«Es ist vollbracht«, sagte er bei der Vorstellung seines jüngsten Buches. Es ist der dritte und letzte Band der Memoiren des letzten Staatschefs der DDR, Egon Krenz. Der Verlag edition ost hat ihn herausgebracht Nun liegt er im Handel zum Kauf bereit. Er trägt den Titel „Verlust und Erwartung“.
Viel intensive Arbeit liegt gewiss hinter dem inzwischen 88-jährigen Krenz. Einen Ghostwriter, bekannte er auf einer Veranstaltung, habe er nicht. Auch keine Sekretärin oder Sekretär. Briefe an ihn beantworte er selbst. Das Schreiben seiner Erinnerungen hat ihn sicherlich gereizt. Eigentlich wäre er gerne Journalist geworden. Das merkt man nicht nur an seinem ausgezeichneten Schreibstil.
Indes es kam ganz anders. In meiner Rezension zu „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen“ schrieb ich:
«Sein Bildungsweg verlief durchaus nicht so, wie von ihm gewünscht. Zunächst gedachte er 1953 im Dieselmotorenwerk Rostock eine zweijährige Lehre zum Maschinenschlosser zu machen. Sein altgedienter Meister legte alles daran, ihm betreffs der Herstellung eines Werkstücks „deutsche Werkarbeit“ beizubringen.
Doch bald schon trat im Werk ein Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung auf den Plan: Man brauche ihn. „An den Lehrerbildungsinstituten fehlen Studenten“, beschied ihm der Mann. Inzwischen war Egon Krenz mit 16 Jahren in die SED eingetreten. Der FDJ-Mann appellierte an Krenz (S.93): „Denk dran, die Partei erwartet von dir, dass du dort hingehst, wo es für unsere Sache am wichtigsten ist!“
Krenz (S.94) schreibt: „Niemand hatte mich gezwungen, in die SED zu gehen. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn die Partei nun von mir erwarte, ich sollte ihrem Ruf folgen, sei dies nur logisch, dachte ich mir.“
Er habe schlaflose Nächte gehabt. „Schließlich entschied ich mich für ‚unsere Sache’“, erzählt Krenz. Er machte das Lehrerstudium. Krenz: „Ich greife vor: Bereut habe ich die Entscheidung nicht. Lehrer wurde mein Traumberuf. Ich bedauerte nur, dass ich ihn nicht lange ausüben konnte.“
Auch Journalist, erfahren wir, wäre Egon Krenz gerne geworden. Doch die Partei stellte ihn immer wieder an andere Stellen. Nur die Nationale Volksarmee (NVA) blitzte bei ihm ab: eine Offizierslaufbahn einzuschlagen, lehnte er ab. Krenz sei verblüfft gewesen, dass der zu Besuch weilende damalige Generaloberst und Vize-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann nichts dagegen einzuwenden hatte. Der beschied ihm: „Das ist richtig.“ Auf der Insel Rügen brauchten sie ihn als Funktionär der FDJ. Krenz: Dieses „Kadergespräch“ sei es gewesen, das „mein weiteres Leben bestimmen sollte.“«
Leserinnen und Leser, die (wie ich) in der DDR geboren wurden und dort lange gelebt haben, werden – befragte man sie – unterschiedliche Meinungen über ihren Staat und auch über die Person Egon Krenz (positive wie negative) äußern.
Leute dagegen, die in der BRD sozialisiert worden sind, dürften sich ihre Meinung darüber aus der Berichterstattung dortiger Medien gebildet haben. Die verpassten Egon Krenz gewissermaßen in der Regel einen bestimmten Stempel. Der dann saß und in der Regel betreffs der Stimmigkeit seiner Aussage nicht sonderlich oder überhaupt nicht hinterfragt wurde. Schließlich galt Krenz als Kronprinz Honeckers.
