Zum Tag der Befreiung

Heute, am 8. Mai, jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 76. Mal. Es ist ein Tag der Befreiung und ein Tag der Niederlage des deutschen Faschismus.

„Uns alle mahnt der 8. Mai dazu“ , schreibt Alexander Neu (MdB DIE LINKE) auf Facebook, „wachsam zu bleiben und uns jeden Tag aufs Neue für Frieden und gegen Ausgrenzung, rechte Ideologien, Faschismus und Gewalt einzusetzen.

Auch darum muss der 8. Mai bundesweit zum Feiertag erklärt werden.

Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“

In unseren Tagen nun fordert die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano seit 2020 unermüdlich:

„Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschla­gung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Und dann können wir, dann kann ein Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt.“ (Hier dazu mein Beitrag mit dem Wortlaut des Offenen Briefs Bejaranos an Bundespräsident und Bundeskanzlerin)

Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er so leicht, und oft vergisst er gerade die entscheidenden Lektionen.

(Lukas Bärfuss, Büchner-Preis-Rede 2019)

10. MAI 2021 — Esther Bejarano erinnert an ihren „zweiten Geburtstag“ und bekräftigt ihre Forderung den 8.Mai 2022 endlich zum Feiertag zu machen

„Am 3. Mai vor 76 Jahren bin ich in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz befreit worden, befreit von den amerikanischen und den sowjetischen Truppen. Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt. Alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen und ich habe dazu Akkordeon gespielt.“ – Holocaust-Überlebende Esther Bejarano erinnert sich an ihren „zweiten Geburtstag“ 

Am 3. Mai hat Esther Bejerano (*1924) anlässlich ihrer Befreiung auf dem Todesmarsch von Ravensbrück im kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz durch sowjetische und amerikanische Soldat:innen, ihre Forderung bekräftigt, den 8. Mai ab 2022 endlich zum Feiertag machen! 

Seitdem haben in den letzten Tagen mehr als 20.000 neue Unterstützer:innen die Petition unterschrieben.

Auch der nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende Thomas Kutschaty fordert jetzt, den 8. Mai bundesweit zum gesetzlichen Feiertag zu machen

SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag, Vorsitzender der NRW-SPD Thomas Kutschaty.

 „Wir müssen den 8. Mai zu einem Tag gegen Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung in jeglicher Form machen“, sagte Kutschaty am Freitag, dem 7.Mai 2021 in Düsseldorf. (Westfälische Rundschau)

Anbei gegeben sei hier noch ein Beitrag über eine Veranstaltung der Kölner DGB-Jugend, an der Esther Bejarano vor einigen Jahren teilnahm.

In der BRD war vom „Tag der Befreiung“ zu sprechen bis zu einer historischen Rede von Richard von Weizsäcker verpönt

In der DDR war der 8. Mai von 1950 bis 1967 und einmalig im Jahre 1985 als „Tag der Befreiung“ gesetzlicher Feiertag.

In der BRD hingegen war vom Tag der Befreiung zu sprechen lange verpönt bis unerwünscht. Weshalb es nahezu wie ein Paukenschlag durch Westdeutschland hallte, als im Mai 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte: „Es war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (hier via Heinz Hammer/You Tube ein Ausschnitt der Rede) Richard von Weizsäcker benutzte im Mai 1985 eine klare Sprache, eine befreiende Sprache für das, was 40 Jahre zuvor geschehen war.

Befremdlich: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lehnt Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion ab

Via Sevim Dagdelen

Heute, im Jahr 2021 muss es vor diesem Hintergrund und eingedenk der Tatsache, dass Zeitzeugen, Überlebende des blutigen Terrors des Hitlerfaschismus allmählich kaum noch zur Verfügung stehen werden, um darüber zu sprechen, schon einigermaßen befremdlich anmuten, dass – wie Sevim Dagdelen (MdB DIE LINKE) berichtet und kritisiert:

„Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lehnt die Initiative der Fraktion DIE LINKE für eine gemeinsame Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni ab. Ich finde das zutiefst beschämend und respektlos angesichts der 27 Millionen Kriegstoten in der UdSSR. Die Journalistin Christine Dankbar kommentiert in der Berliner Zeitung dazu richtig: „Die Sowjetunion hat wie kein anderes Land in diesem Weltkrieg Leid und Tod erfahren. Das darf nicht vergessen oder auf private Initiativen abgeschoben werden – ganz egal, welche politischen Probleme die Bundesrepublik aktuell mit Russland haben mag.“

Dagdelen informiert:

„DIE LINKE im Bundestag wird jetzt am 21. Juni selbst in würdiger Weise an die grausamen Verbrechen des faschistischen Raub- und Vernichtungskriegs und die daraus resultierende Verantwortung Deutschlands für eine Verstetigung der Versöhnung mit Russland heute erinnern. Im Deutschen Bundestag. Ich freue mich, die Veranstaltung im Auftrag meiner Fraktion gemeinsam mit meiner Kollegin Gesine Lötzsch federführend vorzubereiten.“

Der 8. Mai hat für das sowjetische Volk und die Völker des heutigen Russland eine große Bedeutung

Der Stellvertretende russische Generalkonsul verneigt sich am Ehrenmal.

Welche Bedeutung der 8. Mai u.a.für das sowjetische Volk hat brachte der Stellvertretende Generalkonsul der Russischen Föderation Wladimir Kuzmin während einer Gedenkveranstaltung im vergangenen Jahr auf dem Internationalen Friedhof in Dortmund am sowjetischen Ehrenmal zum Ausdruck. In einer kurzen Ansprache nannte Kuzmin den 8. Mai einen besonderen Tag für das sowjetische Volk und die europäischen Völker. Er bedankte sich herzlich bei den am sowjetischen Ehrenmal erschienen Menschen für deren Gedenken und dafür, dass sie die Erinnerung an das im Zweiten Weltkrieg Geschehene weitertragen. (Hier mein Beitrag dazu)

Eine bewegende Rede des Schauspielers und Gewerkschafters Rolf Becker am sowjetischen Obelisken in Stukenbrock

Schauspieler Rolf Becker während seiner engagierten Rede.

Vor zwei Jahren hielt der Schauspieler und engagierte Gewerkschafter Rolf Becker eine bewegende und mahnende Rede am sowjetischen Obelisken, der an im Stalag 326 Senne (Stammlager für sowjetische Kriegsgefangene der Nazis) in Stukenbrock die ich in meinem Bericht über das Gedenken hier widergebe. Hier ein Ausschnitt:

„Dank Ihnen und Euch, Dank allen im Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ für die jahrzehntelange Arbeit zur Entwicklung und zum Erhalt dieser Gedenkstätte, Dank, dass ich hier bei Euch und mit Euch sein darf – in gemeinsamer Teilnahme und Sorge.

