Srećko Horvat (DiEM25): „Wir alle sind Julian Assange!“ – Demo am 2. Mai in Berlin. Es geht um die Zukunft der freien Presse

„Es gab einmal einen Traum davon, was Europa sein könnte, und Europa hat diesen Traum verloren. Weil dieser gemeinsame Traum nun fehlt, zersplittert Europa und lässt Raum für skrupellose Staaten, die die wirklichen Interessen der Europäer*innen missachten (…). Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Traum endgültig platzt, dagegen müssen wir kämpfen. Andernfalls kommt der Winter, kommt Krieg und das Ende Europas. Wenn wir nicht alles daransetzen, Europas derzeitige Richtung zu ändern (…), werden wir eine sehr lange und harte Nacht durchzustehen haben.“

(Julian Assange, Mitglied des DiEM25-Beirats, bei der Gründungsveranstaltung von DiEM25 in Berlin)

Aufruf von DiEM25

„An diesem ersten Verhandlungstag im Verfahren um Assanges Auslieferung vor einem Londoner Gericht lädt DiEM25 dazu ein, sich dem öffentlichen Protest von DiEM25 und Demokratie in Europa anzuschließen – an einem der symbolträchtigsten Orte Deutschlands, dem Brandenburger Tor.

DiEM25: „Am Donnerstag, den 2. Mai 2019 werden wir ganz in der Nähe der Botschaften Großbritanniens und der USA demonstrieren – jener beiden Länder, die die Zukunft von WikiLeaks-Gründer und DiEM25-Beiratsmitglied Julian Assange und die der Pressefreiheit in ihren Händen halten.

Deutschland kann und sollte da nicht unbeteiligt zusehen.
Denn wie wir schon seit Edward Snowdens Enthüllungen bezüglich der Spionagetätigkeit der NSA in Deutschland wissen, ist auch die Souveränität Deutschlands, seiner Journalisten und die Privatsphäre seiner Bürger bedroht. Bei der Verhandlung am 2. Mai geht es also um mehr als um Julian Assange. Es geht um unser Recht zu wissen. Es geht um jeden von uns.

Und auch weil Chelsea Manning wegen ihrer Weigerung, gegen WikiLeaks auszusagen, weiterhin im Gefängnis ist, war der Schutz von Whistleblowern niemals wichtiger und dringender – überall in Europa, auch in Deutschland. Weltweit steht viel auf dem Spiel.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die USA mehrere Anklagen gegen Julian vorbereiten. Dieses Verfahren ist der Versuch, den seit langem etablierten Quellenschutz sowie Journalisten zu kriminalisieren, die mit der Hilfe von Whistleblowern im allgemeinen Interesse geheimgehaltene Informationen veröffentlichen.

Zahlreiche Organisationen, die sich für Pressefreiheit einsetzen, Nachrichtenmedien, Repräsentanten der UN, Politiker und andere öffentliche Personen verurteilten Julians Verhaftung und mögliche Auslieferung und warnten vor ernstzunehmenden Folgen.

Was immer bei dieser Verhandlung herauskommt: Allein die Tatsache, dass Julian im Belmarsh- Gefängnis, dem „britischen Guatanamo“, in Einzelhaft gehalten wird, ist für uns Grund genug, am Brandenburger Tor gegen seine unmenschlichen Haftbedingungen zu protestieren und unüberhörbar zu sagen: Stoppt Julian Assanges Auslieferung! (Falls ihr nicht in Berlin sein könnt, teilt zumindest diesen Aufruf und unterzeichnet die Petition)

Der „Wir alle sind Julian Assange“-Protest startet um zwölf Uhr mit diesen Rednern: Srećko Horvat, kroatischer Philosoph und Mitgründer von DiEM25, Angela Richter, Regisseurin, Annegret Falter, Vorstandsvorsitzende des Whistleblower-Netzwerks e.V., und Esteban Servat, Biologe und Gründer von EcoLeaks. Nach den Reden wird ein kurzes Statement von Edward Snowden verlesen, das Angela Richter speziell für diese von DiEM25 initiierte Demonstration aus Moskau mitgebracht hat.

Nach den Worten von Edward Snowden geht es bei unserer Demonstration nicht nur um „einen Mann, der in Gefahr ist, sondern um die Zukunft der freien Presse“.

Und hier eine Botschaft von DiEM25 und Demokratie in Europa an alle deutschen Wähler: Gebt Eure Stimme bei der Europawahl keiner Partei, die nicht bereit ist, sich für den Schutz von Whistleblowern, für die Pressefreiheit und gegen Julians Auslieferung in die USA einzusetzen!

Ohne Pressefreiheit gibt es keine Zukunft und keine Demokratie für Europa!

Wir freuen uns darauf, Dich am 2. Mai um 12 Uhr am Brandenburger Tor (Pariser Platz) zu sehen!

Hier gibt es Masken für den Protest: Maske-DeutschlandMaske-USAMaske-Großbritannien

Wir alle sind Julian Assange!

Srećko Horvat
>> DiEM25 co-founder“

Quelle: DiEM25

Video oben: via Laibach/You Tube

IALANA fordert die sofortige Freilassung von Chelsea Manning (Whistleblowerpreisträgerin 2001) und Julian Assange

„Im April 2010 veröffentlichte die Whistleblower-Plattform Wikileaks von Assange hunderttausende als geheim klassifizierte US-Dokumente. Dadurch wurden schlimme völkerrechtliche und kriminelle Verstöße der USA aufgedeckt, darunter das Video „Collateral Murder“, das ein Kriegsverbrechen der Besatzung eines Kampfhubschraubers aus 2017 im Irakkrieg dokumentiert, bei dem 12 unbewaffnete Zivilisten, darunter 2 Reuters-Korrespondenten, mit einem Maschinengewehr ermordet wurden. Die beteiligten Soldaten waren nicht bestraft worden. Das Video ging um die Welt und sorgte für breite Empörung.

Die US-Army ermittelte die Soldatin Manning als angebliche Informantin und setzte sie kurz danach fest. Dem damals noch nicht namentlich festehenden Informanten verliehen IALANA und VDW als „Anonymus“ den Whistleblowerpreis 2001. Manning wurde dann von einem Militärgericht nach dem „Espionage Act“ von 1917 in einem skandalösen Verfahren zu der horrenden Strafe von 35 Jahren Gefängnis verurteilt (vgl. A.Falter in „Whistleblower in der Sicherheitspolitik. Awards 2011/13, S. 183 ff. ). Bis dahin waren erst 3 Whistleblower nach diesem Gesetz verurteilt worden, das mit völlig unbestimmten Formulierungen hohe Strafen einschließlich Todesstrafe androht. Nach internationalen Protesten begnadigte 2017 Obama Chelsea Manning nach 7 Jahren Haft im Männergefängnis.

Überraschend wurde sie vor 4 Wochen wieder festgenommen, jetzt in Beugehaft, weil sie es gegenüber einer Grand Jury abgelehnt hatte, über ihre Zusammenarbeit mit Julian Assange auszusagen. Sie verwies auf ihre Angaben in ihrem eigenen Verfahren – mehr gebe es nicht zu sagen. Darauf wurde sie in unbefristete Einzelhaft genommen, bis sie sich zur Aussage bereit erkläre. Sie leidet unter Panikattacken und Depressionen – Folgen der langen Militärhaft.
Auch Assanges Gesundheitszustand ist bedenklich auf Grund des Ausnahmezustandes in der ecuadorianischen Botschaft.

Beide in Haft – die Whistleblowerin und der Mann, der Preise dafür verdient hat, dass er ihre brisanten Informationen vor 9 Jahren veröffentlicht hat, beide nach 7 Jahren Freiheitsentzug nun wieder festgenommen. Die Koinzidenz lässt ahnen, dass Schlimmes auf Assange zukommt für den Fall, dass er in die USA abgeschoben werden sollte: eine Anklage nach dem Espionage Act mit mindestens 35 Jahren Strafe.

Dagegen ist fast vergessen, dass die Enthüllungen damals zahlreiche kriminelle Rechtsbrüche ans Licht brachten, die zu Geheimnissen erklärt worden waren. IALANA ist der Auffassung, dass Rechtsbrüche ohnehin keinen Geheimnisschutz beanspruchen dürfen und die Offenlegung solcher Vorgänge von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt werden muss.
Zwar haben die USA ihr Auslieferungsersuchen, das zur Festnahme Assanges geführt hat, mit einer weniger schweren Beschuldigung begründet, die nur mit maximal 5 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden könnte. Aber selbst wenn die britische Regierung die Auslieferung nur für diese Anklage genehmigen würde: wer möchte seine Hand ins Feuer dafür legen, dass solche Garantien nach internationalem Recht von den USA dann eingehalten würden?