Ich erlaube mir – wie schon in erwähnter Rezension geschehen – eingangs auch dieser Rezension erneut diesen Hinweis:
Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden. Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg (Pommern; heute Kołobrzeg, Republik Polen) geboren. Also zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Mutter ist eine einfache Frau. Den Vater lernte er nicht kennen. Egon Krenz entstammt kleinsten Verhältnissen.
Mit Spannung erwartete ich nun den dritten und letzten Band der Erinnerungen von Egon Krenz. Und wurde nicht enttäuscht. Gewidmet hat er diesen Band – wie schon die zwei vorangegangenen Bände – seiner verstorbenen Frau Erika.
Abermals wartet der Autor mit sachlich formulierten Schilderungen und Betrachtungen aus eigenem Erleben und einer Zeit auf, wo es sozusagen letztlich ans Eingemachte und schließlich mit seiner Partei sowie der DDR zu Ende ging. Krenz beschönigt nichts. Er hat seine Memoiren dennoch mit erhobenen Kopf souverän geschrieben. Und er hat kritisiert, was es seiner Meinung nach an Staat und der SED zu kritisieren gibt. Da gibt es kein Ausweichen. Wenngleich andere es auch anders sehen mögen. Denen gesteht er das auch zu. Allerdings kommen selbst heute noch einstige DDR-Bürger freundlich auf ihn zu, um mit ihm zu sprechen oder ihn in seiner Haltung zu bestärken. Und wenn einige Rezensenten westdeutscher Provenienz meinen, das von Krenz Aufgeschriebene auf ihre Weise verstehen zu wollen. Oder müssen zu sollen? Dann ist das halt so. Getreu dem Vorwurf die Erinnerungen von Krenz dienten ihm sozusagen als selber ausgestellten Persilschein. Er habe damit sein Wirken in Partei und Staat schöngeschrieben. Man könnte meinen, die Schreiber solcher Urteile folgten noch heute brav dem einstigen Justizminister Klaus Kinkel, welcher 1991 auf dem Deutschen Richtertag die Justiz aufgefordert hatte, die DDR zu delegitimieren. Aber freilich sollte das – das wurde und sollte wohl auch so verstanden werden – letztlich für den Staat DDR als Ganzes gelten. Nichts Gutes sollte an ihm dranbleiben. Auch recht nichts am letzten Staatschef Egon Krenz. Den im Gegenteil früher sogar manch Westjournalist als Hoffnungsfigur hoch schrieb und dies und jener BRD-Politiker gern mit ihm gesprochen hatte und sich mit ihm sehen und ablichten ließ.
Der Siegerstaat hat der DDR deren Existenz ohnehin immer übelgenommen. Nun wurde abgerechnet.
Nicht einmal mochte man Krenz anrechnen, dass er die Proteste von DDR-Bürgern in Leipzig und anderswo auf seine Befehle und Weisungen hin nicht blutig niederwalzen ließ. Weil er dafür sorgte, dass im Oktober 1989 kein Schuss fiel. Krenz zeichnete zusammen mit den führenden Köpfen der DDR-Sicherheitsbehörden dafür verantwortlich. Er schreibt, dass der damals gar nicht die eigenen Kompetenzen dafür hatte, war doch Erich Honecker zu diese Zeit noch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.
