum Nahostkonflikt – ein unglaublicher Skandal“. Unfassbar. Empörend. Eine Anleitung, wie man zu berichten hat! Es geht also immer noch schlimmer! Peter Scholl-Latour ist dergleichen gottlob erspart geblieben.

Ramon Schack – zuletzt mit Scholl-Latour befreundet – schaute sich vieles von ihm ab

Apropos Peter Scholl-Latour. Der Journalist und Politikwissenschaftler Ramon Schack schreibt in seinem Buch „Begegnungen mit Peter Scholl-Latour“, dass er den großen Journalisten vor vielen Jahren zufällig getroffen hatte und mit ihm ins Gespräch gekommen war. Wenn ich ehrlich bin, beneide ich Schack um dessen persönliche Begegnung mit Peter Scholl-Latour. Von ihrer ersten Begegnung hatten sich beide über die Jahre – bis nahezu zum Tode Scholl-Latours im Jahre 2014 – immer wieder getroffen. Aus der Begegnung erwuchs ein beruflicher Kontakt, eine gute Bekanntschaft und später sogar eine Freundschaft.

Um die Welt zu verstehen, muss man sie auch kennen, sie gesehen und mit den Menschen gesprochen haben

Der Verlag schreibt: «Ramon Schack hat seinerzeit mit Scholl-Latour Gespräche geführt und sich vieles bei ihm abgeschaut. Vor allem aber lernte er von ihm: „Um die Welt zu verstehen, muss man sie auch kennen, sie gesehen und mit den Menschen gesprochen haben. Das ist das A und O des aufklärenden Journalismus. Heutzutage bilden sich Meinungsmacher in der Regel ihre Vorurteile aus den Ansichten anderer. Sie kennen das World Wide Web und meinen, das sei die Welt. Es ist nicht mehr üblich, vor Ort zu recherchieren und zu beschreiben, was dort geschieht.«

Diese Journalisten nennt der Journalist und Autor Patrik Baab „Sitzjournalisten“. Wie treffend!

Zugleich fühlen sich die meisten dieser Schreiberlinge einem fragwürdigen „Haltungsjournalismus“ verpflichtet. (Was wohl bemerkt nicht heißen soll, dass man als Journalist keine Haltung haben soll.)

Diese Art Journalisten haben sich eine Weltanschauung zusammengebastelt, ohne die Welt – wohl in den meisten Fällen – wirklich angeschaut zu haben. Als Vierte Gewalt agieren viele deutsche Medien im Grunde genommen gar nicht mehr.

Ramon Schack zitiert aus einer Aussage von Sabina Lietzmann (1919-1995), der ehemaligen Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: «Den >Gesinnungsjournalismus> bezeichne ich auch als >Müll-Journalismus> nach dem Motto. >Wir wühlen einfach so lange im Müll der anderen, bis wir etwas Verwertbares finden.> Ich betrachte diese Art von Journalismus – neben der Werbung und der Statistik – als die dritte legal betriebene Variante der großen gesellschaftlichen Lügen unserer Zeit. Sie ist jedoch auch die gefährlichste, weil Gesinnungsjournalismus zu einem Machtinstrument geworden ist.« (S.13)

Ramon Schack hat die Welt angeschaut und vermittelt uns ein wahrhaftiges Bild von Ländern und Leuten

Die Welt anzuschauen! Ramon Schack hat das im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen getan. Einige der dabei entstandenen Reportagen sind in diesem lesenswerten und interessantem Buch versammelt.

Schack hat keinen ideologisch vorgefertigten, betonierten Blick auf die Welt. Er schaut vor Ort genau hin. Und er spricht dort mit den Menschen. Seine journalistische Neugier ist erfrischend, weil seine Leser daran teilhaben und letztlich davon profitieren können. So vermittelt er uns wahrhaftiges Bild von Ländern und Leuten. Und er geht seine Reportagen ohne Vorurteile an und indem er sich bemüht, Menschen in ihren Lebenslagen zu verstehen und dementsprechend zu zeichnen.

Für uns Leser ist das wohltuend. Zudem lernen wir so manches dazu. Das tut auch der Autor. Er betätigt sich nicht als Besserwisser aus dem Westen, der die einzig wahre Formel zu glauben besitzt, nach der Menschen auf anderen Kontinenten und in anderen Ländern selig zu machen wären.

Das ist angenehm, weil es davon viel zu wenig bis nichts mehr gibt im derzeitigen Journalismus im „Zeitalter der Massenverblödung“, von welchem Schacks Vorbild Scholl-Latour einst schrieb. Ja, Schack hält sogar das alte Spiegel-Motto hoch, das dessen Gründer Rudolf Augstein postuliert hatte, nämlich „Sagen, was ist“, welches das einst als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnete Nachrichtenmagazin allerdings selbst längst mit Füßen tritt.

Die EU hat die Chance verspielt, als Kontinent des Ausgleichs und der Stabilität zu wirken“

Ramon Schack hat richtig erkannt: „Europa ist heute von schwelenden und offenen geopolitischen Konflikten umrundet – von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten, dem West-Balkan, dem Südkaukasus und der Ukraine. Dazu die Konfrontation mit Russland und wachsend zur Volksrepublik China. Die EU hat die Chance verspielt, als Kontinent des Ausgleichs und der Stabilität zu wirken.“ (S.11)

Schack moniert, dass es Brüssel nicht hinbekam, sich als eigenständiger Akteur zu positionieren. Was es aber seiner Meinung nach gemusst hätte.

Wir merken es doch alle: Stattdessen erleben wir die EU (und besonders Deutschland) als Vasall Washingtons.