Wir erinnnern: 1999 hatte im Fall der deutschen Brüder LaGrand ein Gericht in Arizona die beiden wegen eines Bankraubs zum Tode verurteilt, ohne ihnen entsprechend internationalem Recht konsularischen Beistand zu gewähren. Darauf reichte die Bundesrepublik Deutschland Klage wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs ein. Das US-Gericht wies die Klage ab. Auch die Klage beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten blieb erfolglos. Eine beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eingereichte Klage führte zunächst zu einer einstweiligen Anordnung des IGH vom 3. März 1999, die Vollstreckung aufzuschieben, die allerdings von den US-amerikanischen Behörden nicht beachtet wurde. Die Brüder wurden hingerichtet. Im Jahre 2001 urteilte der IGH, dass die USA mit der Hinrichtung gegen internationales Recht verstoßen hätten.

Unter der Regierung Trump ist der Bruch internationaler Abkommen, sofern sie die Machtentfaltung der USA beschränken, zum Programm geworden. 2010 forderte Trump für Assange bereits die Todesstrafe („death penalty, or something“)
Die Auslieferung Assanges in die USA muss daher unbedingt verhindert werden. Statt dessen fordern wir seine sofortige Freilassung.
Die Verletzung der Meldeauflage im Jahr 2012 rechtfertigt keine Haftstrafe, zumal die schwedische Justiz den damaligen Haftbefehl längst aufgehoben hat.

Zu der jetzigen Anklage der USA erklärt Glenn Greenwald in „The Intercept“ am 12.4.19: die Anklage versuche das zu kriminalisieren, was für Journalisten nicht nur erlaubt, sondern geradezu ethische Pflicht sei: den Whistleblowern zu helfen, ihre Quellen zu anonymisieren („the indictment seeks to criminalize what journalists are not only permitted but ethically required to do: take steps to help their sources maintain their anonymity“). Daher sei die Anklage als schwerer Angriff auf die Pressefreiheit zu qualifizieren.

Wir protestieren auch gegen das Vorgehen der Regierung Moreno bei Beendigung des Asyls
Assange war 2012 Asyl in der Londoner Botschaft durch den damaligen Präsidenten Correa gewährt worden. Ergänzend wurde das Botschaftsgebäude abgesichert gegen ein befürchtetes illegales Eindringen seitens britischer Behörden. Nach der Wahl des neuen Präsidenten Lenin Moreno im Jahr 2017 änderte sich das Vorgehen: nun wollte die Regierung Assange aus der Botschaft raus haben. Zunächst wurde versucht, durch Erteilung der Staatsbürgerschaft und Aufnahme in den diplomatischen Dienst Immunität für eine Ausreise zu erreichen. Das scheiterte an der Weigerung Londons, Assange zu akkreditieren. Dann wurden die Bedingungen für den Aufenthalt für Assange so verschlechtert, dass er vielleicht freiwillig die Botschaft verlassen würde, oder wegen seines Gesundheitszustandes in ein Krankenhaus gebracht werden müsste und dort festgenommen werden könnte. Auch das führte nicht zum Erfolg.

Gestern wurde nun Assange ohne Vorwarnung die Flüchtlingseigenschaft aberkannt – unter Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die dafür strenge Voraussetzungen vorgibt, die nicht vorlagen. Weiter wurde die Pflicht zur vorherigen Anhörung mit Gelegenheit zur Einlegung von Rechtsmitteln verletzt. Dann ließ der Botschafter die britische Polizei ein ins Botschaftsgebäude, um Assange überraschend festzunehmen und gewaltsam nach draußen zu bringen zu lassen. Und zuletzt aberkannte Ecuador anschließend Assange die Staatsangehörigkeit, nachdem es den eigenen Staatsangehörigen zuvor ausgeliefert hatte, was z.B. in der BRD durch Art. 16 Abs.2 Grundgesetz und auch in vielen Ländern Südamerikas ausdrücklich verboten oder zumindest undenkbar ist.
Wir fordern: bestraft die Täter der geheim gehaltenen Verbrechen, nicht diejenigen, die sie aufdecken und veröffentlichen!“

Quelle: IALANA (Deutsche Sektion der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms IALANA ist eine überparteiliche und unabhängige internationale Organisation) via Facebook.

Hinweis: Ich empfehle zum Thema auch den Beitrag „Assange und der verkommene Rechtsstaat“ von Hermann Ploppa.

„kulturell leben“ im Dietrich-Keuning-Haus Dortmund: Zu Gast waren drei SeenotretterInnen

Auf dem Podium: Bastian Pütter, Diane Glossop, Claus-Peter Reisch und Till Klein (v.l.n.r.). Fotos: C. Stille

Menschen versuchen aus purer Verzweiflung über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Längst ist das Mittelmeer für viele aus ihren Heimatländern vor Krieg und Verheerung geflohenen Menschen zum Grab geworden. Nicht zuletzt auch aufgrund der ausbleibenden Hilfe und Rettung seitens der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Mehrere zivile Organisationen haben sich der Seenotrettung auf dem Mittelmeer verschrieben. Obwohl sie gemäß internationalem Seerecht eine Verpflichtung an alle Schiffe darstellt, gerät die Seenotrettung in letzter Zeit mehr und mehr in die Kritik, entspricht das entsprechende Engagement für die Rettung von Menschenleben doch nicht mehr der europäischen Politik der Abschottung und Abschreckung. Seenotrettung wird nicht mehr gewürdigt, sondern kriminalisiert und mit dem Vorwurf der direkten oder indirekten Unterstützung von Schleusern konfrontiert.

Drei AkteurInnen dreier Seenotrettungsorganisationen berichteten im Dietrich-Keuning-Haus über ihr ehrenamtliches Engagement

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „kulturell leben“ des Dietrich-Keuning-Hauses kamen am vergangenem Dienstag in einer Podiumsdiskussion drei AkteurInnen der Organisationen Sea-Watch, sea-eye und MISSION LIFELINE e. V. zu Wort. Thematisiert wurde u.a. das Sterben im Mittelmeer, die Abschottung Europas sowie die Kriminalisierung der HelferInnen der Organisationen.

Die Seenotretter sehen sich weder als Helden und erst recht nicht als Kriminelle

Podiumsgäste waren Krankenschwester Diane Glossop von Sea-Eye, Claus-Peter Reisch von Mission Lifeline sowie der Arzt und Taucher Till Klein von Sea-Watch. Die Podiumsdiskussion war mit „Helden oder Kriminelle?“ überschrieben. Den Gästen gefiel der provokant gedachte Titel „nicht gut“, wie Till Klein es für alle drei Gäste auf den Punkt brachte . Denn weder sähen sie sich als Helden, sondern wie es Till Klein formulierte, empfinden sie ihr Tun vielmehr als (mit-)menschliches Handeln. Erst recht weisen sie zurück, sie wären Kriminelle. Anwürfe, letzteres betreffend, führen sie auf fehlenden Hintergrundinformationen zurück. Klein selbst verurteile die Menschen nicht, die sich so äußerten. Freilich gebe es einfach auch Leute, die von Hass angetrieben seien. Doch damit könne man sich nicht ständig auseinandersetzen, wolle man seine Arbeit auf See gut machen.

Alle drei Aktivisten sehen es als bewiesen an, dass – wie von manchen PolitikerInnen behauptet – die Flüchtlinge nicht von Seenotrettern erst angezogen würden. Die Menschen seien von höchster Not getrieben und gingen deshalb auch, wenn weniger Rettungsboote unterwegs seien oder gar keine, große Risiken ein. Die Einsätze der Seenotrettungsorganisationen wird ausschließlich über viele kleine aber auch größeren Spenden finanziert.

Wie Claus-Peter Reisch Kapitän auf der „Lifeline“ wurde

Claus-Peter Reisch aus Landsberg hat für die Arbeit von Mission Lifeline unterdessen zwei wichtige Preise entgegennehmen dürfen. Darunter erst kürzlich den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2019. Der Kapitän des Rettungsschiffes „Lifeline“ erzählte mir vor der Veranstaltung, wie er als gelernter Kraftfahrzeugmechaniker und Kaufmann zur Seenotrettung gekommen ist. Viele Jahre habe er, so Reisch, „ein ziemlich erfolgreiches Unternehmen“ geführt, dass er verkauft habe. Bereits im Alter von vierzehn Jahren habe er zu Segeln begonnen.

Claus-Peter Reisch.