Die in der DDR stationierten Truppen der Sowjetarmee hatte Krenz gebeten in den Kasernen zu bleiben: „Der Appell an die Streitkräfte auf unserem Terretorium, in den Kasernen zu bleiben, kam nicht von Gorbatschow. Es war eine souveräne Entscheidung der DDR, wie es eben eine souveräne Entscheidung des sowjetischen Militärs war, dieser Bitte nachzukommen.“
Berechtigt rechnet sich Egon Krenz als Verdienst zu, dass es friedlich im Oktober 1989 im Lande blieb. „Die Gewaltlosigkeit gehört zum humanistischen Erbe der DDR“, schreibt er. (S.126)
Für die Angehörigen der bewaffneten Organe galt die Devise: „keine Gewalt!“
„Niemand in der DDR hatte dem Beispiel von Gustav Noske (SPD) folgen wollen. Der hatte mit dem Satz «Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!« Anfang 1919 den Spartakusaufstand in Berlin niederschlagen lassen.“
Krenz: „Dass ich meinen Teil zum friedlichen Herbst beigetragen habe, würdigte damals selbst die westdeutsche Presse, die sonst kein gutes Haar an mir ließ: «Wie immer das Urteil der Geschichte über den neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz ausfallen wird, dass er seinen Deutschen ein Blutvergießen erspart hat, diese historische Leistung ist ihm nicht zu bestreiten«, schrieb am 14. November 1989 Uwe Zimmer, Chefredakteur der Münchner Abendzeitung.“
Heute wird dergleichen gern vergessen. Wie auch immer: Ich gehe mit den Einschätzungen manch heutiger Journalisten nicht d’accord. Egon Krenz hat seine Memoiren aus meiner Sicht nicht niedergeschrieben, um sich von Schuld freisprechen, sich damit sozusagen zu exkulpieren. Von ihm ist überliefert, dass er betreffs seines Gerichtsprozesses damit gerechnet hatte, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Schließlich könne er nicht hinnehmen, dass andere DDR-Bürger – etwa Grenzsoldaten – zu Gefängnisstrafen verurteilt würden und er als ein führender Vertreter des Staates nicht.
Besagten Rezensenten lege ich ans Herz noch einmal genau in die drei Krenz-Bände hineinzulesen. Hernach müssten auch sie eigentlich erkennen: Eigene Fehler werden benannt, zu langes Zuwarten, statt die Verhältnisse zu verändern, werden durch Krenz beklagt. Und auch die Gründe dafür werden aufs Tapet gebracht. All das ist glaubwürdig geschrieben. Sein Zögern, statt womöglich entschlossen zu handeln hatte auch mit der verständlichen Rücksichtnahme auf alte und älteste Genossen des Zentralkomitees der SED zu tun, die einst für ihren Kampf gegen den Faschismus in der Hitler-Diktatur ins Gefängnis geworfen oder sogar in Konzentrationslagern hatten leiden müssen und ihnen glücklicherweise entronnen waren. Immerhin betraf dass zehn SED-Politbüromitglieder von insgesamt 22.
Allein Erich Honecker hatte zehn Jahre im Zuchthaus Brandenburg gesessen!
Gegen ihn nun zu putschen – gar einen Staatsstreich anzuzetteln – das kam für Krenz, so schreibt er, in keiner Weise infrage. Und das ist ihm abzunehmen.
Dazu kamen noch die Veränderungen beim Großen Bruder, Sowjetunion, seit Michail Gorbatschow dort Generalsekretär der KPdSU geworden war. Er hatte sich für eine Politik von Perestroika und Glasnost entschieden. Diese fand auch bei manchem SED-Genossen und DDR-Bürgern Anklang. Es regte sich der Wunsch, die DDR möge sich einer solchen Politik anschließen.
Diesen Gedanken allerdings standen Äußerungen etwa des Mitglieds des Politbüros des ZK der SED, Kurt Hager, entgegen, welcher seinerzeit in einem Interview mit dem Stern meinte: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“
Der dritte Band der Erinnerungen von Egon Krenz beginnt mit dem Kapitel „Neunzehnneunundachtzig“. Er schreibt: „Zwischen Weihnachten und Silvester 1988 wollte ich einige Tage frei machen. Honecker war im Lande, und ich brauchte ihn nicht zu vertreten.“ […]
„Den Kopf bekam ich trotzdem nicht frei. Mich plagten vorrangig die in den vergangenen Monaten verpassten Gelegenheiten, im Schulterschluss mit Moskau notwendige Veränderungen unserer Politik vorzunehmen. Manchmal war ich der Resignation sehr nahe. Ich richtete mich dennoch immer wieder auf. Ich trug schließlich ebenfalls dafür Verantwortung und stand in der Pflicht, zu der ich mich bekannte.