„Auch“, streicht Ramon Schack heraus, „wurde die Welt nicht «westlicher« oder «demokratischer«. Stattdessen vermehrten sich die gescheiterten Staaten («failed states«), das Modell des Westens wurde (und wird) immer unattraktiver und inzwischen selbst in seinen Kernländern von den eigenen Bürgern zunehmend in Frage gestellt.“

Schack weiter treffend: „Es besteht zudem kein Zweifel, dass seit Beginn des Bürgerkrieges in der Ukraine 2014, insbesondere aber seit dem Februar 2022, in den etablierten Medien des Westens eine Einseitigkeit vorherrscht, welche vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen ist.“

Nicht zuletzt wird via Ramon Schacks Reportagen auch klar, dass die Menschen in anderen Ländern kaum etwas mit besonders von unserer, m.E. völlig fehl besetzten Außenministerin Baerbock, gebrauchten Begriffen wie „wertegeleitete Außenpolitik“ und „feministische Außenpolitik“ anfangen können.

„In der Tat: Wenn Journalisten darum eifern, die blödsinnigen, leichtfertigen und gefährlichen Äußerungen der höchsten Diplomatin der Republik zu verteidigen anstatt kritisch nachzufragen, dann wird dieses Machtinstrument sichtbar“, schreibt Schack. (S.14)

Schack gelingt es zu erläutern, weshalb wir in diesem Zeitalter der Idiotie leben

Basierend auf seinen Reisen, die Schack „in den vergangenen Jahren an die entferntesten und unterschiedlichsten Schauplätze der Welt geführt haben, auf fünf Kontinenten, flankiert von Beobachtungen, Begegnungen und Analysen im Alltag“, gelingt es ihm meines Erachtens, (…) „zu erläutern, weshalb wir in diesem Zeitalter der Idiotie leben – vor allem aber, weshalb wir aus diesem wieder herauskommen müssen“.

Schack: „Indem ich meine, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist, kritisiere ich natürlich jene, die sie so darstellen, wie sie ihrer Meinung nach wäre. Und die sich dann wundern, wenn jene, die ihre Arbeit rezipieren, sich darüber erregen, dass die Realität und Widerspiegelung dieser vermeintlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Woran mag das wohl liegen?“ (S.15)

Reportagen, die in den Jahren 2014 bis 2023 entstanden sind, sind im Buch versammelt

Das Buch hebt mit Reportagen über Sri Lanka (Juli 2023) an, führt uns nach Kasachstan (Juni 2023), Ägypten (Februar 2023), Europa und Asien – Vom Nordirak nach Niedersachsen – (Dezember 2018 bis Oktober 2022), erzählt von einem „Besuch in Bad Oldesloe“ (Mai 2022), berichtet über „Weihnachten bei den Peschmerga“ Irak, Dezember 2018), Indonesien (Mai 2019), Malaysia (Juli 2019), Neuseeland (Mai 2018), Ecuador (Dezember 2017), El Salvador (Oktober 2017), Cleveland/Ohio (Juni 2017), Iran (Juli 2016), Äthiopien (Dezember 2014), Peking, Moskau, Ulan Ude und Irkutsk (Sommer 2014) und schließt mit einer Reportage im Südkaukasus (Armenien und Aserbaidschan, April 2014).

Durch die Bank sind alle Reportagen hochinteressant. Ramon Schack hat mit Passanten und Zufallsbekanntschaften unterwegs oder mit Taxifahrern oder Ladenbesitzern gesprochen und ihnen manch interessante Äußerung oder Erzählung entlockt. Wir erfahren, welche Ansichten die Menschen haben oder welche Erfahrungen sie in ihrem Leben gemacht haben. Wir lesen darüber, wie sich Ländern im Vergleich zu früheren Aufenthalten Schacks dort entwickelt haben.

Und Schacks Reportage fördern auch zutage, wie man in anderen Erdteilen unseren eigenen Kontinent Europa wahrnimmt.

Aufklärender Journalismus vom Feinsten! So etwas müssen wir heute regelrecht mit der Lupe suchen. Bei Ramon Schack finden wir ihn!

Interessante Analysen im Epilog und eine offerierte Lösung dafür, sich aus der Idiotie zu befreien

Im nicht weniger interessantem Epilog zu seinem Buch erinnert Schack u.a. an John Carey, von dem das 1996 erschienene Werk „Hass auf die Massen“ stammt. Carey habe die Auffassung vertreten, „dass durch die Alphabetisierung der Unterschichten die Kunst sich in den Elfenbeinturm zurückgezogen habe, um ihr Alleinstellungsmal zu betonten und zu bewahren“. (S.217)

Er habe damit auch den Beweis dafür geliefert, „dass die Arroganz der britischen Oberschicht jener Zeit ihren Widerhall auch in der Ideologie der extrem völkischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit in Europa fand“. Weiter: „Diese Tatsache wird in der zeitgenössischen (westlichen) Geschichtsschreibung konsequent ignoriert oder verleugnet.“

Haben also „die heutigen Eliten in der westlichen Welt eventuell ebenfalls gewisse Vorbehalte gegenüber der Aufklärung der Massen“, fragt sich Schack.

„Wir wissen ja: Die öffentliche Meinung ist die veröffentlichte Meinung.“

Es folgt eine bedenkenswerte Analyse von welt- und innenpolitischer Erscheinungen in den vergangenen Jahren.

