Von Norman Paech – Der Menschenrechtsrat gibt sich wirklich Mühe. Dies ist nun der dritte Bericht, der über die Lage des Völkerrechts und der Menschenrechte in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas in diesem Jahr vom Menschenrechtsrat vorgelegt wird. Nach den beiden Berichten der Sonderberichterstatter Michael Lynk (HRC A/HRC/49/87 v. 21. März 2022) und Francesca Albanese (UNGV A/77/356 v. 21. 9. 22) hat der Menschenrechtsrat nun den Bericht einer Internationalen Kommission am 27. Oktober vorgelegt (UNGA A/77/328 v. 14. September 2022). Den Auftrag dazu hatte er am 27. Mai 2021 erteilt, „in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, und in Israel alle mutmaßlichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts und Verstöße gegen das internationale Menschenrecht vor und nach dem 13. April 2021 zu untersuchen.“
Hinweis von Albrecht Müller, Herausgeber der NachDenkSeiten:
„Nachbemerkung Albrecht Müller. Bitte beachten Sie, dass Sie einen solchen Bericht zu einem wichtigen Vorgang vermutlich in keinem anderen deutschen Medium lesen. Das nennt man Pressefreiheit. Das nennt man Demokratie. Von allem ein Schatten! Propaganda und Realität klaffen weit auseinander.“
Wir alle kennen den stetig schwelenden Konflikt zwischen Palästinensern und dem Staat Israel. Immer wieder flammt Gewalt auf. Geht die Gewalt von den Palästinensern – etwa vom in Form von abgefeuerten primitiven, selbstgebauten Raketen, vom Gazastreifen aus – wird die vom israelischen Militär mit unverhältnismäßiger Wucht beantwortet. Die Palästinenser wollen einen eigenen Staat. Doch die Chance, dass es dazu kommt, wird von Jahr zu Jahr geringer: eine Zweistaatenlösung rückt in immer weitere Ferne. Sie ist im Grunde tot.
Derweil schaffte und schafft Israel weiter Tatsachen: das den Palästinensern verbliebene Land ist in viele kleine Teile – ja: zu einem Flickenteppich gemacht worden – zerstückelt. Eine auf palästinensischen Gebiet errichtete Mauer wurde errichtet. Aber auch eine Einstaatenlösung dürfte es nicht geben. Davor hat Israel Angst. Schließlich ist die Geburtenrate der Palästinenser wesentlich höher als die der jüdischen Israelis. Eine Lösung dieses Kernkonflikts im Nahen Osten – so dringend nötig und wünschenswert sie auch wäre – ist nicht in Sicht. Wir wissen auch, dass das Leid der Palästinenser eng mit der Ansiedlung und Gründung des Staates Israel zusammenhängt. Und wir Deutsche wissen auch, dass der von den Nazis verübte Holocaust an den Juden nicht zuletzt, dazu führte, dass es zur 1948 Gründung Israels kam. Was uns Deutsche eine besondere Verantwortung dem Staate Israel gegenüber auferlegt.
Wenn Israel seine Staatsgründung feiert, gedenken die Palästinenser der Nakba, zu Deutsch Katastrophe, oder der Vertreibung und Flucht aus ihrer Heimat, „dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, welches zu einem Teil am 14. Mai 1948 als Staat Israel seine Unabhängigkeit erlangte“ (Wikipedia).
Wir wissen also, dass den Palästinensern Leid und Unrecht angetan wurde und weiter wird. Schon über ein halbes Jahrhundert lang währt die Knechtung und entwürdigende bis brutale Behandlung der Palästinenser seitens Israel.
Doch alles ist noch viel schlimmer (gewesen) wie es uns vermittelt worden ist.
Vor zehn Jahren kam es zur Erstveröffentlichung von Ilan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ in fünfzehn Sprachen. Es erschien auch auf Deutsch (hier meine Besprechung). Doch die wenigsten von uns werden das Buch wohl gelesen, noch Kenntnis von dessen Existenz gehabt haben. Die Medien in Deutschland dürften – aus naheliegenden Gründen – wenig Interesse daran gehabt haben, das Buch allzu bekannt zu machen. Nun hat es dankenswerterweise der Westend Verlag übernommen das m.E. über die Maßen wichtige Buch als Neuerscheinung herauszubringen.
Ilan Pappe ist der Sohn von deutschen Juden, die als Folge der Machtergreifung Adolf Hitlers nach Palästina gekommen waren.
„Ihre Lebensgeschichte“ schreibt er im Vorwort zur aktuellen deutschen Ausgabe seines Buches, seine Eltern betreffend, „und das, was mit ihren Familienangehörigen geschah, ist einer der Hauptgründe für die tiefgehende Verpflichtung, die ich empfinde, die Geschichte der Nakba auch deutschen Lesern zu vermitteln.“
Und weiter „Aber auch jenseits meiner persönlichen Geschichte fühle ich, dass die Geschichte der Nakba auf Deutsch eine besondere Bedeutung hat. Wie schon der palästinensische Intellektuelle Edward Said sagte, sind die Palästinenser ‚die Opfer der Opfer‘. Deshalb gibt es eine besondere deutsche Verantwortung für das, was die zionistische Bewegung und später der Staat Israel den Palästinensern angetan haben.“
Es sei seine Absicht gewesen, so Pappe, „zu verdeutlichen, dass die ethnischen Säuberungen von 1948 und vergleichbare israelische Aktionen bis heute das Ergebnis der siedlerkolonialistischen Ideologie ist, die in der indigenen Bevölkerung keine gleichwertigen Menschen sieht“ (S.7). Und: „Die Dehumanisierung der Palästinenser ist ein wichtiger Bestandteil der zionistischen Ideologie (Nicht von Anfang an, sondern erst ab dem Augenblick, an dem die zionistischen Führer Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts beschlossen, dass der einzige Weg sich des europäischen Antisemitismus zu erwehren, die Kolonisation Palästinas sei). Der einzige Weg, die Kolonialisierung zu vollenden, so wie es in Nordamerika geschah, in Australien und Süd-Afrika, war, sich der ursprünglichen Bevölkerung zu entledigen.“
Die Besatzung Palästinas aus Sicht eines Karikaturisten
Carlos Latuff kommt das Verdienst zu, Israels Besatzung Palästinas aus Sicht eines Karikaturisten eindrücklich dazustellen. Latuff, geboren 1968 in Rio de Janeiro, ist ein brasilianischer Cartoonist und Karikaturist. Er bezeichnet sich als künstlerischen Aktivisten. Seine Bilder versteht er als »antikapitalistisch, antiimperialistisch« und als Unterstützung der Menschenrechte. Seine politischen Karikaturen thematisieren häufig den Nahostkonflikt mit antizionistischer Ausrichtung. Natürlich warf man ihm vor, wie allen, welche Zionismus und die Unterdrückung der Palästinenser mit scharfen Worten und in seinem Fall Zeichnungen kritisieren, Antisemit zu sein. Viele seiner Karikaturen, weiß etwa Wikipedia zu vermelden, seien als antisemitisch kritisiert worden.
Dankenswerterweise sind nun etliche seiner Karikaturen in einem Buch bei Politikchronist e.V. erschienen.
Dazu heißt es bei Politikchronist: „Dieses Buch enthält Karikaturen, welche Politikereignisse zwischen Juli 2019 und Oktober 2021 kommentieren. An die wir uns als Leser sofort erinnern, wenn sie im Buch vor unseren Augen aufscheinen.
Jochen Mitschka und Andrea Drescher kommentieren die Karikaturen und erklären für deutschsprachige Leser die Zusammenhänge. Andere Autoren werden von ihnen zitiert.
Evelyn Hecht-Galinski hat ein bedenkenswertes Vorwort zum Buch geschrieben
Apartheid in Bildern. Dieses gemeinnützige Projekt, das hinter diesem Buch steht, ist so unterstützenswert, gerade in der heutigen Zeit, in der Palästina immer mehr als nicht existent in der Versenkung der zionistischen Vorherrschaft verschwinden soll. Wie wir wissen, ist es ja mit Karikaturen so eine Sache. So mancher deutsche Karikaturist scheiterte, wenn es um Israel ging. Ich denke hierbei speziell an Dieter Hanitzsch, der es wagte, eine mehr als treffende Karikatur über den ehemaligen Regierungschef von Israel, Benjamin Netanjahu für »seine« Zeitung, die Süddeutsche, zu machen. Kaum war sie erschienen, kam der Shitstorm der Israel-Lobbyisten und schrie: »Haltet den Antisemiten!« Die Süddeutsche fühlte sich sofort bemüßigt im vorauseilenden Gehorsam zu reagieren und der langjährige Karikaturist Hanitzsch war seinen Posten los. So schnell kann es gehen in der deutschen Medienlandschaft. In Deutschland ist Israel und Palästina ein Tabuthema.
Ganz anders, wenn es um Carlos Latuff und seine Karikaturen geht. Mein lieber, leider viel zu früh verstorbener Freund, Peter Kleinert, brachte mich schon 2012 zu Carlos Latuff und seinen Bildern.
Er wies mich darauf hin, wie gut diese Karikaturen mit meinen Palästina-Kommentaren »harmonieren« würden, sich ergänzen und die gleichen Ziele im Blick hätten, nämlich die Menschen aufzurütteln für den Kampf Palästinas für Selbstbestimmung und Befreiung.
Latuff versteht es meisterhaft, mit seinen provokanten Bildern genau den »Pinsel« in die Wunde der Besatzung zu legen. Alle Versuche seine Bilder als antisemitisch darzustellen können nur kläglich scheitern, angesichts der noch viel grausameren Wirklichkeit im »jüdischen Staat«. Schließlich ist es der »jüdische Staat«, der ganz bewusst »heilige, religiöse Symbole« verwendet, wie die Menora oder den Davidstern, und das blutige Symbol der Unterdrückung auf seine Tötungsmaschinen F-16-Jets malt.
Wer also sind hier die Antisemiten? Sind es nicht gerade die, die diese Symbole instrumentalisieren, um kritiklos ihre schrecklichen Verbrechen im Schatten der jüdischen Symbole ungestört ausüben zu können? Die Stärke von Latuff besteht in der Fähigkeit, die Leiden des palästinensischen Volkes vor der Weltöffentlichkeit anzuprangern und die Doppelmoral des »Werte-Westens« bloßzustellen. Schonungslos hinterfragt Latuff, wieso die Beleidiger von Muslimen in Karikaturen, die den Propheten Mohammed als Bombenleger darstellen, sich auf »Meinungsfreiheit« berufen können und sogar noch beklatscht werden, während Zeichnungen über den Holocaust, als »Hass gegen Juden« und antisemitisch diffamiert werden? Es gibt keinen anderen Zeichner, der es so brillant versteht, die Leiden des palästinensischen Volkes so authentisch darzustellen und das Schicksal der Palästinenser zu Recht mit dem der Juden zu vergleichen. Wohl bemerkt, er vergleicht und setzt nicht gleich. Aber gibt es ein anderes Schicksal, das so tief verbunden ist wie das zwischen Palästinensern und Juden im Holocaust und im »jüdischen Staat«? Sind nicht die Palästinenser die letzten Opfer? Kann man die Nakba und den Holocaust nicht vergleichen? Warum darf man die »Einmaligkeit« des Holocaust nicht hinterfragen und angesichts der vielen Genozide auch den in Gaza, begangenen von jüdischen Israelis, in eine Reihe stellen?
Es ist an der Zeit sich offen dem Thema der bekannten, aber unredlichen Taktik der Vermischung von Antizionismus und Antisemitismus zu stellen und diese als Hasbara (Propaganda) zu entlarven. Latuff schuf unvergessliche Leitmotiv-Poster für die Israel-Apartheid Week, aber auch die der Militäreinsätze im Irak und Afghanistan – kein politisches Thema ist vor ihm sicher und ihm fremd. Es gibt viel Karikaturisten, aber es gibt nur einen Carlos Latuff, der es wagt, die Apartheid in Bildern darzustellen und der sich nicht beirren lässt von Anfeindungen auf seinem Weg in der Darstellung der politischen Verbrechen. Dieses Buch ist ein Gewinn für uns, ebenso wie Carlos Latuff und seine einmaligen und treffenden Karikaturen.