Claus-Peter Reisch hat alle deutschen Sportbootscheine, weshalb er auch die „Lifeline“ steuern dürfe. Derzeit steht der Kapitän noch in Malta vor Gericht. Bei negativem Ausgang drohen dem Kapitän ein Jahr Haft. Ihm wird vorgeworfen, dass das Boot nicht ordentlich registriert worden ist. Reisch weist das zurück. Die derzeit in Valletta beschlagnahmte „Lifeline“ laut den Papieren unter holländischer Flagge, Heimathafen Amsterdam registriert. Die Holländer hätten ihnen monatelang danach die holländische Flagge entzogen. Reisch: „Also muss ich sie ja vorher gehabt haben, sonst könnten sie sie mir ja nicht entziehen.“ 2015 ist Claus-Peter Reisch mit seinem eigenen Boot von Sardinien aus nach Griechenland gefahren. Dort fielen ihm die abgewrackten Holzboote auf, mit denen Flüchtenden damals übers Meer gefahren seien. Er habe sich gefragt, was mache man, wenn man solche kaum fahrtüchtige Boote auf hoher See treffe. Schließlich fuhr er 2017 – seine Firma hatte er bereits verkauft,von Mieteinnahmen kann er gut leben – probeweise auf einer Rettungsmission mit. Was er dort sah, bewegte ihn zum Start einer eigenen Rettungsmission. Im Augenblick sei man dabei, ein neues Schiff zu kaufen, weil die „Lifeline“ ja weiter an der Kette liege.

Reisch: „Ich hoffe, dass alle diese kleinen Bausteine ein Gebäude ergeben“

Während der Verleihung des Lew-Kopelew-Preises ist Kapitän Reisch neben „vielen anderen wichtigen Leuten, auch auf den Außenminister Luxemburgs, Jean Asselborn, getroffen. So etwas nutze er, um über die Seenotrettung zu informieren. Reisch: „Ich hoffe, dass alle diese kleinen Bausteine ein Gebäude ergeben.“

Man muss auf jeder Klaviatur spielen“, findet Claus-Peter Reisch

„Ich war ja jetzt bei Seehofer“, erzählte Reisch. Es sei ihm immerhin gelungen, in dem ihm – nach einem zuvor abgelehnten – abgenötigten Gespräch über zwei Stunden mit Bundesinnenminister Horst Seehofer recht sachlich und konstruktiv zu sprechen. Er habe ihn darüber informiert, was sich auf seinem Schiff, auf welchem sich zum Beispiel 200 Gäste befinden, so abspiele. Kurze Zeit nach dem Gespräch habe Deutschland verkündet ein Teil der momentan auf dem Schiff „Alan Kurdi“ befindlichen Geflüchteten in Deutschland aufzunehmen. Reisch habe den Eindruck gewonnen, dass das Gespräch mit Seehofer möglicherweise etwas bewegt habe. Ein weiteres Gespräch, so Reisch, mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder stehe an. „Man muss auf jeder Klaviatur spielen“, ist sich der engagierte Mann aus Landsberg sicher.

Mit dabei der Verein Seebrücke-Dortmund

Mitglieder der Seebrücke Dortmund.

Vor Beginn der Podiumsdiskussion stellte sich der Verein Seebrücke-Dortmund & Flüchtlingspaten e.V. vor und warben um Unterstützung und Mitarbeit. Sie kämpften dafür, dass Städte für Geflüchtete zu „sicheren Häfen“ würden, indem sie diese aufnähmen.

Film und Hassposts riefen Betroffenheit beim Publikum hervor

Der in die Situation der Seenotretter einführende , kurze Filmausschnitt rief Betroffenheit beim Publikum hervor. Besonders die Szenen, welche eine Rettungsaktion vor der Küste Libyens bei Nacht und schwerem Seegang zeigte. Aber auch die im Film verlesenen hasserfüllten und rassistisch tönenden Posts auf Twitter, gerichtet gegen die Retter, empörten.

Krankenschwester Diane Glossop will Leben retten: „im Mittelmeer zu ertrinken ist kein würdiger Tod“

Krankenschwester Diane Glossop tut ehrenamtlich Dienst auf dem unter deutscher Flagge fahrendem ehemaligen DDR-Forschungsschiff „Professor Albrecht Penck“. Inzwischen wurde das Schiff auf den Namen „Alan Kurdi“ getauft. Alan Kurdi hieß der kleine Junge, dessen Kinderleiche im

Diane Glossop.

September 2015 an einem türkischen Stand angespült worden war. Das Bild von ihr schockierte damals die Welt.

Aktuell hat die vom Vater des kleinen Jungen getaufte „Alan Kurdi“ Gerettete an Bord, darf aber momentan nirgendwo anlegen. Diane Glossop sagte, sie müsse als Krankenschwester Leben retten, manchmal auch Menschen einen würdigen Tod zu ermöglichen. Sie findet, sagte sie Moderator Bastian Pütter (Redakteur des Straßenmagazins „bodo“), „im Mittelmeer zu ertrinken ist kein würdiger Tod“ – die Motivation für ihr Engagement bei Sea-Eye. Sehr beeindruckt haben die Frau die Begegnungen mit den geretteten Menschen an Bord. In Libyen würden geflüchtete Menschen wie Sklaven gehalten, Frauen zur Prostitution gezwungen. Angehörige der Geflüchteten werden mit Foltervideos erpresst, damit sie den Verbrecherbanden Geld schicken. Wäre aus den Menschen nichts mehr herauszuholen und deren Arbeitskraft durch zwei Jahre in Lagern Libyens erschöpft „werden die Menschen regelrecht auf dem Meer entsorgt“, sagte Diane Glossop.

Flüchtlinge brauchen oft zwei Jahre bis sie überhaupt auf ein Boot und aufs Mittelmeer kommen, weiß der Arzt Till Klein

Der 30-jährige Arzt Till Klein ist neben seiner beruflichen Tätigkeit vielseitig ehrenamtlich tätig.

In Deutschland gehe es ihm sehr gut, er habe eine gute Ausbildung genießen dürfen. Ein Teil davon möchte gerne über seine ehrenamtliche Einsätze zurückgeben. Klein gab zu bedenken, die meisten Flüchtlinge, ehe sie überhaupt aufs Mittelmeer kämen, müssten oft ein zwei Jahre in Anspruch nehmenden, beschwerlichen und gefährliche Weg an Land Afrika hinter sich bringen.

Ein EU-Sicherheitssystem behindert Geflüchtete in Mali und Niger. Viele von ihnen sterben in der lebensfeindlichen Wüste

In Mali und Niger baue die EU ein Sicherheitssystem auf, wusste Claus-Peter Reisch zu informieren. Man versuche die Hauptpisten zu sperren. Schleuser und Schlepper wichen auf Nebenstrecken aus.

Interessiertes Publikum.

Nicht wenige von ihnen stürben unterwegs in der lebensfeindlichen Wüste. Weil etwa Wasserlöcher für die Geflüchteten nicht mehr zugänglich seien. Stets müssten Schlepper bezahlt werden. All das wisse man aus Gesprächen mit Geflüchteten an Bord.

Europa kann nicht alle Menschen der Welt in Not aufnehmen, sagte Till Klein. Doch selbst wer kein Bleiberecht habe, habe dennoch das Recht auf Leben.

Till Klein denkt realistisch: Letztlich könne Europa nicht alle Menschen der Welt in Not aufnehmen. Aber es gehe erst einmal darum, Menschen vor

Till Klein.

dem Sterben im Mittelmeer zu bewahren. „Dass heißt aber nicht, dass alle Menschen, die es rüber schafften, das Recht haben hierzubleiben“, merkte Klein an. Aber wer kein Bleiberecht habe, habe dennoch das Recht auf Leben.

Ausgebildete Geflüchtete abzuschieben, meint Kapitän Reisch, ist irrsinnig. Aber problematisch sei auch, anderen Ländern Fachkräfte abzuwerben

Claus-Peter Reisch hielt es allerdings geradezu irrsinnig, dass hierzulande Geflüchtete abgeschoben werden, die eine Ausbildung absolviert hätten und gut integriert seien. Andererseits problematisierte er, dass aus manchen Ländern, in denen kein Krieg herrsche, gut auf Kosten der Staaten ausgebildete Fachkräfte, darunter Ärzte und Ingenieure nach Deutschland abgeworben würden. Mit dem Effekt, dass dort ein entsprechender Mangel entstehe.

Zuallererst Fluchtursachen bekämpfen!

Einig war man sich darüber, dass zuallererst Fluchtursachen aktiv bekämpft gehörten. Es könne beispielsweise nicht sein, dass von der EU subventionierte landwirtschaftliche Produkte nach Afrika geliefert würden und dort die heimischen Farmer kaputtmachten, weil die Preise von EU-Produkten unter denen in afrikanischen Ländern lägen. Bodenschätze würden von westlichen Konzernen in an sich reichen Ländern Afrikas ausgebeutet; während die dortige Bevölkerung bettelarm bleibe. Ebenso könne es nicht sein, empörte sich Kapitän Reisch, „dass wir Waffen dorthin liefern und Konflikte befeuern und uns dann wundern, wenn die Menschen vor den Konflikten davonlaufen“.

