„Auf beiden Seiten der Front. Meine Reisen in die Ukraine“ von Patrik Baab. Rezension

Ein Sitzjournalist ist Patrik Baab wahrlich nicht. Und das ist gut so. Als „Sitzjournalisten“ bezeichnet der Politikwissenschaftler, Publizist und last but not least, erfahrene langjährige Journalist Patrik Baab diejenigen Schreibtischtäter, welche in der mehr oder weniger komfortablen Redaktionsstube vorm Computer sitzen und aus dem, was da heraus poppt eine Story zusammenkloppen. Die wird dann ins Netz hochgeladen oder althergebracht in die diversen Blätter gedruckt.

In Sachen Ukraine-Krieg reicht es dann meistens das Monstrum in Bild-Zeitungs-Manier auf die Titelseite zu knallen. Kennen Sie den großartigen Film „Knallt das Monstrum auf die Titelseite!“ von Marco Bellocchio? Das seit Langem im Westen, der vasallenhaft den USA folgt und sei es in den Untergang, gängige Monstrum ist noch immer der russische Staatspräsident Wladimir Putin. Ein angeblich neuer Hitler, den man „Putler“ schimpft. Unter dem macht man es nicht. Da weiß das Publikum Bescheid – ist in der richtige Spur. Vor Putin waren die neuen Hitler Slobodan Milošević, Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi. Meist Staatsführer, die dem Westen in seiner Politik nicht oder nicht mehr folgen wollen.

Das ist Holzhammer-Journalismus. Um nicht zu sagen plumpe Propaganda.

Nicht die Sache des Journalisten Patrik Baab – einer der immer weniger zählenden Vertreter – eines ehrlichen Journalismus, wie er im Buch steht.

Apropos Buch: Patrik Baab hat übrigens ein hervorragendes Buch in Sachen Journalismus zum Zwecke der Ausbildung geschrieben: „Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung“ (Lesen Sie gerne meine Rezension).

Patrik Baabs Anspruch an Journalismus ist hoch

Kurzum: Patrik Baab hat einen hohen Anspruch an Journalismus wie er halt von Hause her verstanden werden muss. So hat Baab es gelernt und dementsprechend verinnerlicht. Das steckt ihm in den Knochen. So tickt sein Herz. So arbeitet sein Hirn. Das gilt für alle seine bisherigen Werke und Veröffentlichungen.

Da nimmt es einen nicht wunder, dass er seinem hier zu besprechenden aktuellen Buch „Auf beiden Seiten der Front. Meine Reisen in die Ukraine“ u.a. das folgende Zitat von Egon Erwin Kisch vorangestellt hat:

Bei aller Künstlerschaft muss er die Wahrheit, nichts als die Wahrheit geben, denn der Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit ist es, was die Arbeit des Reporters so gefährlich macht, gefährlich nicht nur für die Nutznießer der Welt, sondern auch für ihn selbst, gefährlicher als die Arbeit des Dichters, der keine Desavouierung und kein Dementi zu fürchten braucht.

Und dass das auf sein neues Buch zutrifft, können Sie mir getrost abnehmen. Weshalb ich es meinen Leserinnen und Lesern sehr zur Lektüre anrate. Aber auch Politikerinnen und Politikern und Journalisten – so sie offen dafür sind und gewillt sind für einige Zeit einmal die gängig gemachte Propaganda, die sie in wohl meisten Fällen ohne Ansage von Oben betreiben, außen vor zu lassen. Geht das noch, oder ist all das womöglich schon zu sehr ideologisch betoniert?

Für Patrik Baab eine Verpflichtung stets auch die andere Seite zu hören – audiatur et altera pars

Patrik Baab hat die Ukraine bereist – den Westen vor Beginn des Krieges, den Osten danach. Gemäß der journalistischen Handwerksregel „audiatur et altera pars“ – Ich frage: ist diese Handwerksregel, die ja nicht zuletzt der Juristerei entlehnt ist, überhaupt noch bekannt? Und wenn ja, warum findet sie meinem Empfinden nach kaum noch Anwendung? – auch die andere Seite soll gehört werden – hat er auf beiden Seiten der Front mit Menschen gesprochen und ihre Leben beobachtet. Er hat die Interessen hinter den blutigen Kämpfen recherchiert.

Es entsteht vor uns das Bild eines gespaltenen Landes

So entsteht Stück für Stück das Bild eines gespaltenen Landes namens Ukraine. Ukraine könnte auch mit „am Rande“ oder „Randgebiet“ übersetzt werden.

Um die Ukraine zu verstehen hat sich Patrik Baab u.a. eines alten Reiseführers durch die Sowjetunion von Sándor Radós bedient. Baab: „Es ist ein Buch, das es – wäre es nach den Mächtigen in jedem Landes gegangen – gar nicht hätte geben dürfen und das mich in das «Grenzland« Ukraine und zugleich in die Dämmerung meiner Kindheit führt.“ (S.12)

Und weiter: „Von Sándor Radó und seinem Führer durch die Sowjetunion habe ich 2018 in Chelsea erfahren, in einer Bar names «The Hour Glass« nahe der der Sloane Avenue in der Brompton Road, in die ich den illustren Rest eine Auditoriums entführte, das zuvor Paddy Ashdown gelauscht hatte, dem Mitbegründer der Liberaldemokraten und ehemaligen MI6-Offizier, der in der Buchhandlung Hatchards am Piccadilly wenige Wochen vor seinem Tod aus seinem letzten Buch las.“

Das Kapitel „Ein alter Reiseführer“ ist hochinteressant. Da weht der Leserschaft – um einmal Helmut Kohl zu bemühen – sozusagen der Mantel der Geschichte um die Ohren. Unverzichtbare Zeilen zum Verständnis in Sachen Ukraine.