Gleich die erste Karikatur im Buch – überschrieben mit „Selbstverteidigung“ – spart nicht an Deutlichkeit. Ein israelischer Militär geht den U.S. – Kongress an, klappt die Kuppel hoch und ruft „We need Iron Dome for self-defense!“. Und im Hintergrund sehen wir eine verzweifelt, wütende „Mutter“ Palästina (sie taucht immer wieder auf den Karikaturen auf), die schreit: „What about an Iron Dome for us?!!“
Darunter der Kommentar:
„Im September 2021 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz, welches weitere Millionen Dollar für den Ausbau der Raketenabwehr Israels bewilligt. Das Bild will die Ungerechtigkeit darstellen, welche dadurch zum Ausdruck kommt. Nun muss man wissen, dass Israel sich »verteidigt« gegen einen von den UN ausdrücklich legitimierten Aufstand gegen eine militärische Besatzung nach einem Angriffskrieg. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat ausdrücklich das Recht von Menschen, die unter einer Kolonialmacht leiden, (und dabei insbesondere Palästina) genannt, sich mit »allen verfügbaren Mitteln, insbesondere dem bewaffneten Widerstand«, zu widersetzen. 1974 ging die Generalversammlung sogar so weit zu erklären, sie »verurteile aufs Schärfste alle Regierungen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Völkern, die unter kolonialer und ausländischer Herrschaft und Unterwerfung stehen, nicht anerkennen, insbesondere die Völker Afrikas und das palästinensische Volk.«
Insofern, so die Intention der Karikatur, unterstützen die USA den hochger üsteten Atomstaat Israel, sich gegen einen legitimen Aufstand zu schützen, nicht aber die Palästinenser vor den Bomben und Raketen Israels.“
Die folgende Karikatur geht richtig an die Nieren. Hier der Kommentar dazu:
„Die allermeisten Opfer der israelischen Bombardierung Gazas sind Zivilisten, viele davon Kinder, weshalb Latuff von israelischem Terrorismus spricht, während das US-Außenministerium erklärt: »Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung.« Das Bild zeigt die weinende »Mutter« Palästina mit 9 toten Kindern, welche gerade von einem israelischen Luftangriff getötet wurden, während die Welt erschrocken zuschaut und Onkel Sam mit einem Anhänger »US-Außenministerium« lakonisch der Welt erklärt: »Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung.«
»Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann ist es das Leben der Kinder in Gaza.« – António Guterres,
UN-Generalsekretär Ein Artikel vom 27. August 2021 erklärt, dass am 26. August 2014 einer der Kriege Israels gegen den Gazastreifen endete. Israel nannte ihn »Operation Protective Edge« und zerstörte im Laufe der Bombardierung von 50 Tagen die Infrastruktur des Gazastreifens, tötete über 2.100 Palästinenser. Die Autorin Justina Poskeviciute wies darauf hin, dass über 520 Getötete, also fast ein Viertel aller Getöteter Palästinenser, Kinder unter 18 Jahren waren. Sie erwähnte dann auch die Geschichte von vier Kindern, die vor den Augen internationaler Medienvertreter bei einem Luftangriff gezielt getötet wurden. Die Angreifer behaupteten, dass sie die Kinder für Hamaskämpfer gehalten hatte, und wurden nie bestraft. Dass besonders Kinder von solchen Kriegen betroffen sind, sei nicht überraschend, denn in Palästina seien 38,4 % der Bevölkerung Kinder im Alter von 14 Jahren und darunter, in Gaza seien es sogar über 40 %.
Deshalb, so die Autorin, sei jeder Angriff auch ein Angriff auf Kinder. Einiges deutet aber darauf hin, dass die Tötungen von Kindern keine Zufälle sind. Die Organisation Defense for Children International Palestine dokumentierte Fälle, welche sie der UNO vorlegte, Fälle, die nach deren Aussage darauf hindeuten, dass die israelischen Streitkräfte direkt auf Kinder zielen. Sieben Jahre nach »Protective Edge« leben sowohl der Gazastreifen als auch und besonders die Kinder unter Bedingungen, die sich noch einmal dramatisch verschlimmert haben.
Und insbesondere halte das Trauma, das durch die israelischen Angriffe und die totale Belagerung verursacht werde, weiter an. Die anhaltende Zerstörung, das fehlende Reparieren der Gebäude und Infrastruktur verursachen eine Verlängerung des Traumas. Die Autorin berichtete, dass einem 13-jährigen Jungen aus dem Streifen von einem israelischen Scharfschützen in den Kopf geschossen worden war und er sich in einem kritischen Zustand befand. Es war jedoch nur einer von Dutzenden verwundeten Demonstranten, die sich am 21. August 2021 an der israelischen Grenze zum Gazastreifen versammelt hatten.
Hunderte von demonstrierenden Palästinensern hätten sich auf der Seite des Gazastreifens am Grenzzaun versammelt, um gegen die Verwüstungen zu protestieren, die Israels 15-jährige Belagerung in der Region angerichtet hat. Bisher, so der Artikel, habe Israel mit scharfer Munition, Tränengas und Bomben reagiert. Wenn es einen Ort gäbe, an dem eine Besatzungsmacht gelegentlich Bomben auf eine belagerte Bevölkerung abwirft, um auf »Brand-Lufballons« zu reagieren, dann sei das Gaza. Es sei nicht das erste Mal, dass sich Demonstrationen am Grenzzaun ereignen.
Von März 2018 bis Dezember 2019 gab es wöchentliche Demonstrationen, genannt »Großer Marsch der Rückkehr«, bei der die Forderung von vertriebenen Palästinensern kommuniziert wurden, zurück in ihre Heimat ziehen zu dürfen. Wie der Bericht des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) aussage, habe Israel mit Abwurf von Gaskanistern, Gummigeschossen und scharfer Munition geantwortet. Die Schüsse wären meist von Scharfschützen abgegeben worden. Dabei seien 214 Palästinenser, davon 46 Kinder getötet und über 36.100 verletzt worden, darunter wiederum 8.800 Kinder. Nicht in dem Artikel steht, dass ein Großteil der Verwundung mit einer Munition erfolgte, welche Extremitäten zersplittern ließ und schwer heilbare Wunden verursachte, die zu einer dauerhaften Behinderung führen. Weiter im Artikel heißt es, dass psychische Probleme bei 22.578 Kindern auftraten, welche nun zusätzlich zu den 248.111 Kindern in Gaza psychosoziale Kinderschutzmaßnahmen benötigen. 53,5 % der Kinder seien an PTBS erkrankt, aber diese Zahle stammen aus der Bombardierung vom Mai 2021.“
Auf eine weitere aussagekräftige Karikatur sei unbedingt noch hingewiesen:
„Mit dieser Karikatur weist Carlos Latuff darauf hin, wie die Demonstrationen und der Aufstand der Menschen in der Westbank, Gaza und Jerusalem gegen die ethnischen Säuberungen der überwältigenden Militärmacht mit dem Namensschild Apartheid Israel einen Schlag versetzte. Drei Fäuste in den Farben Palästinas aus der Flagge Palästinas in der Form des Landes schlagen einen schwer bewaffneten Soldaten mit der Aufschrift Apartheid mit den Fäusten. Der Aufstand der Palästinenser gegen die Besatzungsmacht gilt als Terrorismus. Also waren die Mitglieder der französischen Resistance Terroristen, da sie sich gegen die deutsche Besatzungsmacht wehrten? Eine Frage, die man in Deutschland besser nicht stellt?“
Lesen Sie unbedingt die Bemerkung des Herausgebers:
In diesem Buch erscheinen Karikaturen, welche jüdische Siedler immer mit Sturmgewehr und als Aggressoren gegen Palästinenser darstellen. Tatsächlich gab es auch Siedlungen, in denen Palästinenser gleichberechtigt neben jüdischen Menschen lebten und arbeiteten. Diese zeigten die Koexistenz von Juden und Arabern in einer beispielhaften Weise vor.
Leider gingen sie aber weitgehend unter der Politik der israelischen Regierungen zugrunde. Sie bewiesen aber für zukünftige Generationen, dass ein Zusammenleben möglich ist. Die Siedler wären nie nach Israel gekommen, gäbe es nicht eine übereinstimmende Gutheißung des westlichen Establishments zu der Kolonialisierung Palästinas. Wenn diese Kreise nun langsam ihre Einstellung unter dem Druck der Straße ändern, dürfen nicht die verführten Siedler diejenigen sein, die nun als neue Vertriebene entstehen.
Israel und Palästina haben Platz genug, und die ehemaligen Unterstützer dieses neokolonialen Projektes ausreichend Mittel, um sowohl diese, als auch die zurückkehrenden Palästinenser so auszustatten, dass beide Gruppen ein würdiges Leben führen können. Es würde vermutlich schon ausreichen, die Milliarden für Rüstung nicht mehr für die Bombardierung, sondern den Aufbau zu nutzen.
In der Geschichte Palästinas gab es über Jahrhunderte eine gute Nachbarschaft zwischen den Religionen und Ethnien. Diese wurde aber zerstört durch die Unterstützung der westlichen Welt für Einwanderer, welche keine Beziehungen zu der Tradition und dem Leben der Region hatten und teilweise erst den jüdischen Glauben annahmen, um die Voraussetzung für das Siedlungsleben zu erlangen. Auch wenn Jahrzehnte der Dämonisierung und der Erzeugung von Hass einen tiefen Graben zwischen jüdisches und palästinensisches Leben getrieben haben, ist dies lediglich der Politik geschuldet. Nicht dem Willen der Menschen. Sollte Israel seine Apartheid-Politik beenden, wird die Versöhnung schneller vonstattengehen als man sich das nun vorstellen kann.
Zu den kommentierenden Autoren
Jochen Mitschka
Jahrgang 1952, bezeichnet sich manchmal als Teil der letzten Generation, die noch mit den Menschen sprach, welche den Krieg und den Weg zum Krieg erlebt hatten. Er erklärte, wie schmerzvoll die Erkenntnis war, dass Geschichtsschreibung, Politik und Medien, denen man vertraute, einen belogen. Wie schwierig es war, sich selbst einzugestehen, dass man in einer Lüge lebte. Heute versteht er sich als Chronist, der zukünftige Generationen warnen will. Jochen war in seinem ersten Leben selbstständiger Unternehmensberater mit Schwerpunkt Südostasien und arbeitete von 2009 bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2017 als Projektleiter und -Koordinator in einem führenden Softwareunternehmen. Seitdem schreibt er Artikel und Bücher zu politischen Themen und ist erster Vorsitzender des Vereins »Der Politikchronist e.V.«.
Andrea Drescher
Jahrgang 1961, lebt seit Jahren in Oberösterreich. Sie ist Unternehmensberaterin, Informatikerin, Selbstversorgerin, Friedensaktivistin und freie Journalistin in alternativen Medienprojekten sowie seit ihrer Jugend überzeugte Antifaschistin. Andrea war in ihrer Jugend Zionistin, da ihre Familie mütterlicherseits in Bergen-Belsen gelitten hatte, was sie politisch stark geprägt hat. Sie gehört aber inzwischen zu jenen Menschen mit jüdischen Wurzeln, die den Staat Israel scharf kritisieren. Sie glaubt, dass nicht Religion und Staatsangehörigkeit, sondern alleine das Verhalten gegenüber Mitmenschen uns verbindet oder trennt.
Unbedingte Empfehlung für dieses wichtige Buch mit den mitten ins Herz treffenden Karikaturen von Carlos Latuff
Liebe Leserinnen und Leser, bevor sie das Buch erwerben – was ihn unbedingt empfehle – schauen sich doch einige von Carlos Latuff berührenden und daher aufrüttelnden Karikaturen hier an. Machen Sie sich selbst ein Bild. Kann man wirklich darauf kommen, Latuffs Karikaturen antisemitisch zu nennen? Sie sind es mitnichten. Latuff beweist ein Herz für die Leiden des palästinensischen Volkes.
Mit seinen treffenden Karikaturen ergreift Carlos Latuff für ein beraubtes, malträtiertes Volk Partei. Er leidet im Grunde mit ihm und will es nicht bei diesem Leid allein belassen. Und er zeigt mit seinen Karikaturen überall auf der Welt wo sie zu sehen sind, worauf den Palästinensern ankommt. Überdeutlich wird mit ihnen angezeigt, was ihnen seit den vielen nach der Nakba verflossenen Jahrzehnten geschehen ist und weiter geschieht. Das können sie tausend Mal besser als es jeder lange Text in diesem oder jenem Buch tun kann. Ein Blick auf Latuffs Karikaturen genügt und man begreift. Das ist glasklare Information, das geht zu Herzen, das beunruhigt und lässt Empörung wachsen. Weil gesagt wird, was ist.
Gewiss tun diese mit spitzer Feder gezeichneten Karikaturen auch weh. Aber, dass sollen sie eben auch. Nicht umsonst sieht sich Carlos Latuff auch als Aktivist.
Das empfehlenswerte Buch könnte einen Platz auf dem Gabentisch an Weihnachten finden. Leider steht zu befürchten, dass das Buch nicht groß oder sogar gar nicht von wichtigen Medien besprochen wird. Sie können sich denken warum.
Aber ich will wenigstens darauf aufmerksam gemacht haben. Sagen Sie es weiter, machen Sie auf das Buch aufmerksam.
Danksagung
Wir danken den vielen Helfern, die das Buch möglich gemacht haben, aber natürlich in erster Linie Carlos Latuff, der auf Honorare verzichtet. Leider konnten wir von der Seite Mondoweiss keine Lizenz zur vollständigen Wiedergabe von Artikeln erhalten, da die meisten Artikeln mit individuellen, unterschiedlichen Lizenzvereinbarungen mit den Autoren belegt sind. Wir hätten gerne die kompletten Artikel veröffentlicht, weil wir lieber eine authentische Berichterstattung liefern, die nicht durch Interpretationen der Buchautoren verändert wurden, müssen aber daher auf die übliche verkürzte und interpretierte Version zurückgreifen. Der Leser sollte daher möglichst nicht nur wegen der Bilder und weiterführenden Links die angegebene Artikelseite besuchen. Aber natürlich danken wir auch den Käufern bzw. genauer gesagt Spendern, die es ermöglichen, dass wir Erlöse aus dem Verkauf dieses E-Books an eine Organisation spenden können, die sich mit dem Schicksal palästinensischer Waisen beschäftigt.
Quelle: Politikchronist e.V.
Israel-Palästina-Karikaturen: Israels Besatzung Palästinas aus Sicht eines Karikaturisten (Weltpolitik) Taschenbuch – 9. November 2021
Inzwischen gibt es im Nahen Osten einen Waffenstillstand. Tote, Verletzte auf beiden Seiten – der palästinensischen und der israelischen – sowie schlimme Verwüstungen der Infrastruktur und viele zerstörte Wohnquartiere in Gaza bleiben zurück. Der immer wieder aufflammende und in nahezu regelmäßigen Abständen in Gewalt umschlagende Nahost-Konflikt ruht wieder. Aus den Nachrichten ist er ebenso wieder verschwunden.
Die Attac-Gruppe Dortmund hatte für den 31.Mai 2021 zu einer Sonderveranstaltung eingeladen. Unter den Corona-Bedingungen finden die Attac-Veranstaltungen online statt. So auch die gestrige.
Als Referent eingeladen war Dr. Shir Hever. Er ist Geschäftsführer des „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ und Vorstandsmitglied der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Zudem ist Dr. Hever unabhängiger Wirtschaftsforscher und Journalist.