Am Beispiel von Besuchen von Bundeskanzler etwa in Südamerika, um Rohstoffe für die Energiewende zu beschaffen, welche durch Großkonflikte mit Russland und China (durch Berlin selbst verschuldet) ausfallen und ersetzt werden müssen. Schack: „Die Erfahrungen und Rahmenbedingungen, welche den Besuch des deutschen Kanzlers begleiteten, waren Ausdruck einer Idiotie, mit der die Eliten Europas und des transatlantischen Westens operieren.“ (S.224)

Ramon Schack zitiert Außenministerin Baerbock, wie während ihres Besuches in Washington äußerte: «Als Europäer haben wir keine stärkeren Partner als die USA.« Ramon Schacks richtige Beurteilung ihres Sagers: „Da sieht man gleich, wer Koch, wer Kellner ist.“

Die BRICS-Staaten hätten ihrer jeweiligen Erklärung deutlich gemacht, „dass die vom Westen propagierten strategischen Entwürfe, welche unter die Begriffe «Regelbasierte Ordnung« oder «Werteorientierte Außenpolitik« fallen, als das erkannt wurden, was diese sind – nämlich Instrumente zur Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie. Darum werden sie abgelehnt.“

Auch hier wieder spricht Ramon Schack aus, was ist: „Das Zeitalter, in dem Europa der Welt Befehle erteilen konnte, ist schon lange vorbei. Auch die Epoche, wo der Schulterschluss Brüssels mit Washington Sicherheit und Stabilität für den altehrwürdigen Kontinent verhieß, sofern das denn jemals der Fall gewesen sein sollte.“

Genauer: „In den geopolitischen Instituten von Hanoi, Vientiane und Phnom Penh wird die EU kaum noch als eigenständiger weltpolitischer Akteur wahrgenommen, sondern nur noch als Werkzeug Washingtons.“

Was Politiker sich nicht zu sagen wagen, bringt Ramon Schack auf folgende Formel: „Es ist höchste Zeit, dass sich Europa außen- und verteidigungspolitisch von den USA emanzipiert, um den neuen globalen Realitäten und Kräfteverhältnissen gerecht werden zu können. Nur so könnte auch die Idiotie, die unser Zeitalter belastet, überwunden werden.“

Welcher Mensch, der nüchtern und überlegt denkt, würde das bestreiten?

Sehen wir Anhaltspunkte, dass das passieren könnte? Derzeit leider nicht. Der Westen läuft mit sturem Kopf immer wieder gegen Wände.

Ein Weiter-so wäre nicht nur idiotisch, wenn nicht gar selbstmörderisch. Europa verspielt nämlich seine Zukunft. Tacheles geredet: Wir drohen abzusandeln.

Mein Resümee: Ein wichtiges Buch, worin gesagt wird, was ist. Unbedingte Leseempfehlung. Weitersagen!

Ramon Schack

Das Zeitalter der Idiotie

Wie Europa seine Zukunft verspielt

234 Seiten, 12,5 x 21 cm, broschiert
mit Abbildungen

sofort lieferbar

Buch 18,– €

ISBN 978-3-360-02813-6

Ramon Schack

Ramon Schack, Jahrgang 1971, geboren in Kiel, aufgewachsen in Bad Oldesloe, Studium in Hamburg (Politische Wissenschaft und Osteuropastudien). Nach längerem Aufenthalt in London seit 2003 freier Journalist in Berlin, schreibt u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, neues deutschland, Handelsblatt, Financial Times Deutschland, Das Parlament und den Tages-Anzeiger etc., seit 2018 moderiert er den Video-Podcast Impulsiv TV.

»Das Zeitalter der Idiotie. Wie Europa seine Zukunft verspielt« erscheint im Verlag edition ost, einem Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

Zum Buch

Peter Scholl-Latour, der Altmeister der journalistischen Reportage, lieferte vor etwa zehn Jahren den Titel für dieses Buch. Der umtriebige, weltläufige Reporter mit dem klaren analytischen Blick ist lange tot, das von ihm so bezeichnete Zeitalter jedoch noch nicht vergangen. Im Gegenteil.

Ramon Schack hat seinerzeit mit Scholl-Latour Gespräche geführt und sich vieles bei ihm abgeschaut. Vor allem aber lernte er von ihm: Um die Welt zu verstehen, muss man sie auch kennen, sie gesehen und mit den Menschen gesprochen haben. Das ist das A und O des aufklärenden Journalismus. Heutzutage bilden sich Meinungsmacher in der Regel ihre Vorurteile aus den Ansichten anderer. Sie kennen das World Wide Web und meinen, das sei die Welt. Es ist nicht mehr üblich, vor Ort zu recherchieren und zu beschreiben, was dort geschieht.

Schack hingegen tut es. Seine hier versammelten Reportagen von allen Erdteilen offenbaren zum einen, wie man dort unseren Kontinent Europa wahrnimmt. Zum anderen: Der Westen hinterließ vielerorts materielle wie moralische Trümmer beim Missionieren. Und darum ist sein Wirtschafts- und Lebensmodell für viele Länder zunehmend uninteressanter. Sie suchen nach neuen Wegen und lassen dabei nicht nur Europa links liegen. Schack hat sie dabei beobachtet.

Ramon Schack liest aus seinem Buch.

„Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen“ – Rezension

Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden. Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg (Pommern; heute Kołobrzeg, Republik Polen) geboren. Also zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Mutter ist eine einfache Frau. Den Vater lernte er nicht kennen. Egon Krenz entstammt kleinsten Verhältnissen. Nun hat Egon Krenz eine Autobiografie vorgelegt. Wenn man darin am Ende liest:

„Honeckers kameradschaftliches Verhältnis zu mir beeindruckte mich. Es war herzlich und produktiv. Das sollte sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als Gorbatschow in Moskau das Ruder übernahm, ändern. Eine Freundschaft ging zu Ende. Da widerrief Honecker, was im Westen seit Jahren über mich kolportiert worden war, nämlich dass ich sein ‚Kronprinz‘ sei. Doch dazu später.“ Wenn man das richtig versteht, dann dürfte also ein zweiter Teil seiner Erinnerungen folgen.