Patrik teilt uns seine Reiseerlebnisse mit großem Interesse für Land und Leute mit

Patrik Baab erzählt seine Erlebnisse mit großem Interesse für Land sowie mit Empathie für die Leute, die er trifft. Wir lernen eine Ukraine in schwierigen Lebenssituationen und Wirtschaftslage kennen. Die schon vor dem völkerrechtswidrigen Krieg Russland gegen die Ukraine bestanden. Klar, es gibt etliche schwerreiche Oligarchen, die sich Land und Industrien unter den Nagel gerissen haben. Aber auch eine riesige Masse von Menschen, die ziemlich prekär leben. Und quasi jeden Tag sehen müssen wie sie ihre Familien über die Runden bringen. Mit den in der Ukraine gezahlten Hungerlöhne können sie das nicht zumeist nicht. Es gibt etwa Arbeiten, die für Firmen im Westen verrichtet werden. Beispielsweise Kabelbäume für Autos herzustellen.

Oder, schreibt Baab: „Wer ein Auto hat, arbeitet als Fahrer. In einem riesigen Flächenstaat, der fast doppelt so groß ist wie Deutschland, ist Transport ein Problem. Wer sich ein Auto leisten kann, bringt andere zum Ministerium in Kiew, zur Baustelle in Odessa oder liefert Ersatzteile und Computer nach Dnipro. Fahrtkosten und etwas auf die Hand, eine Flasche Wodka dazu, die meisten hier sind auf einen Zuverdienst angewiesen. Auch Wasja.“ Baabs Fahrer in der Westukraine.

Der hat einen alten Mercedes Sprinter, den er zu einem Wohnmobil für sechs Personen ausgebaut hat.

Mit diesen Leuten fährt er manchmal nach Moskau oder Frankfurt am Main, um dort als Schwarzarbeiter Gebäude hochzuziehen. (S.104)

Nicht selten werden die Leute um ihr Lohn betrogen.

Baab „Wasja gehört zu den drei Millionen Ukrainern, die als Arbeitsmigranten mehrmals im Jahr ins Ausland pendeln. Dazu kommen noch einmal zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die dauerhaft im Ausland arbeiten.“ (…)

In Polen blühen auch die Geschäfte der Vermittlungsagenturen, die Ukrainer als polnische Staatsangehörigen deklarieren und sie als häusliche Pflegekräfte in die Schweiz und nach Deutschland vermitteln. Dort erhalten sie den örtlichen Mindestlohn für eine 40-Stunden-Woche. Doch in der Realität, so steht es im Vertrag mit der polnischen Agentur, müssen Pflegekräfte 24 Stunden in Bereitschaft sein.

In Frankfurt wird Wasja bezahlt nach dem Mindestlohn am Bau, das waren 2021 für Ungelernte 12,85 Euro. Doch oft vereinbart er auch eine Pauschale für seine Bautrupp, die deutlich niedriger ist.“ (S.106)

Baab weiter: „Für viele ukrainische Fahrer wie Wasja ist Litauen die europäische Speditionszentrale. Mithilfe von künstlicher Intelligenz werden billige Lkw-Fahler aus Nicht-EU-Staaten wie der Ukraine oder Moldau quer durch Europa gelenkt. Sie brauchen keine Sprachkenntnisse; sie erhalten ihre Anweisungen über Smartphones und Navigationsgeräte. Mit Beginn des Kriegs fehlten in Litauen und Polen plötzlich mehr 100 000 LKW-Fahrer aus der Ukraine – sie durften wegen des Militärdienstes nicht mehr ausreisen.“

Die Bezahlung solcher Jobs sei allerdings immer noch viel besser als in ihrer Heimat.

Und Baab bestätigt, was Dr. Werner Rügemer (auf den der Autor auch zurückkommt) in seinem Vortrag dieses Jahr in Dortmund erwähnte: «2015 habe die ukrainische Regierung zum ersten Mal etwas beschlossen, das in der EU zum Standard gehört: Ein gesetzlicher Mindestlohn. Im Jahr 2015 betrug der erste gesetzliche Mindestlohn der Ukraine sage und schreibe 34 (sic!) Cent pro Stunde. Später sei er langsam angehoben worden. (…) Unter Selenskij ist der Mindestlohn der Ukraine bei 1,21 Euro angekommen. Der niedrigste Mindestlohn, den es überhaupt im Umkreis in Europa gibt“, so Werner Rügemer« (dazu hier)

Ukrainische Kleinunternehmen dienten oft als Zulieferer für internationale vernetzte Billigproduzenten in den benachbarten EU-Ländern Polen, Rumänien und Ungarn. „So gehen 41 Prozent der Schuhproduktion als Halbfertigware für Hungerlohn aus der Ukraine in die Fabriken Rumäniens, Ungarns oder Italiens, wo sie dann im Niedriglohnbereich das begehrte Etikett «Made in EU« bekommen.“

Ukraine – eines der Länder mit der höchsten Korruption

Die Ukraine ist eines der Länder in der Welt wo höchste Korruption herrscht. Ein Land, das wenn es u.a. nach der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht – die nahezu unablässig nach Kiew reist und entsprechende Versprechungen macht – rasch in die Europäische Union geführt werden soll. Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Die früher bezüglich der Aufnahme eines Landes in die EU geforderte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien sind auf einmal vergessen? Die Türkische Republik wird schon lange vor der Tür gehalten. Die Ukraine erfüllt diese Kriterien jedenfalls nicht.