Dr. Shir Hever, hat die jüngsten Ereignisse in Nahost intensiv verfolgt und darüber mehrere Artikel veröffentlicht.
Der Titel der Veranstaltung: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“
Hamas bezeichnet sich als Sieger nach elf Tagen Bombardement. Verlierer sind die Menschen: 248 Palästinenser*innen wurden getötet; in Israel starben 13 Menschen. Tausende wurden verletzt und obdachlos. Die Ursachen der Eskalation werden und wurden von den meisten Medien in Deutschland wie gewohnt einseitig dargestellt.
Was zweifellos mit unserer unrühmlichen nationalsozialistischen Vergangenheit und zuvörderst mit dem von Hitlerdeutschland verursachtem Holocaust im Zusammenhang steht. Und beim ersten Gedanken anscheinend richtig zu sein scheint und einleuchten mag. Aber letztlich – zu Ende gedacht – auch Fragen aufwerfen muss. Erst recht die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson sei. Wenn er das liest oder hört runzelt selbst Professor Moshe Zuckermann (hier mehr zu ihm) regelmäßig die Stirn und meint, er habe bisher immer gedacht, die Sicherheit Israels sei Staatsräson Israels. Um die jüngste Eskalation zu verstehen, muss man die Situation in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas kennen, muss die Interessen analysieren, die das Pulverfass Jerusalem, vor allem den Stadtteil Scheich Dscharrach, zum Explodieren brachten, und die auslösenden Momente für die Kriegshandlungen erforschen. Das hat Dr. Shir Hever getan und in seinem interessanten Vortrag zum Ausdruck gebracht. Hever lebt seit elf Jahren in Deutschland.
Dr. Shir Hever: Es ist kein Religionskonflikt
Hever machte gleich eingangs seines Referats klar, dass er die Definition, wonach es sich in Nahost um ein Religionskonflikt handele nicht teilt. Sehr wohl aber gebe es von Seiten der israelischen Regierung – namentlich von Premier Benjamin Netanjahu – einen Versuch, diese Angriffe und die Gewalt als Religionskonflikt darzustellen. Ohne Umschweife spricht Hever betreffs der Situation in Israel/Palästina von Apartheid. Dazu möchte ich anmerken: Erst kürzlich stellte Human Rights Watch fest: Israelische Behörden begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Verfolgung. Das sagt die Menschenrechtsorganisation in einem am 27. April 2021 veröffentlichten Bericht. Auch die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem stellte einen Bericht vor, der beweise, das Israel ein Apartheidregime „vom Fluss bis zum Meer“ aufrecht erhalte. Unterdessen hat der Internationale Strafgerichtshof (ISGH) in DIen Haag die Zuständigkeit für Palästina anerkannt und eine Untersuchung über israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Das trifft auch auf die Verbrechen der Hamas und andere Gruppen im Gazastreifen. Im Unterschied allerdings zu Israel haben die Hamas sowie die Regierung (Palästinensische Autonomiebehörde) in Ramallah im Westjordanland die Zuständigkeit des Den Haager Gerichtshofs akzeptiert. Tel Aviv ignoriere das. Dr. Shir Hever: „Aber die Israelis wissen, dass dies keine effektive Strategie ist.“
Israelische Provokationen in Scheich Dscharrach sowie an und in der al-Aqsa-Moschee
Betreffs der Ursachen des neuen Konflikts im Mai sprach Hever über die israelischen Provokationen im Ramadan-Monat im hier bereits erwähnten Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrach, nördlich der Altstadt von Jerusalem. Dem Koran nach war Scheich Dscharrach der Leibarzt des Propheten Mohammed. Scheich Dscharrach, so Dr. Hever, sei nur eines von vielen Gebieten in Palästina, wo israelische Behörden versuchen, diese von Palästinenser*innen ethnisch zu säubern. Die auf diese Weise freigewordenen Häuser sollen dann Juden bekommen. Scheich Dscharrach sei allerdings der einzige Ort, wo jüdischen Kolonisten vor einem Gericht geklagt haben, weil die Häuser vor dem Krieg 1948 Jüd*innen gehört hätten. Was tatsächlich stimmt. Und es ein Gesetz gibt, was den Vorbesitzern das Recht zuspricht, die Häuser zurückzuerhalten.
Shir Hever berichtete, dass vor 12 Jahren selbst Zionisten gegen diese Kolonisierung des Viertels protestiert hätten. Weil sie warnten, dass hier ein gefährlicher Präzendenzfall geschaffen werden könnte. Millionen palästinensischer Flüchtlinge die im Krieg von 1948 ihre Häuser verloren haben, könnten ebenfalls fordern, ihre Häuser zurückzubekommen. Allerdings entschied ein israelisches Gericht, nur Juden hätten das Recht ihre Gebiete von vor 1948 zu beanspruchen.
Premier Netanjahu hat Probleme mit der Regierungsbildung. Der Mann, der in Israel „der Zauberer“ genannt wird, weil er sozusagen immer wieder einen Hasen aus dem Hut zaubert, habe eine rechtsextreme, aus der Knesset ausgeschlossen gewesene Partei wieder zugelassen. Ausgerechnet wurde ein Büro dieser Partei in der Nachbarschaft von Scheich Dscharrach eingerichtet. Provokativ stellte die Partei Tische mit Essen und Getränken mitten im Ramadan auf die Straße, um die fastenden Muslime zu verspotten.
Später habe Netanjahu mit der Partei abgesprochen, dass sie Scheich Dscharrach verlässt. Dafür schickte er starke Polizeikräfte nach Scheich Dscharrach sowie zur al Aqsa-Moschee. Die Polizei sei nachts in die Moschee eingedrungen und habe die Muslime mitten im Gebet angegriffen. 330 Gläubige seien verletzt worden. Israel provozierte auch am Jerusalem-Tor.
Die Reaktion der Hamas folgte auf dem Fuß
Neben dieser empörenden und aggressiven Provokation brachten auch die bevorstehenden Delogierungen von Palästinser*innen in Scheich Dscharrach das Fass zu überlaufen. Die Hamas habe verlangt, dass die israelische Polizei al-Aqsa verlasse. Die aber sei geblieben. So habe die Hamas von Gaza aus ihre Raketen nach Israel gefeuert. Die israelische Armee antwortete auf den gewiss völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas elf Tage lang mit massiven Luftschlägen. Die israelische Bomben seien absichtlich auf große Wohnhäuser abgeworfen worden und hätten gezielt ein Hochhaus, in welchem internationale Medien ihre Büros hatten, in Schutt und Asche gelegt.
Im Vorfeld sei in Ostjerusalem ein Progrom organisiert und versucht worden. Hunderte jüdische jugendliche Männer hätten nach Arabern gesucht, um sie zu töten. Davon sei hier in Deutschland nicht berichtet worden, meinte Dr. Hever. Auch nicht darüber, dass die Hamas 2017 ihre Politik geändert hat. Und von ihrer ursprünglichen Charta abgerückt sei. In der späteren Fragerunde führte Hever das genauer aus: In einem politischen Manifest, das 42 Punkte umfasse. Es sage etwa: Wir haben keinen Streit mit Juden, sondern nur mit der Besatzung. Und sie seien bereit für ein unbefristeten Waffenstillstand und eine effektive Anerkennung der anderen Seite. Und sie stimmte darin zu, in Friedensverhandlungen von der PLO vertreten zu werden. Die deutsche Regierung aber ignorierte das Dokument der Hamas. (Hier finden Sie die Erklärung. Leider nur auf Englisch.)
Über die Anstrengungen Netanjahus, einen Keil zwischen die israelischen Palästinenser zu treiben und sie so zu spalten sei hierzulande ebenso nichts bekannt.
Massaker in der Stadt Lod
Des Weiteren sprach Dr. Hever über die von Juden und Palästinensern bewohnte Stadt Lod. Wie wurde sie aber zu einer gemischten Stadt? Hevers Großvater sei ein Kämpfer in der Palmach, einer Eliteabteilung der Hagana, gewesen. Einer zionistischen Miliz, die im Krieg von 1948 kämpfte. Erst nach dem Tode seines Großvaters habe Shir Hever erfahren, dass dieser an einem Massaker beteiligt war. Dabei seien etwa 8000 Bewohner*innen der Stadt vertrieben worden, die dann zu Fuß nach Jordanien gehen mussten. Alte, Kranke und Junge, die zu schwach für den Fußmarsch waren, hätten Zuflucht in einer großen Moschee gefunden. Neben bei bemerkt: Ich empfehle Ilhan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“.
Die Palmach brannten die Moschee mit den Menschen darin nieder. Juden, meist Auswanderer aus arabischen Ländern wurden in der Stadt angesiedelt. So sei die Stadt zu einer gemischten Stadt gemacht worden. Heute sei sie eine der ärmsten Städte Israels mit Problemen wie Drogensucht, Kriminalität und Gewalt.
Die Situation in Israel
Dr. Shir informierte darüber, dass Premier Netanjahu (nach mehreren Wahlen gibt es noch immer keine stabile israelische Regierung) weiter alles daran setze, um an der Macht zu bleiben. Nur so bleibt er vor einem Gerichtsverfahren wegen Korruption verschont, an dessen Ende er höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde.
Obwohl Israel inzwischen politisch weit nach rechts gerutscht sei, gebe es dennoch – auch in wenigen Medien – noch versöhnliche Stimmen. Wer sich allerdings gegen Apartheid und die Gewalt der israelischen Armee kritisch aus dem Fenster lehne werde bedroht. Einige Journalisten müssten sich von Leibwächtern schützen lassen.
Die Israelis beschleiche, so Dr. Shir,allmählich das Gefühl, dass das Ende des israelischen Staates sehr nahe ist.
Erstmals seit den 1930er Jahren zeigten Palästinenser*innen im Gazastreifen, in Israel und dem Westjordanland große Einigkeit
Im kürzlich beendeten Konflikt haben nach Ansicht von Dr. Hever die Palästinenser*innen sowohl im Gazastreifen, als auch in Israel und dem Westjordanland mehr Einigkeit gezeigt als je zuvor in den 1930er Jahren. Am zurückliegenden 18. Mai sei der erste Generalstreik der Palästinenser*innen ausgerufen. Er umfasste Gaza, das Westjordanland und Israel – „im gesamten historischen Palästina“, so merkte Dr. Hever an. Die israelischen Palästinenser*innen wurden wegen ihrer Teilnahme am Generalstreik entlassen.
Die israelische Seite hat verloren. Die Hamas machte klar, dass sie Zugeständnisse erzwingen kann. Allerdings zu einem hohen Preis
Nach der jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzung und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens hätten sich, sagte Shir Hever, „meldeten sich viele israelische Generäle und Politiker und gaben zu, dass die israelische Seite verloren hat“.
Hever: „Aus strategischer sich hat die Hamas bewiesen, dass sie israelische Zugeständnisse in Jerusalem und besonders bei der al-Aqsa-Moschee erzwingen kann. Und dass sie entscheiden kann, wann die Gewalt beginnt und wann sie endet.“
In Gaza habe man den Waffenstillstand gefeiert, als wäre er ein militärischer Sieg. Ein Sieg zu einem hohen Preis.
Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen
Inwiefern das für uns hier in Deutschland relevant ist, erklärte der Referent so: „ Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen.“ In der Tagesschau wiederhole man stets die lange Phrase „radikal-islamische Terrorgruppe Hamas“. Sie sprächen aber nicht über die „radikal-jüdische Terrorgruppe Likud“. „Denn, wenn sie das sagen würden, würde das als antisemitisch oder rassistisch gegenüber Juden angesehen werden“, so Hever. Und weiter: „Aber hat der Likud nicht mehr Hass und Gewalt gegenüber Zivilist*innen verbreitet als Hamas je getan hat?“ Die Hamas-Partei sei sehr konsequent mit ihrer Botschaft an das palästinensische Volk gewesen. Sie sagten: Wir Palästinenser sind allein auf der Welt. Die internationale Gemeinschaft wird uns nicht helfen. Sie wird nur Israel helfen. Wir müssen mit Waffen für unsere Freiheit kämpfen. Ein anderer Weg ist nicht möglich.
Shir Hever: Ich habe eine persönliche Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen
Hever ist in Jerusalem aufgewachsen. In seiner Schule wurden in den 1990er Jahren zwei Schüler durch von der Hamas angeordnete Selbstmordattentate getötet. Hever: „Für mich ist es keine Frage, ob die Palästinenser irgendwann die Besatzung besiegen und frei wird. Natürlich wird es geschehen. Aber die Frage ist wie. Ich habe eine persönliche, moralische Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen. Um zu beweisen, dass die Palästenser*innen ohne Bomben und ohne Raketen frei werden können. Die Alternative, die die Menschen in Europa anbieten können, ist die BDS-Bewegung, Boykott, Desinvesitionen und Sanktionen, eine Bewegung die von zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wird, die 2005 gegründet wurde und Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt mitreißt.“ Sie basiere auf den Menschenrecht und dem Völkerrecht. Vielen Palästinensern gebe BDS viel Hoffnung.
Hamas allerdings stelle sich konsequent gegen BDS.
Die Verleumdung des BDS in Deutschland
Dr. Hever stellte klar, dass das „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.“, deren Geschäftsführer er ist, keine Pro-BDS-Position habe. Obwohl BIP die Position vertritt, dass Menschen ein Recht haben, BDS zu unterstützen.
Der Referent erinnerte daran, „dass in Deutschland die Versuche, BDS zu verleumden, zu zensieren und zu unterdrücken besonders ekelhaft“ sind. Der Bundestag habe entschieden, dass BDS antisemitisch sei und hat öffentliche Einrichtungen in Deutschland aufgefordert, Räume für Veranstaltungen zu verbieten, in denen BDS diskutiert wird. Politiker wie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein und der Uwe Becker, Bürgermeister von Frankfurt am Main und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft haben behauptet, merkte Shir Hever an, ihre Kampagne gegen BDS zum Wohle der deutschen Juden gedacht ist. Obwohl BDS nicht zum Boykott von Juden aufrufe, schon gar nicht von deutschen Juden. „Es ist einfach eine zynische Manipulation, um die Juden in Deutschland zu Geiseln der Politik des Staates Israel zu machen“, meinte Hever.