Sorge, weil – wie bereits angesprochen – ein weiterer Krieg droht, der die Unermesslichkeit des in den zwei Weltkriegen Erlittenen noch zu übersteigen droht – Folge auch der Tatsache, dass sich die deutschen Nachkriegsregierungen einer konsequenten Aufarbeitung des vermeintlich Vergangenen verweigert haben und bis heute verweigern.“

Christa Wolf:

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (…)

Eugen Drewermann: „das nie mehr wiederkommen darf und soll, verbunden mit dem Wunsch, dass das, was wir hier tun, bundesweit zu einer Pflicht wird“





Eugen Drewermann.

Ein Jahr später sprach Eugen Drewermann an gleicher Stelle beim Gedenken „Blumen für Stukenbrock“. Man erinnere mit diesem Gedenken an ein Ereignis, so hob Drewermann an, „das nie mehr wiederkommen darf und soll, verbunden mit dem Wunsch, dass das, was wir hier tun, bundesweit zu einer Pflicht wird.“

Eugen Drewermann mahnte, das wir Deutsche 27 Millionen zu Tode gekommene Sowjetbürger zwischen 1941 und 1945 zu verantworten haben:

„Für keinen einzigen hat die Bundesrepublik bis heute irgendetwas an Wiedergutmachung oder Bedauern gegeben oder geäußert.“

Die BRD sei 1949 als Aufmarschgebiet im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gegründet worden. „Es war kein Ort des Friedens. Wir waren vereinnahmt als Befreite – im Grunde den Krieg zu Ende zu führen, damit Stalin gestürzt würde.“ (Hier mein Bericht über die Veranstaltung)

Kriegsveteran David Dushman: „Krieg macht aus Menschen wilde Tiere

David Dushman referiert vor Dortmunder Gymnasiasten; Fotos: C.-D. Stille

David Dushman, der im Zweiten Weltkrieg einen T-34-Panzer lenkte undeiner der Befreier des KZ Auschwitz war, feierte im April dieses Jahres seinen 98. Geburtstag. „Der Kriegsveteran aus der ehemaligen Sowjetunion, der seit einem Vierteljahrhundert in München eine neue Heimat gefunden hat“, berichtete die Jüdische Allgemeine, „wurde zum Ehrenmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ernannt.“ Nur eine von vielen Ehrungen, welche dem Kriegsveteran zuteil wurden. Über seine Zeit im Krieg sagte er vor einigen Jahren in Dortmund (mein Bericht):

„Eine schreckliche Zeit. Ich hoffe, dass werden Sie nie mehr sehen“, sprach Dushman zu den Schülerinnen und Schülern. Und schob nach: „Viel besser, wenn wir zusammen Bier trinken. Krieg macht aus Menschen wilde Tiere“

Peter Donatus erinnerte an „Die vergessenen Befreier“

Peter Emorinken-Donatus. Foto: C. Stille

Ein Jahr zuvor schrieb an dieser Stelle mein Kollege und Freund Peter Donatus einen Gastbeitrag über „Die vergessenen Befreier“. Auch daran sei an dieser Stelle noch einmal erinnert. Denn viele Menschen wissen darüber nichts:

Die heutigen Erkenntnisse zeigen, dass die Befreiung Europas und der Welt von der faschistischen Troika (Deutschland, Italien und Japan) ohne den Beitrag Afrikas nicht möglich gewesen wäre. De Gaulles Befreiungsarmee des Freien Frankreichs bestand beispielsweise bis zu 65 Prozent aus Afrikanern.“

Heute finden bundesweit Veranstaltungen – im Rahmen der Corona-Bedingungen – zum Tag der Befreiung statt. Und: Fragen wir uns an diesem Tag der Befreiung, der nun endlich einer gesetzlicher Feiertag werden sollte, haben wir wirklich etwas aus der Geschichte gelernt? Jede/r von uns sollte sich das heute und darüber hinaus immer wieder fragen und für sich beantworten.

Blumen für Stukenbrock: Gedenken für von den Nazis zu Tode gequälte sowjetische Kriegsgefangene. Tief bewegende Rede des Schauspielers Rolf Becker

Auch in diesem Jahr führte der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ eine Gedenkveranstaltung für die 65 000 in Stukenbrock von den Nazis zu Tode gequälten sowjetischen Kriegsgefangenen durch. Der Arbeitskreis möchte damit die Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager für sowjetische Kriegsgefangene – Stalag 326 – wachhalten. Und so dazu beitragen, dass der Friede zwischen den Menschen und den Völkern erhalten bleibt. Der Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen war systematisch organisiert worden. Deren einzelnen Grabstätten und die Massengräber des sowjetischen Soldatenfriedhofs zeugen von dem unvorstellbaren Verbrechen, das die Wehrmacht an den Kriegsgefangenen verübte.

Dortmunder Gruppe nahm am Gedenken „Blumen für Stukenbrock“ teil

Auch aus Dortmund, organisiert vom , Förderverein der Gedenkstätte Steinwache-Internationales Rombergpark-Komitee e.V.

nahm abermals eine Gruppe am Gedenken „Blumen für Stuckenbrock“

Die Dortmunder Besuchsgruppe am Obelisken. Fotos: C. Stille

teil.

Zunächst besichtigte die Gruppe die Hinterlassenschaften des Stalag 326. Sie befinden sich auf dem Gelände des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei (LAFP) in Schloss Holte-Stukenbrock befindende Stalag 326. Dort erhielten sie eine zur Orientierung dienende kurze Führung von der Ehrenamtlichen Hilla Westerhelweg vom Bus aus. Am meisten dürfte den Menschen die „Entlausung“, eine graues barackenartiges Steingebäude ,wohin man die eintreffenden Kriegsgefangenen zunächst brachte, in Erinnerung geblieben sein. Nachdenklich machend auch ein tonnenschwerer Eisenklumpen vor dem Gebäude. Der soll die

65 000 ums leben gekommenen Strafgefangenen symbolisieren. Der Klumpen sinkt jedes Jahr 30 Zentimeter in die Erde und wird eines Tages verschwunden sein. An der Vorderfassade des barackenähnlichen Steingebäudes ist eine überdimensionale Laus angebracht. In einem anderen Gebäude nahm der Lagerarzt der Nazis Versuche an den Strafgefangenen vor.

Trägerschaft der Gedenkstätte Stalag 326 wird neu geordnet und zum Bildungsträger entwickelt

Die Kränze werden zum Obelisken getragen.

Zur Information: Bis 2020 soll die Trägerschaft der Gedenkstätte Stalag 326 neu geordnet sein (sh. Beitrag im Westfalen-Blatt). Die Gedenkstätte soll sich zu einem Bildungsträger entwickeln. Kürzlich zeigten Archäologen Fundstücke, die bei Ausgrabungen zutage gekommen waren (Bericht des WDR hier)

Von Freitag bis Sonntag fand wieder ein Jugendcamp auf dem Gelände der Gedenkstätte statt.

Kranzniederlegung am Obelisken. Anwesend waren der russische Generalkonsul, der NRW-Landtagspräsident und weitere Persönlichkeiten

Bildmitte der russische Generalkonsul Wladimir V. Sedykh, rechts von ihm Landtagspräsident André Kuper und links außen Schauspieler Rolf Becker.