Kurz vor Weihnachten hatte mir mein langjähriger Freund und Wegbegleiter Wolfgang Herger gesagt: «Wenn Erich Honecker Altersweisheit besäße, würde der jetzt zurücktreten. Wenn er es auf der nächsten Tagung des Zentralkomitees nicht macht, werden ich ihn dazu auffordern.« Wolfgang leitete seit 1985 im ZK die Abteilung Sicherheitsfragen, zuvor die Abteilung Jugend. Beide gehörten wir dem Zentralkomitee an.
Ich glaubte nicht an eine solche Einsicht des Generalsekretärs. Aus verschiedenen Gründen. Zunächst natürlich politische. Gorbatschow hatte unlängst in einer Grundsatzrede von einer «Krisensituation« in der Sowjetunion gesprochen und vor Kräften gewarnt, «die die Perestroika missbrauchen, um zu den Zuständen vor der Oktoberrevolution 1917 zurückzukehren. Das klang nach Konterrevolution und machte Honecker hellhörig. Mehr noch: Er verhielt sich, wenngleich für kurze Zeit, solidarisch mit dem sowjetischen Parteiführer. Dieser wiederum fürchtet Instabilität in der DDR, käme es dort zu einem Führungswechsel. Sie konnte er nicht gebrauchen, jetzt schon gar nicht. Das sah und spürte auch Honecker. Für ihn war das wie eine Aufforderung zum Bleiben.“
Krenz weiter (S.10): „Ich erinnere mich an eine internationale Konferenz in Moskau 1984. Wir sahen, wie dem 73-jährigen KPdSU-Generalsekretär Tschernenko, bereits sehr hinfällig, das Redemanuskript entglitt. Gorbatschow an seiner Seite ging in die Knie und sammelte die Blätter ein. Honecker zeigt sich angesichts dieser ziemlich traurigen Peinlichkeit angefasst und beugte sich zu herüber: «Du musst unbedingt aufpassen, dass uns nicht Ähnliches passiert.«
Honecker habe zwar fünf Jahre nach diesem Vorall seine Redemanuskripte noch fest in der Hand gehalten. „Aber war eben auch nicht jünger geworden“, so Egon Krenz.
„In seiner Selbstwahrnehmung war er fit und gesund. Von Altersstarrsinn spürte er selbstverständlich nichts, nichts von zunehmender Eitelkeit und Selbstüberschätzung.“ (S.11)
Krenz: „Selbstkritisch muss ich bekennen, dass ich zu jenem Zeitpunkt der – später als illusionär zu bezeichnenden – Auffassung war, die notwendigen Veränderungen in der Partei und in der Gesellschaft mit und nicht gegen Honecker einleiten zu können. Zumal er in großen Teilen der Bevölkerung – bei aller Kritik – aufgrund seines auch international geachteten aktiven Beitrages zur europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik noch immer viel Zuspruch erfuhr.“
Krenz schätzte, das Honecker sich in den frühen achtziger Jahren dem Raketenwahnsinn widersetzt hatte. „Auch sowjetische Raketen waren für ihn Teufelszeug.“
Bekanntlich ist man später immer klüger. So auch Egon Krenz: „Im Nachhinein sage ich heute: Hätte der Antifaschist Honecker nach seinem Staatsbesuch in der BRD 1987 seinen Hut genommen, wäre man vielleicht später anders mit ihm umgegangen. Er hatte sich nachweislich um den Frieden verdient gemacht, was man noch immer im Volke hochschätzen würde.“
Unumwunden nennt Krenz auch die existiert habende emotionale Beziehung zwischen Honecker und ihm. Honecker habe ihn – sie trennten fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied – sehr lange gefordert und gefördert. Weshalb Krenz ihm gegenüber Dank und Respekt empfunden habe.
All das bedenkend habe Krenz veranlasst, Wolfgang Herger von seinem Vorhaben abzubringen, Erich Honecker zum Abtritt zu bewegen. Zumal er merkte, dass sich alle im Politbüro bedeckt hielten. Keiner habe damals sagen können, ob sich dort eine Mehrheit hätte finden lassen, um den ersten Mann im Gremium zum Rückzug zu bewegen.