Frage- und Diskussionsrunde mit Zuspruch, vereinzelter Kritik und ausgesprochenen Überlegungen, dazu, was möglicherweise besser gemacht werden könne

In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde erhielten die Seenotretter viel Zuspruch und spezielles Lob, vereinzelt kam auch Kritik und Skepsis

zur Sprache. Es wurden zudem aber auch Überlegungen ausgesprochen, was zu mehr zu tun sei, möglicherweise in der Sache anders oder besser zu machen wäre. Claus-Peter Reisch, der glaubhaft versicherte, trotz aller berechtigten Kritik an der Europäischen Union ein überzeugter Europäer zu sein – was er mit einem rückblickenden Verweis auf die Geschichte, der Kleinstaaterei und auf vergangene, verheerende Kriege sowie anhand der Biografie seiner Eltern erhellend begründete. Er empfahl in Dortmund, was er stets auch SchülerInnen bei Vorträgen in Bildungseinrichtungen und Menschen anderswo nicht nur hinsichtlich der bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament ans Herz lege: „Geht wählen!“
Mitorganisatoren der Veranstaltung waren Planerladen e.V. und Multikulturelles Forum.

Links:
https://www.facebook.com/seawatchprojekt/
https://www.facebook.com/seaeyeorg/
https://www.facebook.com/pages/MISSION-LIFELINE-e-V/1973607082755812
https://www.facebook.com/ClausReisch/
https://seebruecke.org/lokalgruppen/dortmund/

INF-Vertrag erhalten! Nur Abrüstung schafft Sicherheit. Regina Hagen referierte in Dortmund

1991 stand die »Doomsday Clock«, die die Bedrohung von Mensch und Umwelt insbesondere durch Atomwaffen anzeigt, auf 17 vor 12. Heute zeigt sie erschreckende 2 vor 12 an, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge zustande kamen und umgesetzt wurden, darunter der 1987 von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow unterzeichnete US-sowjetische INF-Vertrag. Diesen haben nun zuallererst die USA und darauf reagierend auch Russland zum 2. August 2019 gekündigt. Außerdem: Falls sich die USA und Russland nicht auf eine Verlängerung des New-START-Abkommens einigen, läuft auch das letzte noch gültige Abkommen über die Reduzierung strategischer Atomraketen in weniger als zwei Jahren aus. Im Jahr 2021 hätten wir dann keinen einzigen Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland!

Welche Konsequenzen müssten gezogen werden?

Was ist passiert, dass die nukleare Abrüstung vor einem Scherbenhaufen steht, und was könnten die Konsequenzen sein?

Und genau so wichtig: Gibt es Alternativen, und was können wir   Friedensbewegte, kritische Öffentlichkeit, aber auch (deutsche) PolitikerInnen   tun?

Dazu referierte und diskutierte hernach darüber mit interessiertem Publikum Regina Hagen, verantwortliche Redakteurin der Quartalszeitschrift

Referentin Regina Hagen beim Nachdenktreff in Dortmund. Foto: C. Stille

Wissenschaft & Frieden„, Sprecherin der Kampagne „Büchel ist überall! – atomwaffenfrei.jetzt“. Sie weilte kürzlich auf Einladung von Attac Dortmund, DGB Dortmund – Hellweg und Nachdenktreff in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. in Dortmund. Regina Hagen ist seit mehr als 20 Jahren im Trägerkreis „Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!“ und auf internationaler Ebene aktiv.

Atomwaffenstaaten sind dabei aufzurüsten

Die Referentin wies auf die bedenkliche Tatsache hin , dass derzeit alle 9 Atomwaffenstaaten (Nordkorea dazu gerechnet) dabei seien aufzurüsten. Hauptsächlich gehe es um „qualitative Aufrüstung“, was gemeinhin unter dem „euphemistischen Begriff Modernisierung“ laufe, was freilich nicht als positiv bezeichnet werden könne. Auch Deutschland sei betroffen. Man gehe davon aus, dass hierzulande etwa 20 US-Atomwaffen in Büchel gelagert würden. Diese sollten „gegen welche mit besseren Charakteristika“ mit elektronischer Schnittstelle ausgetauscht werden. Der Tornado (Deutschland könnte im Rahmen der sogenannten „nuklearen Teilhabe“ im Ernstfall in die Verlegenheit kommen, US-Atombomben auszutragen und abzuwerfen) sei aber für neuen Atombomben nicht geeignet. Jetzt heiße es in Deutschland wir bräuchten im Jahren 2019 (!) einen neuen neuen Atombomber.

Gefährliche Unsicherheiten

Kreuzgefährlich sei die kürzlich wieder aufgeflammte neue militärische Konfrontation von Pakistan und Indien – beide Staaten sind Atommächte. Aufgeworfen werden müsste die Frage: Wie gut geschützt bzw. kontrolliert die Atomwaffen (vor allem in Pakistan) in diesen Staaten sind und ob diese möglicherweise in falsche Hände gelangen könnten.

INF-Vertrag ist nicht allumfassend

Betreffs des gekündigten INF-Vertrages merkte Regina Hagen an, dass sich die USA und Russland im Grunde genommen schon vor ein paar Jahren einig darüber waren, dass dieser Vertrag veraltet sei: Denn neue Player, wie etwa China wären ja gar nicht an diesen Vertrag gebunden. Der russische Präsident Putin habe sich schon Februar 2016 darüber beschwert.

Britische Navy will 50 Jahre Besitz von Nuklearwaffen feiern – Protest

Regina Hagen berichtete, sie habe am Tag des Vortrags eine E-Mail von Campaign for Nuclear Disarmament (diese Organisation hat in 1950er Jahren die Ostermärsche ins Leben gerufen) aus Großbritannien erhalten, die zeige, für wie normal manche Ländern Atomwaffen halten. Wonach geplant würde vor der altehrwürdigen Westminster Abbey in London im Mai ein Protest ins Werk zu setzen, welcher sich gegen einen Dankgottesdienst der britischen Navy richtet, der sozusagen 50 Jahre britischen Besitzes von Nuklearwaffen abfeiere.

Aufrüstung

Trump habe, informiert Regina Hagen, Atomwaffen im Weltraum. Russland habe vor dem UNO-Sicherheitsrat Kritik an US- Raketenabwehrstandorten in Rumänien und später auch in Polen geübt , die Moskau als gegen sich gerichtet empfinde. Über was Russland dort allerdings nicht geredet habe, sei das Aufrüstungsprogramm Russlands betreffs neuer Interkontinentalraketen, darunter von nuklear angetriebenen Marschflugkörpern mit Atomsprengköpfen (eine doppelt gefährliche Waffe). Allerdings, so Hagen, müsse gefragt werden, ob sich Russland diese Waffen betreffs der angekündigten Fähigkeiten überhaupt technisch dazu in der Lagen wäre. Auch, ob das letztlich finanzierbar sei. Schließlich habe Russland seinen Rüstungsetat ohnehin reduziert. Offiziell weise Moskau 60 Milliarden Dollar dafür aus.

Die USA kürze bei Bildungsausgaben, bei Wohnen und Stadtentwicklung, Umweltschutz und für Diplomatie. Dafür gehe mehr Geld in Rüstung, auch in die Finanzierung von Nuklearwaffen – auch im Weltraum.

Auch andere Länder – wie etwa Indien – rüsteten auf. Jedoch seien die USA der Player, der die Standards setze.

Was sagt Deutschland?

Deutschlands Außenminister Heiko Maas (SPD) habe vor dem UN-Sicherheitsrat vor einer neuen Aufrüstungslogik gewarnt, lehnt jedoch gleichzeitig den vorhandenen Verbotsvertrag für Kernwaffen ab. Er redete nicht über die Atomwaffen in Büchel, die Suche nach einem neuen Atombomber und nicht über den geplanten Austausch der US-Atomwaffen in Büchel gegen neue – auch lenkbare Atombomben.

Regina Hagen: „Er selbst fordert und bietet für Deutschland nichts an.“ Und Maas betone gleichzeitig, dass eine weitere Reduzierung der Atomwaffenarsenale keinerlei Sicherheitsverlust bedeuten würde.

Fazit

Es sei noch einmal daran erinnert: Im Jahr 2021 hätten wir dann keinen einzigen Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland mehr.

Regina Hagen: Leider gibt es wenig Interesse am Protest gegen Atomwaffen. Dennoch: Nicht verzagen, nicht aufgeben.

An Aktionen beteiligen. Politiker nicht aus der Pflicht lassen. Deutschland darf Stationierung neue Atomwaffen nicht zustimmen. Wir müssen den Abzug der US-Atomwaffen fordern. Deutschland darf sich kein neuen Atombomben zulegen. Die Nato als „nukleares Bündnis“ (Obama) ist inakzeptabel.

Nächste Veranstaltung:

Ist eine andere/bessere EU möglich?

Für ein Europa der Demokratie, des Friedens und der Solidarität“

Prof. Dr. Andreas Fisahn während eines früheren Vortrags an der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund. Fotos: C.-D. Stille

Referent: Andreas Fisahn, Professor für öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac.