Das Land wird ausgebeutet

Große westliche Agrarkonzerne bemächtigen sich mehr und mehr der in der Welt einzigartigen fruchtbaren Schwarzerdeböden.

Das Land wird ausgebeutet wo es nur geht. Für den Wiederaufbau gilt bereits die Vermögensverwaltung BlackRock gesetzt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Der Ukraine-Krieg hat Vorgeschichten

Beim jetzigen Krieg Russlands gegen die Ukraine wird vom Westen und seinen Medien immer gern dessen Vorgeschichte(n) – u.a. die „Orange Revolution 2004“) vergessen. Diese Entwicklung führt Patrik Baab in aller Deutlichkeit aus. Rekapituliert. Gut so, denn der Mensch ist bekanntlich vergesslich. Und die westlichen Medien (in meinen Augen besonders die deutschen) tragen durch Weglassen und Uminterpretationen dazu bei, das zu befördern. Wo sind da die Faktenfüchse?

Nationalismus und faschistische Tendenzen

Es sind ebenfalls die Medien die rechtsnationale und faschistische Tendenzen in der Ukraine kleinreden. Im Parlament seien das höchsten noch zwei Prozent bekommen wir immer zu hören. Dabei wird geflissentlich ausblendet, dass sich Faschisten nicht zuletzt in Bataillonsstärke (auch wenn sie inzwischen in die reguläre Armee eingegliedert sind) plus ausländische Söldner im Lande tummeln und eine tödliche Macht darstellen. Oppositionsmedien sowie kritische Medien sind verboten.

Ein Nationalismus, der in der Sozialistischen Sowjetrepublik Ukraine nie weg gewesen war (er wurde durch die CIA und mithilfe der ukrainischen Diaspora in den USA und Kanada immer – auch über Einschleusung von Agenten am Köcheln gehalten, um gegen die UdSSR zu wirken), hat längst neuen Auftrieb erhalten. Überall werden Straßen und Plätze nach dem Faschistenführer Stepan Bandera, der mit den deutschen Faschisten kollaborierte, benannt. Es lohnt sich das Kapitel „Mukatschewo: Slawa Ukrajini – Herojam Slawa!“ genau zu verfolgen. (S.134)

Baab: „Ruhm der Ukraine – seit 2018 ist dies der offizielle militärische Gruß. «Slawa Ukraini!« und die Erwiderung «Herojam Slawa« waren auch die Grußformeln der ukrainischen Division der Waffen-SS «Galizien«“.

Heutzutage entblöden sich Politiker der BRD nicht einmal, diese Grußformel zu benutzen!

„Ultranationalismus und Faschismus haben in der Ukraine eine lange Tradition. Beide entstanden – wie in fast allen europäischen Ländern – infolge des Ersten Weltkrieges als Reaktion auf den Krieg, die stärker werdende Arbeiterklasse und die revolutionären Bewegungen in Russland, Deutschland, Ungarn und anderen Ländern.“ (S.140)

Einschub: Zusätzlich zu diesem Kapitel empfehle ich meinen Lesern die Videos zu schauen, welche die Tageszeitung junge Welt von der von ihr veranstalteten hochinteressanten Veranstaltung «Der Bandera-Komplex« veröffentlicht hat.

Der Maidan-Putsch

Als absoluter Tiefschlag muss letztlich der Maidan-Putsch 2014 in Kiew (4.5. Kiew: Ein Putsch und die Folgen; S.148) gelten.

Er wurde, wie Victoria Nuland („Fuck the EU“), ausplauderte, mit fünf Milliarden US-Dollar unterstützt und ins Werk gesetzt.

Die Proteste zuvor waren in der Tat zunächst gegen die grassierende Korruption in der Ukraine und viele andere Unzulänglichkeiten gerichtet. Und auch angebracht.

Doch diese Proteste wurden okkupiert und umgedreht, sodass sie letztlich zum Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung Janukowitsch führten.

Baab schreibt über Dimitrij Wasilez, der jeden Tag auf dem Maidan in diesen Zeiten gewesen war. Er sagt: „Dieser Volksaufstand war eine perfekt inszenierte Show. Wenn Pressevertreter einen Kommentar von mir wollten und ich habe mich nicht zustimmend zu den Protesten geäußert, dann haben sie die Kamera wieder abgeschaltet und mich weggeschickt: >Verschwinde, Junge, wir haben andere Ziele< Das haben sie offen gesagt.“ Die Protestler wurden bezahlt, wurden mit Bussen herangekarrt und demonstrieren in Schichten.

Unsere in der Mehrzahl inzwischen journalistisch verkommenen deutschen Medien wollen das nicht wahrhaben und sehen den Maidan-Putsch noch immer als Revolution.

Ins Kriegsgebiet im Donbass

Baab war vergangenes Jahr zwecks Fortsetzung seiner Buch-Recherche in das Kriegsgebiet im Donbass gereist. Um dort nun von der anderen Seite der Front zu berichten. Dort leben in der Mehrzahl russischsprachige Menschen.

Auf seiner Fahrt in den Donbass wurde Baab von dem russischsprachigen Journalisten und Blogger Sergey Filbert begleitet. Filbert betreibt unter anderem den YouTube-Kanal „DruschbaFM“. Wo die beiden auch von ihrer Reise ins Kriegsgebiet unter dem Titel „Grenzland“ Video-Berichte einstellten.