Traurigerweise seien ähnliche Versuche, BDS zum Schweigen zu bringen, um der rechtsgerichteten Regierung Israels beizuspringen, von der Trump-Administration in den USA unternommen worden. Und in geringerem Maße auch in anderen Ländern wie Frankreich und Ungarn.
Als Freunde von Hever deutschen Beamten sagten, dass sie der Hamas in die Hände spielen, wenn sie BDS ablehnen, hätten die nicht zugehört. „Ihre blinde Unterstützung“, so Dr. Hever weiter, „für die israelische Regierung, ungeachtet der Verbrechen, die sie begeht, hat die Hamas-Unterstützer in Palästina davon überzeugt, dass sie keine andere Wahl haben als sich zu bewaffnen uns mir Gewalt zu kämpfen, um ihre Recht zu erlangen.“
In diesem Monat habe man das Ergebnis gesehen.
Es bleibe die Frage, beschloss Dr. Hever sein Referat, ob wir den Palästinenser*innen beweisen können, dass „unsere Solidarität effektiver ist als Raketen, um Gerechtigkeit zu erreichen“.
Interessante Frage- und Antwortrunde
An das Referat von Dr. Shir Hever schloss sich eine Interessante Frage- und Antwortrunde an. Till Struckberg von Attac Dortmund eröffnete sie. Er bekannte, Bauchschmerzen wegen des Titels des Referats „Hamas siegt, aber Tausende verlieren …“ zu haben.
Dazu erklärte Hever, dass jeder israelische Offizier eine Reihe von Büchern lesen müsse, die von Militärdenkern wie beispielsweise von Heeresreformer Carl von Clausewitz geschrieben worden sind.
Betreff eines Sieges sei bei Clausewitz definiert, ein Sieger zu sein sei keine Frage, welche Seite mehr Menschen verloren habe. In den meisten Kriegen der Welt verliere der Sieger mehr als der Verlierer.
Stattdessen müsse jede Seite ihre strategischen Ziele definieren. Und sehen, ob diese Ziele am Ende des Kampfes erreicht wurden oder nicht. Ziel der israelische Armee sei es gewesen die Hamas abzuschrecken. Was, so Hever, nicht erreicht worden sei. Interessant: die Hamas-Kämpfer läsen im Übrigen die gleichen Bücher der Militärdenker wie die israelischen Offiziere! Ziel sei es, auch ein Spieler zu werden in Jerusalem betreffs al-Aqsa. Dies hätte die Hamas erreicht. Zudem sei ihnen eine Demütigung Israels gelungen. Allerdings hätte es dabei tausende Verlierer gegeben. Wenn nicht Millionen. Schließlich seien die Ziele der Hamas nicht gleichzeitig die Ziele aller Palästinenser. Wiewohl die Ziele der israelischen Regierung nicht automatisch die Ziele aller Israelis seien.
Natürlich kam auch die Frage nach der Zweistaatenlösung. Shir Hevers Antwort: Sie ist möglich. Allerdings wären die Kosten dafür hoch. Und für die jüdischen Siedler selbstredend sehr schwierig. Ob das die beste Lösung ist wäre wiederum eine andere Frage, so der Referent.
So gebe es Palästinenser, die sagten eine Demokratie – eine Person/eine Stimme -, etwa wie in Südafrika, wäre die bessere Lösung.
Ob das realistisch ist, fragte jemand. Schließlich wären ja dann die Juden in der Minderheit. Shir Hever darauf: „Das Konzept von einem jüdischen Staat ist ein rassistisches Konzept. Das darf sowieso nicht existieren.“
Es gebe ein Unterschied zwischen Staat für Juden und einem jüdischen Staat. Hannah Arendt habe das ausführlich beleuchtet. Jüdischer Staat sage, der Staat selbst ist jüdisch. Die Menschen müssten diesem Staat in dieser Hinsicht dienen. Was eine sehr undemokratische Idee sei. Ein Konzept eines Staates für Juden bedeute, ein Staat, wo Juden gleiche Rechte haben, wie jeder andere. Ein Staat für Juden sei im Beginn des 20. Jahrhunderts kaum zu finden. Heute sei ein solcher Staat beispielsweise Deutschland. Warum also sollte ein künftiger Staat Israel oder Palästina – je nachdem wie dieser dann hieße – nicht so ein Staat für Juden sein?
Wer dann in diesem Staat die Mehrheit hat, sei ja dann den jeweiligen Staatsbürgern – Juden und Palästinensern – überlassen und deren Kinderplanung.
Ursprünglich habe es ja einst, erklärte Hever, auch kein Frauenwahlrecht gegeben. Davor hätten die Männer Befürchtungen gehabt, weil es mehr Frauen gebe.
Inzwischen habe sich das eingespielt und wohl kaum noch in Frage gestellt.
Dr. Hever wurde gefragt, ob man dann nicht befürchten müsse, dass Juden im Einheitsstaat getötet würden. Aus Rache. Darauf entgegnete Dr. Hever wieder mit einem Verweis auf Südafrika. Dort hätten ja die Weißen – einst mit Apartheid herrschende Minderheit – befürchtet, dass die Schwarzen sie dann ermorden würden. Dass sei aber dann nicht passiert.
Dr. Shir Hever hält durchaus – auf Nachfrage antwortend – auch eine Versöhnungskommission abermals mit Verweis auf Südafrika für angebracht. Auch Palästinenser*innen könnten sich das gut vorstellen. Sie verwiesen aber zu recht darauf: Das diese Versöhnungskommission in Südafrika erst möglich wurde nach dem Ende der Apartheid.
Die Frage nach den Möglichkeiten der EU den Nahostkonflikt einer Lösung zuzuführen, beantwortete Shir Hever so zunächst mit einem Hinweis auf das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel, das bereits existiere. Den Bedingungen, der Menschenrechtsklausel nach, dürfe diesbezüglich kein Land eine solche Möglichkeit bekommen, das Menschenrechte systematisch verletzt.
Hever: Wenn die EU ihre eigenen Gesetze ernst nähme und sage, solange es keine Demokratie mit gleichen Rechten für alle in Israel/Palästina gibt, können wir das
Assoziierungsabkommen mit Israel nicht weiter verlängern. Das wäre für israelische Wirtschaft ein Desaster. Shir Hever: „Dann sehen wir in einer Woche – ich bin fest überzeugt – werde die israelische Regierung sagen, unter diesen Bedingungen haben wir keine Wahl. Wir müssen entweder die Besatzung zu Ende bringen oder ein Nationalwahl im Israel-Palästina-Gebiet haben, um eine demokratische Regierung zu bilden.“
Eine interessante Veranstaltung war das mit Dr. Shir Hever. Die wahrscheinlich, wäre sie öffentlich in einer städtischen Einrichtung geplant gewesen, keinen Raum gefunden hätte. Und die üblichen Verdächtigen hätten behauptet die Veranstaltung wäre antisemitisch. Allein, weil kurz über BDS gesprochen worden wäre. Darüber einmal nachzudenken ist angebracht.
Beitragsbild: via Weltnetz.TV
Anbei gegeben via Activismmunich
Abschließend noch einige Beiträge mit Links zu meinen Beiträgen, welche zur Thematik passen, sowie ein Link zu Videos, in denen Dr. Shir Hever spricht:
Die neugebildete Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu und Benjamin Gantz hält an den schon vorher von Netanjahu verkündeten Plänen fest, alle 128 Siedlungen und das Jordantal, den fruchtbarsten Teil Palästinas, zu annektieren. Das Wahlergebnis zeigt, dass diese Annexionspläne von dem größten Teil der nichtarabischen Bevölkerung Israels geteilt werden. Voraussetzung für diesen radikalen Schritt war die Zustimmung der USA, die US-Außenminister Pompeo am 25. April gegeben hat. Andere Regierungen sind offenbar nicht konsultiert worden, vor allem nicht die betroffenen Palästinenser.
Jede Annexion fremden Territoriums ist ein schwerer Verstoß gegen internationales Recht und daher illegal. Die Vereinten Nationen haben nie die Annexion Jerusalems und der Golan-Höhen anerkannt, der Internationale Gerichtshof hat die Annexion in seinem Gutachten zur Mauer von 2004 ausdrücklich als rechtswidrig und nichtig bezeichnet. Daran ändert auch nichts, dass US-Präsident Trump die Völkerrechtswidrigkeit der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik bestreitet und die syrischen Golan-Höhen und Ostjerusalem als integralen Teil Israels anerkennt. Beides ist nach internationalem Recht irrelevant und selbst ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Dies gilt auch für den sog. Nah-Ost-Plan der Trump-Administration, der auf der weitgehenden Enteignung und Annexion palästinensischen Territoriums aufbaut. Er zerstört damit endgültig die Zwei-Staaten-Lösung, die entsprechend zahlloser UNO-Resolutionen immer noch die Grundlage der internationalen Palästinapolitik bildet. Das Ziel eines palästinensischen Staates neben Israel, das seit der UNO-Resolution 181 aus dem Jahr 1947 immer noch gültig ist, wird aufgegeben und eine von den Palästinensern geplante Hauptstadt Ost-Jerusalem illusorisch. Für einen Staat Palästina mit eigenen Grenzen bleibt kein Territorium übrig. Die Reste Palästinas werden ohne eigene Selbstbestimmung und Souveränität faktisch der israelischen Willkür ausgeliefert – eine neue Art von Kolonie.
Ein Prozess der Zerstörung, Enteignung und Kolonisierung hat sich durch die Jahrzehnte vor allen Augen in den besetzten Gebieten vollzogen, ohne dass die internationale Gemeinschaft dagegen erkennbaren Widerstand geleistet hätte. Insbesondere die deutsche Bundesregierung hat nicht nur weitgehend geschwiegen, sondern im Rahmen der EU aktiv Initiativen verhindert, die Israel zum Stopp der Siedlungs- und Aufhebung der Besatzungspolitik bewegen sollten. Ihre gelegentliche und vorsichtige „Kritik“ konnten die israelischen Regierungen eher als Unterstützung denn als Ablehnung ihrer Politik auffassen. Zudem hat die Bundesrepublik Palästina die Anerkennung als Staat in der UNO verweigert, obwohl es über alle Merkmale eines Staates verfügt und von über 2/3 der Mitgliedstaaten in der UNO anerkannt wird. Sie hat sogar im jüngsten Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag , in dem es um die Klage gegen Israel wegen schwerer Kriegsverbrechen im Krieg gegen Gaza 2014 und Menschenrechtsverstößen in den besetzten Gebieten geht, versucht, das Verfahren zu verhindern. Allerdings vergeblich, da die Generalanklägerin Fatou Bensouda die Rechtssprechungskompetenz des Gerichtshofs über Palästina ausführlich begründet und anerkannt hat.
Die Situation ist dramatisch. Netanjahu will unbedingt die Annexion bis zu den nächsten Wahlen in den USA unter der Präsidentschaft von Trump durchführen und hat den 1. Juli als Termin festgesetzt. Es bleibt wenig Zeit, in der die internationale Gemeinschaft ihr ständiges Bekenntnis zum Internationalen Recht durch wirksame Maßnahmen unter Beweis stellen kann. Die Staaten können nicht den Widerspruch begründen, Russland wegen des Anschlusses der Krim mit Sanktionen zu belegen, Israel aber bei der Zerstörung der staatlichen Existenz eines Volkes durch die Annexion ihres Territoriums gewähren zu lassen. Insbesondere die Bundesregierung muss ihre Verantwortung, die sie immer nicht nur gegenüber Israel sondern auch gegenüber den Palästinensern betont hat, wahrnehmen und ihre legitimen Rechte schützen.
Sie kann sich dabei auf internationale Kritik stützen, die sogar aus Israel selbst kommt. 56 ehemalige Knesset-Abgeordnete haben die Annexion als einen „tödlichen Schlag für eine Friedensmöglichkeit und die Schaffung eines Apartheid-Staates“ abgelehnt. 300 ehemalige Generäle und Offiziere der israelischen Armee und Chefs des Mossad haben ebenfalls die Pläne der Regierung scharf kritisiert. In Großbritannien haben sich 127 ehemalige und gegenwärtige Parlamentarier aller Parteien an die britische Regierung gewandt und Premier Minister Johnson aufgefordert, die Illegalität der Annexionen zu rügen und „ernsthafte Konsequenzen inklusive Sanktionen“ anzukündigen.
Die Deutsche Sektion der International Association of Lawyers against Nuclear Armement (IALANA) schließt sich dieser Kritik an und fordert die Bundesregierung auf, ihren Verpflichtungen aus dem Internationalen Recht nachzukommen und alles zu unternehmen, dass Israel von seinen Annexionsplänen Abstand nimmt. Insbesondere sollte sie auf die Aussetzung des EU-Israel Assoziierungsabkommens dringen, solange Israel nicht die in Art. Zwei des Abkommens geforderte Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts garantiert. Dazu gehört, jegliche Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den illegalen israelischen Siedlungen zu untersagen und sicherzustellen, dass keine Geschäftsbeziehungen mit israelischen Unternehmen in den besetzten Gebieten unterhalten werden. Desgleichen sollte jeder Waffenhandel untersagt und die militärische Kooperation mit Israel gestoppt werden. Die Bundesregierung sollte sich für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen in Gaza und dem besetzten Westjordanland einsetzen, statt zu versuchen, das Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu verhindern. Dazu fordern wir, dass die Bundesregierung endlich den Staat Palästina völkerrechtlich anerkennt. Die Bundesregierung darf sich nicht mehr hinter der verbrecherischen Geschichte der Nazi-Herrschaft verstecken und aus falsch verstandener Verantwortung zum Komplizen einer offen völkerrechtswidrigen Politik machen. Sie muss gegen die Annexion Stellung beziehen und ein Ende der seit Jahrzehnte dauernden illegalen Besatzung fordern.