Montag, 20. Mai 2019, 19 Uhr

Auslandsgesellschaft Dortmund, Steinstraße 48

NSU-Morde – 7. Tag der Solidarität in Dortmund. Gedenken an Mehmet Kubaşık

Während des Schweigemarsches. Fotos: C. Stille

Am Donnerstagabend des 4. April 2019, dem 13. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Kubaşık durch Täter des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) traf man sich zum Gedenken an den Dortmunder Bürger am damaligen Tatort in der Mallinckrodtstraße 190. Dort hatte der dreifacher Familienvater einen Kiosk betrieben. Am Gedenkstein davor hatten bereits am Donnerstagmorgen Oberbürgermeister Ullrich Sierau und der türkische Generalkonsul des Ermordeten gedacht und Blumen am Gedenkstein abgelegt. Mehrere hundert Menschen nahmen am Donnerstagabend an einem dort beginnenden Schweigemarsch teil. Dieser führte zum NSU-Mahnmal vor der Auslandsgesellschaft, wo er mit einer Kundgebung endete. Im Anschluss daran las Tanjev Schultz, der jahrelang für die Süddeutsche Zeitung über Innere Sicherheit und auch den NSU-Prozess berichtet hat und nun Professor an der Universität Mainz ist, in den Räumen der Auslandsgesellschaft einige Passagen aus seinem Buch „NSU. Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“.

Das Bündnis „Tag der Solidarität“ will eine solidarische Gesellschaft, in der Rassismus keinen Platz hat

Ali Şirin hatte die am Gedenkstein versammelten Menschen im Namen des Bündnisses „Tag der Solidarität“ begrüßt. „Als Bündnis“, sagte Şirin, „wollen wir eine Gesellschaft in der wir gemeinsam solidarisch unsere Zukunft gestalten und in der Rassismus keinen Platz hat.“ Am „Tag der Solidarität“, dem

Blumen am Gedenkstein für den ermordeten Mehmet Mehmet Kubaşık.

mittlerweile siebten, zeige man, dass man die Forderung der Hinterbliebenen nach umfassender Aufklärung und Gerechtigkeit unterstütze und sich mit ihnen solidarisiere. Sirin: „Das Versprechen auf Aufklärung wurde gebrochen.“ Als Bündnis fordere man politisches Handeln. Es wurde eine Gedenkminute für Mehmet Kubaşık abgehalten. Die Familie Kubaşık nahm in diesem Jahr zum ersten Mal nicht am Gedenken teil. Sie weilte an seinem Grab in der Türkei.

Gamze Kubaşık klagt an: „Der NSU hat meinen Vater ermordet. Die Ermittler haben seine Ehre kaputtgemacht.

Am Gedenkstein wurde eine Tonaufnahme von Gamze Kubaşık, der Tochter Mehmet Kubaşık abgespielt, in welcher einmal mehr zum Ausdruck kam, dass der „Schmerz über den Tod und den Verlust“ des Vaters die Familie bis zum Tod begleiten werde. Gamze Kubaşık klagt an: „Der NSU hat meinen Vater ermordet. Die Ermittler haben seine Ehre kaputtgemacht. Sie haben ihn damit zum zweiten Mal umgebracht.“ Das Versprechen der Bundeskanzlerin nach Aufklärung sei nicht eingelöst worden. Der fünfjährige NSU-Prozess sei eine totale Enttäuschung für die junge Frau gewesen.

Gamze Kubaşık erhebt fünf Forderungen:

Ich möchte, dass alle Helfer, die man kennt, endlich angeklagt werden. Jetzt! Alle weiteren Helfer/ Täter müssen endlich ermittelt werden. Auch in Dortmund. Ich will nicht weiter das Gefühl haben, jeden Tag weitere Täter zu treffen. Das muss aufhören! Ich will wissen, wie genau mein Vater als Opfer ausgewählt wurde.

Ich will wissen, warum es bis heute keine richtigen Ermittlungen zu weiteren Helfern gibt. Unsere Anwälte sollen dazu endlich alle Akten bekommen. Ich will, dass der Verfassungsschutz endlich sagt, was er wusste. Warum vertuschen die das? Alle Akten dazu müssen auf den Tisch!“

Kurze Reden am Mahnmal vor der Auslandsgesellschaft

Nachdem der beeindruckende Schweigemarsch – mitgeführt wurden u.a. Bilder der zehn vom NSU ermordeten Menschen – am Mahnmal vor der Auslandsgesellschaft angekommen war, wurden dort einige kurze Reden gehalten. Zunächst sprach Ekincan Genc für das Bündnis „Tag der Solidarität“. Genc beklagte, dass nach Ende des Münchner NSU-Prozesses noch immer mehr Fragen offen geblieben als Antworten gegeben worden seien. Man vertrete die Ansicht, dass der „NSU kein Trio, sondern ein Netzwerk“ gewesen ist. Und Genc weiter: „Es ist nur schwer zu ertragen, dass Neonazis und ihre Strukturen weiter in Dortmund aktiv sind. Es ist schwer, dass es in Dortmund eine Straße gibt, in der man sich als MigrantInnen, AntifaschistInnen und JournalistInnen nicht ohne Polizeischutz frei bewegen kann.“ Man wolle wissen, wer den NSU in Dortmund unterstützt hat. „Wir werden keinen Schlussstrich ziehen, solange lokale Strukturen und UnterstützerInnen nicht aufgedeckt sind.“ Im Jahre 2019 stehe man vor „einem gesellschaftlichen Rechtsruck“. Ekincan Genc prangerte institutionellen Rassismus in Sicherheitsbehörden und staatlichen Organen und Neonazistrukturen, die bis in Polizei in Militär hineinwirkten. Genc skandalisierte das rechte „Hannibal-Netzwerk“ in der Bundeswehr. Sowie, dass die Opferanwältin Seda Basay-Yildiz Drohbriefe erhalte. Sie stehen offenbar in Zusammenhang mit einem rechtsextremen Netzwerk innerhalb der Frankfurter Polizei.

Schülerinnen des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums sprachen über ihre Engagement in der

Unbedingte Forderung.

Antirassismus AG an ihrer Bildungseinrichtung. Man beschäftige sich intensiv mit dem Schicksal der NSU-Opfer mit dem Ziel eine Schulausstellung dazu zu entwickeln. Speziell richte sich deren Fokus auf das Schicksal Mehmet Kubaşık. Die Ausstellung soll ab 4. Juni in der Steinwache zu sehen sein. Jedes Dortmunder Kind soll künftig das Schicksal Mehmet Kubaşıks präsent sein und das Gedenken an ihn hochhält und weiterträgt.

Eigens aus Berlin zur Gedenkveranstaltung angereist war die Rechtsanwältin der Familie Kubaşık, Antonia von der Behrens. Von der Behrens überbrachte Grüße der Familie. Das Urteil im NSU-Prozess, berichtete die Juristin, sei für die Familie so unerträglich gewesen, dass sie nach der Hälfte der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal gegangen sind. Kein einziges Mal sei das unfassbare Leid erwähnt worden, dass die Opfer durchlitten hätten. Antonia von der Behrens empört: „Das Wort Verfassungsschutz ist kein einziges Mal während der Urteilsbegründung gefallen.“ Der NSU sei als eine abgeschottete Terrorzelle aus drei Personen bestehend dargestellt worden, „die alles selber gemacht haben“. Laut dem

Schülerinnen des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums Dortmund.

Gericht habe es dafür keinen einzigen Unterstützer gegeben haben. Bezüglich von drei Angeklagten sei das Gericht unter den Strafforderungen der Bundesanwaltschaft geblieben – was ein ganz ungewöhnlicher Vorgang für solche Staatsschutzverfahren sei. Ein Angeklagter sei gar weitgehend freigesprochen worden und habe noch am Tag der Urteilsverkündung den Saal als freier Mann verlassen können. Zahlreich anwesende Neonazi-Freunde hätten geklatscht und hinterher sagen können: „Wir haben gewonnen.“ Nicht zuletzt dies habe Elif Kubaşık, die Ehefrau Mehmet Kubaşıks, so wütend gemacht an diesem Tag. Es sei nämlich das Gefühl vermittelt worden, dass dieses Urteil indirekt dazu beigetragen hat die Neonaziszene zu stärken. Es ergebe sich daraus die klare Message: „Wir müssen die Aufklärung, wir müssen die Bekämpfung in unsere Hand nehmen.“

Eine Vertreterin der „Initiative Keupstraße ist überall“ aus Köln (dort war vom NSU am 9. Juni 2004 ein Nagelbombenanschlag ausgeführt worden) überbrachte eine Solidaritätsadresse an die Familie Kubaşık und die KundgebungsteilnehmerInnen. Sie übte ebenfalls harte Kritik am vorhandenen institutionellen Rassismus. Man zweifle als MigrantInnen an Justiz und Gerechtigkeit und an der Demokratie eines Staates, „der sich nicht um uns kümmert“. Nicht bekämpfter Rassismus führe letztliche zu Taten, auch zu Morden. Die Frau kritisierte „eine immer noch wegschauende Mehrheit der Gesellschaft, aus der „nämlich das Personal“ stamme „das Personal der Ermittlungsbehörden“. Da gehöre ordentlich ausgemistet.