Viele Kränze und Blumen wurden zum Gedenken am Obelisken abgelegt. Persönlich erschienen, um einen Kranz abzulegen waren Vertreter des Generalkonsulats der Russischen Föderation in Bonn unter Leitung von Generalkonsul Wladimir V. Sedykh.

Voran der Kranz des russischen Generalkonsulats. Dahinter Rolf Becker mit einer Rose.

Persönlich zugegen war u.a. auch der Präsident des Landtages André Kuper. Zu Füßen des Obelisken befand sich auch ein Kranz vom Ministerpräsident des Landes NRW.

Des Weiteren waren VertreterInnen von Parteien und Verbänden waren erschienen. Ebenso Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstandes

U.a. Marion Köster, Bezirksvorsitzende DKP Ruhr-Westfalen.

Zur Gedenkfeier dargebracht wurden einige musikalische Beiträge und Rezitationen von Gedichten.

Ein Grußwort von einem Zeitzeugen wurde verlesen

Professor Wladimir Naumow war im Alter von 11 bis 13 Jahren in der Bleich AG als Zwangsarbeiter interniert und hat im Mai 1945 als 13-Jähriger an der Einweihung des Obelisken teilgenommen. In seinem Grußwort an die diesjährige Veranstaltung schreibt er:

Am Obelisken niedergelegte Kränze.

„Wir begrüßen die Initiative von Bürgern der Region zur Schaffung einer Gedenkstätte von nationaler Bedeutung in Stukenbrock. Damit entstehen neue Chancen, sich mit den Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen und den Verbrechen in der NS-Zeit wie auch den Versäumnissen und der Ignoranz der Nachkriegszeit auseinanderzusetzen.“

Tief beeindruckende Rede des Schauspielers und engagierten Gewerkschafters Rolf Becker

Hauptredner auf der Veranstaltung war der Hamburger Schauspieler und engagierte Gewerkschafter Rolf Becker.

Schauspieler Rolf Becker während seiner engagierten Rede.

Der 84-jährige Becker hielt während eines ausgerechnet kurz nach Beginn seiner Rede einsetzenden Regenschauers (beschirmt von zwei sich abwechselnden

Veranstaltungsteilnehmern) eine hochemotionale, die Anwesenden tief beeindruckende Ansprache am Obelisken.

Becker begann seine Ansprache so:

„Dank Ihnen und Euch, Dank allen im Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ für die jahrzehntelange Arbeit zur Entwicklung und zum Erhalt dieser Gedenkstätte, Dank, dass ich hier bei Euch und mit Euch sein darf – in gemeinsamer Teilnahme und Sorge.

Sorge, weil – wie bereits angesprochen – ein weiterer Krieg droht, der die Unermesslichkeit des in den zwei Weltkriegen Erlittenen noch zu übersteigen droht – Folge auch der Tatsache, dass sich die deutschen Nachkriegsregierungen einer konsequenten Aufarbeitung des vermeintlich Vergangenen verweigert haben und bis heute verweigern.“

Christa Wolf:

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

So wie bei diesem Obelisken mit dem Abtrennen und Ersetzen der sowjetischen Fahne durch das orthodoxe Kreuz. Ich habe nichts gegen Kreuze und nichts gegen das orthodoxe. Aber ich habe etwas gegen Verfälschen des Gedenkens, die Missachtung der wenigen, die das Leiden in diesem Todeslager überlebten – die mit diesem Obelisken nicht nur der Vielzahl ihrer umgekommenen Mitgefangenen ein ehrendes Zeichen gegeben haben, sondern zugleich uns, den Nachgeborenen den Auftrag, unser Denken und Handeln so einzurichten, dass sich staatlich verordnete Verbrechen wie in den Jahren faschistischer Herrschaft in Deutschland nicht nochmals ereignen können.

Arno Klönne, der, wie sie wissen, das Lager seit 1941 kannte, als die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen hier eintrafen, und durch den ich vor etlichen Jahren erstmals von der Existenz dieses Lagers erfuhr, bestand bis zu seinem Tod darauf, der aus Glas gefertigten Flagge der Sowjetunion

Der Obelisk mit dem othodoxen Kreuz auf der Spitze. Nicht nur Rolf Becker möchte den Originalzustand wieder hergestellt wissen: ursprünglich prangte auf dem Obelisken die Flagge der Sowjetunion.

ihren ursprünglichen Platz zurückerhält:

„Denkmalschutz müsste bedeuten, dass ein Symbol der Erinnerung die Form behält, für die sich jene Menschen entschieden hatten, aus deren Lebensgeschichte es hervorging. Alles andere wäre Verfälschung von Geschichte.“

Ich schließe mich der Forderung von Arno Klönne und allen, die sich seit Jahren um die Wiederherstellung dieses Obelisken in seiner ursprünglichen Form bemühen, ausdrücklich an – verbunden zum einen mit dem Hinweis, das gebe ich zu bedenken – auch denen, die sich dem verweigern – mit dem Hinweis, dass zum einen die sowjetische Fahne seit einem Vierteljahrhundert nur noch Erinnerung ist, aber andererseits mit dem Bekenntnis zu ihrem Rot – mit Pablo Neruda: „Tropfen für Tropfen aus Blut“.

Blut – im zurückliegenden Krieg, an dessen Beginn am 1. September 1939 wir nach 80 Jahren hierzulande friedlich verlaufener Zeit erinnern, haben mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Oder waren es 65 Millionen, waren es noch mehr, waren es einige weniger? Wir können sie nicht zählen. Wir wissen es so wenig, wie wir die genaue Zahl der 65 000 sowjetischen Kriegsgefangenen hier kennen, die hier unter der Erde liegen. Ein Teil der geschätzt 3,3 Millionen – geschätzt!, dieses absurde Wort – 3,3 Millionen von 5,7 Millionen sowjetischen Soldaten, die die Gefangenschaft nicht überlebten. Nur wenige, auf Einzelgräbern vermerkt in kyrillischen Lettern: Konstantin, Wasili, Dimitri, Wladimir, Michael, Maksim, Pawel, Pjiotr, Igor und Ivan, Anastasia – Frauen auch, Mädchen, Maria, Nina, Irina, Galina, Vera, Anna und so weiter, oder schlicht nur: unbekannter Soldat.

Eine tief bewegende Rede hielt Rolf Becker.

Heinrich Heine:

Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht eben so viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“.

Jede und jeder der Genannten hatte zu Hause im fernen Russland Familie, Eltern Großeltern, Geschwister, vielleicht sogar Kinder: zum Leid der hier Umgekommenen kam das Leiden von Angehörigen Freundinnen und Freunden.

Persönlich: Als am 4. August 1943 mein Vater – kurz zuvor von der West- an die Ostfront versetzt – bei den Panzerschlachten im Kursker Bogen bei Tomarowka fiel, hatte er am Vorabend die Nachricht von der Geburt seines jüngsten Sohnes erhalten – die erste Nachricht von seinem Tod in den folgenden Morgenstunden erreichte unsere Familie in Form eines Briefes, auf dem seine Feldpostnummer durchgestrichen und durch den Vermerk ersetzt war und durch den Vermerk ersetzt war: „An Absender zurück – gefallen für Großdeutschland“.