Egon Krenz zu seinem Vater: „Wer immer mein Vater gewesen sein mag: Er kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder. Die Überzeugung meiner Mutter ‚Nie wieder Krieg!‘ wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt. Sie blieb ein Element meines Denkens und Handelns.“

Krenz‘ Entwicklung und dessen Handeln nicht untypisch

Der Verlag schreibt zur Person Egon Krenz: „Seine Entwicklung: nicht untypisch. Sein Handeln ebenso. Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg, fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der Westen war keine Alternative: „„Bei euch regieren ja immer noch die Nazis“

Krenz schreibt, 1947 als Zehnjähriger, einige Wochen auf Sylt verbracht zu haben, wohin ihn die Mutter zwecks Besuchs ihrer dort lebenden Tochter mitnahm. Der Grenzübertritt gestaltete die Mutter illegal, bediente sich eines Fluchthelfers. Bis nach Westerland in der britischen Zone brauchten die beiden mehrere Tage. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit Egon wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“

Krenz klärt über den Hintergrund auf: der Bürgermeister von Westerland auf Sylt war von 1951 bis 1964 ein gewisser Heinz Reinefahrth. Studierter Rechtsanwalt, als Generalleutnant der Waffen-SS 1944 Befehlshaber die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes befehligt. Unter seinem Befehl seien bis zu 50 000 Polen erschossen worden, schreibt Krenz. 1949 wurde Reinefahrth, der bereits für den US-Geheimdienst CIC arbeitete, 1949 vom Spruchgericht Hamburg-Bergedorf von jeder Schuld freigesprochen. Einem Auslieferungsantrag Polens gegen den Kriegsverbrecher hatte die britische Besatzungsmacht nicht stattgegeben …

Diese Zeilen von Egon Krenz erinnerten mich an eine andere Biografie

Darüber hatte vor vielen Jahren einmal eine Rezension geschrieben hatte. Manfred Liebscher (inzwischen leider verstorben) hatte seine Erinnerungen aufgeschrieben. Die hatte er ursprünglich nur für seine Enkel schreiben zu schreiben gedacht. Schließlich aber veröffentlichte er sie aber dennoch („Im Paradies der Erinnerungen“, Manfred Liebscher; im Netz noch erhältlich). Daraus:

Als Kind einfacher Leute hatte Manfred Liebscher selbst zunächst als Knecht gearbeitet. In den Anfangsjahren der DDR fand er den Weg zur Kasernierten Volkspolizei. Und von dort warb man ihn zum Ministerium für Staatssicherheit ab. Da arbeitete Liebscher für die eigene Kriminalpolizei der Staatssicherheit. Nach dem Ende der DDR rümpfte man die Nase über derartige Biografien. Doch gilt es zu differenzieren. Manfred Liebscher leistete über viele Jahre Wichtiges in seinem Bereich. Das vereinigte Deutschland konnte ihm keine Vergehen oder Straftaten nachweisen. Manfred Liebscher konnte noch eine Weile beim Bundesarchiv in Koblenz arbeiten. Damit seine Enkel verstünden, schrieb er ein Buch für sie. Das es doch noch das Licht der Öffentlichkeit erblickte, war eine gute Entscheidung. Ich empfehle meinen Lesern diese Autobiografie gleichsam als Geschichtsbuch zu lesen. (…)

Die DDR war für ihn “die Heimat der kleine Leute”. Ja: das in vielfacher Hinsicht bessere Deutschland… (…) Hier mein damaliger Beitrag.

Egon Krenz war mit 52 Jahren zwar nur kurz Staats- und Parteichef. Aber er sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel

Als einstiger Bürger der DDR war mir Egon Krenz natürlich bekannt. Ich erinnere mich seiner etwa als er zu meiner Schulzeit als oberster Funktionär der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) auf einer Veranstaltung im Blauhemd eine Rede in unserer Stadt hielt. Oft erschien er auch – auf zahlreichen Anlässen abgelichtet – auf diversen Zeitungsseiten oder in Berichten der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“, die viele Menschen in der DDR – meine Person eingeschlossen – aber eher selten konsumierten.

Damals schimpften Krenz nicht wenige abschätzig einen „Berufsjugendlichen“. Eine Titulierung, die sie vermutlich aus dem Westfernsehen übernommen hatten. Wer kannte oder traf den Menschen Egon Krenz damals schon persönlich und konnte sich ein einigermaßen objektives Bild von ihm machen? Erst gegen Ende der DDR hatten viele Leute den Menschen Egon Krenz wieder – und zwar positiv! – auf dem Schirm: Für kurze Zeit war er mit 52 Jahren Staats- und Parteichef geworden. „Wenngleich nur für kurze Zeit“, schreibt der Verlag. „Sie genügte jedoch, um Geschichte zu schreiben: Krenz sorgte dafür, dass im Herbst 89 kein Schuss fiel und Frieden im Land blieb.“

Begegnung mit Egon Krenz „tief im Westen“

Anlässlich des 20. Pressefests der DKP-Zeitung „UZ“ (mein Bericht) lief mir der letzte Staatsratsvorsitzende Egon Krenz erstmals ganz nahebei über den Weg. Noch dazu „tief im Westen“, in Dortmund, meiner neuen Heimat. Im Ernst-Thälmann-Zelt stellte er damals sein Buch „China, wie ich es sehe“ vor. Überdies hielt er des einen Tags eine Rede, die heute noch aktuell wäre. Und während des gleichen Pressefests saß er während des Konzerts von Konstantin Wecker am Abend dicht hinter mir. Ich ärgere mich bis heute, ihn nicht angesprochen zu haben, um ihm einige Fragen zu stellen …

Aber nun halte ich ja seine Autobiografie in Händen und erfahre mehr als genug. Freilich wäre eine persönliche Begegnung zugegebenermaßen schon etwas, das mich nach wie vor, interessieren täte. Nun ja …

Krenz‘ Autobiografie: sachlich, hoch interessant und auch Emotionen nicht aussparend