Krenz schreibt über ein Treffen mit Gerhard Schürer, dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission und Mitglied des Politbüros, im Keller dessen Wochenendhauses. Schürer dort: „Wir müssen Honecker stürzen.“
Schürers Offenheit imponierte Egon Krenz. „Eine Verjüngung der gesamten Führung war zweifellos notwendig. In diesem Punkt stimmten wir überein. Doch sein Plan roch mir zu sehr nach Verschwörung. Ein Putsch war meine Sache nicht. Das passte auch nicht zu unserer marxistischen Weltanschauung.“
Dennoch teilte Krenz Schürers Urteil. «Ja, sagte ich, «auch ich glaube, dass Erich Honecker seinen Funktionen nicht mehr gewachsen ist. Weder physisch noch psychisch.«
Krenz war allerdings auch von der Sorge getragen, dass die Schulden der DDR gegenüber dem Westen unablässig wüchsen.
Jeder Nachfolger Honeckers, so Krenz damals beim Keller-Gespräch, werde daran scheitern.
Überdies trug er dort Bedenken vor, dass auch außerhalb der DDR ein solcher „Staatsstreich“ möglicherweise Unverständnis hätte hervorrufen können.
Hätte besagtes Keller-Treffen im Februar 1989 – Risiken hin oder her -, wäre Schürers Forderung umgesetzt worden, das Blatt zum Positiven wenden und die DDR retten können? Wir wissen es nicht. Hätte, hätte, Fahrradkette. Spekulationen verbieten sich deshalb. Der richtige Zeitpunkt, einen Wechsel und damit einen Wandel einzuleiten, war m.E. längst verpasst worden. Weshalb wohl betreffs dessen von vergossener Milch gesprochen werden muss.
Probleme wuchsen im Innern der DDR, aber wirkten auch von außen auf sie.
Krenz bekennt: „Die Dringlichkeit eines kontinuierlichen Generationswechsels in der politischen Führung hatte ich unterschätzt.“ […]
Der Große Bruder Sowjetunion hatte mit Gorbatschow und dessen Ansatz, eine Politik von Glasnost und Perestroika zu verfolgen, einen anderen Weg eingeschlagen, den Honecker nicht mitzugehen bereit war. Obwohl DDR-Bürger und selbst auch Genossen der SED darin durchaus eine Chance sahen und deshalb Hoffnungen damit verbanden. Währenddessen es im Land immer mehr kriselte. Die Unzufriedenheit unter den Menschen wuchs. Dafür, dass Hoffnungen von DDR-Bürgern zunehmend zerstoben, macht der Autor sich nicht erfüllende Wünsche nach Erich Honeckers BRD-Besuch 1987 verantwortlich. Er nennt eine »spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen« – Regale mit klaffenden Lücken in den Geschäften, sowie längere Wartezeiten auf Pkw. Hoffnungen auf eine liberale Reisepolitik erfüllten sich nicht (Egon Krenz verweist auf einen Grund dafür: Die ins westliche Ausland reisen wollenden DDR-Bürger brauchten dafür Devisen. Woher die in ausreichender Menge nehmen?).
Mehr noch: Die Anzahl der Ausreiseanträge unzufriedener DDR-Bürger nach dem Westen mehrten sich in Folge dessn. All das schwächte das Land. Und begann selbst diejenigen DDR-Bürger anzustecken, die eigentlich gedachten dazubleiben. Ich selbst bin nur e i n Beispiel dafür. Obwohl meine Gründe durchaus vielschichtiger waren. Dabei hatte ich lange auf folgendem Standpunkt gestanden: Es können doch nicht alle fortgehen! Hier im Lande müsse etwas verändert werden. Und zwar möglichst gemeinsam. Dennoch fühlte ich mich getrieben: Im September 1989 verließ ich die DDR über Ungarn und Österreich …
Interessant zu lesen wie Egon Krenz das Jahr 1989 erlebte. Nicht weniger fesselt es, darüber zu lesen, welche Erfahrungen Krenz in den 35 Jahren danach im politischen und privaten Leben gemacht hat. Bekanntes aber auch weniger Bekanntes kommt zur Sprache. Letzte Geheimnisse der DDR, die nur er noch kennt, werden offenbart.