Patrik Baab wurde von T-Online zum Wahlbeobachter gemacht

Dass dort zu diesem Zeitpunkt die Referenden für den Beitritt zur Russischen Föderation stattfinden sollten, habe er – schreibt Baab – bei der zeitigen Planung dieser gefährlichen Reise nicht wissen können. Vielmehr habe er davon erst erfahren, als er sich bereits in Russland befand.

Nichtsdestotrotz machte das zum Werbekonzern Ströer gehörende journalistisch nicht selten fragwürdig agierende Portal T-Online, das sich nicht das erste Mal diffamierend betätigte, Patrik Baab zum Wahlbeobachter bei den Referenden im Donbass. Ihm wurde zum Verhängnis gemacht, dass er auf einer Pressekonferenz nach den Referenden auftrat. Baab machte klar, dass er die Referenden lediglich als Journalist bzw. zwecks Recherche für sein Buch verfolgt habe. Baab: „In Luhansk und Donezk habe ich auf Bitte der örtlichen Behörden an zwei Pressekonferenzen teilgenommen. Das habe ich auch bei meinen Recherchen im Kosovo-Krieg 1999 oder in Afghanistan 2002 getan – beides ebenfalls völkerrechtswidrige Angriffskriege. (…) Dennoch hab ich deutsche Soldaten bei ihren Einsätzen begleitet, an militärischen Briefings und Pressekonferenzen teilgenommen, meinen Rechercheauftrag erläutert und über meine Erfahrungen berichtet. Dies ist allein schon deshalb nicht Ungewöhnliches, weil man in einem Kriegsgebiet darauf angewiesen ist, sich etwa darüber auszutauschen, wo Minen noch nicht geräumt wurden oder versprengte Freischärler unterwegs sind.“ (S.224)

Aber T-Online-Redakteur Lars Wienand machte sofort Alarm in Deutschland. „Ein Wahlbeobachter sei ich gewesen bei Putins Scheinreferenden, ein Apologet des Kreml, ein Journalist auf politischen Abwegen.“ (S.223) Für Denunzierungskampagnen ist T-Online indes bekannt. Dieser Journalist Wienand hätte sich, so Baab, durch einfache Recherche bei der zuständigen Zivilkammer der Russischen Föderation in Moskau überzeugen können, dass er dort nicht als Wahlbeobachter geführt wurde.

Aber der Schaden war gemacht. Sollte wohl der Sinn dieser Übung sein. Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und die Hochschule für Medien und Kommunikation in Berlin kündigten Baabs Lehraufträge.

Baab: „Es fallen zwei Dinge auf: Zum einen haben die Akteure kaum Kenntnisse über die Ukraine und Russland, die regionale Kultur und die Konfliktgeschichte. Zum anderen handelt es sich um Sitzredakteure, die den Bildschirm mit der Realität verwechseln. Sie verhalten sich wie journalistische Drohnenpiloten, die aus großer Entfernung ein Ziel anvisieren, ohne die Lage vor Ort überhaupt zu kennen. Klickzahlen sind wichtiger als sauberes Handwerk.“ (S.226)

Wir leben in merkwürdigen Zeiten. In Zeiten der Diffamierung und der Cancel Culture, die mit demokratischer Öffentlichkeit – wie Baab schreibt – nicht zu tun hat.

Baab bringt das so verständlich auf den Punkt: „Niemand wäre auf die Idee gekommen, Peter Scholl-Latour, der 1973 im Vietnamkrieg als Erster auf der Seite des Vietkongs gedreht hat, vorzuwerfen, er verbreite kommunistische Propaganda.“

Patrik Baab hat erfolgreich gegen den Entzug des Lehrauftrags geklagt. Lesen Sie gern dazu den Beitrag von Kollegin Susan Bonath (hier).

Noch im Donbass hatte Baab telefonisch anwaltliche Hilfe erbeten, nachdem er eine Textnachricht von T-Online erhalten hatte. Er stellte gegenüber dem T-Online-Redakteur klar, dass er als Journalist recherchiert hätte. „Offenbar hat er nur pro forma angefragt. Denn mein Dementi interessierte ihn nicht weiter“, so Baab.

Das mit dem Anruf hätte ins Auge gehen können. Denn, benutzt man im Kriegsgebiet ein Smartphones, kann man angepeilt und zum Ziel eines Angriffs werden. In der Tat gab es in der Nähe des Hotels, in welchem Baab und Filbert wohnten, einen Treffer nachdem die Textnachricht von T-Online-Redakteur Lars Wienand erhalten hat. Baab beobachtete, wie eine Artilleriegranate ein Wohnhaus trifft. „800 Meter von mir entfernt kracht ein Teil der Fassade herunter“, berichtet Baab.

Die geschilderten Erlebnisse im Donbass sind spannend, darunter interessante Personenzeichnungen von Menschen, die viel Leid und Zerstörung erfuhren. Aber Baab hat auch Menschen getroffen, die nachdem ihre Stadt von den Russen eingenommen wurde, wieder mit Hoffnung in die Zukunft blicken.

Kurz bevor Baab und Filbert nach getaner Recherche endlich dem Kriegsgebiet entkommen schienen, hielt man sie auf dem Weg zur Krim an und „filtrierte“ sie. Sie hätten ja ukrainische Agenten sein können. Sie mussten einige Zeit in einem Käfig verbringen. Der junge Offizier lässt sie endlich gehen. Vielleicht hatte er Bedenken wegen Baabs deutschen Pass. Was wenn das zu diplomatischen Verwicklungen geführt hätte?