Krenz beschreibt seinen Lebensweg sachlich, hochinteressant, aber gar nicht nüchtern und staubtrocken: denn er offenbart auch seine Emotionen, welche ihn in dieser oder jener Lebensphase beschäftigten und welche Gedanken und auch Bedenken ihn überhaupt jeweils umtrieben. Aus Krenz‘ Zeilen spricht dessen ehrliches Engagement von frühester Jugend an. Von je her hat er es vermieden sich in den Vordergrund zu spielen. Hinterhältigkeit und Falschheit, um Vorteile zu erlangen, waren ihm offenbar schon sehr früh fremd und dementsprechend ein Gräuel. Er hat immer beides verachtet. Dafür war er offen und ehrlich und hat auch – wie zu lesen ist – öfters auch vor Parteifunktionären oder Vorgesetzten, selbst während seines Wehrdienstes bei der Armee nicht gezögert, Kritik zu äußern. Auch wenn ihm das durchaus auch hätte Nachteile betreffs seiner beruflichen wie politischen Entwicklung bescheren können.

Nicht zuletzt dürfte es Krenz mit ziemlicher Sicherheit zugute gekommen sein, dass er vielen Funktionären begegnete, die zuvor den Krieg erlebt hatten, Spanien-Kämpfer, Kommunisten oder engagierte Gewerkschafter gewesen waren. Viele dieser Menschen prägten Egon Krenz.

Ein Bildungsweg, welcher immer wieder Unterbrechungen erfuhr

Sein Bildungsweg verlief durchaus nicht so, wie von ihm gewünscht. Zunächst gedachte er 1953 im Dieselmotorenwerk Rostock eine zweijährige Lehre zum Maschinenschlosser zu machen. Sein altgedienter Meister legte alles daran, ihm betreffs der Herstellung eines Werkstücks „deutsche Werkarbeit“ beizubringen.

Doch bald schon trat im Werk ein Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung auf den Plan: Man brauche ihn. „An den Lehrerbildungsinstituten fehlen Studenten“, beschied ihm der Mann. Inzwischen war Egon Krenz mit 16 Jahren in die SED eingetreten. Der FDJ-Mann appellierte an Krenz (S.93): „Denk dran, die Partei erwartet von dir, dass du dort hingehst, wo es für unsere Sache am wichtigsten ist!“

Krenz (S.94) schreibt: „Niemand hatte mich gezwungen, in die SED zu gehen. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn die Partei nun von mir erwarte, ich sollte ihrem Ruf folgen, sei dies nur logisch, dachte ich mir.“

Er habe schlaflose Nächte gehabt. „Schließlich entschied ich mich für ‚unsere Sache’“, erzählt Krenz. Er machte das Lehrerstudium. Krenz: „Ich greife vor: Bereut habe ich die Entscheidung nicht. Lehrer wurde mein Traumberuf. Ich bedauerte nur, dass ich ihn nicht lange ausüben konnte.“

Auch Journalist, erfahren wir, wäre Egon Krenz gerne geworden. Doch die Partei stellte ihn immer wieder an andere Stellen. Nur die Nationale Volksarmee (NVA) blitzte bei ihm ab: ein Offizierslaufbahn einzuschlagen, lehnte er ab. Krenz sei verblüfft gewesen, dass der zu Besuch weilende damalige Generaloberst und Vize-Verteidiungsminister Heinz Hoffmann nichts dagegen einzuwenden hatte. Der beschied ihm: „Das ist richtig.“ Auf der Insel Rügen brauchten sie ihn als Funktionär der FDJ. Krenz: Dieses „Kadergespräch“ sei es gewesen, das „mein weiteres Leben bestimmen sollte.“

Warum die NVA-Uniformen weiter deutsch aussehen sollten

Interessant: In seiner NVA-Zeit hatte Egon Krenz Anstoß an der Ähnlichkeit der grauen DDR-Armeeuniform mit jener der faschistischen Wehrmacht genommen. Diese Uniform hatte man ihm auf Nachfrage erzählt, gehe auf die antinapoleonischen Befreiungskriege zurück. Krenz plaudert aus dem Nähkästchen: Die Entwürfe für die NVA-Uniformen ähnelten allein schon in der Farbe denen der Sowjetarmee. Dies sei in einem Gespräch zwischen SED-Chef Walter Ulbricht und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow auf den Tisch gekommen: „Chruschtschow kommentierte: Die DDR-Deutschen hätten wohl Angst sich auf deutsche Traditionen zu besinnen. Warum wollt ihr sowjetische Uniformen? Es reicht doch, wenn die Westdeutschen amerikanische Uniformen tragen. Ihr braucht deutsche Uniformen.“ So kam es dann. Um ein Argument in der Hand zu haben, dass die Ähnlichkeit der NVA-Uniform mit den früheren Wehrmachtsuniformen erklärte, kam dann wohl die oben genannte Erklärung ins Spiel.

Egon Krenz und der 17. Juni

Das Buch ist in vielerlei Hinsicht interessant und informativ. Denn auch kritisches wird nicht ausgeblendet. So schreibt Krenz auch über „Mein 17. Juni“. Im deutschen Westen sei vom „Volksaufstand“ geschrieben worden, in der DDR sein habe es geheißt: „faschistischer Putsch“. Krenz: „Als Schüler habe ich von beidem nichts gespürt.“ Später habe er davon gehört, dass etwa sechs Millionen Beschäftigte in der Industrie und 300 000 an den Aktionen beteiligt gewesen sein sollen.

Krenz: „Als bekannt wurde, dass Aufständische in Halle eine vermutlich ehemalige KZ-Aufseherin aus dem Gefängnis geholt und in einer Stadt im Bezirk Potsdam einen SED-Funktionär barbarisch ermordet hatten sagte ich mir: So etwas macht kein vernünftiger Arbeiter.“

Als einmal im Jahr 2011 kritische Geister in einer Radiosendung betreffs des 17. Juni zu Gericht über die DDR gesessen hatten, fragte sich Egon Krenz, warum da in der Regel die Geschichte ihres eigenen Landes ausgeblendet würde.