Ein zartes Pflänzchen namens Neuanfang betreffs der Gestaltung einer besseren DDR hatte im Grunde genommen keine Chance zu gedeihen. Die Karten waren dem Land sozusagen bereits gelegt.
Im Herbst 1989 wurde Krenz in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender.
Erich Honecker war nicht zurückgetreten, sondern von seinen Funktionen entbunden worden. (S.107) Ministerpräsident Willi Stoph vorm SED-Politbüro: «Ich schlage vor. Erster Punkt der Tagesordnung: Entbindung des Genossen Erich Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär.«
Interessant zu lesen, wie sich Günther Mittag, „der sich als angeblich bester Freund Honecker verstand“, die Seiten wechselte. Er habe sich“, so Krenz, „gewohnheitsmäßig auf die Seite der gefühlten Mehrheit“ geschlagen. Andere Genossen hatten ihm bewusst gemacht, dass sich der Wind gedreht hatte. „Er hisste sein Fähnchen.“
Krenz: Ausgerechnet Mittag sprach davon, dass Erich Honecker das Vertrauen der Partei verloren habe: „Der als sein engster Berater Honecker oft zu falschen Entscheidungen gedrängt hatte. Mittag selbst war ursächlich für diese Politik verantwortlich, über die nun ein Scherbengericht gehalten wurde.“ (S.108/109)
Egon Krenz nach seiner Wahl im DDR-Fernsehen: „Die Rede, die ich in Adlershof in die Kamera sprach, erreichte nicht die Wirkung, die sich jene versprochen hatten, die mich dazu aufgefordert hatten. Ich war unzufrieden. Allein die Verwendung der Anrede «Liebe Genossinnen und Genossen« wurde scharf kritisiert. Es sei der Eindruck entstanden, ich würde mich nur an die Parteimitglieder wenden. Viele Zuschauer fühlten sich von der SED vereinnahmt. Es war kein guter Start. (S.115)
Egon Krenz fragte sich: „Woran war Honecker gescheitert?“ Er scheue sich nicht, „die Zeit nach dem VIII. Parteitag der SED die Ära Honecker zu nennen.“ Dort ging es um die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als neuen politischen und wirtschaftlichen Kurs der SED.
Damit spricht Krenz auf„den äußerst widerspruchsvollen und vorerst verlorenen Start, ein glaubwürdiges, für die Menschen attraktives Modell des Sozialismus im Zeitalter von Wissenschaft und Technik, im Zeitalter einer bewusst wahrgenommenen Ganzheitlichkeit der Welt zu verwirklichen“, an. (S.116)
„Woran ist er konkret gescheitert?
Meines Erachtens am verhängnisvollen Erbe Stalins, von dem er sich in der Politik und im persönlichen Denken nicht hatte frei machen können. Er scheiterte an der – unabhängig von seinem Willen gewachsenen – Unfähigkeit des sozialistischen Systems in Europa, die Produktivkraftentwicklung des kapitalistischen Westens zu erreichen und dabei die sozialistische Alternative einer in jeder Hinsicht freien Entwicklung der Gesellschaft und des Einzelnen zu präsentieren.“
Das Kapitel abschließend, gesteht Krenz Honecker zu: „ Er war ein Mann seiner Zeit – wie wir alle: geprägt von den Umständen, die ihr eigen waren.“
Im August des Jahres 1989 hatte Erich Honecker bei der Übergabe eines elektronischen Bauteils den Satz «Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf«. Krenz: „In der DDR löste er bitteres Hohngelächter aus, westlichen Kommentatoren interpretierten diesen trotzigen Spruch als Ausdruck einer seltsamen Entrücktheit, als Realitätsverlust oder schlicht als Altersstarrsinn. Damit lagen sie vermutlich nicht ganz falsch.“
In jenen Tagen bekam Krenz von einem Mitarbeiter von einer Begebenheit erzählt, welche sich angeblich vor zweihundert Jahren zugetragen hatte. „Der Kammerherr Ludwigs XVI. – der französische König sollte 1793 auf dem Schafott enden – eilte nach dem Sturm auf die Bastille nach Versailles, um dem Monarchen von den Ereignissen am 14. Juli 1789 in Paris zu berichten. Dessen besorgte Frage, ob dies eine Revolte sei, beantwortete der Kammerherr abschlägig: «Nein, Sire, das ist eine Revolution.«
Ich hatte den Eindruck, dass der Genosse mir damit sagen wollte, dass das, was gegenwärtig auf unseren Straßen und Plätzen stattfand, nicht nur ein Revolte, sondern ebenfalls eine Revolution sei.