Patrik Baab: „Dieser Krieg in der Ukraine wird am Verhandlungstisch enden – oder wir fliegen alle in die Luft

Aus der Geschichte und nicht zuletzt aus eigenem Erleben weiß Patrik Baab: „Dieser Krieg in der Ukraine wird am Verhandlungstisch enden – oder wir fliegen alle in die Luft. Da darf man sich an den Gedanken gewöhnen, mit Russen zu verhandeln. Seit drei Jahrzehnten spreche ich mit Menschen aus Russland. Darunter sind Mitarbeiter der Regierung genauso wie Oppositionelle. Auf beiden Seiten der Front, in Russland und der Ukraine, habe ich Freunde. Aus Russland bringe ich seit mehr als 20 Jahren Filme mit, die sich kritisch mit Missständen in Putins Staat befassen. Diese Recherchen haben mir zwei unangenehme Begegnungen mit dem Inlandsgeheimdienst FSB beschert. Einmal sind wir der Verhaftung knapp entgangen. Für diese Vorgänge gibt es Zeugen.“ (S.225)

Und, stellt Baab fest: „Es ist einigermaßen dreist, wenn Schreibtischtäter in Universitäten und Sitzredakteure in Online-Medien, die von den Zuständen in Kriegs- und Krisengebieten keine Ahnungen haben und mit eigenständigen Rechercheergebnissen noch nicht weiter aufgefallen sind, mir, der ich für unabhängige Informationsgebung den Kopf hingehalten habe, Propaganda vorwerfen.“

Der Autor sieht die Zukunft düster

Die Zukunft sieht der Autor ziemlich realistisch und ohne rosa Brille. „Deutschland wandelt sich weiter vom Sozial- zum Rüstungsstaat und entwickelt sich damit zu einem militaristischen und postdemokratischen Vasallen Washingtons, geführt von einer antidemokratischen ökolibertären Elite, die ihre eigene Bevölkerung mit Propaganda, Zensur, Digitalüberwachung und Polizei in Schach hält. Dies Elite entstammt zumeist dem gehobenen Bürgertum und akademischen Milieus.“

Haben wir wirklich nichts dazu gelernt? Ich fürchte nein.

„Die Europäische Union wird entweder als eine zerstrittener Staatenbund weiterbestehen oder ganz zerfallen, nachdem es den USA gelungen ist, die Union zu spalten. Übrig bleibt ein Europa sozial degenerierter Vasallenstaaten am Rande der Ukraine, in der fortgesetzte militärische Konflikte drohen, die auch die Nachbarstaaten langsam erschöpfen.“

Trübe Aussichten. Baab sieht die Deindustrialisierung weiter Fahrt aufnehmen. Was „zu bislang ungekannten sozialen Verwerfungen und wahrscheinlich zu einer neuen antidemokratischen Massenbewegung führen, die den Abschied von der Demokratie beschleunigt“.

Und noch mehr Unerfreuliches. Das kommt einen bitter an, liegt aber durchaus im Rahmen des vermutlich Dräuenden: „Das ist die Welt von gestern, die wieder die Welt von morgen sein wird.“ (S.252)

„Neben der Ukraine und der Europäischen Union ist Russland der dritte große Verlierer. Gewinner dieses großen Spiels sind die USA und China. Zwischen ihnen wird sich eine neue Pattsituation ergeben. (…) Doch der Niedergang der USA setzt sich fort.“ (S.253)

Baab resümiert: „All dies war absehbar. Es ist die Chronik einer angekündigten Katastrophe.“

Nach diesem gefährlichen Abenteuer kehrten Sergey Filbert und Patrik Baab im Zug von Simferopol auf der Krim über die Brücken von Kertsch zurück nach Moskau.

Wenige Tage später gibt es ein Explosion auf der Brücke. „Nur eine Fahrbahn bricht zusammen. Vor Moskau schrecke ich auf. Aus dem Schlaf gerissen kehre ich zurück in den Albtraum“, schreibt Patrik Baab gegen Ende des Buches.

Weiter: „Nach unserer Ankunft in Berlin morgens gegen vier stelle ich den Führer durch die Sowjetunion von 1928 wieder in die Vitrine. Sándor Radós Traum von einem Europa der Menschen und Völker ist ausgeträumt. Aber Träume können nicht sterben. Sie leben fort in einer anderen Zeit, Sergey und ich trinken noch ein paar doppelte Whisky. Die helfen uns auch nicht weiter. Sie rufen nur Gedanken wach an die Jahre des Friedens in Europa, die wir nie mehr wiedersehen würden.“

Am Ende sagt Patrik Baab allen Dank denen Dank gebührt. „Meine Gedanken sind bei unserem Fahrer. Sein Tod steht für all die sinnlosen Opfer auf beiden Seiten der Front. Sergey Filbert war mir nicht nur ein verlässlicher Gefährte, sondern hat auch unter Feuer die Nerven bewahrt“, heißt es u.a.

Unbedingte Leseempfehlung! Und bitte, liebe Leserinnen und Leser empfehlen auch sie das Buch weiter.

In Zeiten von teils unerträglicher Propaganda in unseren Medien bis hin zu eklatanten Verdrehungen in Sachen Ukraine-Krieg ist dieses Buch wichtig und sollte deshalb ein hohe Rezeption erfahren.

Patrik Baab

Auf beiden Seiten der Front

Meine Reisen in die Ukraine

Softcover

24,00 €*

lieferbar innerhalb von 3-4 Werktagen

Patrik Baab hat die Ukraine bereist – den Westen vor Beginn des Krieges, den Osten danach. Gemäß der journalistischen Handwerksregel „audiatur et altera pars“ – auch die andere Seite soll gehört werden – hat er auf beiden Seiten der Front mit Menschen gesprochen und ihre Leben beobachtet. Er hat die Interessen hinter den blutigen Kämpfen recherchiert.