Otto Jäckel (Vorsitzender der IALANA). Foto: C. Stille.
RA Otto Jäckel Prof. Dr. Norman Paech
Vorsitzender Wissenschaftlicher Beirat
Der Beschluss des Bundestages vom 17. Mai, mit dem die BDS-Kampagne als ein Beitrag zur zunehmenden Bedrohung durch den Antisemitismus in Europa verurteilt wird, ist ein schwerwiegender Anlass zur Sorge. Er markiert die BDS, eine gewaltfreie palästinensische Initiative, als antisemitisch und fordert die Bundesregierung auf, nicht nur der BDS selbst, sondern einer jeden sie fördernden Organisation jegliche Unterstützung zu verweigern. Der Beschluss verweist auf die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden, und zwar ohne Israels anhaltenden Missbrauch des grundlegendsten Menschenrechts, der Selbstbestimmung, bezüglich des palästinensischen Volkes auch nur zur Sprache zu bringen. Ebenso wenig verweist dieser Beschluss auf die bedeutende Rolle, die eine frühere BDS-Kampagne, nämlich die gegen den Rassismus Südafrikas, bei der Herbeiführung einer gewaltlosen Beendigung des dortigen Apartheid-Regimes gespielt hat; auch fehlt jeder Hinweis darauf, dass selbst diejenigen, die aus strategischen oder pragmatischen Gründen gegen diese BDS-Kampagne gewesen waren, nie versucht hatten, deren Vertreter zu dämonisieren. Von Richard Falk & Hans von Sponeck
Wir alle kennen den stetig schwelenden Konflikt zwischen Palästinensern und dem Staat Israel. Immer wieder flammt Gewalt auf. Geht die Gewalt von den Palästinensern – etwa vom in Form von abgefeuerten primitiven, selbstgebauten Raketen, vom Gazastreifen aus – wird die vom israelischen Militär mit unverhältnismäßiger Wucht beantwortet. Die Palästinenser wollen einen eigenen Staat. Doch die Chance, dass es dazu kommt, wird von Jahr zu Jahr geringer: eine Zweistaatenlösung rückt in immer weitere Ferne. Derweil schaffte und schafft Israel weiter Tatsachen: das den Palästinensern verbliebene Land ist in viele kleine Teile – ja: zu einem Flickenteppich gemacht worden – zerstückelt. Eine auf palästinensischen Gebiet errichtete Mauer wurde errichtet. Aber auch eine Einstaatenlösung dürfte es nicht geben. Davor hat Israel Angst. Schließlich ist die Geburtenrate der Palästinenser wesentlich höher als die der jüdischen Israelis. Eine Lösung dieses Kernkonflikts im Nahen Osten – so dringend nötig und wünschenswert sie auch wäre – ist nicht in Sicht. Wir wissen auch, dass das Leid der Palästinenser eng mit der Ansiedlung und Gründung des Staates Israel zusammenhängt. Und wir Deutsche wissen auch, dass der von den Nazis verübte Holocaust an den Juden nicht zuletzt, dazu führte, dass es zur 1948 Gründung Israels kam. Was uns Deutsche eine besondere Verantwortung dem Staate Israel gegenüber auferlegt.
Wenn Israel seine Staatsgründung feiert, gedenken die Palästinenser der Nakba, zu Deutsch Katastrophe, oder der Vertreibung und Flucht aus ihrer Heimat, „dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, welches zu einem Teil am 14. Mai 1948 als Staat Israel seine Unabhängigkeit erlangte“ (Wikipedia).
Wir wissen also, dass den Palästinensern Leid und Unrecht angetan wurde und weiter wird. Schon über ein halbes Jahrhundert lang währt die Knechtung und entwürdigende bis brutale Behandlung der Palästinenser seitens Israel.
Doch alles ist noch viel schlimmer (gewesen) wie es uns vermittelt worden ist.
Vor zehn Jahren kam es zur Erstveröffentlichung von Ilan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ in fünfzehn Sprachen. Es erschien auch auf Deutsch. Doch die wenigsten von uns werden es wohl gelesen, noch Kenntnis von dessen Existenz gehabt haben. Die Medien in Deutschland dürften – aus naheliegenden Gründen – wenig Interesse daran gehabt haben, das Buch allzu bekannt zu machen. Nun hat es dankenswerterweise der Westend Verlag übernommen das m.E. über die Maßen wichtige Buch als Neuerscheinung herauszubringen.
Ilan Pappe ist der Sohn von deutschen Juden, die als Folge der Machtergreifung Adolf Hitlers nach Palästina gekommen waren.
„Ihre Lebensgeschichte“ schreibt er im Vorwort zur aktuellen deutschen Ausgabe seines Buches, seine Eltern betreffend, „und das, was mit ihren Familienangehörigen geschah, ist einer der Hauptgründe für die tiefgehende Verpflichtung, die ich empfinde, die Geschichte der Nakba auch deutschen Lesern zu vermitteln.“
Und weiter „Aber auch jenseits meiner persönlichen Geschichte fühle ich, dass die Geschichte der Nakba auf Deutsch eine besondere Bedeutung hat. Wie schon der palästinensische Intellektuelle Edward Said sagte, sind die Palästinenser ‚die Opfer der Opfer‘. Deshalb gibt es eine besondere deutsche Verantwortung für das, was die zionistische Bewegung und später der Staat Israel den Palästinensern angetan haben.“
Es sei seine Absicht gewesen, so Pappe, „zu verdeutlichen, dass die ethnischen Säuberungen von 1948 und vergleichbare israelische Aktionen bis heute das Ergebnis der siedlerkolonialistischen Ideologie ist, die in der indigenen Bevölkerung keine gleichwertigen Menschen sieht“ (S.7). Und: „Die Dehumanisierung der Palästinenser ist ein wichtiger Bestandteil der zionistischen Ideologie (Nicht von Anfang an, sondern erst ab dem Augenblick, an dem die zionistischen Führer Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts beschlossen, dass der einzige Weg sich des europäischen Antisemitismus zu erwehren, die Kolonisation Palästinas sei). Der einzige Weg, die Kolonialisierung zu vollenden, so wie es in Nordamerika geschah, in Australien und Süd-Afrika, war, sich der ursprünglichen Bevölkerung zu entledigen.“
Manch Leser mag der Titel von Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ (v)erschrecken, vielleicht sogar wie ein Hammer treffen. Andere womöglich werden gar die Hände von sich strecken und rufen: Nein, nein so war das doch nicht! Ja, es ist hart. Aber Leugnen und Abwiegeln hilft nicht weiter. Prof. Ilan Pappe, einer der Protagonisten der „Neuen israelischen Historiker“, die für eine Revision der „offiziellen Geschichtsschreibung des Zionismus und für einen kritischen Ausgleich“ – steht es im Klappentext – mit den Palästinensern plädieren“. Dafür musste er einen nicht unerheblichen Preis zahlen. Bis Anfang 2007 lehrte er politische Wissenschaften an der Universität seiner Geburtsstadt Haifa. Er geriet in fachlich und politisch Konflikt mit Universitätsleitung, bis er schließlich die Hochschule mit der Begründung verließ, es sei zunehmend schwierig, mit seinen unwillkommenen Meinungen und Überzeugungen in Israel zu leben und zu lehren.“ Derzeit hat Pappe eine Professur für Geschichte an der Universität Exeter inne.
Pappes Buch öffnet uns die Augen für Fakten, die entweder verschwiegen wurden oder gar bis heute geleugnet werden und unterrichtet seine LeserInnen über Tatsachen, welche der Weltöffentlichkeit – aus Unkenntnis oder mit Absicht .vielleicht in ganz anderem Licht dargestellt worden sein mögen.
Auch ist es wichtig, dass im Buch noch einmal explizit darüber informiert wird, dass der seinerzeitige britische Außenmister Arthur Balfour den Juden bereits 1917 eine „Heimstatt“ in Palästina versprochen hatte. Eine Vorgeschichte, die man kennen sollte.
Führenden Zionisten musste allerdings schon damals klar gewesen sein, dass man zu diesem Behufe dort lebende Palästinenser würde vertreiben müssen.
Auch der Zionist und spätere Staatsgründer Israels, David Ben Gurion – welcher uns vielleicht in Filmaufnahmen oder auf Fotos, wo er mit schlohweißen wallenden Haar gezeigt wird und immer so sympathisch erschienen sein mag – wird uns nach Lektüre von Ilhan Pappes Buch in eher in kritischem Licht erscheinen. David Ben Gurion bekannte bereits vor der Staatsgründung Israels: „Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches. (David Ben Gurion an die Exekutive der Jewisch Agency, Juni 1938)“
Bereits zehn Jahre nach dieser Aussage Ben Gurions „saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnischen Säuberungen Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen, Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. (S.10)“ Der Plan trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch). Wichtig zu wissen – was alles andere als ein gutes Licht auf Großbritannien wirft: „Noch während des britischen Mandats beginnen die Angriffe, geführt von Moshe Dayan (später Verteidigungs- und Außenminister), Menachim Begin (später Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger) Yitchak Rabin (später Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger).“ Die Briten sahen im Wesentlichen weg.
Pappe zitiert aus dem Plan Dalet (S.67): „Diese Operationen lassen sich folgendermaßen durchführen: entweder durch Zerstörung von Dörfer (indem man sie in Brand steckt, sprengt und die Trümmer vermint) und insbesondere von Wohngebieten, die auf Dauer schwer zu kontrollieren sind; oder durch Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen zu vertreiben. (Plan Dalet, 10. März, 1948)“
Das ist deutlich.
„Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer werden zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht, 800 000 Menschen fliehen. Es kommt zu Plünderungen, Vergewaltigungen und zu Massakern, auch an Frauen und Kindern. Heute bedecken Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen die einstigen Dörfer.“
Die Rede ist davon, dass 800 000 der für die für Palästinas so bedeutungsvollen Olivenbäume dem Konflikt zwischen Israel und Palästina zum Opfer fielen – das macht etwa eine Fläche von 15 000 Fußballfeldern aus. Pappe informiert darüber, dass über zerstörten palästinensischen Dörfern heute wunderbar grünende Parks oder Wälder zu finden seien. Ausländischen Besuchern würde, so Pappe, empfohlen in diesen Parks neue Bäume zu pflanzen. Darüber informiert, dass sich dort einmal palästinensische Dörfer dort befanden, wird sie freilich nicht.
Wenn Ilan Pappe darüber schreibt, löst er bestimmt auch bei den LeserInnen folgende Frage in ihnen aus: Was bewegte jüdische Menschen, auch vor Hitler aus Europa geflohene – so kurze Zeit nach dem Holocaust an den Palästinensern derartige Verbrechen zu verüben? Wie konnten sie das mit sich vereinbaren?
Ilan Pappe beruft sich in seinem Buch auf Augenzeugenberichte und hat neu zugängliche Dokumente aus israelischen Militärarchiven nachgezeichnet. Diese stehen in eklatantem Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung sowie dem glorifizierten Gründungsmythos Israels.
Über die darin nachgezeichneten schlimmen, menschenverachtenden Geschehnisse zu lesen, ist hart und deprimierend. Stellenweise auch fast schier unerträglich. Sicher sogar werden manche Menschen diese Tatsachenberichte – so sie davon aus zweiter Hand erfahren, wie kürzlich auf Facebook geschehen, wo ich kurz Pappes Buch angekündigt hatte, empört und mit Unverständnis darauf reagieren. Eine Facebook-Freundin kommentierte, nachdem sie einen Verriss des Buches „Die ethnische Säuberung Palästinas“ im Tagesspiegel gelesen und ihrem Kommentar verlinkt hatte: „Ist klar: Die Juden sind die Schlimmen, die Palästinenser die Verfolgten.“
Wer Pappes Buch gelesen hat, wird feststellen: Das behauptet der Autor doch überhaupt nicht. So einfach darf man es sich auch nicht machen. Macht es sich Pappe auch nicht. Er schreibt über die nun einmal dokumentierten und im bereits erwähnten Plan D zuvor vorgezeichneten und dann auch so – mal mehr, mal weniger grausam – in die Tat umgesetzten Vertreibungen der Palästinenser und verübte Gewalt an ihnen.
Dass Pappe dabei auf erbitterte Gegenwehr trifft ist keineswegs verwunderlich. Aber ihn hat eben das fürchterliche Schicksal der Palästinenser nicht kalt gelassen. Und es beschäftigt ihn noch heute. John Pilger kennzeichnete das 2006 so – Der Satz ist auf der Buchrückseite zitiert : „Ilan Pappe ist der mutigste, unbestechlichste und der am schärfsten urteilende Historiker Israels.“
Der Offizier der Alexandroni-Brigade, Eli Shimoni wird von Ilan Pappe (Kapitel 6, S. 177) aus „Maariv“ (4. Februar 2004) mit dem Bekenntnis zitiert: „Ich habe keinerlei Zweifel, dass in Tantura ein Massaker stattfand. Ich bin nicht auf die Straße gegangen, um es herauszuposaunen. Es ist nicht gerade etwas, worauf man stolz ist. Aber wenn die Sache erst mal öffentlich gemacht wird, sollte man auch die Wahrheit sagen. Nach 52 Jahren ist der Staat Israel stark und reif genug, sich seiner Vergangenheit zu stellen.“
Der Staat Israel wird aber immer wieder daran erinnert werden. Indem einfach über grausame Tatsache hinweggegangen wird wie in den neuen Parks über die zerstörten Dörfern hinweggeschritten wird. Es wird zu einer Lösung zwischen Israel und den Palästinensern gekommen werden müssen, dass die Menschen beider Seiten künftig friedlich zusammenleben werden zusammenleben können. Danach aus sieht es augenblicklich nicht.