Ich sah das nicht so. Zwar war die DDR-Führung nicht mehr in der Lage, die Macht in der gewohnten Weise auszuüben, und das Volk seinerseits war nicht mehr bereit, alles hinzunehmen – doch eine Revolution gegen den Sozialismus, nein, das war es nicht. Die Menschen wollten eine andere, eine bessere DDR. Und wir mussten nun gemeinsam mit dem Volk dafür die entsprechenden Reformschritte gehen.“
Hier stimme ich Egon Krenz zu. Auch darin, dass es sich um keine Revolution gegen den Sozialismus handelte. Meine Meinung: Es war in keiner Hinsicht eine Revolution. Wenngleich es freilich durchaus auch DDR-Bürger gab, die etwas anderes wollten (letztlich ohne alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zu bedenken) – für viele Menschen in der DDR galt mit ziemlicher Gewissheit: Sie wollten eine andere, bessere DDR.
Aber vergessen wir nebenbei bemerkt nicht: Die Propaganda des Westens lief längst auf Hochtouren. Daniela Dahn, die zusammen mit Rainer Mausfeld das Buch „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung“ (meine Rezension) geschrieben hat, macht darauf aufmerksam. Ich schrieb dazu:
«Propaganda- und Fahnenmaterial wurde in die strauchelnde DDR gekarrt. Der Slogan „Wir sind das Volk“ wurde in „Wir sind ein Volk“ gedreht. Heute würde man das Ganze wohl Nudging nennen – die DDR-Menschen wurden dahin geschubst, wohin man sie haben wollte.«
Egon Krenz war von Anfang an sehr eng mit der DDR verbunden. Der Verlag schreibt dazu: «Als sie vor 35 Jahren unterging, verlor er mehr als nur seine Arbeit.
Er reflektiert diese auch für andere Ostdeutsche sehr komplizierte Zeit. Und wie sie nimmt er die Gegenwart nicht teilnahmslos hin: Krenz ist der politische Mensch geblieben, der er immer war. Er ist ein einzigartiger Zeitzeuge deutscher Zweistaatlichkeit.« Auch seine Partei, die SED, verlor er, welcher er 1955 beigetreten war. Der Ausschluss aus der inzwischen zur SED/PDS umgerubelten SED Anfang 1990 schmerzte ihn. Bis heute ist er parteilos geblieben.
Die drei Bände seiner Memoiren erzählen u.a. einen wichtigen Teil deutscher Geschichte. Welcher nicht der Vergessenheit anheim fallen darf. Deshalb: Unbedingte Leseempfehlung.