Hier schildert er seine Eindrücke. Er analysiert den geostrategischen und wirtschaftlichen Konflikt, um den es in Wahrheit geht. Es ist das neue „Große Spiel“ der Vereinigten Staaten, von Russland und der Europäischen Union unter deutscher Führung; ein Poker am Rande eines Atomkriegs mitten in Europa – ein Tanz auf dem Vulkan.

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Zum Autor

Patrik Baab ist Politikwissenschaftler und Publizist. Seine Reportagen und Recherchen über Geheim-
dienste und Kriege passen nicht zur Propaganda von Staaten und Konzernmedien. Er berichtete u.a. aus Russland, Großbritannien, dem Balkan, Polen, dem Baltikum und
Afghanistan. In Russland machte er
mehrfach Bekanntschaft mit dem Inlandsgeheimdienst FSB. Auch die Staatsschutzabteilung des Bundesinnenministeriums führt eine
Akte über ihn. Im Westend Verlag publizierte er „Im Spinnennetz der Geheimdienste. Warum wurden Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby ermordet?“ (2017)
und „Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung“ (2022).
Seine Homepage findet Sie hier.

Anbei:

Sabiene Jahn spricht mit Patrik Baab über sein Buch.

„Warum schweigen die Lämmer?“ Rainer Mausfelds „Vortragsrenner“ nun in Buchform: Ein Leseereignis, dass zur Erweckung aus der Lethargie führen kann

Gewiss können wir uns halbwegs glücklich preisen, dass wir einem Land wie Deutschland leben. Ein Vorteil, der uns durch nichts als puren Zufall quasi in den Schoss gefallen ist. Wo Demokratie und Freiheit groß geschrieben werden. Jedenfalls im Vergleich zu vielen anderen Ländern auf dieser Welt. Groß geschrieben. Oder auch spürbar gelebt wird? Da kommen schon die ersten Zweifel auf. Zu zweifeln ist – zumindest in Maßen – gut. Marx gab seinen Töchtern auf den Weg: An allem ist zu zweifeln. Auch in Bezug auf die Beurteilung unserer Demokratie – der Demokratie überhaupt – ist Zweifel angebracht. Haben wir wirklich eine Demokratie, per definitionem eine Herrschaft (einer Mehrheit) des Volkes? Mitnichten.

Haben wir eine Demokratie?

Oskar Lafontaine etwa urteilte in einem Interview mit Tilo Jung einmal: „“Deutschland ist keine Demokratie, sondern eine Oligarchie“. Beispielsweise sind 73 Prozent der Deutschen gegen einen Militäreinsatz der Bundeswehr in Syrien (Welt-Trend). Dennoch findet er statt. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, befürworten 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland, fast 90 Prozent wünschen sich eine von den USA eigenständige Außenpolitik. Wird diesen Meinungen der Deutschen entsprochen? Eher ist doch das Gegenteil der Fall. Das Problem: wir haben eine repräsentative Demokratie. Wir wählen also Parteien und deren (zuvor von den Parteien bestimmte, oft in Hinterzimmern ausgekungelte) Kandidaten, welche uns BürgerInnen dann im Deutschen Bundestag und den Parlamenten der Bundesländer vertreten (sollen). In der Regel geben wir WählerInnen alle vier Jahre unsere Stimme ab (sic!). Sie landet, was der Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Prof. Dr. Rainer Mausfeld als treffend bezeichnet findet, in der Urne.

Der Vortrag „Warum schweigen die Lämmer?“ von Rainer Mausfeld wurde auf Video aufgezeichnet mehrere hunderttausend Mal abgerufen

Rainer Mausfeld erreichte einen exorbitanten Bekanntheitsgrad, nachdem er 2015 einen Vortrag mit dem Titel „Warum schweigen die Lämmer? Psychologie, Demokratie und Empörungsmanagement“ gehalten hatte und dieser aufgezeichnet und veröffentlicht worden war. Auf You Tube ist Mausfelds Vortrag mehrere hunderttausend Mal angeschaut und von ZuhörerInnen auf diversen öffentlichen Veranstaltungen life erlebt worden. Mausfeld selbst hatte damals keinesfalls mit dieser enormen Resonanz auf den nämlichen Vortrag gerechnet.

Der Maidan-Putsch und die politische wie mediale Reaktion auf die Ukraine-Krise führte offenbar zu einem Knacks, in welchen Mausfelds Vortrag stieß

Vielleicht war die Zeit einfach reif. Immerhin war erst im Februar 2014 der Maidan-Putsch gegen die rechtmäßige ukrainische Regierung von westlichen Staaten unterstützt – vornweg den USA – über die Bühne gebracht worden. Die Abteilungsleiterin im US-Außenministerium Victoria Nuland „berichtete nach ihren mehrfachen Auftritten in Kiew stolz, dass die US-Regierung seit 1991 rund fünf Milliarden Dollar für eine ‚wohlhabende und demokratische Ukraine‘ investiert habe“ (hier ein Beitrag dazu von meinem geschätzten Kollegen Hans Springstein im Freitag). Man müsste Nulands Einlassung wohl treffender so übersetzen: „in einen Regime-Change investiert habe“. – Jedenfalls vertraute eine zunehmende Leserschaft sowie viele Nutzerinnen von elektronischen Medien in Deutschland den merkwürdig einseitigen Berichterstattung und fragwürdigen Sichten („Narrative“) bezüglich der Ukraine-Krise seither immer weniger. Es hatte gewissermaßen einen Knacks gegeben. In diesen Knacks war Rainer Mausfeld offenbar eigentlich ungewollt mit seinem Vortrag hineingestoßen.