Ilan Pappe hegt immerhin eine Hoffnung. Auf den Seiten 330/331 des Buches schreibt er: „Dabei scheint die Lösung doch recht einfach zu sein: Als letzte postkoloniale europäische Enklave in der arabischen Welt hat Israel keine andere Wahl, als sich freiwillig eines Tages in einen bürgerlichen, demokratischen Staat zu verwandeln. Dass dies möglich ist, zeigen die engen sozialen Beziehungen, die Palästinenser und Juden in diesen langen, unruhigen Jahren innerhalb und außerhalb Israels untereinander geknüpft haben.“ Und weiter: „Dass wir dem Konflikt im zerrissenen Palästina ein Ende setzen können, wird ebenfalls klar, wenn wir uns Teile der jüdischen Gesellschaft in Israel ansehen, die sich entschlossen haben, sich von menschlichen Erwägungen statt von zionistischer Sozialtechnologie leiten zu lassen.“
Auch die Mehrheit der Palästinenser, meint Pappe, hätten sich in den Jahrzehnten brutaler israelischer Besatzung nicht entmenschlichen lassen. Trotz Vertreibung und Unterdrückung hofften sie noch auf Versöhnung. „Aber“ gibt der Autor gleichzeitig zu bedenken, „das Fenster dieser Chance wird nicht immer offen bleiben. Israel könne „auch dazu verdammt sein, ein Land voller Zorn zu bleiben, dessen Handeln und Verhalten von Rassismus und religiösen Fanatismus diktiert sind, ein Land, in dem das Streben nach Vergeltung die Züge der Menschen dauerhaft entstellt.“ Die Geduld ,das Vertrauen „von unseren palästinensischen Brüdern und Schwestern“ noch zu „erbitten“ wäre, könnte nicht auf ewig zu erwarten sein.
Der in Ilan Pappes Buch beschriebene Fall einer „ethnischen Säuberung“ am Beispiel Palästinas, schreibt der Autor, sei heute ein klar definierter Begriff (S.19). Dieser sei anfangs fast ausschließlich mit den Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien assoziiert worden – inzwischen aber als Verbrechen gegen Menschlichkeit definiert. Was nach internationalem Recht strafbar sei.
Der Vergleich der Ereignisse in Palästina mit Ereignissen in Jugoslawien erscheint mir unpassend. Um seine Ansicht jedoch stetig erneut zu untermauern, hat Ilan Pappe einigen seiner Buchkapitel immer wieder entsprechende Zitate aus diesem Jugoslawien-Kontext vorangesetzt. Mir behagt das nicht, um es vornehm auszudrücken. Zumal wir heute wissen, dass so manche Nachricht, Vorfälle im damaligen Jugoslawien betreffend, aus Politikermündern oder aus Medienberichten nicht immer mit der Realität übereinstimmten. Auch dies bedarf einer Aufarbeitung seitens anderer AutorInnen und noch zu schreibende Bücher.
„Die ethnische Säuberung Palästinas“ gehört in jede Hand. Ein wichtiges Buch. Klar, es wird manch Gegenwind ertragen müssen. Aber das wird und muss es aushalten.
Krisen wohin das Auge blickt. Kriege – ja sogar ein neuer Kalter Krieg wurde vom Westen (gegen Russland) losgetreten – bringen Zerstörung. Der Klimawandel wird immer deutlicher spürbar. Die Ausbeutung der Schwachen dieser Erde setzt sich fort. „Moderne“ Sklaverei ist nur ein Gesicht davon.
Ungerechtigkeiten rufen Reaktionen hervor
Andererseits erkennen auch immer mehr Menschen die strukturellen Ungleichheiten der Weltwirtschaft als Geißel vieler Menschen und tun sich zusammen, um dagegen etwas zu unternehmen. Sie organisieren sich „in Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bürgerinitiativen, Plattformen, Organisationen, Syndikaten, Dorf- und Stadtgemeinschaften“, schreibt Jean Feyder in der Einleitung zu seinem Buch „Leistet Widerstand! Eine andere Welt ist möglich“. Es ist kein Zufall, dass er das gleichlautende Leitmotiv von Attac auf den Buchtitel gehoben hat. Dass der erste Teil des Titels an das erfolgreiche Pamphlet „Empört euch!“ (dazu mehr hier) des unvergessenen Stepháne Hessel denken lässt, ebenso nicht. Feyder erinnert im Buch an dessen großartige Leistung. Feyder über Hessel: „Er ermutigte seine Leser, Widerstand zu leisten und ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, angesichts der Krisen und der Ungerechtigkeiten in der Welt.“
Das Vertrauen in die Demokratie nimmt ab
Jean Feyder hält uns bereits in seiner Einleitung mahnend vor Augen, dass all diese Ungerechtigkeiten nicht nur weit von uns Weg in der sogenannten Dritten Welt zu verorten sind, sondern auch hier in Europa, dass seiner Meinung nach „in einer tiefen, existentiellen Krise steckt“. Immer mehr verlören BürgerInnen „jedes Vertrauen in die Demokratie und in Europa (…)“ Sie wählten immer öfters nationalistische und rechtsextrem Kräfte. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen wird Feyder (S. 17) überdeutlich: „Für diese Krise hat Deutschland eine besondere Verantwortung zu übernehmen. Die Hartz-IV-Reformen verstießen gegen die im Euroraum vereinbarte Disziplin im Inflationsbereich und bewirkten ein Sozialdumping, das deutsche Unternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber den Konkurrenten der anderen Länder der Eurozone sicherte.“
Die sanfte Gewalt der Vernunft
Im Vorwort zu Feyders Buch hebt Jean Ziegler auf eine Aussage Bertolt Brechts ab:
„Ja ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. Sie können ihr auf die Dauer nicht widerstehen. Kein Mensch kann lange zusehen, wie ich einen Stein fallen lasse und dazu sage: er fällt nicht. Dazu ist kein Mensch imstande. Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle …“
Jean Ziegler im Vorwort: Jean Feyder ist „ein außergewöhnlich talentierter Diplomat, ein brillanter Autor und ein starrköpfiger Realist“
Im Bezug auf Jean Feyder glaubt Ziegler, dass dieser nicht nur „ein außergewöhnlich talentierter Diplomat, ein brillanter Autor und ein starrköpfiger Realist“, sondern auch jemand ist, „der an die sanfte Gewalt der Vernunft“ glaubt, „um diese kanibalistische Weltordnung zu stürzen“. Ziegler schließt sein Vorwort ebenfalls mit Brecht: „So viel ist gewonnen, wenn nur einer aufsteht und Nein sagt!“ So einer ist Feyder offensichtlich. Das wird in seinem wichtigen Buch vielfach deutlich.
Sagen, was ist: Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Negativentwicklungen im ersten Teil des Buches
Im ersten Teil seines Buches führt Jean Feyder die Ursachen für Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Negativentwicklungen auf und beschreibt die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wir erfahren, dass die Dritte Welt auch nach Entlassung zahlreicher Länder in die Unabhängigkeit weiter einer fortgesetzten Abhängigkeit und seitens ihrer ehemaliger Kolonialherren ausgesetzt geblieben sei und ist. Indem eine neokoloniale Politik betrieben wurde und werde, die die Drittweltstaaten in Teilen gar erpresserisch – etwa vermittels sogenannter Wirtschaftlicher Partnerschaftsabkommen (WPA) – übervorteile. Und letztlich die Neoliberalisierung die Ausbeutung der Dritten Welt noch einmal forciert worden sei, Europa aber die damit verbundenen Fluchtursachen nicht nur übersehe, sondern gar verschlimmere.
Vernichtender „Freihandel“, die Auswirkungen von „Strukturreformen“ und die europäische Doppelzüngigkeit
Feyder klärt darüber auf „Wie vernichtend Freihandel sein kann“ (S. 37). Von alldem haben wir schon einmal irgendwo anders gehört oder gelesen. Etwa von den „EU-Milchpulverexporten zu Lasten armer lokaler Bauern“ (s. 38 unten) in der Dritten Welt, das neben den „berühmten“ Hähnchenfuß-Exporten und der Lieferung anderer Abfallprodukte aus Europa nach Afrika (von der EU hoch subventioniert!) nur ein Beispiel von vielen anderen ist, wie ungerecht es zugeht. In Bezug auf den „Krisenherd Mali: Zwischen Terrorbekämpfung und europäischer Doppelzüngigkeit“ (S. 45) weist der Autor auch auf den Auswirkungen von „Armut und Kriminalität“ (S. 47) hin. Nicht zuletzt, lesen wir, führten Strukturreformen auf Empfehlung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den betroffenen Ländern zum Niedergang, Denn meist werde ihnen „empfohlen“ die Staatsausgaben zu senken (mehr zum Thema hier von mir), wovon die Ärmsten am härtesten betroffen sind.
Durchaus sinnvolle Vorschläge zur Beendigung des Hungers. Die Umsetzung ist unbefriedigend
Jean Feyder lässt nicht unerwähnt, dass des durchaus sinnvolle Vorschläge zur Beendigung des Hungers (S. 52) und zur Beseitigung von Armut gibt, aber es zumeist an unsicherer Finanzierung scheitere. Das macht der Autor schon allein daran klar, dass sich die reichen Länder bereits seit Jahrzehnten verpflichtet hätten ihre Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent ihres Bruttosozialeinkommens zu erhöhen, jedoch mit Schweden, Norwegen, Dänemark, Luxemburg und das Vereinigte Königreich immer nur fünf Staaten dieses Ziel erreichten.. Beschämend sei, „dass Staaten wie Deutschland oder Frankreich immer nur etwa 0,4 Prozent“ aufbrächten.
Land Grabbing, Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat und Verflechtungen zwischen Industrie und Politik
Etwa am Beispiel Äthiopien beschreibt Feyder die schlimmen Folgen von auch andernorts (unterdessen sogar bei uns z.B. in Brandenburg) um sich greifendem Land Grabbing (S. 67). Des Weiteren nimmt er ab Seite 67 in „Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ das „fragwürdige CETA-Abkommen in den Fokus (hier mehr auf meinem Blog). Er kritisiert das unsägliche Diktat der EU gegenüber Griechenland ob seiner gravierenden Folgen für die griechische Bevölkerung (S. 90), thematisiert den „Luxleaks-Skandal und den Prozess gegen die Whistleblower“ Antoine Deltour und Raphael Halet, mahnt dringend einen Schutz von Whistleblowern an (S. 92). Auch er prangert den Umgang mit Glyphosat und die Interessenverflechtungen von Konzernen und Politik in diesem Zusammenhang an.
Geschichte, die negativ nachwirkt. Die Fehler von Gestern und die Konflikte von heute
Wie ich finde, ein wichtiges und empfehlenswertes Kapitel ist das dritte im Buch. „Krieg, Unterdrückung und Terror“ und das Unterkapitel „Kurzer Geschichtsrückblick: Der Verrat an den Arabern“ (ab Seite 124)
Nicht zuletzt im Hinblick auf den Syrien-Konflikt ist es m.E. unerlässlich diesem Kapitel eine hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Es beginnt mit der Erinnerung an die schändliche Aufwiegelung der Araber durch Lawrence von Arabien, setzt sich fort dem Hinweis auf das nicht weniger schändliche Abkommen, das der britische Diplomat Mark Sykes und der französische Generalkonsul in Beirut, Francois Georges-Picot, ausgehandelt hatten, „die sogenannten Sykes-Picot-Verträge“ (1916).
Der geheime Inhalt wurde 1917durch die sowjetische Tageszeitung „Pravda“ veröffentlicht. Diese Verträge hätten bei den Arabern „ein Gefühl der Ohnmacht und der Wut“ darüber ausgelöst, „immer wieder zum Spielball fremder Interessen zu werden“. Was sich bis heute hinzieht, wie wir sehen. Auch die Kurden, denen damals ursprünglich ein eigener Staat versprochen worden war, wurden hinters Licht geführt und somit schwer und nachhaltig enttäuscht.
Schließlich kommt Feyder noch zur Balfour-Deklaration, worin sich die britische Regierung seinerzeit verpflichtetete dem jüdischen Volk in Palästina eine nationale Heimstätte zu ermöglichen. Die heute weiter schwelenden bzw. neu in Szene gesetzten Konflikte speisen sich aus den damaligen schweren Fehlern westlicher Staaten. Die späteren „Strategiefehler des Westens“ und die Kriege in Afghanistan, im Irak und Libyen, so Jean Feyder auf Seite 127, haben nicht unwesentlich zur Entstehung des sogenannten Islamischen Staates geführt.
Dem Chaos in Libyen und dem israelisch-palästinensischen Konflikt (S. 130) widmet der Autor große Aufmerksamkeit. Feyder bedient sich keiner Doppelmoral, wie der Westen, indem er unumwunden benennt was ist:
„Seit 40 Jahren verletzt Israel ungehindert das internationale Recht, indem es ständig neue Siedlungen baut, den Palästinensern somit immer mehr den Zugang zu Land und zu Wasser nimmt und ihnen eine unerbittliche und erniedrigende Besatzung aufdrängt.“
Europa und Amerika verurteilten zwar was dort geschehe – jedoch ohne dem Konsequenzen folgen zu lassen. Im Gegensatz dazu seien gegen Russland „sofort wirtschaftliche Sanktionen wegen der Verletzungen des internationalen Rechtes auf der Krim und der Ostukraine“ verhängt worden. So viel zur Doppelmoral des Westens.
Ohne Wenn und Aber ist auch für Feyder „Die Nakba, ein Verbrechen gegen die Menschheit“ (S. 139). Und mit dem Verweis auf Ilan Pappe und desssen Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, worin er aufzeigte, „wie unter der Führung Ben-Gurions am 10. März 1948 der ‚Plan D‘ fertig gestellt wurde“ eine „systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Gebieten des Landes“ vorbereitet wurde.