Ich hoffe, dass dieser Wahn endet.

Aber immerhin war das noch ein Brief, dem folgte die offizielle Todesmeldung – über die Mehrzahl der hier Verscharrten wird es vermutlich nie eine Nachricht an die Hinterbliebenen gegeben haben.

Wenige Monate bevor mein Vater starb, war er zum letzten Mal bei uns auf dem kleinen Bauernhof oben in Schleswig-Holstein. Unvergesslich für mich, sein Eintreten bei uns in die Bauernküche. Nach wenigen Sätzen der Satz zu meiner Mutter: „mein Kind, wir haben den Krieg verloren“, und kurz darauf, von meiner Mutter später vielfach zitiert:

Rolf Becker richtet seinen Blick auf den Generalkonsul Russlands.

Wir könnten nach allem, was von der deutschen Wehrmacht im Osten (Becker wendet sich zum russischen Generalkonsul um; Anmerkung C.S,) – in Ihrem Land- angerichtet worden sei, von Glück sagen, wenn bei der Kriegsniederlage auch nur einer von der Familie überlebte.

Auf unserem Hof da waren damals wie bei den übrigen Bauern im Dorf Kriegsgefangene – Dubois aus Frankreich und aus der Sowjetunion Anton. Die wehrfähigen Männer waren ja überwiegend „im Feld“ – wie es hießt-, an einer der vielen Fronten des 3. Reiches, die anfallenden Arbeiten, auch in der Landwirtschaft, wurden überwiegend von Frauen gemacht, von Frauen auch angeleitet. In den ersten Kriegsjahren hatte es noch an Hilfskräften gemangelt – erst das Scheitern des geplanten „Blitzkrieges“, des Krieges gegen Russland, bewirkte, dass sowjetische Kriegsgefangene, die bis dahin verhungerten in Lagern, erschlagen, umgebracht wurden, „durch Arbeit vernichtet“, nach dem Führerbefehl vom 31. Oktober 1941 notdürftig verpflegt und in Industrie, Landwirtschaft, Verkehrswesen usw. eingesetzt wurden. Als Ersatz für die fehlenden Jugendlichen und Männer – überhaupt Arbeitskräfte in Deutschland.

Bleibende Erinnerung aus dieser Zeit für mich: das Schuldbewusstsein von den Ereignissen, den Erlebnissen in der Sowjetunion, geschockten Vaters, sein Schuldbewusstsein. Das Schuldbewusstsein des hochrangigen deutschen Offiziers einerseits, und andererseits der sowjetische Kriegsgefangene Anton, der fern seiner Heimat für den Gegner seines Landes arbeiten musste.

Noch ein Vorfall aus dem Dorf. Die Kleinigkeiten machen vor allem für die Jugendlichen – ich freue mich, dass so viele hier sind – klarer was war. Nach dem Tod meines Vaters im August 1943 ein Vorfall, der unser Dorf beschäftigt hat bis zum Ableben meiner Mutter 1978: Da hatte meine Mutter hatte zu später Stunde, weil Anton nicht zurückkam auf den Hof, auf der Suche nach ihm – sie vermutete erst eine Verabredung mit anderen Gefangenen im Dorf – da nahm sie wahr, dass Angehörige der NSDAP-Ortsgruppenleitung – ich könnte die Namen hier nennen -, stark angetrunken, in einem abgelegenen Schuppen mehrere sowjetische Kriegsgefangene mit Holzlatten zusammenschlugen. Meine Mutter war dazwischen gegangen.

Folge: sie wurde an einem der nächsten Tage von der Gestapo abgeholt und nach Rendsburg geschafft; kam aber nach drei Tagen zurück. Berichtete, sie sei von einem Offizier verhört worden, der zum einen berücksichtigte, dass ihr Mann – unser Vater – kurz zuvor an der Ostfront gefallen war, zum anderen ihrem Argument nicht widersprechen konnte, dass durch die Misshandlung von Kriegsgefangenen, sowjetischen Kriegsgefangenen vor allem, die Versorgung an den Fronten verschlechtert werde.

Zudem habe sie, wie ihr Mann an der Front, auf die Haager Landkriegsordnung“ – missachtet wurde, auch von der Führung der deutschen Wehrmacht, dass ist Jahrzehnte bestritten worden. Aber es ist die Unwahrheit, wenn es bestritten wird. Sie hatte hingewiesen auf die Haager Landkriegsordnung und die „Genfer Konvention“, nach der „kriegsgefangen“ bedeutet, einen völkerrechtlichen Status, der auch für das Deutschland des 3. Reiches gelte. Sie hatte Glück damals – der Gestapo-Offizier orientierte sich nicht an Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der die völkerrechtlichen Vereinbarungen für Soldaten der Roten Armee nicht gelten ließ – wörtlich Keitel damals, immerhin ein Generalfeldmarschall:

Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung!“ Vernichtung einer Weltanschauung!

27 Millionen Tote allein auf russischer Seite. 60 oder 65 europa- und weltweit. Die Äußerungen von Keitel wurden auf Anweisung der für unsere Gegend zuständigen Gestapo – auch im Hinblick der Entwicklung auch an den Fronten – zum Glück nicht mehr umgesetzt. Es gab seitdem keine Vorfälle der geschilderten Art mehr. Anton konnte unversehrt zurückkehren in seine Heimat. Allerdings – auch das wurde vorhin schon erwähnt – verunsichert, weil er befürchtete wegen seiner Arbeit in Deutschland missachtet oder bestraft zu werden. Oder gar kein Zuhause mehr vorzufinden. Sondern stattdessen verbrannte Erde.

Erst viele Jahre nach dem Krieg erfuhren wir, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen nach der jüdischen Bevölkerung die zweitgrößte Opfergruppe nationalsozialistischer Vernichtungspolitik darstellen. Ich verdanke – ich habe den Namen schon erwähnt – weiteren Einblick vor allen Dingen Arno Klönne und seinem Paderborner – einige sind hier – Freundeskreis dem Hamburger Historiker Hannes Heer, der mich an der Eröffnung seiner Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945« beteiligte. Ich denke, seitdem und durch zahlreiche weitere Untersuchungen und Publikationen, durch Gedenkveranstaltungen, wie hier, durch Kundgebungen, Aufrufe, Demonstrationen, auch persönliche Begegnungen, wissen viele von uns – hier wahrscheinlich alle – was wirklich geschah. Aber immer noch zu wenige unter den Schülern und Jugendlichen. Deshalb meine Freude, dass ihr hier seid. Die Jahre des organisierten Vergessens – ich weiß wovon ich spreche, bis ja Kind dieser Jahre – , des organisierten Vergessens in der Nachkriegszeit und in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik wirken nach bis ins Heute. Heute wissen wir, schon vor Kriegsbeginn im sogenannten „Hungerplan“ – wörtlich zitiert – der Massentod sowjetischer Soldaten und Menschen einkalkuliert waren. Wir wissen, dass unteschieden wurde zwischen den arbeitsfähigen Kriegsgefangenen, die am Leben bleiben, den nicht arbeitsfähigen – vor allem der großen Zahl Verwundeter oder Erkrankter, die getötet wurden.