Rechtsanwältin Antonia von der Behrens.

Auch in Chemnitz und Zwickau kenne man weiter existierende rechte Netzwerke, merkte eine Aktivistin an, die aus Chemnitz nach Dortmund gereist war. Aus dem Urteilsspruch von München hätten Neonazis „gelernt, dass sie weiter aktiv sein können, dass ihnen nichts passieren wird“. Nach den bekannten Ereignissen im letzten Jahr in Chemnitz habe sie kürzlich mit jemanden gesprochen auf dessen Restaurant, dass er als Auswärtiger nach der Wende in 1990er Jahren in Chemnitz eröffnet habe, ein Anschlag verübt wurde. Das Thema Neonazismus habe dieser damals nicht so wahrgenommen wie jetzt. Inzwischen erwäge er aus Chemnitz fortzugehen. Er spüre den Rassismus auch verstärkt in der Mitte der Gesellschaft. Man müsse, so hofft die junge Frau, zusammen gegen diese Rechtsentwicklung angehe, und SchülerInnen in ganz Deutschland die Opfer des NSU sowie die Täter bekannt gemacht würden.

Autor Tanjev Schultz in der Auslandsgesellschaft zum NSU und dem Staatsversagen

Tanjev Schultz berichtete nach der Kundgebung in der Auslandsgesellschaft dann über die Jenenser Neonazis Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und die dreifache Versagenskette mit so vielen Unfassbarkeiten bei der Vorgehensweise der Behörden und der jahrelangen Suche nach den Dreien sowie den damit verbundenen Ermittlungen. Seine kleine Lesung aus dem oben schon erwähntem Buch nahm Bezug auf die Ermittlung bei der Ceska-Mordserie. Der Verfassungsschutz sei schwer in die Kritik geraten, was noch harmlos formuliert sei, so Schultz.

Aktivistin aus Chemnitz.

Aber die Polizei habe „nicht minder versagt“. Schon früh, war aus den von Tanjev Schultz verlesenen Passagen zu entnehmen, habe es Hinweise an die Polizei gegeben (auch in Dortmund), hinter den Morden könnten Rechtsradikale stecken. Doch die immer in die falsche Richtung ermittelnde Polizei habe das nicht glauben wollen. Schultz, damals noch bei der Süddeutschen Zeitung tätig, räumte ein, dass er selbst zunächst die Morde und die rechtsradikalen Hintergründe verkannt und erst nach dem Auftauchen der NSU-Bekennerbrief aufgemerkt habe.

Abstruse Idee der Hamburger Ermittler: Ein „Geisterbeschwörer“ als Partner!

Nur Kopfschütteln unter dem Publikum in der Auslandsgesellschaft löste die von Schultz vorgelesene Passage aus, worin er darüber referiert, dass die Polizei, als sie mit den Ermittlungen zu den Morden, damals noch „Döner-Morde“ genannt, nicht weiterkam auf eine wirklich abstruse Idee verfiel. Im Frühjahr 2008 fassten die Polizisten bei der SoKo 061 in Hamburg „einen aberwitzigen Plan“: Sie setzen einen „Geisterbeschwörer“ auf den Fall an. Der iranische Metaphysiker gab an Kontakt zum Totenreich aufnehmen zu können. Dieser „befragte“ schließlich das Hamburger Mordopfer. Das Ergebnis: der Täter hätte eine braune Gesichtsfarbe gehabt.

Fragen aus dem Publikum und Diskussion

Nach den aus dem Buch verlesenen Schlaglichtern wurde in die Diskussion mit dem Publikum eingestiegen. Das Staatsversagen im NSU-Komplex wurde von Tanjev Schultz noch einmal deutlich unterstrichen. Ein Zuhörer stellte die These, die er auf eine in Großbritannien getätigte Äußerung stützte, auf, wonach der Staat ein Interesse daran habe, betreffs Migranten „eine feindliche Umgebung“ zu schaffen. Wie sei in dieser Hinsicht das Agieren des Verfassungsschutzes zu verstehen? Schultz

Vertreterin von der Initiative „Keupstraße ist überall“ aus Köln.

sieht dafür keine Belege. Die V-Mann-Szene und Agieren das Verfassungsschutzes aber betrachtet er sehr kritisch.

Tanjev Schultz thematisierte ebenfalls das „Mauern“ der Behörden, das zwar zu „deren Grundroutine“ gehöre. Überdies müsse jedoch gefragt werden, warum Akten geschreddert worden sind. Sollte etwas vertuscht werden und wenn ja, ist die Frage warum? Schultz: „Hing man richtig tief drin, oder sollte die eigene Dummheit vertuscht werden?“ Warum werden Akten in Hessen hundert Jahre unter Verschluss gehalten, hatte etwa Ali Sirin gefagt. All das sei ungemein kompliziert, so Schultz. Dass da das Vertrauen in den Staat schwinde, sei ihm „völlig verständlich“.

Tanjev Schultz während Lesung und Diskussion.

Zum Abschluss des NSU-Prozesses sagte Schultz, der zuständige Richter habe den Prozess recht ordentlich zu führen verstanden. Wer das kritisiere, müsse erfassen, wie ein solcher Prozess geführt werde, welche Klippen zu zu umschiffen seien bzw. was ein solches Verfahren juristisch zu leisten überhaupt imstande sei. Eine Zuhörerin kritisierte Schultz dafür hart: Dieser habe mit dem Verweis darauf, dass er Journalist ist, eine zu neutrale Haltung eingenommen. Schultz wies das zurück: von Neutralität habe er nichts gesagt. Aber er könne durchaus gut den geäußerten Unmut der Fragestellerin verstehen.

Fazit

Der nunmehr 7. „Tag der Solidarität“ hat bei hoher Beteiligung am Schweigemarsch nicht nur einmal mehr der Opfer des NSU und im Speziellen des Dortmunder Opfers Mehmet Kubaşık gedacht. Es wurde darüber hinaus auch dafür gesorgt, dass die Thematik im Gedächtnis der Menschen haften bleibt. Und deutlich gemacht, dass im Kampf gegen den Neonazismus und rechtsradikale Entwicklung hierzulande wie anderswo noch viel zu tun ist.

„Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet“ von Ulrich Teusch. Rezension

Kriegsbegeistert sind Menschen grundsätzlich nicht. Um das zu werden, müssen sie in der Regel propagandistisch sturmreif geschossen werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hieß es: Nie wieder Krieg! Man hatte die Gräuel noch vor Augen. Doch bald schon wurde der Kalte Krieg entfacht. Es herrschte die Systemkonfrontation. Doch selbst in dieser Zeit wurde mit dem vermeintlichen Feind, der Sowjetunion, gesprochen. Willy Brandt und Egon Bahr leisteten mittels ihrer Politik „Wandel durch Annäherung“ Großes. Dass lange nach dem Ende der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung nicht Gorbatschows Traum vom gemeinsamen Haus Europa wahr wurde, sondern inzwischen schon wieder ein Kalter Krieg in Europa im Gange ist, kann zwar erklärt werden. Indem man fragt: cui bono? Es muss aber die Alarmglocken schrillen lassen. Ja, es gibt unterdessen wieder „kriegsvorbereitende Propaganda“ und um die geht es „im weitesten Sinn“ im neuen Buch von Ulrich Teusch (u.a. „Lückenpresse“), das gerade bei Westend erschienen ist. So lesen wir es in dessen Vorwort.

Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts)“

Von Medien, die den Krieg herbeireden- oder schreiben“ handelt dieses Buch, „von Medien die den äußeren und inneren Frieden aufs Spiel setzen“.
Weiter liest man: „Die historische Erfahrung lehrt: Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts).“
Bitter wahr! Erinnern wir uns doch noch an den völkerrechtswidrigen Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, an dessen 20. Jahrestag wir erst kürzlich erinnert worden sind. Da konnten wir das genau und schmerzlich erfahren. Die dank Gerhard Schröder und Josef Fischer jugoslawischen Städte mit bombardierende BRD verlor damals ihre Unschuld.