Warum schweigen die Lämmer“ nun auch in gedruckter Form

Sicherlich zur Freude vieler Mausfeld-Fans ist nun auch ein Band mit dem Titel „Warum schweigen die Lämmer?“, Untertitel „Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“, bei Westend erschienen. Die Veröffentlichung dieses Bandes von Beiträgen, schreibt Rainer Mausfeld in dessen Einleitung (S. 22), „war nicht geplant“. Und weiter: „Dass er zustande kam, ist der Initiative und dem Enthusiasmus des Westend Verlags zu verdanken. Dafür und für das große Engagement, mit dem der Westend Verlag alle Phasen der Umsetzung begleitet hat, danke ich ihm sehr. Gisela Bergmann-Mausfeld, meiner Lebensgefährtin, gilt mein besonderer Dank.“

In den Band überführte Informationen liegen nun in Hülle und Fülle auf dessen Seiten vor und können in Ruhe studiert werden

Ich bedanke mich schon einmal mit Verlaub im Namen der hoffentlich vielen LeserInnen dieses Bandes bei allen Beteiligten, die dafür Sorge trugen, dass es uns nun vorliegt. Auch wenn man den Band ausgelesen hat, kann man ihn später bei speziellen Anlässen immer wieder zur Hand nehmen, um betreffs Zitaten, Literaturhinweisen etc. fündig zu werden. Rainer Mausfeld präsentierte in besagtem Vortrag viel Material, viele Anregungen, viele Daten, weiterführenden Anmerkungen viele Zitate, viele Hinweise auf Literatur – der Vortrag enthält ein Bündel von nützlichen Informationen. Musste man nun früher, wenn Sie sich für eine der vielen benutzten Abbildungen und Folien besonders interessierte, das Video anhalten, um diese zu studieren, kann man ausgewählte nun in aller Ruhe auf den jeweiligen Buchseiten zur Kenntnis nehmen.

Demokratie und Freiheit – Versprechen, von denen kaum mehr als Schatten von damit ursprünglich verbundener Hoffnungen blieben

Im Inneren des ganz in schwarz gehaltenen Einbandes bei gelber und weißer Schrift des wahren Leseerlebnisses finden wir zugleich einen zum Verständnis wichtigen Hinweis (zitiert aus Mausfelds Einleitung) „Demokratie und Freiheit. Zwei Worte, die mit unerhörten gesellschaftlichen Versprechen aufgeladen sind und gewaltige Veränderungsenergien zu deren Einlösung freisetzen können. Kaum mehr als ein Schatten ist heute von den mit ihnen ursprünglich verbundenen Hoffnungen geblieben. Was ist passiert? Wohl nie zuvor sind zwei Wörter, an die so leidenschaftliche Hoffnungen geknüpft sind, in gesellschaftlich folgenschwere Weise ihrer ursprünglichen Bedeutung entleert, verfälscht, missbraucht und gegen diejenigen gewandt worden, deren Denken und Handeln sie beseelen.“ (…) Mausfelds Beurteilung ist scharf an der Realität gemessen und fällt dementsprechend drastisch aus: „Demokratie bedeutet heute in Wirklichkeit eine Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten, bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind;“ (…)

Die Demokratie ist stark gefährdet

Treten wir doch ein Stück zurück und besinnen uns einmal: Wer wollte diese Maus’sche Einschätzung bestreiten? Seien wir doch ehrlich zu uns selbst: Noch nie dürfte unsere Demokratie, so unvollkommen sie unbestritten auch ist, und in Teilen wohl auch m. E. eher längst zu ein Schein- (sic!) Demokratie zugerichtet worden ist, dermaßen stark gefährdet sein wie derzeit!

H. Yuren zitiert Mausfeld in seinem Artikel im Freitag so: „nach einschätzung des professors steht die conditio humana auf der kippe. sehr bald werde etwas geschehen, das durch nichts wieder gutzumachen sein werde. mausfeld sagt, es sei bereits wesentlich später als fünf vor zwölf.“ (Kleinschreibung vom Autor)

Demokratie von vornherein so angelegt, dass sie an den bestehenden Verhältnissen nichts zu ändern vermag

Demokratie bedeutet also, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so? Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon im Mutterland der Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, war sie von vornherein so angelegt, dass sich durch sie nichts an den Machtverhältnissen ändern konnte. Das Mehrheit des Volkes mochte wählen wie es wollte, die Interessen der (Minderheit) der Reichen, der Oligarchen konnten nicht angetastet werden. Auch heute, auch bei uns, das im Grunde genommen so. Die repräsentative Demokratie hat gravierende Mängel. Das fängt ja schon bei der Auswahl und Aufstellung der KandidatInnen der einzelnen Parteien an. Auf die wir Wähler – und nicht einmal alle Mitglieder einer Partei – keinerlei Einfluss haben.

Lämmer, die perfekte Metapher, weil Opfertiere

Betreffs des Titels von Rainer Mausfelds ( zu im hier und hier mehr) Referat wie auch den nun zu erwerbenden Bandes und der Verwendung der perfeken Metapher „Lämmer“ (für die Masse des Volkes) darin etwas Geniales gelungen ist – er sozusagen damit den Nagel auf den Kopf trifft. Womöglich hat Mausfeld an da das wohl nicht ganz korrekt Brecht zugesprochene Zitat „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“ gedacht. Wie auch immer: Lämmer – wir kennen das Adjektiv „lammfromm“ – lassen sich gut zur Schlachtbank führen und wehren sich kaum gegen ihr Hinmetzeln. Nicht umsonst, darauf wies Prof. Mausfeld kürzlich in einem Interview mit Ken Jebsen für das Format „KenFM im Gespräch“ hin, benutze man diese Tiere als Opfertiere. Und da kommt einen gleich die Frage: Wer eigentlich ist der Hirte, respektive sind die Hirten? Erst später dürfte dann auch die Frage nach dem/den „Besitzern“ der Herde aufkommen. Der/die bleiben in der Regel unsichtbar. Sollen wohl auch unsichtbar, sprich: unangreifbar sein und bleiben.