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Wir wissen, dass etwa 140.000 sowjetische Kriegsgefangene als „politisch Untragbare“ zur Ermordung an Sicherheitspolizei und SS übergeben wurden, wissen, dass am 2. Mai 1941 eine Besprechung stattfand, an der Vertreter aus Wehrmacht und Wirtschaft teilnahmen und deren Ergebnis lautete:

„Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“

Und heute? Mit meinem Anliegen als Konsequenz dessen, was ich seit meiner Kindheit erlebt habe, alles zu tun, um den uns Nachfolgenden Vergleichbares zu ersparen, scheine ich gegenüber meinen Kindern gescheitert zu sein.

Erneut wird gegen Russland und die angeblich aggressive Föderation unter Wladimir Putin seitens Regierung und Medien mobilisiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in Warschau:

Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat – gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten – den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet. Herr Vizepräsident, das ist die Größe Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind.“

Kein Wort über Russland oder die Sowjetunion, zur unumstößlichen Tatsache, dass es die Rote Armee war, deren Opfern wir hier gedenken, die den kriegsentscheidenden Beitrag zur Niederschlagung des deutschen Faschismus geleistet hat. Stattdessen die Bekräftigung der „transatlantischen Freundschaft“, mit einer Nato, die erneut zum Angriff auf Russland und China rüstet, auf alle Länder, die auf ihrer Unabhängigkeit bestehen.

Oder geht es vielleicht der vom Bundespräsidenten gepriesenen US-Regierung zur Sicherung ihrer Wirtschaft um die Ausschaltung eines ihrer beiden größten Konkurrenten, China und Europa? Ein Krieg gegen Russland würde hier bei uns ausgetragen werden. Die möglichen Folgen fürchten nicht nur wir, auch namhafte Vertreter konservativer Politik wie Willy Wimmer, vor Jahren verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU.

Der Ausweg – ich weiß ihn so wenig wie Ihr, kann nur einige Überlegungen aufgrund meiner Arbeit im Kreis politisch aktiver KollegInnen in Betrieben und Gewerkschaften beitragen.

  1. Grundlage kapitalistischer Herrschaft: die Konkurrenz der Arbeitenden unter sich. Ohne sie könnten die Herrschenden nicht herrschen.

Diese Konkurrenz untereinander gilt es zu überwinden, wenn wir aus der gegenwärtigen Entwicklung in unseren Ländern einen Ausweg finden wollen.

Mit Bertolt Brecht:

Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine an­dere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsver­hältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Was nützt es da, etwas Mutiges zu schreiben, aus dem hervorgeht, dass der Zustand, in den wir versinken, ein bar­barischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist, warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich, wenn wir dies sagen, verlieren wir viele Freunde, die gegen das Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten auch ohne Foltern aufrechterhalten bleiben (was un­wahr ist). Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, dass das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigen­tumsverhältnisse geändert werden.“

Aus: „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“, 19335

  1. Kleinarbeit! Eine Aussage wird nur zur Wahrheit, wenn wir für sie eintreten, uns beteiligen an Konflikten, im Lande oder außerhalb: in der Flüchtlingsfrage (die Toten im Mittelmeer), bei Streiks, beim Wohnungsproblem, sozialer Versorgung, Gesundheitswesen, Umwelt, und, und, und… vor allem am Widerstand gegen fortschreitende Aufrüstung und Rüstungsexporte, jeden Ansatz von Nationalismus, Rassismus und Faschismus –
  2. Mit Erich Fried:

Nur eines weiß ich:
Morgen wird keiner von uns leben bleiben
wenn wir heute wieder nichts tun“

Und Maxim Gorki:

„Die Kinder gehen in die Welt – über die ganze Erde, alle, von überall her, demselben Ziel entgegen.

Sie ziehen aus, um die Lüge zu zertreten, das soziale Leid zu besiegen, das Elend dieser Erde zu beseitigen.

Sie entzünden eine neue Sonne, hat mir einer gesagt, und das werden sie tun.

Die Erde hat sie geboren und das Leben will ihren Sieg. In Wahrheit seid Ihr alle Genossen, alle, denn alle seid Ihr Kinder einer Mutter – der Wahrheit.“

Redaktioneller Hinweis: Meiner Meinung nach ist Rolf Beckers Ansprache von derartiger Wichtigkeit. Aus diesem Grund habe ich dessen Rede hier in voller Länge dokumentiert.

Claus Stille

Jochen Schwabedissen vom Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“.

Musikaler Beitrag des Camp-Chores.

Im Hintergrund: der russische Generalkonsul legt einen Kranz nieder.

Rolf Becker legt seine Rose am Obelisken ab.

„Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ – Ein neues, wichtiges Buch von Moshe Zuckermann

Der Antisemitismus war auch nach 1945 nie weg hierzulande. Und mindestens unterschwellig, noch eingenistet in von Nazi-Propaganda vernebelten Köpfen. Er hatte sich höchstens hinter Gardinen verborgen oder spitzte immer mal wieder widerlich in Form eines am Biertisch von Stammtischbrüdern zum Besten gegebenen Juden-Witzes aus rauchgeschwängerter Kneipenluft hervor.

Doch auch der Kampf gegen den Antisemitismus fand stets statt. Und das war und ist auch nötig.

Neuerdings hat Deutschland sogar einen Antisemitismus-Beauftragten. Gut. Besser wäre es gewesen einen Antirassismus-Beauftragten zu installieren. Nun ja.

Moshe Zuckermanns neues Buch aus innerem Antrieb heraus entstanden. Zu unserem besseren Verständnis schwieriger Materie von Nutzen

Moshe Zuckermann. Foto: C. Stille

Was jedoch seit einiger Zeit betreffs der Anwendung des Begriffs „Antisemitismus“ zu konstatieren ist, kommt einen ziemlich irre vor. Kurzum. Es geht auf keine Kuhhaut. Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe, als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren, hat da seine ganz persönlichen Erfahrungen machen müssen. Weshalb er aus innerem, stetig neue befeuerten Antrieb – gespeist aus An- und Vorwürfen gegen ihn – einfach nachgeben musste und ein neues Buch mit dem Titel „Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ geschrieben hat. Für uns LeserInnen ist das von großem Nutzen. Es lehrt uns die zugegebenermaßen alles andere als einfache Materie Seite um Seite besser zu verstehen.

Es geht ein Ungeist um in Deutschland

Im Vorwort (S.7) gleich Tacheles. Zuckermann schreibt: „Ein Ungeist geht um in Deutschland – es ist, als habe sich der Orwellsche Neusprech ein neues Feld für seine realhistorische Manifestation gesucht und es gefunden: im Antisemitismusdiskurs des heutigen Deutschland.“ Das ist bei weitem nicht zu dick aufgetragen, sondern bittere Tatsache, wie wir LeserInnen erfahren.