Schließlich hätte es doch nach der Einführung der D-Mark im Juni 1948 in den Westzonen als die Preise freigegeben wurden und so für die Masse unbezahlbar geworden seien auch spontane lokale Proteste und einen Generalstreik in der Bi-Zone gegeben. Gegen Unruhen in Stuttgart sei US-Militär mit Panzern und Tränengas vorgegangen. General Clay hatte ein Ausgehverbot verhängt. Es sei der größte Streik in Deutschland seit dem Kapp-Putsch 1920 gewesen.

Hatten „die Freunde“ um Lawrentij Berija ihre Hand im Spiele bei der Auslösung des „Volksaufstandes“?

Zum Thema 17. Juni gehört auch dies, was uns Krenz da eröffnet: Selbst ein SED-Generalsekretär konnte sozusagen nicht dekretieren, dass Stefan Heyms Buch „Fünf Tage im Juni“ in der DDR erscheinen konnte. Erich Honecker war dafür. „Die Freunde“, wie der Große Bruder in Moskau oft in der DDR genannt wurde, sagten jedoch „Njet!“. Moskaus Leute im SED-Politbüro, der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke wohl vorn dran, spurten entsprechend. Heym war der historischen Wahrheit zu offenbar zu nahegekommen: Dass nämlich bei der Auslösung des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953 sowjetische Kräfte um den potenziellen Stalin-Nachfolger Lawrentij Berija ihre Finger maßgeblich mit im Spiel hatten, Kräfte, die in der DDR lediglich noch die Verfügungsmasse für einen Deal mit dem Westen zur angestrebten Neutralisierung ganz Deutschlands sahen.

Berija wurde übrigens später erschossen.

Orientierungslos nach Stalins Tod

Apropos Stalin. Nach der Wende bezeichneten eigene Genossen Krenz als Stalinist. Der Autor bekennt freimütig, dass er von Stalin einmal viel gehalten hatte. Als er aus dem Radio von dessen Tod erfährt, habe er sich wie gelähmt und geradezu verwaist gefühlt. Im Kapitel „Orientierungslos“ (S.76) hat Krenz darüber geschrieben.

„Was war Stalin nicht alles bis jetzt gewesen? Genius der Epoche, Vater der Völker, Sieger über Hitler, Bester Freund des deutschen Volkes, Führer des Weltfriedenslager … Für mich war er ein Phänomen. Mit politischer Logik allein und trotz Kenntnis, wie Öffentlichkeit wirkt, kann ich seinen Einfluss damals auf mich noch heute nicht erklären. Von Winston Churchill ist der Satz überliefert: Stalin „übernahm das Russland des Hakenpflugs und hinterließ es im Besitz der Atomwaffe“.

Eine Seite weiter schreibt Krenz: „Erst später, als die Mythen fielen und Stalins Verbrechen bekannt wurden, als ich begann, Marx, Engels und Lenin nicht nur zu lesen, sondern auch ihre Gedankengänge zu verstehen, verblasste mir das Heldenbild des Generalissimus. Freilich unter großen Schmerzen und nie vergessend, dass es gesellschaftliche Umstände gab, die sein Handeln begünstigt hatten. Und dass nie vergessen werden darf, dass er der oberste Kommandierende jener Armee war, die Deutschland vom Faschismus befreit hat.“

Viermächteabkommen: Leonid Breshnew stimmte sich eng mit Erich Honecker ab – hinter dem Rücken Walter Ulbrichts

Die Ausführungen in Krenz‘ Kapitel „Abkommen, Anerkennung, Abgrenzung“ (S.217) enthalten Informationen, die zumindest ich so noch nie zuvor irgendwo gelesen hatte. Das Kapitel und behandelt im Besonderen das sogenannte Viermächteabkommen über Berlin, das 1971 zwischen der UdSSR, den USA, Frankreich und Großbritannien abgeschlossen wurde. Man ist erstaunt, zu erfahren, dass sich KPdSU-Chef Leonid Breshnew betreffs dieser Verhandlungen eng mit SED-Politbüromitglied Erich Honecker abstimmte. Der Normalzustand war ja, dass die Besatzungsmacht Sowjetunion bestimmte, was in der DDR umgesetzt werden musste. Wie umgekehrt vorauszusetzen war, dass in Westdeutschland hauptsächlich die westlichen Alliierten – allen voran die USA – bestimmten wie der Hase zu laufen hatte.

Was ja, nebenbei bemerkt, noch heute so zu sein scheint. Würde sich sonst die Bundesregierung wie ein Vasall gegenüber den USA verhalten?

Im Fall des Viermächteabkommens aber legte offenbar der KPdSU-Generalsekretär Breshnew großen Wert auf die Zustimmung der DDR. Tief blicken dabei lässt die Tatsache, dass Breshnew und Honecker hinter Walter Ulbrichts Rücken handelten.

Ebenso ging es beim bemerkenswerten Besuch des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt in Breshnews Urlaubsdomizil Oreanda auf der Krim 1971 am Schwarzen Meer zu. Der Gastaufenthalt Brandts war zwischen dem KPdSU-Generalsekretär und Honecker abgestimmt worden. Brandt und Breshnew am Strand des Schwarzen Meeres beim Baden und bei Bootsfahrten. Was dort besprochen wurde, „erfuhr Honecker noch am gleichen Abend“ – sozusagen brühwarm.