Dass wir oft hinter die Fichte geführt werden (können), hat mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun

Gleich im ersten Kapitel (ab S. 23) „Warum schweigen die Lämmer? Wie sich schwerste Kriegsverbrechen und Verletzungen moralischer Normen für die Bevölkerung unsichtbar machen lassen“, das beschreibt uns der Autor ausführlich an interessanten Beispielen. Dass das geschieht und wir es oft nicht merken (können), wie wir sozusagen hinter die Fichte geführt werden (können), hat mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun.

Warum also schweigen die Lämmer? „Denn“ , äußert sich Mausfeld auf Seite 58 im Kapitel Die Angst der Machteliten vor dem Volk natürlich kann man Lämmer nicht zum Sprechen bringen. Die Faszination muss also in der Metapher der Herde und es Hirten liegen. Offensichtlich spricht diese Metapher Vorstellungen etwas genauer an, die Aspekte unserer politischen und gesellschaftlichen Situation betreffen.“

Ein vielerlei Hinsichten die Augen weit öffnender Band liegt uns nun aus der Hand von Rainer Mausfeld vor

Das Gelesene mag hier und möglicherweise zu Depressionen Anlass geben. Aber es kann dennoch gleichzeitig zum (eignen) Handeln inspirieren. Schließlich sind all die in den Zeiten von Raubtierkapitalismus ins Werk gesetzten im Neoliberalismus wurzelnden Sauereien von Menschen gemacht. Und Menschen können Änderungen herbeiführen. Nichts ist also alternativlos. Gegen Ende eines seiner Vorträge in Lindau machte Rainer Mausfeld seinem Publikum einmal ausdrücklich auch Mut. Es gelte etwas zu finden „wofür wir kämpfen, nicht wogegen wir kämpfen“. Mausfeld zitierte zu diesem Behufe den weltbekannten Sprachwissenschaftler Noam Chomky:

„Was können wir tun? So ungefähr alles, was wir wollen.

Tatsache ist, dass wir in einer relativ freien Gesellschaft leben. Die ist nicht vom Himmel gefallen.

Die Freiheiten, die wir haben, wurden in harten, schmerzlichen, mutigem Kampf erstritten, aber nun haben wir sie.

Sie sind unser Erbe, das uns die Kämpfe anderer hinterlassen haben.

Es kann viel getan werden, wenn die Menschen sich organisieren, für ihre Rechte kämpfen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, und wir können noch viele Siege erringen.“

Die auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fußenden Rechtsnormen ernst nehmen. Engagement eine jeden Einzelnen gefragt

Gegen Ende seiner Ausführungen im vorliegenden Band geht Rainer Mausfeld auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein, in welcher „nicht nur moralische Werte formuliert“ worden seien, „sondern zugleich auch Rechtsansprüche – mit ihr wurden Menschenrechte als fundamentale Rechtsnorm verankert.“ Nur seien wir halt „weit davon entfernt, diese Rechtsnormen auch ernst zu nehmen, weil wir es immer wieder zulassen, dass das Recht des Stärkeren diese Rechtsnormen nach Belieben außer Kraft setzen kann“. Dies Rechtsnormen müssten „auf der Basis eines fortwährenden Engagements eines jeden Einzelnen erfolgen.“

Wir hätten nur eine Chance die vor 70 Jahren deklarierte Menschenrechtserklärung „zu einer Rechtsrealität werden zu lassen, wenn wir bereit sind, nicht wegzuschauen und diese Normen entschlossen gegen die Interessen der Mächtigen zu verteidigen“.

Die Entscheidung liegt bei uns

Wollten wir, gibt Prof. Mausfeld zu bedenken, historische Erfahrungen wiederholen, „wozu der Mensch in seinem destruktiven Potentialen befähigt ist“, so hätten wir „keine andere Alternative, als die Verletzungen historisch mühsam erreichter Fundamentalnormen auch als solche zu benennen und in jedem konkreten Fall auf die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität aufmerksam (zu) machen.“ Rainer Mausfeld abschließend: „Die Entscheidung liegt also bei uns.“ Tönt ja gar nicht mehr so pessimistisch. Nur tun müssen wir es: Packen wir’s an, sonst packt es uns vielleicht in nicht allzu weiter ferne übel.

Erweckungserlebnis möglich

Wie schon angemerkt: Dieser Mausfeld ist ein Leseereignis. Das eine Erweckung aus der Lethargie – so weit vorhanden – bewirken kann. Allerdings wohl nur bei Leuten, die nicht in einem jahrzehntelangen eingeübten Weltbild gefangen sind.

Weitere Beiträge zu Rainer Mausfeld finden Sie hier, hier, hier, hier und hier.

Dazu auch (hinzugefügt am 13. Februar 2019):

Rainer Mausfeld

Warum schweigen die Lämmer?

Cover des Bandes via Westend Verlag.

Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören

 

Erscheinungstermin: 201810
Seitenzahl: 304
Ausstattung: HCmSU mit zahlreiche Abbildungen
Art.-Nr.: 9783864892257

24,00 Euro