„In der Auseinandersetzung mit dem Antirassismus werden wahllos und ungebrochen Begriffe durcheinandergeworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Nicht-Juden des Antisemitismus bezichtigt“, lesen wir auf dem Buchrücken. „Die Debattenkultur in Deutschland ist vergiftet und die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses geraten.“

Israel-Kritiker werden als Antisemiten verleumdet

Besonders perfide zu nennen ist, wenn Juden, sogar welche, die den Holocaust überlebt haben oder in der eigenen Familie Tote durch den Holocaust zu beklagen haben – nur weil sie in irgendeiner Form Kritik am israelischen Staat und dessen Tun üb(t)en, sich als „jüdische Antisemiten“ (so wurde der Dichter Erich Fried einst benannt, weil er sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser aussprach) oder mindestens als „sich selbsthassende Juden“ bezeichnen lassen müssen. Was schlimm ist. Schlimmer noch ist, dass Kritiker Israels – so sie hierzulande eine Buchlesung vorhaben oder einen Vortrag halten wollen – immer öfters Schwierigkeiten bekommen eine Räumlichkeit dafür zu bekommen. Zumindest in manchen Universitäten und Sälen von Kommunen. Diese Personen werden dann auch über die Presse in die antisemitische Ecke gestellt. So manche jüdische Gemeinde. der Zentralrat der Juden in Deutschland und im Hintergrund die israelische Botschaft in Deutschland orchestriert diese Stimmung gegen missliebige, weil kritisch gegenüber Israels Politik gegenüber den Palästinensern eingestellte Menschen. Ein Weiteres tut die israelische Hasbara (Propaganda), welche – vom Staat finanziell gut dotiert – entsprechende Stimmung verbreitet.

Die Lobby der Antisemitenmacher bestimmt wer Antisemit ist

Nicht selten im vorauseilenden Gehorsam stellen Kommunen und Unis einfach keine Räumlichkeiten für solche Veranstaltungen zur Verfügung oder sie kündigen schon zugesagte Vermietungen. Manchmal gelingt es den als Antisemiten verunglimpften Referenten gerichtlich eine bereits zugesagte Raumvermietung durchzusetzen, manches Mal sind sie auch darauf angewiesen, dass private oder kirchliche Einrichtungen Räume zur Verfügung stellen. Wie bereits bemerkt: Moshe Zuckermann hat das selbst erlebt und dürfte das auch künftig wieder erleben. Auch Abraham Melzer („Die Antisemitenmacher“ (hier meine Rezension) war bzw. ist selbst damit konfrontiert. Und die Lobby der „Antisemitenmacher“ verfährt nach dem Motto: „Wer Antisemit ist, bestimme ich.“

Die widersinnige Gleichstellung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik

Es geht, wie Moshe Zuckermann im Vorwort anmerkt, „letztlich vordringlich um das Verhältnis von Deutschen zu Juden, um die Last der deutsch-jüdischen Vergangenheit und um ihre perversen Auswirkungen auf den gegenwärtigen deutschen Diskurs über diese Kategorien“. Weiter: „Und weil Judentum, Zionismus und Israel in diesem inadäquaten, ideologischen Gerangel gleichgestellt werden, um daraus – negativ gewendet – die widersinnige Gleichstellung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik abzuleiten, diese Gleichstellung sich aber zum unerbittlichen Glaubensbekenntnis verfestigt hat, gerät die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses: Deutsche solidarisieren sich mit einem Israel, das seit mindestens fünfzig Jahren Palästinenser knechtet, und wenn man sie drauf hinweist, dass diese Solidarität nicht haltbar ist, gerät man in ihrem Munde zum Antisemiten, zum Israelhasser oder gar zum sich selbsthassenden Juden.“ (S.7/8)

Begriffe verstehen und einordnen lernen

Es empfiehlt sich dieses neue Buch von Moshe Zuckermann sehr aufmerksam zu lesen und sich deshalb reichlich Zeit dafür zu nehmen. Dann – so verspreche ich – wird man mit Gewinn daraus auftauchen. Schon die Begriffe Judentum, Zionismus erfordern es sich unbedingt darauf einzulassen, um sie zu verstehen und richtig einordnen zu können. Nicht das erste Mal weißt Zuckermann nun auch in diesem Buch abermals auf Folgendes hin:

Auch den historischen Zusammenhängen weit vor der Staatsgründung Israels und danach bis heute hin betreffend sollte großes Interesse geschenkt werden. Zuckermann hat sie im Kapitel „Israel“ (ab S. 24) von „1897 – Der erste zionistische Kongress“ (S.26) bis „2018 – Die dystopische Gegenwart“ (S.54) akribisch beschrieben.

Moshe Zuckermann: „Nicht alle Zionisten sind Juden. Und nicht alle Israelis sind Juden“

Nicht das erste Mal weißt Zuckermann auch in seinem neuen Buch auf Folgendes hin, was auch nicht allen LeserInnen bewusst gewesen sein dürfte: „Nicht alle Juden sind Zionisten. Die meisten Juden leben nicht in Israel und wollen das auch nicht. Nicht alle Zionisten sind Juden. Und nicht alle Israelis sind Juden.“ Aufmerken werden gewiss auch diejenigen LeserInnen des Buches, so sie noch nicht selbst darauf gekommen sind, wenn Zuckermann mit der im Westen verbreiteten Ansicht, Israel sei die „einzige Demokratie des Nahen-Ostens“ gründlich aufräumt. Erst recht das am 19. Juli 2018 von der Knesset verabschiedete „Nationalitätengesetz“, habe eigentlich nur „ganz unverhohlen und staatsoffiziell“ bestätigt, „dass Israel nicht nur längst schon Praktiken eines Apartheidstaates betreibt, sondern offenbar auch gesetzlich verankert und proklamiert betreiben will.“

Zuckermann: „Es ist rassistisch, da es ein Fünftel der Bevölkerung offiziell zu Bürgern zweiter Klasse werden lässt; es ist antidemokratisch weil es die bis dato offizielle zweite Landessprache, Arabisch, zu einer ‚Sprache mit Sonderstatus‘ verkommen lässt.“ (S. 64)

Holocaust und Holocaust-Erinnerung

Alle im Buch aufscheinende Probleme sind selbstverständlich stets u.a. auch in irgendeiner Weise mit dem von Hitlerdeutschland verbrochenen Holocaust verbunden, der letztlich ausschlaggebend dafür war, dass der Staat Israel in Palästina gegründet wurde. Was gleichzeitig die Vertreibung von Palästinensern (von diesen als Nakba beklagt) zur Folge hatte.

Und zudem beschäftigt sich das Buch mit der Art und Weise wie Israel mit dem Holocaust und mit der Holocaust-Erinnerung umgeht. Selbstredend ebenfalls damit, wie in Deutschland damit verfahren wird.