Feyder selbst hat Palästina 2014 besucht und zeigt sich im Buch „erschüttert über den rasanten Ausbau der Siedlungen“ im Westjordanland und der flagranten und tagtäglichen Verletzung des Völkerrechts durch Israel.
Islam und Islamismus
Ebenso erhellend befasst sich der Autor mit der Entstehung des Islamismus in Europa (S. 132), mit den Gegensätzen im Koran (S. 136) und dem Thema „Islamisierung oder Säkularisierung“. Wobei mich etwas befremdete, dass Feyder ausgerechnet die niederländisch-US-amerikanische Politikerin Ayaan Hirsi Ali als Beispiele heranzieht, die für eine „weitgreifende muslimische Reformation“ eintrete, weil sie hinter islamistischen Gewaltakten eine Ideologie sehe, die im Islam selbst verwurzelt sei, wie sie in ihrem Buch „Reformiert euch!“ behauptet, aus welchem Feyder zitiert.
Noch fragwürdiger ist m.E. der Verweis Feyders auf den deutsch-ägyptischen Politikwissenschaftler und Publizisten Hamed Abdel-Samad und dessen Buch „Der islamische Faschismus“, wonach „das Phänomen des Islamismus nicht vom Islam getrennt werden“ könne. Das Konzept des Dschihadismus ginge, so Samad, gar auf den Propheten Mohammed zurück (S. 137).
So, meine ich, kann ja nur einer schreiben, der den Koran und den Islam nicht aus dem Kontext seines Entstehens heraus betrachtet. Gewiss ist Kritik am Islam bzw. dessen Instrumentalisierung durch die Politik vonnöten und auch die von einigen Kritikern geforderte Trennung von Staat und Religion wünschenswert. Nur ob eine wie auch immer geartete Reformation des Islam durch Figuren wie Samad oder Ali bewirkt werden kann – die mit ihren Äußerungen mehr spalten als versöhnen – darf wohl getrost bezweifelt werden
Jean Feyder ist ein kenntnisreicher Autor
Jean Feyder hat als internationale anerkannter Experte für Entwicklungsfragen und langjähriger Vertreter Luxemburgs bei den Vereinten Nationen in Genf viele Reisen in verschiedene Regionen der Welt unternehmen dürfen und dabei jede Menge Kenntnis über Probleme, Nöte dort aber auch hoffnungsvoll stimmende Entwicklungen erhalten.
Zweiter Teil des Buches: „Eine andere Welt ist möglich“
Im zweiten Teil des Buches, ab Kapitel 4 „Eine andere Welt ist möglich“ (S. 168), schreibt Jean Feyder über positive Beispiele in diesem Sinne. Etwa über die „Ernährungssouveränität im Baskenland und im Piemont“ und die interessante, vielversprechende Projekte „Agroökologie: Sinn und Entfaltung eines vieldimensionalen Konzeptes“ (S. 175) in Frankreich, Afrika und den Philippinen.
Und wohltuend differenziert, unaufgeregt und sachlich berichtet Feyder ab Seite 186 über „Kuba und das Erbe Fidel Castros“. Und die Erfolge des Landes auf dem Gebiet der Bildung und hervorragenden Gesundheitswesens. Nicht unerwähnt bleiben die terroristischen Tätigkeiten der USA gegen Kuba, viele Tote und „bedeutende Wirtschaftsschäden angerichtet haben“ und die Embargopolitik der USA gegen das Land, ohne die die Politik Havannas nicht verstanden werden kann. Jean Feyder (S. 194):
„Die Geschichte hat gezeigt, dass Unabhängigkeit vom amerikanischen Goliath tatsächlich möglich ist. Der kubanische David leistete langen und schweren Widerstand gegen die Einflussnahme und konnte sich selbst nach dem Verschwinden der Schutzmacht Sowjetunion behaupten.“
Im Unterkapitel – Duterte: Hoffnungsträger für die Armen?“ (S. 207) scheint Präsident Rodrigo Dutertes politisches Tun ambivalent auf. Zum einen fielen seinem Kampf gegen Kriminalität und Drogen tausende Menschen zum Opfer. Andererseits habe dieser, schreibt Feyder, „Maßnahmen gegen die Diskriminierung einheimischer Völker, Homosexueller, von Muslimen und Behinderten“ getroffen. Feyder: „Duterte scheint es ernst zu meinen mit seiner sozialen Agenda.“
Das Engagement von Papst Franziskus, der bestehende Weltordnung in Frage stellt, für eine andere Welt, die auch er für möglich hält, begrüßt Jean Feyder ausdrücklich.
Ebenso würdigt Feyder den „Einsatz für eine strukturelle Bekämpfung der Armut“ (ab S. 25) seitens des einstigen Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez.
Krisenzeiten als Chance
In seinen „Schlussfolgerungen“ (ab S. 237) verweist Jean Feyder auf Artikel 1 der Menschenrechtserklärung:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geister der Brüderlichkeit begegnen.“
Weiterhin benennt der Autor die Artikel 2, 3 und 25 als wichtig (hier nachzulesen).
Feyder zeigt sich darin sicher: „Europa muss endlich dem Neoliberalismus im Finanz- und Handelsbereich eine klare Absage erteilen.“ Ich frage: Warum nur dort? Gehört nicht der Neoliberalismus als Ideologie in Gänze in die Tonne?!
Und weiter schreibt Jean Feyder:
„Der Staat hat prioritär die Interessen der Gesellschaft durchzusetzen, nicht die der Konzerne.“
Der Autor erwähnt die von Christian Felber (Attac-Mitbegründer in Österreich) entwickelte Gemeinwohl-Ökonomie positiv, die in vielen Ländern immer mehr Beachtung fände.
Und, schreibt Feyder:
„Der partizipativen Demokratie wird zu neuem Leben verholfen entsprechend Artikel 21 der Menschenrechtserklärung, nach dem ‚der Wille des Volkes die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt bildet.“
Um auf die Krisen zurückzukommen, zeigt sich Jean Feyder, sein vielfältig informatives Buch abschließend, optimistisch:
„Krisenzeiten bieten Gelegenheit, die bestehende kapitalistische Weltordnung, Individualismus und Konsumismus mehr denn je in Frage zu stellen. Zugleich vergrößert sich von Tag zu Tag die Zahl und Vielfalt von alternativen Gesellschaftsmodellen und -praktiken. Noch nie haben sich so viele Menschen für eine andere Welt engagiert. Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, gegen ungerechte Gesellschaftsstrukturen, Empathie, Solidarität mit den Mitmenschen in Nord und Süd und mit den Unterdrückten zählen zu den höchsten Werten in unserer Gesellschaft und sind eine Bereicherung für jeden, der sich dazu bekennt und in seinem tagtäglichen Leben praktiziert.“
Der Autor
Jean Feyder. Foto: Westend Verlag
Jean Feyder war Direktor für Entwicklungszusammenarbeit beim Außenministerium in Luxemburg und ständiger Vertreter Luxemburgs bei der WTO in Genf . Seit dem Ende seiner diplomatischen Karriere 2012 schreibt er zu den Themen Ernährungsproblematik, Welthandel und Entwicklungspolitik unter anderem für die Wochenzeitschrift Le Jeudi und ist gefragter Gesprächspartner etwa in ZDF und Arte. Zuletzt erschien von ihm „Mordshunger“ (Westend 2015).
Botschafterin Dr. Khouloud Daibes während eines Vortrags in Dortmund. Fotos (2): C. Stille
Botschafterin Dr. Khouloud Daibes der Diplomatischen Vertretung Palästinas in Deutschland hat via einer Pressemeldung (23.5.2017) („In Jerusalem leben 40% der Bevölkerung unter Besatzung“) ihre Besorgnis betreffs des Mottos des heute in München stattfindenden Israel-Tages kundgetan.
Sie schreibt:
„Mit großer Sorge sehe ich das Motto „50 Jahre Wiedervereinigung Jerusalem“ des Israel-Tages am morgigen Mittwoch (24.05.) in München. Dies habe ich in meinem Briefen an den Oberbürgermeister Dieter Reiter und SPD-Parteivorstand Martin Schulz zum Ausdruck gebracht.
Die Stadt Jerusalem ist Teil des von Israel im Juni 1967 besetzten Gebietes. Israels Anspruch auf Ost-Jerusalem als „ungeteilte Hauptstadt Israels“ wird daher völlig zu recht von der internationalen Gemeinschaft, einschließlich den Vereinten Nationen (Res. 242, 252, 476, 2334), der USA und der Europäischen Union nicht anerkannt. In Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der Prinzipienerklärung unterliegt ganz Jerusalem, und nicht nur Ost-Jerusalem, den Endstatusverhandlungen. (…)“
Und die Botschafterin schließt ihr Statement folgendermaßen ab:
„Es ist an der Zeit, die 50-jährige Besatzung Palästinas zu beenden und die Zwei-Staaten-Lösung, die nach Auffassung der Bundesregierung die einzige Option zur Erlangung eines Friedens ist, umzusetzen. Damit solche an den Realitäten vorbeiführenden verbalen Fehltritte, wie das Motto des Israel-Tages in München nicht immer wieder Klärungsbedarf hervorrufen, ist die Bundesregierung aufgefordert, ihre offizielle Haltung zum Status von Jerusalem in München unmissverständlich deutlich zu machen.“
Referierte in Dortmund: Ahmad Mansour; Fotos: Claus Stille
Rappelvoll war der Goße Saal der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund am vergangenen Donnerstag. Personenschützer standen parat. Leider konnten in Ermangelung zusätzlicher Plätze nicht alle Hörerinnen und Hörer eingelassen werden. Zu Gast war Ahmad Mansour aus Berlin. Er sprach zum Thema „Antisemitismus unter Muslimen: Woher kommt der Hass?“
Der arabische Israeli Ahmad Mansour ist u.a. Mitglied der deutschen Islamkonferenz gewesen. Der Diplompsychologe und Autor berät in Berlin zivilgesellschaftliche Initiativen im Umgang mit der Radikalisierung und dem Antisemitismus bei Muslimen.
Seit 2004 lebt er in Deutschland.
Bevor Mansour zu seiner Lebensgeschichte kam, stellte er klar – wohl um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Antisemitismus ist ein „herkunftsübergreifendes Phänomen“ und „kein speziell muslimisches Problem“.
Hintergründe und Leben
Ahmad Mansours Vater noch war 1946 in Palästina, Tira, geboren worden. Im Unabhängigkeitskrieg des jungen Staates Israel gegen arabische Länder. Mansours Oma war mit seinem späteren Vater ständig auf der Flucht. Tira wurde damals täglich bombardiert. Das entstandene Trauma habe er „uns unartikuliert und unausgesprochen weitergegeben“. Ahmad Mansour Grußmutter erzählte ihm alles kurz vor ihrem Tod. Mansour wurde in einer „typisch arabisch-israelischen Familie“ groß.
Heute sind ein Million Araber Teil Israels. Mansour: Größtenteils lebten Juden und Araber friedlich miteinander. In deutschen und europäischen Medien würde jedoch meistens nur über Konflikte berichtet. Das junge Ahmad hatte damit eigentlich nichts zu tun. Zwar habe er gelernt, dass Juden ihre Feinde seien. Der Großvater hatte ihm vom Landraub seitens der jüdischen Israels und von persönlichen wirtschaftlichen Verlusten dadurch erzählt.
Vom gemobbten Streber zum religiösen Mahner und Antisemiten
Eine persönliche Krise erlebte Mansour mit dreizehn Jahren. Er galt in der Schule als Streber und wurde gemobbt. Schließlich traf er einen Imam. Und war begeistert von ihm ausgewählt worden zu sein. Auf der Koranschule lernte Mansour Hocharabisch, erhielt Islamkunde und hörte etwas über Geschichte. Er erwarb Freunde, die in nicht mobbten. Er bekam Aufgaben, Missionen und erhielt Orientierung. Die Schulkameraden, die ihn früher anfeindeten hätten auf einmal aufgehorcht und gar Angst vor ihm gehabt, weil er nun der religiöse Mahner war. Plötzlich konnte er muslimische Schwestern wegen zu enger Jeans, zu offen getragener Haare kritisieren. Oder die Brüder wegen des Rauchens ermahnen – weil all das haram ist. Der Antisemitismus, erinnert sich Ahamad Mansour sei geblieben. Aus dem Islamunterricht wurde eine Ideologie des Hasses. Genutzt habe man die Religion, um eine Ideologie zu machen. Die Juden sollten nicht dafür gehasst werden, weil sie das Land der Palästinenser geraubt hatten, sondern „weil sie von Gott verflucht sind“. Die Verse des Koran seien nicht kritisch und im „ihrem lokal-historischen Kontext“ betrachtet, sondern verallgemeinert worden. Auf diese Weise lernte Ahmad Mansour: Juden sind unsere Feinde. Sie wollen den Islam bekämpfen und die Welt beherrschen. Sogleich merkte Mansour aber an: Niemand solle nun denken, dass diese Denkweise keinesfalls von allen Araber oder allen Muslimen gepflegt werde.
Fünf Jahre seines Lebens verbrachte Mansour so. Dann ging er zum Psychologiestudium nach in das westlich geprägte Tel Aviv.