Ulrich Teusch: „Im Kampf gegen den Krieg, im Kampf für den Frieden ist auf die Medien der Herrschenden kein Verlass. Und weiß: „Verlassen können wir uns nur auf uns selbst.“

Ulrich Teusch stellt folgende Frage: „Wann je haben Medien einen Krieg verhindert oder dies auch nur erkennbar versucht, indem sie die herrschenden Kriegsvorwände oder -begründungen einer rigorosen Prüfung unterzogen?
Und umgekehrt: Wie oft haben Medien durch tendenzielle, emotionalisierende Berichterstattung ‚für den Krieg gesorgt‘ (William Randolph Hearst)? Wie oft haben Medien jene gesellschaftliche Sportpalast-Atmosphäre erzeugt, die ihn erst möglich machte?“
Teusch konzediert: „Sicher, es gibt ein paar Ausnahmen. Sie sind rühmlich, keine Frage. Aber sie sind bloß Ausnahmen von der Regel.“ Dann aber schränkt er ein: „Im Kampf gegen den Krieg, im Kampf für den Frieden ist auf die Medien der Herrschenden kein Verlass. Und weiß: „Verlassen können wir uns nur auf uns selbst.“

Selbst sinkende Auflagen brachten etablierte Medien nicht von ihrem selbstzerstörerischen (Dis-) Kurs ab

Hier sollte Ulrich Teusch (leider) recht behalten: „Die etablierten Medien, so hatte ich vor drei Jahren prognostiziert, werden weder durch Liebesentzug (sinkende Auflagen und Quoten) noch durch gediegene Medienkritik von ihrem manipulativen Tun und ihrem selbstzerstörerischen (Dis-) Kurs abzubringen sein. Sie werden weiterhin wichtige Nachrichten absichtsvoll unterdrücken, Informationen einseitig gewichten oder mit einem Spin versehen, mit zweierlei Maß messen, interessengeleitete Narrative konstruieren, gelegentlich Kampagnen fahren oder sich für handfeste Propaganda hergeben.“
Teusch räumt ein: „Klammheimlich hatte ich gehofft, Unrecht zu haben und eines Besseren belehrt zu werden.“
Seine Begründung: „Der sich seit 2013/14 aufbauende medienkritische Druck, der ‚Aufstand es Publikums‘, konnte doch nicht einfach verpuffen, sagte ich mir, er musste doch irgendeine positive Wirkung erzielen.“
Dass dem eben (leider) nicht so ist, führen uns nicht nur die unermüdlich eingebrachten Programmbeschwerden des früheren Tagesschau-Redakteurs Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, Ex-Vorsitzender des ver.di-Betriebsverbandes NDR ständig vor Augen. Sondern auch Ulrich Gellermann mit seinen regelmäßigen Zu-Wort-Meldungen unter „Die Macht um Acht“ (mittlerweile die 22. Ausgabe) auf dem You Tube – Kanal von KenFM.

Wie propagandistische Exzesse den eigentlichen Krieg ersetzen

Wie müssen wir etwa „die gegenwärtigen propagandistischen Exzesse“ betreffs Russland verstehen? Teusch (S.30).: „Die Antwort lautet: Sie sollen den eigentlichen Krieg ersetzen – natürlich im Verein mit weiteren aggressiven Maßnahmen wie Sanktionen. Oder anders: Im Fall Russlands ist ‚der Krieg vor dem Krieg‘ der eigentliche Krieg. Die Kriegsziele lauten: eine aufstrebende Macht schwächen oder in ihre Schranken weisen; sie destabilisieren, delegitimieren, isolieren; ihre politische Grundorientierung revidieren, ihr politisches Führungspersonal dämonisieren. Die antirussische Propaganda ist letztlich Regime-Change-Propaganda.“

Kriegspropaganda wie sie einst schon Arthur Ponsonby beschrieb

Ulrich Teusch erinnert (S. 31) an die Feststellung des britischen Politikers und Friedensaktivisten Arthur Ponsonby (1871-1946) zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, wonach sich in diesem der Journalismus nie stärker diskreditiert habe. Und im Februar 2017 habe der Nahostkorrespondent Patrick Cockburn bemerkt, „dass im Syrienkrieg (seit 2011) die einseitige, verzerrende Berichterstattung und die Verbreitung fingierter, fabrizierter Nachrichten ein Ausmaß angenommen habe, das nur mit der gewaltigen Desinformation im Ersten Weltkrieg vergleichbar sei.“
Ulrich Teusch zitiert die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda, welche Arthur Ponsonby formulierte.Wer sich diese zum Gemüt führt (hier) wird verblüfft sein oder eher erschrocken aufmerken: Sie finden heute noch munter Anwendung!
Entsprechende Beispiele aus unserer Zeit werden von Teusch aufgeführt.

Von „Massentäuschungswaffen und Massenzerstreuungswaffen“

Sehr Augen öffnend ist das Kapitel „Massentäuschungswaffen und Massenzerstreuungswaffen“ (S. 31) sowie deren Unterkapitel (S.43) „Massentäuschung: wie sich die Vorzeichen von heute auf morgen ändern“. Worin der Autor auf in Orwells Roman „1984“ beschriebene Ereignisse Bezug nimmt. Wo der einstige Feind Eurasien auf einmal während einer Rede gegen Ostasien ausgetauscht wird. Und ein weiteres Unterkapitel (S.45) steht unter der Überschrift „Massenzerstreuung: wie Wichtiges unwichtig wird“.
Teusch erwähnt darin deen früheren US-Verteidigungsminister William Perry, „der Jahrzehnte auf beiden Seiten des US-amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes gearbeitet hat“.
Perry sei überzeugt, dass „die Gefahr eines Nuklearkrieges heute deutliche größer ist als zu Zeiten des ersten Kalten Krieges.“
Die größte Gefahr erwachse heute aus dem zerrütteten Verhältnis zwischen USA und Russland. Teusch auf Seite 45 unten: „In seiner Ursachenanalyse gibt er dem Westen die Hauptschuld an dieser gefährlichen Zuspitzung.“
Perry missbillige den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa.

Warum“, fragt Ulrich Teusch völlig zu recht, „fristet ein überragender Sachkenner wie er mit seinen eminent bedeutsamen, lebens- und überlebenswichtigen Anliegen eine mediale Randexistenz?“ Und weiter: „Warum kennen wir alle Dieter Bohlen, Heidi Klum und Dr. Eckart von Hirschhausen? Warum nicht William Perry? Warum fragen wir die Maus – aber nicht ihn?“
Teusch liefert die Antwort auf diese eigentlich brennend sein müssenden Fragen gleich mit: „Weil es sich bei unseren Medien um Massenzerstreuungswaffen handelt, die uns nicht das präsentieren, was wirklich relevant ist und uns angeht. Stattdessen führen sie uns Tag für Tag – und im Wortsinn – auf Nebenkriegsschauplätze aller Art.“
Noch einmal zurück auf Seite 41: Teusch zeigt sich da überzeugt, dass sich die Wahrnehmungen Aldous Huxleys und George Orwell ergänzen.

Erstens werden wir durch propagandistische Techniken getäuscht (Orwell): also desinformiert, belogen, mit Halbwahrheiten abgespeist oder durch Unterdrückung von Nachrichten im Unklaren gelassen.
Zweitens werden wir durch propagandistische Techniken zerstreut (Huxley): also vom Wesentlichen abgelenkt, mit Belanglosigkeiten beschäftigt, mit Unterhaltungsangeboten aller Art bei Laune gehalten.“

Wer die Macht über die Geschichte hat …

Besonders ans Herz gelegt sei den LeserInnen des hier besprochenen Buches von Ulrich Teusch das Kapitel „Wer die Macht hat über die Geschichte hat, Teil 1: Deutschland“ (S. 48).
Es hebt an mit dem Untertitel „Der hässliche Deutsche: Gauck auf der Westerplatte“
Darin geht es um die Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, die gewiss nicht nur mich peinlich berührte und wütend machte. Gauck hatte des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs gedacht. Teusch erinnert: „Wobei die Tatsache, dass Deutschland diesen Weltkrieg ausgelöst hatte, in Gaucks Ansprache merkwürdig unterbelichtet blieb. Gauck hingegen das Gedenken nutzte (missbrauchte) , um gegen das heutige Russland eine Spitze abzufeuern. Teusch einige Zeilen weiter auf S.49: „Man hätte es unbedarften Zuhörern nicht verübeln können, wenn sie aufgrund seiner Rede zu dem Schluss gekommen wären, nicht Deutschland, sondern Russland der große Aggressor des Zweiten Weltkriegs gewesen sei.“

Der andere Holocaust

Ulrich Teusch: „Die slawischen Völker, insbesondere die Russen (allein 27 Millionen Sowjetbürger starben; C. Stille) , sind im Zweiten Weltkrieg Opfer dessen geworden, was der Historiker Rolf-Dieter Müller als den ‚anderen Holocaust‘ bezeichnet.“
Zu Bedenken gibt Teusch: „Im Unterschied zum eigentlichen Holocaust, also der Vernichtung der europäischen Juden, hat der andere Holocaust keinen Platz im kollektiven historische Gedächtnis der Deutschen gefunden. Hätte er dies getan, wären manche antirussischen Töne, die gegenwärtig im neuen kalten Krieg angeschlagen werden, kaum vorstellbar.“
Zum Schluss des Kapitels noch einmal Gauck kaum verhohlenes Russen-Bashing zitierend urteilt Ulrich Teusch: „So klingt es, wenn sich Geschichtsvergessenheit und Geschichtsklitterung ein Stelldichein geben. Propaganda pur.“
Anmerkung C. Stille: Wer mag und es ihm nicht übel dabei wird, kann hier die damalige Rede Gaucks auf der Westerplatte nachlesen.