So schlimm antisemitische Vorfälle hierzulande auch sind, meint Moshe Zuckermann: „Deutsche Antisemiten vergreifen sich nicht an Juden“

Antisemitische Vorfälle in Deutschland – so bedauerlich sie auch sind – empfindet Moshe Zuckermann nicht wirklich als „Weltuntergang“. „Im Gegensatz zum historischen Antisemitismus, zum nazistischen allemal, sind heutige Ausfälle für Juden nicht existenzbedrohend, man wird gesellschaftlich nicht durch Antisemitismus geächtet, ist keinerlei eklatanten Diskriminierung, auch keinerlei performativen Verfolgung ausgesetzt , man sieht sich nicht genötigt, ins Exil zu gehen, schon gar nicht ist man mit dem Leben bedroht.“ Der Autor meint (S.163/164): „Deutsche Antisemiten vergreifen sich nicht an Juden.“ Bei antisemitischen Vorkommnisse organisierten sich „gleich bundesweite Kippa-Kampagnen, werden Echo-Preise entrüstet zurückgegeben.“ (…) Nebenbei empfand Zuckermann das Kippa-Tragen (sogar im Bundestag) als Zeichen der Solidarität mit einem angegriffenen Juden wohl eher als bizarr. „Was die deutschen Kippa-Träger offenbar nicht kannten, war die Ikonografie der Kippa.“ So wird die schwarze Kippa von orthodoxen und ultraorthodoxen Juden, die sich noch dazu „durch ihren theologisch begründeten Nicht- beziehungsweise dezidierten Antizionismus auszeichnen“ getragen. (S.178) Die gehäkelte Kippa, so erklärt Zuckermann, trügen meistens „nationalreligiöse Juden“.

Uneingeschränkte Solidarität Deutscher mit Israel lässt Zuckermann mit dem Kopf schütteln

Über die quasi uneingeschränkte Solidarität Deutscher (Staatsraison) mit Israel und somit auch mit der rechten Regierung Netanjahu kann Zuckermann offenbar nur mit dem Kopf schütteln. Er schreibt von einem sich zunehmend faschisierenden rechten politischen Lager dort, welches „starken Rückenwind durch die Präsidentschaft Donald Trumps in den USA“ erhalte.

Netanjahu werde so ermöglicht „seine Macht – trotz schwerster Korruptionsvorwürfe – nahezu unangefochten auszubauen und zu befestigen dabei auch auch jegliche Berührungsängste mit Faschisten und selbst prononcierten Antisemiten skrupellos fallen zu lassen“ (S.194)

„Davon“, merkt Moshe Zuckermann an, „weiß der deutsche Antisemitismus-Diskurs nichts, davon will er nichts wissen.“ Und: „Ginge es ihm lediglich um die Bekämpfung des Antisemitismus im eigenen Land, ließe sich das nachvollziehen.“

Abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen?

Es bedürfe „nicht der zionistisch begründeten Solidarität mit Israel, um den Antisemitismus stets und unerbittlich bekämpfen zu wollen“.

Deutlich macht der Autor, was offenbar Viele nicht bedenken, nicht wahrhaben wollen oder können: „Wenn man nun aber Antisemitismus und Israelkritik wie selbstverständlich gleichsetzt, Israel- und Zionismuskritik an den Antisemitismus koppelt, kommt man schlechterdings nicht um die entscheidende Frage herum, was für ein Israel das sei, mit dem man sich solidarisch wähnt.“

Nägel mit Köpfen macht Moshe Zuckermann, wenn der (S.195 oben): „Was besagt diese Blindheit gegenüber dem realen Israel über die deutschen Anhänger Israels, die Deutschlands ‚Verantwortung‘ für den zionistischen Staat als grenzenlos erachten?“ Die Antwort darauf: „Zunächst und vor allem, dass diese ‚Solidarität‘ primär in der deutschen Befindlichkeit wurzelt, die sich von der historischen Monstrosität ableitet, welche die Deutschen an den Juden verbrochen haben.“

Weiter unten auf Seite 195 streicht Zuckermann kristallklar heraus, dass einen da ob der „vielbemühte(n) ‚Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit‘ samt der von ihr abgeleiteten ‚Verantwortung‘ ein „wesentlich beunruhigenderes Gefühl“ beschleichen könne: „Sollte sich etwa die abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen und verbrecherischen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen erweisen?“

Moshe Zuckermann sieht „Hitlers verlängerten Arm“ viele Deutsche wirken

Gegen Ende seiner Ausführungen bringt der Autor auf den Punkt, was das Irre an der Komplexität der schwierigen Materie sozusagen den Boden aus dem Fass schlägt: „Denn allein schon die Vorstellung, dass Deutsche sich anmaßen, Juden und erst recht jüdische Israelis wegen ihrer Israelkritik des Antisemitismus zu bezichtigen, ist als nichts anderes zu begreifen als eine zur Perversion verkommenes deutsche Befindlichkeitsproblem. Man kommt nicht umhin, in diesem Zusammenhang von ‚Hitlers verlängertem Arm‘ zu sprechen [Anm. C.S sh. auch S.85]. Viele Deutsche sind mit ihm offenbar noch lange nicht durch – nicht nur im Sinne der einst postulierten Unfähigkeit der Deutschen zu trauern, sondern als Residuum eines latenten antisemitischen Ressentiments, das sich – im heutigen Deutschland tabuisiert – neue Wege und Bahnen der legitimen Manifestation sucht.“

Zuckermann stellt klar: „Nur Antisemiten können Juden als Antisemiten besudeln, um sich selbst von der erbärmlichen Unwirtlichkeit ihres deutschen, allzu deutschen Antideutschseins zu erlösen.“ Diesen Satz muss man erst mal sacken lassen.

Zuckermanns neues Buch unbedingt empfehlenswert. Es bläst uns ein Stück weit die Vernebelung weg, durch die uns eine bestimmte Ideologie blicken lässt

Das neue Buch von Moshe Zuckermann ist unbedingt empfehlenswert, weil es uns auch ein ziemliches Stück weit die Vernebelung wegbläst durch die uns die herrschende, in bestimmter Weise ideologisch besetzt, Politik und Mainstream-Medien auf die Dinge blicken lassen. Es ist nicht nur mit ausgewiesenem historischen Sachverstand geschrieben, sondern lotet auch psychologisch tief – was einen die beackerte Thematik klarwerden lässt.

Die kluge Ideologiekritik von Susann Witt-Stahl im zweiten Teil des Buches

Angehängt ist dem klug und aus Kompetenz und reichlichem Wissen geschriebenem Buch Moshe Zuckermanns eine nicht minder kluge Ideologiekritik der Journalistin Susann Witt-Stahl, unter dem Titel „(Anti-)Deutsche Zustände“ (ab S.197). Sie ist schon deshalb als wichtig zu empfehlen, weil viele Otto-Normal-Bürger mit dem Begriff „Antideutsche“ gar nichts anzufangen wissen.

Die Antideutschen kommen aus der Nie-wieder-Deutschland!-Bewegung (ein Motto der „Radikalen Linken“, die sich 1990 gegen die deutsche Wiedervereinigung ausprachen und vor deren Folgen warnten. Später spaltete sich die deutsche radikale Linke in „Antideutsche“ und „Antimperialisten“. Die Antideutschen tun sich mit einer völlig unkritischen Pro-USA- und Pro-Israel-Haltung hervor.