Paranthese: Sehr aufschlussreich ist auch das Kapitel „Zwischen Ulbricht und Honecker“ (S.163). Auch Walter Ulbricht bekommt in Krenz‘ Erinnerung sozuagen ein ganz anderes Gesicht. In westlichen Erzählungen kaprizierte man sich immer hauptsächlich auf dessen Sächseln beim Reden. Und lachte über „Spitzbart“. Ein bisschen ließ man ihn so als eine Art Tölpel aussehen. Egon Krenz (S.172): „Ulbricht war eine Autorität und genoss hohen Respekt. National wie international. ‚In Deutschland hat er‘, urteilte der bürgerliche Publizist Sebastian Haffner über Ulbricht ’nach Adenauers Abgang keinen Gegenspieler, der ihm das Wasser reichen könnte.‘ Der weltläufige Historiker nannte ihn gar den ‚erfolgeichsten deutschen Politiker seit Bismarck.“

Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“

Egon Krenz erinnert sich: „Während Gromyko und Falin noch bis Anfang 1971 versuchten, Ulbricht von der Notwendigkeit des Abkommens zu überzeugen, hatten gleichzeitig Breshnew und Honecker hinter deren Rücken alles bereits besprochen und verabredet: Was für die Entspannung notwendig sei, könne die UdSSR auch im Namen der DDR tun. Breshnew hatt vor der endgültigen Abstimmung der Vier Mächte Honecker gefragt, ob die DDR-Führung mit dem Entwurf des Abkommens einverstanden sei. ‚Völlig einverstanden‘, hatte Honecker erklärt.

Krenz erklärt zur engen Koordinierung: „Die DDR saß zwar nicht mit am Verhandlungstisch, aber ohne ihre Zustimmung wurde nichts vereinbart. Dafür sorgte Breshnew persönlich. Regelmäßig rief er Honecker an, stimmte sich über wichtige Schritte der Verhandlungen mit ihm ab.“

Egon Krenz weist zum Abschluss dieses Kapitels auf eine Fehlstelle hin: „Heutzutage ist es üblich die Ostpolitik der SPD als Beitrag zur Entspannung zu loben. Den Beitrag der DDR kennt kaum jemand. Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“ (S.224)

Egon Krenz auf der Parteihochschule in Moskau und der Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialismus

Nicht nur im Kapitel „Parteihochschule Moskau“ erinnert sich Krenz gewiss leicht schlechten Gewissens daran, dass es während seines Aufstiegs in der Politik immer wieder seine Frau Erika (sie starb 2017) war, die ihm immer wieder Kraft gab, obwohl sie oft mit dem Alltag daheim allein da stand. Dabei hätte auch sie durchaus das Zeug dafür gehabt, höher aufzusteigen. Das Studium in der Sowjetunion bedeutete Krenz viel. Er lernte die Leute dort kennen. Schließlich erlernte er die Russische Sprache perfekt sprechen und schreiben. Und da er darauf bestanden hatte mit einem sowjetischen Kommilitonen auf einer Studentenbude zu wohnen, wurde er auch schon mal beschämt. Während er Anzüge und reichlich Kleidung mitgebracht hatte, die kaum in den schmalen Einbaukleiderschrank passten, war sein sowjetischer Stubengenosse Wolodja mehr als bescheiden ausgestattet: „Er öffnete seinen Kleiderschrank. Darin hing eine Hose und eine Jacke. ‚Das ist Kommunismus‘. Dann zeigte er auf meinen vollen Schrank: ‚Das ist euer Sozialismus.’“ (S.157)

Einmal traf Krenz einen Mann am Tag der Oktoberrevolution in einer Runde anderer Menschen. Der besaß nur ein halbes Gesicht. Krenz: „Als er deutsche Worte hörte, belegte er mich mit russischen Flüchen. ‚Ich kann diese Mördersprache nicht hören‘, rief er in den Raum. Krenz schwieg betreten, erzählt er. Krenz entgegnete ihm auf Russisch: „Was sind Sie für ein Kommunist? Marx und Engels waren auch Deutsche!“

Der in der Runde wohl hoch respektierte Mann antwortete: „Sie sind Kommunist?“ Krenz bejahte.

Der Gast, ein in seiner Funktion als Partisanenkommandeur im Zweiten Weltkrieg schwer verwundetet gewesener Mann, schwieg. Er verlangte einen Wodka. Nachdem er das Wasserglas leergetrunken hatte, drückte er Krenz ein gefülltes Glas in die Hand und sprach: „Entschuldigen Sie. Trinken wir auf die Zukunft.“

Egon Krenz früher in ein Licht gesetzt haben, in welches er nicht gehört – den Schuh muss ich mir anziehen

Zugegebenermaßen hielt ich Egon Krenz – wie viele andere führende Genossen – zu DDR-Zeiten für einen der üblichen Apparatschiks in der DDR, noch dazu für einen „Berufsjugendlichen“, wie er ob seiner früheren Funktionen geschimpft wurde. Für einen der Leute eben, die im stocksteifen, ideologiegetränkten Deutsch, in der SED-Propaganda, namentlich im Neuen Deutschland, aber auch andren SED-Blättern und in leicht abgeschwächter Form auch in den Zeitungen der Blockparteien vorkamen. Auch Krenz, der ja vorhatte, Journalist zu werden, kritisiert diese Sprache heute. Und wohl auch damals gefiel es ihm bereits nicht.

Ich fühle, dass ich Egon Krenz damals in ein Licht gesetzt habe, in welches er nicht gehört. Den Schuh muss ich mir anziehen. Da habe ich zu kurz gedacht. Ich muss einiges revidieren.

Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind, schrieb ich eingangs.

Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt. Aber er erfuhr auch Beistand

Die Autobiografie ist sehr gut geschrieben. Mit Herzblut, ohne ideologisch oder agitatorisch zu tönen. Es erklärt den Menschen Egon Krenz. Sein Wirken. Und den Anspruch, welcher er dabei an sich selbst gelegt hat. Da wird auch nicht mit Selbstkritik gespart. Auch nicht an Kritik an der DDR und deren führender Partei der SED, sowie an bestimmen politischen Entscheidungen und eingeschlagenen Entwicklungswegen, gerade auch auf ökonomischen Gebiet. All das klingt an. Nun wird es sicher Leserinnen und Leser geben, denen im Buch zu wenig Kritik an der DDR vorkommt. Mag sein. Dann ist das eben so.

Die Lektüre des ersten Bandes von Krenz‘ Erinnerungen ist spannend von Zeile zu Zeile. Es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Und es enthält einiges an Informationen, welche einen entweder so oder eben auch noch gar nicht untergekommen sind.

Als die DDR an ihrem Ende stand, wurde jemand wie Egon Krenz einmal mehr verächtlich gemacht und schnell ins Abseits gestellt.

Aber fast ähnlich wie bei Erich Honecker gab es auch bei Egon Krenz jemand, in dem Fall ein Superintendent, welcher ihm – noch dazu am Heiligen Abend 1989 – versprach, Beistand zu leisten.

Zu lesen gleich im Prolog zum ersten Erinnerungsband. Beide, der Kirchendiener und der vor kurzem noch gewesene Parteidiener, sprachen am Heiligen Abend über Gott und die Welt. Kirchenmann Krätschell sprach Krenz gegenüber, „dass er nun vom Leben beurlaubt sei“. Krenz: „Mit 52 Jahren? Soll alles vergebens gewesen sein, wofür ich seit meiner frühsten Kindheit gelebt hatte?“

Klein ließ sich Krenz durch die und auch durch andere nicht kriegen

Seine Partei, die SED, entledigte sich seiner schnöde. „Manche Weggefährten nannten sich jetzt ‚demokratischen Sozialisten‘, mich einen ‚Stalinisten‘. In der ihrer Partei gebe es keinen Platz für mich, meinten die Eifrigsten. Wirklich kurios. Dieser Partei nannte sich seit einigen Tagen SED-PDS. Ich war seit 1953 in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aus der diese SED-PDS hervorgegangen war. Die eilig Gewendeten beabsichtigten, mich zum Parteilosen zu machen?“ Krenz entschied sich nicht zu schmollen.

In ihm reifte ein Entschluss, dem er bis heute folgt: „klein kriegen die dich nicht. Ich hatte zwar verloren, war gestrauchelt, gestürzt, aber ich würde nicht liegenbleiben. Ich nicht. Schon um niemanden diesen Triumph zu gönnen, mich Fall gebracht zu haben. Da bin ich wie meine Landsleute hier oben im Norden: eindeutig, stur und beharrlich. Prinzipien brauchen eben einen harten Schädel. Das ist auch gut für die Beulen, die mir nicht nur der politische Gegner zugefügt hat.“

Lest dieses Buch! Auch den Altbundesbürgern rufe ich zu: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch

Leute, lest dieses Buch! Es erweitert den Denkhorizont. Auch wenn in den Altbundesländern sozialisierte Menschen womöglich das Gesicht verziehen mögen (jahrzehntelange Indoktrination sitzt halt tief), wie ich früher, wenn mir meine Mutter Wirsingkohlsuppe vorsetzte: Wagt es wacker! Greift zu diesem Buch.

Zum Buch

»dass ein gutes Deutschland blühe«
Die Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR

Der einstige Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Partei machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«. Als er dessen Nachfolger an der Spitze des Staates wurde, war der Untergang des Landes nicht mehr aufzuhalten. Durch sein gesamtes Leben zieht sich gleichsam leitmotivisch die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft, »dass ein gutes Deutschland blühe«, wie es in Brechts »Kinderhymne« heißt, die in jener Zeit entstand, in die auch der Beginn des politischen Lebens von Krenz fällt. Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt, setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste. Dadurch bekommt dieser erste – wie auch jeder weitere – Teil der Autobiografie des DDR-Staatsmannes absolute Eigenständigkeit.
Der in Kolberg geborene Krenz berichtet über seine Kindheit, die durch die Kriegsflucht mit seiner Mutter nach Ribnitz-Damgarten 1945 ein ungewolltes jähes Ende fand. Zu diesem Lebensabschnitt gehört der Umstand, dass der siebenjährige Krenz in einer der Massenszene des Ufa-Films »Kolberg« mitspielte. Es sollte der letzte Spielfilm sein, der im untergehenden Reich Premiere hatte. In seiner neuen Heimat, bei den Wahlen 1946, machte Krenz für die CDU Wahlkampf, indem er SED-Plakate überklebte. Aus dieser ersten Begegnung mit Politik entwickelten sich Kontakte, die für ihn prägend wurden und zu seinem entschiedenen Ja zum Sozialismus führten. Wer waren die Leute, die in der DDR Politik machten? Welche Politik? War der Wechsel von Ulbricht zu Honecker eine Umbruchszeit? Krenz erzählt pointiert, verwebt Damaliges mit Heutigem, liefert Fakten, reflektiert seine Erfahrungen tief, kritisch und streitbar. Dadurch entsteht ein dichter, lebhafter, höchst informativer Text, der die Memoiren zu einem herausragenden Leseerlebnis macht und darüber hinaus auch eine Quelle für all jene ist, die sachlich an Geschichte, Politik und einem Nachdenken über die Gesellschaft interessiert sind.

Quelle: edition ost

Egon Krenz

Aufbruch und Aufstieg

Erinnerungen

352 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen, Personenregister

erscheint 02. August 2022

Buch 24,– €

ISBN 978-3-360-02805-1

eBook 19,99 €

ISBN 978-3-360-51052-5

Anbei Video zur Buchpremiere:

Anbei: Interview-Film von TV BERLİN

Ramon Schack interviewt Egon Krenz