Zweierlei Maß

Das nächste Kapitel ist – denken wir an aktuelle Geschehnisse – ebenso wichtig: „Zweierlei Maß: Israel und Russland“ ab Seite 59.
Teusch findet es selbstredend richtig, den Antisemitismus zu kämpfen. Er hält jedoch „für verfehlt, wenn deutsche Politiker sagen, die Freundschaft und Solidarität mit Israel sei Teil der deutschen Staatsräson“. Und „hielte es – analog gesprochen – für verfehlt, wenn dergleichen über das deutsche Verhältnis zu Russland gesagt würde“.
Teusch: „Ich glaube allerdings sehr wohl, dass in unserem Verhältnis zu Russland die gleiche Sensibilität, Empathie, Vorsicht angebracht wäre, die unser Verhältnis zu Israel bestimmt. Ein tief verwurzeltes Schuldgefühl müsste in eine keineswegs kritikfreie, aber doch reflektierte Form der Solidarität münden.“
Der Autor zeigt sich ausdrücklich davon überzeugt, dass der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion der „andere Holocaust“ (nach Rolf-Dieter Müller) war: „Diese Tatsache ist nie ins kollektive historische Bewusstsein der Deutschen eingedrungen. Das ist fatal – war aber sicherlich so beabsichtigt.“
Teusch weiter: „Ich bin mir bewusst, dass meine Paralellesierung des Holocaust mit dem anderen Holocaust, also dem rassenideologischen Vernichtungskrieg im Osten, Widerspruch provozieren wird. Zieht man denn damit nicht die Singularisierung der Judenvernichtung in Zweifel? Nein, das tut man keineswegs. Man kann Menschheitsverbrechen weder gegeneinander aufrechnen noch gegeneinander ausspielen.“

Der Schlüssel liegt in Washington

Nicht weniger erkenntnisreich nimmt sich das Kapitel „Wer die Macht über die Geschichte hat, Teil 2: USA“, beginnend mit dem Unterkapitel „Empire im Niedergang“ ab Seite 76 aus.
Auf Seite 94 resümiert Ulrich Teusch, dass „fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und im Zeichen eines neu beginnenden kalten Krieges, gilt (…): Der Schlüssel liegt in Washington.“

Wahrscheinlich müssen sich sogar die USA als solche grundlegend ändern (wie es seinerzeit die Sowjetunion getan hat).“
Solange sich die USA querstellen und im im internationalen System eine anmaßende, selbstsüchtige und destruktive Rolle spielen, sind keinerlei Fortschritte zu erwarten, und das Land wird weiterhin ein schwer berechenbarer Störfaktor und Unruheherd bleiben.“
Schon während seines Studiums, schreibt Teusch, sei er auf einige Bücher von William Appleman, e Williams (1921-1990), einen Vertreter der Neuen Linken, einen „Radical“, gestoßen.
Williams habe schon in den 1980er Jahren geschrieben, so Teusch auf S. 94, „einfach nur eine Umorientierung der US-Außenpolitik zu verlangen“ genüge nicht; vonnöten sei vielmehr eine grundlegende, revolutionäre Umkehr des ganzen Landes.“
Zum Verständnis dessen muss im Kapitel vorher über eine Rede Wladimir Putins kurz vom dem Eingreifen Russlands in den Syrienkrieg (2015 gelesen werden. Worin der russische Präsident an die verheerenden Folgen der westlichen Interventions- und Kriegspolitik im Nahen Osten und in Nordafrika erinnerte: „Versteht ihr wenigstens jetzt, was ihr angerichtet habt?“

United States of Amnesia“

Eine auffrischende Geschichtsstunde ist das Kapitel „United States of Amnesia“ ab Seite 94. kriegerischen Aktivitäten der USA über viele Jahrzehnte in vielen Ländern dieser Welt – schlechthin: die US-Kriegsgeschichte – hinweg. Sowie die Militärpräsenz des Landes in vielen Ländern der Erde und den enormen, aktuellen Rüstungshaushalt Washingtons von 700 Milliarden Dollar für 2019.
Und der militärisch-industrielle Komplex (MIK) giert, braucht stets regelrecht, Aufträge für Rüstungsgüter. Vor dieser Gefahr warnte bereits ein früherer US-Präsident.

Der 5-Sterne-General, Stabschef der US-Armee, Alliierte Oberbefehlshaber im Zweiten Weltkrieg und Präsident der USA Dwight D. Eisenhower warnte die amerikanische Bevölkerung bei seiner Abschiedsrede als Präsident am 17.01.1961 vor dem Einfluss des Militärisch-industriellen-Komplexes, obwohl er selbst in seiner Amtszeit massiv zu dessen Wachstum im Kalten Krieg beigetragen hatte. Dwight D. Eisenhower: „Wir in den Regierungsräten müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den Militär-Industrie-Komplex schützen.“ (Quelle: Free21)
Der MIK braucht dazu immer wieder Kriege. Ergo auch „Die Kriegsverkäufer“. Dazu lesen wir Erhellendes ab Seite 104 des Buches von Ulrich Teusch. Und um Kriege anzuheizen sind „Die Propagandamacher“ vonnöten. Seit US-Präsident George W. Bush gibt es gar einen „Permanent War Complex“ (S. 128).

Gerade in heutiger Zeit“, schreibt Teusch, „da der militärisch-industrielle Komplex beziehungsweise der Permanent War Complex eine so unverkennbare Eigendynamik gewonnen hat, da er ganz unabhängig von der realen Bedrohungslage seine stets expansiven Bahnene zieht, muss man noch weit stärker in der Vergangenheit davon ausgehen, dass viele der Bedrohungen, mit denen uns tagtäglich das Fürchten gelehrt wird, nichts anderes sind als interessengeleitete Übertreibungen, Verzerrungen, Täuschungen oder Lügen – Kriegspropaganda ohne Grundierung in der realen Welt.“

Teusch: „Wer den Respekt vor Tatsachenwahrheiten verliert und untergräbt, der spielt mit dem inneren und äußeren Frieden, der setzt ihn aufs Spiel – und wird ihn am Ende verspielen.“

Teusch macht uns klar, dass es „Krieg, Zensur, Repression – damals und heute“ gab und gibt.“ (S. 139)
Dankenswerterweise hat der Autor auch „Erkundungen am medialen Abgrund“ (S. 157) vorgenommen. Gegen Ende des Kapitels weist Teusch in Anlehnung an eine Zitat von Hanna Arendt, auf den Kern des Problems hin: „Der Verlust des menschlichen Orientierungssinns, der Sturz ins Bodenlose – das wäre gleichbedeutend mit dem Ende der Demokratie.“ Arendt über Meinungsfreiheit: „ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.“ Teusch dazu: „Wer den Respekt vor Tatsachenwahrheiten verliert und untergräbt, der spielt mit dem inneren und äußeren Frieden, der setzt ihn aufs Spiel – und wird ihn am Ende verspielen.“

Die dräuende Gefahr eines umgekehrten Totalitarismus

Gegen Ende des in möglichst viele Hände gehörenden Buches erinnert Ulrich Teusch an den Politikwissenschaftler Sheldon Wolin. Der hatte am Ende seines 93-jährigen Lebens eine Mahnung ausgesprochen, die Teusch als Vermächtnis begreifen möchte. „Sollte“, schreibt Teusch, „ der umgekehrte Totalitarismus irgendwann an Grenzen stoßen, sollte die Bevölkerung ungehalten, widerspenstig und ungehorsam werden, sollte die Systemfrage auf die Tagesordnung kommen, dann werden die Masken der Eliten fallen. Sie werden in ihrem Abwehrkampf zu genau jenen Mittel greifen, die wir aus dem klassischen Totalitarismus kennen: Gewalt und Repression. Die Aggressivität, die das Außenverhalten des Staates schon seit langem kennzeichnet, wird sich nach Innen kehren.“
Hand aufs Herz: Gibt es nicht schon Anzeichen dafür? Etwa betreffs des brutalen Vorgehens französischer Sicherheitskräfte gegen die Gelbwesten?
Priorität müsse haben, diese „katastrophische Entwicklung“ zu verhindern, mahnt Ulrich Teusch an.
Und, hofft er: „Es wäre schön, wenn sich an diesem Kampf auch ein paar vernunftbegabte Politiker oder redliche Journalisten beteiligten.“

Es ist so einfach

Zum Schluss zitiert Teusch aus Tolstois „Krieg und Frieden“: „Alle Gedanken, die Großes im Gefolge haben, sind immer einfach.“ Und: „Mein ganzes Denken geht dahin: Wenn sich die verderbten und schlechten Menschen zusammentun und zu einer Macht werden, so müssen die ehrlichen Menschen das Gleiche tun. So einfach ist.“
Möge es geschehen, rufe ich den ehrlichen Menschen voller Hoffnung zu. Lest dieses Buch und empfehlt es weiter!

Ulrich Teusch

Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet
  • Group 10 Buch
  • Preis: 18 Euro