Witt-Stahl schreibt von einer „Rechtswende von Linken im Täterland und ihr Verrat am humanistischen Judentum“.

Im Kapitel „’Antideutsche‘ Ideologie und deutsche Realität“ zitiert die Autorin (S.198) den Schweizer Germanisten Stefan Mächler („Die Shoa ist zur Meistererzählung geworden“) der den ideologischen Gebrauchswert so erklärte: „Wer sich mit ihrer Legitmationsmacht und Rhetorik ausrüstet, dem ist nicht zu widerstehen.“ Und Susann Witt-Stahl: „Kaum jemand hat das besser verstanden als die deutschen Linken, die nach 1990 das dringende Bedürfnis verspürten, von der ‚unterdrückten in die unterdrückende Klasse zu wechseln‘, wie der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker die große Flucht- und Absetzbewegung von mittlerweile Ex-Linken in die rechte ‚bürgerlich Mitte‘ beschrieb; andere suchten und fanden im Rechtspopulismus einen faulen Kompromiss. Viele von ihnen firmierten unter dem selbst gewählten Namen ‚Antideutsche‘, die gemäßigte Variante unter ‚Antinationale‘, und stellen sich mit großenem ‚Nie wieder Deutschland!‘-Getöse als ‚Wölfe‘ vor – wie Karl Marx und Friedrich Engels in Die deutsche Ideologie die Junghegelianer nannten.“

Im Epilog der Blick eine Warnung vor der „Abenddämmerung der bürgerlichen Demokratie“, die „(wieder) in eine historische Finsternis übergehen“ könnte

In ihrem Epilog (S. 239) warnt Witt-Stahl davor, dass das, was Jan Philipp Reemtsma 1990 im Siegestaumel seiner Klasse verkündete -„Die Linke hat nicht nur welthistorisch verloren, sondern es gibt sie nicht mehr“ -, eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Witt-Stahl: „Selbst im sich zwar bereits im Zustand der Erosion befindenden, aber noch funktionierenden Rechtsstaat BRD, in dem linken Oppositionellen maximal der Entzug finanzieller Mittel, Diffamierung oder politische und soziale Isolation droht, ziehen es erschreckend viele von ihnen vor, sich in Servilität gegenüber den untragbaren deutschen Zuständen statt in Solidarität mit dem bedrängten humanistischen Judentum und muslimischen Minderheit zu üben.“ Und gar nicht einmal übertrieben, schließt Witt-Stahl ihre Ideologiekritik: „Gar nicht auszudenken, wie kläglich solche Linke erst versagen und eine bisweilen jetzt schon unerträgliche Feigheit und Untertanenmentalität entfalten werden, wenn die Abenddämmerung der bürgerlichen Demokratie (wieder) in eine historische Finsternis übergehen wird.“

Lesen und Handeln!, möchte man an dieser Stelle laut rufen. Denn ist es nicht schon nach Zwölf?

Das Buch

Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit

Erschienen im Westend Verlag

Erscheinungstermin: 04.09.2018
Seitenzahl: 256
Ausstattung: EPUB
Art.-Nr.: 9783864897207

13,99 €

inkl. 19% MwSt.

Moshe Zuckermann zu seinem Buch via Weltnetz.tv

 

Der Autor

Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main, wo er auch studierte. Später lehrte er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006 und 2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern. Moshe Zuckermann ist regelmäßig mit Beiträgen für Hörfunk, Fernsehen und verschiedene Printmedien tätig.

Susann Witt-Stahl lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. Seit 2014 ist sie Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Melodie & Rhythmus

Dazu auch: Susann Witt-Stahl und Rolf Becker präsentierten Moshe Zuckermanns Buch auf dem 20. Pressefest der UZ in Dortmund

Susann Witt-Stahl, die Chefredakteurin von Melodie & Rhythmus. Magazin für Gegenkultur, präsentierte am 8. September 2018 am 20. Pressefest der UZ („Unsere Zeit“) in Dortmund gemeinsam mit dem Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker.

Gespräch über das neue Buch von Moshe Zuckermann (v.l.n.r: Rolf Becker, Susann Witt-Stahl und jW-Chefredakteur Stefan Huth. Foto: C. Stille

Zunächst übermittelte Witt-Stahl beste Grüße von Moshe Zuckermann – sie hatte zuvor mit ihm telefoniert -, welcher anlässlich der Uraufführung eines Orgelwerks von ihm in Großbritannien weilte.

Susann Witt-Stahl skandalisierte Rüstungsexporte etwa auch nach Israel, also in ein Krisengebiet (ein grober Verstoß gegen die eigenen Rüstungsexportrichtlinien) und eine immer engere Militärkooperation Berlins mit Tel Avivs (Häuserkampfausbildung der Bundeswehr in Israel), Joint Ventures in Sachen Drohnentechnologie und, „dass deutsche Unternehmen, mit finsterster Vergangenheit, wie Rheinmetall – Verbrecherunternehmen – dass diese Unternehmen in Israel unglaublich fette Profite einfahren und schalten und walten können wie sie wollen“. Dies seien „mittlerweile hegemoniale Vorstellungen von deutscher Vergangenheitsbewältigung“, so Susann Witt-Stahl.

Sie äußerte den Eindruck, „dass jüdische Linke nur noch einen Wert haben: nämlich als Bauernopfer für eine regressive Bewältigung deutscher Vergangenheit“.

Rolf Becker meinte als Entgegnung auf die Ausführungen von Susann Witt- Stahl, „man müsse in einige Punkte differenzieren“. Der Schauspieler und Gewerkschafter warnte vor einer Pauschalisierung. Auf der einen Seite habe man „den Block der Faschos“, der sei klar einschätzbar. „Aber es gibt viele, die auf die Argumentation reinfallen, der Antideutschen beziehungsweise diese Argumentation benutzen.“ Das seien die Leute, die im Grunde nichts anderes machen als überzulaufen ins Lager der herrschenden Klasse. „Wir haben das im gewerkschaftlichen Bereich“, wenn es um Israel gehe. Völlig unzweideutig sei es, wenn es um Auschwitz gehe, „unser Denken so auszurichten, dass sich ein Auschwitz nicht wiederholen kann“. Wenn man jedoch auf die Israel-Palästina-Frage komme und die Staatsraison, die von Frau Merkel verkündet worden ist, dann käme als erste Reaktion: „Halt bloß die Schnauze.“ Becker: „Sie blocken. Sie wissen wesentlich mehr. Sie Vorbehalte die aus Richtung der Antideutschen kommen. Aber sie scheuen sich aufgrund der innergewerkschaftlichen Verhältnisse ihr Bedenken zur Sprache zur bringen.“

Zornig werde Becker, „wenn aus Kreisen der Antideutschen oder Leuten, die ihre Argumentation teilweise übernehmen, Moshe Zuckermann, Abraham Melzer oder viele andere als selbsthassende Juden bezeichnet werden, wenn sich Deutsche anmaßen zu bestimmen, wer ein richtiger oder falscher Jude ist“.