Krenz will niemanden seine Sicht aufdrängen. Weshalb er zu bedenken gibt: „Zum Ende der DDR gab es rund 16 Millionen Einwohner. Das heißt, es gibt auch Millionen individueller Sichten auf die DDR. Die auf eigener Erfahrung beruhende Deutungshoheit sollte ausschließlich diesen Menschen überlassen bleibe und nicht einer «Aufarbeitungsindustrie« und deren Apologeten. Ginge es nach diesen Unwahrheitsaposteln, wäre die DDR ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen, verzwergt, gedemütigt, bevormundet eingesperrt hinter einer Mauer, lebend mit einer maroden Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff und der Staatssicherheit. Nein. So war die DDR nicht.“
Anlässlich einer Veranstaltung der Zeitung junge Welt zum 75. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 2024 im Berliner Kino Babylon war Egon Krenz um eine Rede gebeten worden. Der Text ist den Schluss des Buches gesetzt worden
Überschrieben ist er mit der Leitfrage der Veranstaltung: »Was bleibt?«
Krenz zitierte darin aus Brechts Gedicht
»An die Nachgeborenen«
»Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unserer / Mit Nachsicht«
Krenz weiter: „Es gibt viele Grüne, die DDR zu mögen. Und auch mancher, ihre Unzulänglichkeiten scharf zu kritisieren. Doch über allem steht das Wort Frieden. Die DDR hat niemals Krieg geführt. Sie war der deutsche Friedensstaat.
Egon Krenz merkt hinsichtlich gegenwärtiger Auswüchse in Deutschland an: „Kriegspropaganda und Rassenhass einschließlich Russophobie waren in der DDR verboten. Unsere Staatsdoktrin lautete: «Von deutschem Boden darf niemals wieder ein Krieg ausgehen.« Es wäre in der DDR undenkbar gewesen, dass die Bevölkerung «kriegstüchtig« gemacht worden sei. Ein Minister, der solches gefordert hätte, wäre seines Amtes verlustig gegangen. Kriegspropaganda in den Medien hätte sofortige Konsequenzen nach sich gezogen. Bei uns hatte die Erziehung zum Frieden Prioriät.“
Ein Satz aus dem Text ist Egon Krenz besonders wichtig:
«Nein, es wird ihnen nicht gelingen, die DDR zu einer Fußnote der deutschen Geschichte herabzuwürdigen. Sie ist mindestens ein Kapitel. Und nicht das schlechteste. Man kann mir vorwerfen, ich idealisiere die DDR. Mag sein. Na und?«
Lohnenswerte Lektüre! Und zwar alles drei Bände.
Hier meine Rezensionen der zwei vorangegangenen Bände der Erinnerungen von Egon Krenz:
Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen
Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen
Egon Krenz
Verlust und Erwartung
Erinnerungen
384 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil
sofort lieferbar
Buch 26,– €
ISBN 978-3-360-02817-4
Das Jahr 1989 und die Zeit danach
— Teil III – letzter Teil der Memoiren des ehemaligen Staatschefs der DDR —
Mit dem dritten Band seiner Memoiren schließt Egon Krenz seine Autobiografie ab. Darin nimmt er den Herbst 1989 in den Blick, als er Staats- und Parteichef wurde, seine Vertreibung aus dem Amt und der Wohnung, den Verlust seines Landes, schließlich die juristischen Auseinandersetzungen einschließlich seiner Haft. Als die Republik vor 75 Jahren gegründet wurde, war er zwölf. Er hat sie nicht nur erlebt, sondern aktiv gestaltet. Als sie vor 35 Jahren unterging, verlor er mehr als nur seine Arbeit. Er reflektiert diese auch für andere Ostdeutsche sehr komplizierte Zeit. Und wie sie nimmt er die Gegenwart nicht teilnahmslos hin: Krenz ist der politische Mensch geblieben, der er immer war. Er ist ein einzigartiger Zeitzeuge deutscher Zweistaatlichkeit. Krenz überzeugt, weil er glaubwürdig ist. Seine Memoiren offenbaren die letzten Geheimnisse der DDR, die nur er noch kennt.
Egon Krenz
Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz legte bereits zwei seiner auf drei Bände angelegte Erinnerungen vor (»Aufbruch und Aufstieg«, 2022, und »Gestaltung und Veränderung«, 2023).

Egon Krenz (links) auf einem Pressefest der Zeitung UZ in Dortmund.
Anbei:
Dazu auch:



