Warum Ahmad Mansour Psychologie studieren wollte
Jede dritte Israeli habe bereits einen Krieg erlebt. Sein Vater gar dreißig in seinem Leben. Ahmad Mansour sagte, er habe damals Glück gehabt: bis er vierzehn Jahre alt war, blieb er von Kriegen verschont. Erst als Saddam Hussein Kuweit eroberte, änderte sich das. Der Westen hatte dem irakischen Diktator ein Ultimatum für den Fall, wenn er nicht Kuweit verlasse, gesetzt. Hussein seinerseits drohte mit einem Angriff auf Israel. In Mansours Dorf verteilten israelischen Soldaten Gasmasken. Das Schlafzimmer musste gegen eventuelle Chemiewaffenangriffe abgedichtet werden. Mansours Schule schloss. Im Januar 1991 um zwei Uhr nachts habe man Explosionen gehört. Sirenen gingen. Die Gasmasken wurden aufgesetzt. Die Familie versammelte sich im abgedichteten Zimmer. „Dann kam Stille“, so Ahmad Mansour. Minuten später hörte man die Nachbarn schreien. „Ich dachte, das ist der Tod.“ Aber nein: Es seien die Nachbarn gewesen. Die feierten auf den Dächern ihrer Häuser. „Weil sie endlich erleben durften, dass ein arabischer Führer in der Lage war, Israel anzugreifen.“ Den Hass der Palästinenser habe er aus ihrer Geschichte heraus verstehen können. Aber die Nachbar seien die selben Personen gewesen, die sich in den Supermärkten um die letzte Thunfischdose gestritten hatten. Auch sie hatten Gasmasken. Und auf einmal interessierten sie nicht die vermeintlichen Chemiewaffen, sondern feierten den Angriff?! Obwohl Mansour damals sehr antisemitisch gewesen sei, habe er in dem Moment nicht verstanden, „wieso Menschen in der Lage sind, Angst zu neutralisieren, kleinzuschreiben“, des Hasses wegen. Der Grund dafür sich für ein Psychologiestudium zu entscheiden.
In nicht einmal zwei Tagen fand Mansour an der Uni jüdische Freunde fürs Leben
1996 trat er sein Studium an der Universität Tel Aviv an. In der, wie damals meinte, „vom Teufel besessenen Stadt“ mit freizügig gekleideten Frauen und Alkohol trinkenden Menschen – suchte aber fand er keinen einzigen arabischen Studenten, der mit ihm Psychologie studieren wollte. Mansour: „Ich war alleine unter Juden. Unter Feinden!“. Schnell habe er allerdings gemerkt, es waren keine Feinde. Sondern Menschen wie alle anderen. Sein Weltbild begann zu wanken. Ahmad Mansour fand jüdische Freunde fürs Leben. Nicht einmal zwei Tage habe das gedauert. Mit einigen dieser Freunde steht der mittlerweile in Deutschland lebende Mansour noch heute in Kontakt. Er bekannte Glück gehabt zu haben in den Jahren der Hoffnung studieren gekonnt zu haben. Das Oslo-Abkommen, Friedensabkommen mit Jordanien, Arafat kehrte aus dem Exil zurück – ein Frieden zwischen Israel und den Palästinensern schien möglich. Heute ist die Realität eine andere. Aber Mansour schränkte ein: Auch bei heutigen Besuchen in Israel erlebe er, dass Juden und Araber in seinem Geburtsland durchaus friedlich und in Koexistenz leben können. Vor drei Jahren sei er das erste Mal mit seiner Frau in Israel gewesen. Diese sei überrascht gewesen, weil sie dort auf ein ganz anderes Israel-Bild traf, als dies, was die Medien hierzulande im Allgemeinen so vermittelten. Was nicht bedeute, dass dort alles super laufe, dass da nicht Menschen auch Unrecht getan werde.
Der Weggang nach Berlin nach einem schlimmen Erweckungserlebnis
Im Jahr 2014, erzählte Ahmad Mansour, habe er erstmals erlebt wie groß der Hass sein kann. Mit dem Lesen von Weltliteratur wuchsen die Zweifel an dem, was sein Imam ihm früher vermittelt hatte. In den Jahren da Israels Premier Yitzhak Rabin ermordet wurde und die zweite Intifada stattfand und die Hoffnung auf Frieden schwand, arbeitete Mansour in Israel. Ein Bus, der Linie, die er täglich benutzte wurde in die Luft gesprengt und ebenfalls ein Café, das er oft besuchte traf ein Anschlag. Dann ein schlimmes persönliches Erlebnis auf einer Autobahn: Ende 2003 fuhr er auf einer Autobahn in Tel Aviv. Wie immer war Stau. Mansour wartete an der Ampel auf Grün. Plötzlich stiegen Menschen aus ihren Autos und liefen in die entgegengesetzte Richtung davon. Aus den Augenwinkeln sah er, dass „ein Palästinenser, eine Zigarette rauchend, mit einer Kalaschnikow“ auf Menschen schießt. Er wird von einem Soldaten erschossen. Ein Erweckungserlebnis für Ahmad Mansour: „Das ist nicht mein Krieg, nicht das Leben“, das ich führen wollte, sagte er sich da. Er kündigte die Arbeit. Ein paar Wochen später war er in Berlin.
Dort lernte er großartige Menschen, Araber und andere, die ihm bei den ersten Schritten in der Stadt halfen. Mansour berichtet „von sehr gut gebildeten Menschen“, die er in der deutschen Hauptstadt traf.
Vom Hass eingeholt
Leider aber sei auch auf Menschen mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund getroffen, die genau diesen Hass lebten, dem er hatte fliehen wollen. „Frauenunterdrückung, Antisemitismus der übelsten Art, gar Verehrung von Hitler“ habe er angetroffen. Und „Schwarzweißbilder“ betreffs des Nahostkonflikt wurden gemacht. Zwei Semester habe es an der Humboldt – Universität gedauert, bis jemand mit Ahmad Mansour gesprochen hat.
Pädagogen sind mit dem Antisemitismus überfordert. Konzepte fehlten
Im Jahr 2007 gründete Mansour das HEROES-Projekt gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Themen am Anfang waren Gleichberechtigung, Frauenrechte, Jungfräulichkeit und Sexualität. Jugendliche zu erreichen, die aus patriarchale Verhältnissen kommen, das stand im Vordergrund. Sie auszubilden und zu befähigen, Altersgenossen als Vorbild zu dienen, war ein Ziel. Die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen, fand man heraus, waren hinsichtlich des Antisemitismus unter Jugendlichen überfordert: „Pädagogische Konzepte gab es nicht.“ HEROES probierte aus, welche zu erarbeiten. Zusammen mit den Jugendlichen sah man Filme, die sich mit der Schwarzweißsicht auf den Nahostkonflikt befassten. Wissen wurde vermittelt. Über die Juden und Israel. Um Vorurteile abzubauen. Der Musiker Hellmut Stern, ein Holocaust-Überlebender, wurde eingeladen. Über vier Stunden habe der „mit den Jungs, die sonst nur fünfundvierzig Minuten aushalten, am Stück diskutiert. Nie zuvor hatten sie einen Juden persönlich gesprochen, den sie nun in der Person von Stern als „menschlich“ erlebten. Da, so Mansour, habe er verstanden, „dass wir vor allem in den Schulen einen Riesenfehler machen“. Man habe es schließlich mit Jugendlichen zu tun, die in der dritten Generation in Deutschland leben. „Sie haben unsere Schulen besucht. Und trotzdem waren wir nicht in der Lage ihnen etwas zu vermitteln“, gab Mansour zu bedenken, „was das Thema Antisemitismus angeht“. Der Antisemitismus der Jugendlichen speise sich „aus dem Nahostkonflikt“ und beziehe Nahrung „aus Verschwörungstheorien“. Man gehe zurück bis in die Französische Revolution und behaupte Freimaurer und die ihrer Meinung nach weiter bestehende Illuminatiorden hätten „nun, nachdem sie die das Christentum entmachtet haben, auch den Islam“ entmachten. Sie hätten den Staat Israel gegründet. Von dem gehe alles Übel in der Welt aus.
„Das sind deutsche Zustände“
Dass diese Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland entstehen können, erklärte Mansour damit, dass der Koran nicht „im lokal-historischen Kontext“ gelesen und verstanden werde. Was unbedingt auch in der Verantwortung von Imamen liege, die dies – Ausnahmen bestätigten die Regel – nicht vermittelten. Als Mansour den Antisemitismus unter Muslimen vor einiger Zeit in der Deutschen Islamkonferenz angesprochen habe, habe man ihm gesagt: „Das gibt es bei uns nicht.“ Zwei Stunden später sei der Berliner Rabbiner Daniel Alter von drei mutmaßlich arabischstämmigen Jugendlichen in Berlin-Friedenau zusammengeschlagen worden, „weil er Jude war und Kippa trug“. Eine Lehrerin in Hamburg sei kürzlich nach einem Vortrag in Hamburg zu ihm gekommen und erzählt, dass sie muslimische Jugendliche ablehnten, seit sie einmal vergessen habe ihr umgehängten Davidsstern zu verbergen. Ahmad Mansour: „Das sind deutsche Zustände.“ Er verlangte für das Thema Antisemitismus eine breite gesellschaftliche Debatte und diesbezüglich größere Anstrengungen seitens der Kultusministerien.
Der Referent nannte aber auch ein positives Beispiel: In Duisburg hat Mansour vor mehreren Jahren mit Jugendlichen gearbeitet. Zunächst hassten sie ihn, weil er Israel aus seinen Erlebnissen anders schilderte, das der von Vorurteilen geprägten Sicht zuwider lief. Dann jedoch fuhr man zusammen nach Auschwitz. Diese Jugendliche arbeiten inzwischen selber an Schulen und leisten Aufklärungsarbeit. Ihre Schulleiterin hatte sich damals gegen die Auschwitz-Fahrt ausgesprochen. Wohl aus Angst, sie könnten dort irgendetwas tun, was problematisch wäre. Diese Jugendlichen seien nie als Teil Deutschlands wahrgenommen worden. Ein großer Fehler. Vielmehr müsse man viel Geld in die Hand nehmen, pädagogische Konzepte entwickeln und Lehrer schon während der Ausbildung dazu befähigen mit schwierigen, auch aktuell-politischen, Themen umzugehen. Im Grunde können es gelingen, die Jugendlichen über deren Lehrer zu begeistern und zu eignen Gedanken zu befähigen. „Erreichen wir diese Jugendliche nicht in der Schule, erreichen wir sie nie“, weiß Ahmad Mansour:
„Tun wir das nicht, tun das andere.“ Wie wir wissen, sind Salafisten und Islamisten oft die besseren Sozialarbeiter.
Wie Islamisten Jugendliche beeinflussen: „Da geht die Post ab!“
Im Anschluss zeigte Ahmad Mansour Videos, die Zeugnis davon ablegten, wie Jugendliche heute mit schwierigen Konflikten umgehen. Unter anderem Rapper, deren Texte alle üblichen gegen Israel, die Juden und die USA gerichteten Vorurteile beinhalten. Überdies existierten einschlägige Seiten in sozialen Netzwerken, die rund eine halbe Million Mitglieder („Killuminati“ auf Facebook) verzeichneten. „Wenn Jugendliche das sehen, da geht die Post ab.“
Ahmad Mansour kritisierte die derzeitige israelische Regierung
Mansour stellte noch einmal klar, dass es ihn nicht darum gehe, ein positives Israel-Bild zu malen. Zum Beispiel finde auch er die israelische Politik der letzten Jahre und die Netanjahu-Regierung kontraproduktiv und nicht in der Lage einen Frieden zwischen Israel und Palästina zu erreichen. Hinter Israel-Kritik, behauptete Mansour, verstecke sich oft Antisemitismus. Er habe etwa bei einer Preisverleihung an ihn durch eine Düsseldorfer Synagoge – wie es in einem jüdischen Gotteshaus üblich ist – eine Kippa getragen. Als Pressefotos damit von ihm auftauchten, habe es gleich geheißen: „Verräter, Zionist, du hast deine Seele verkauft.“ Dabei, sagte Mansour sei nichts was mit Israel in Verbindung stehe in dieser Synagoge zu finden gewesen: „Diese Synagoge hat nichts mit Israel zu tun. Da waren deutsche Juden in einer deutschen Synagoge.“
Den Koran ins Heute holen. Politiker ahnungslos
Islamische Radikalisierung, das erlebe Mansour tagtäglich in Deutschland. Dem entgegen zu wirken, das sei ein nationale, humanistische und demokratische Angelegenheit. „Wir verschlafen das“, obwohl es „punktuell gute Projekte gibt“. Eine innerislamische Debatte müsse her. Es brauche Vorbilder. Kritische Fragen müssten gestellt werden. Der Koran müsse ins Heute geholt werden. Auch die Politik sollte sozusagen endlich in die Puschen kommen. Kanzleramtsminister Peter Altmeier habe ihm bei „Anne Will“ entgegnet, eine islamische Radikalisierung nicht ausmachen zu können. Mansour: „Wo leben diese Politiker? Auf einem anderen Globus?“
Fragen und Impulse aus dem Publikum
Im Anschluss an den interessanten Vortrag Ahmad Mansours konnten aus dem Publikum heraus Fragen gestellt werden, die ihrerseits nicht minder interessant waren. Impulse gaben etwa ein evangelischer Theologe und ein pensionierter Lehrer. Mansour merkte in einer seiner Antworten an, dass Integration etwa derzeit bei Flüchtlingen nicht ausschließlich damit mit einem Integrationspapier (der CDU) getan sei, dass Arbeit und Sprachvermittlung setze, oder das die SPD das Grundgesetz auf Arabisch übersetzen ließ. Untereinander diskutiert wurde selbst dann noch, als Ahmad Mansour bereits den Saal verlassen hatte. Er musste seinen Zug nach Berlin erreichen.
Fazit
Ahmad Mansour hat sich Mühe gegeben, eine weitgehend als differenziert zu bezeichnende Betrachtung des Themas des Abends abzuliefern. Die freilich zwangsläufig vom eignen Lebensweg gefärbt sein musste. Eine Besucherin kritisierte im Gespräch nach dem Ende des Vortrags den ihrer Ansicht nach etwas einseitigen Blick des Referenten auf den Palästina-Konflikt. Und eine verharmlosende, bzw. fehlende Beschreibung der Situation der Palästinenser und deren nicht hinzunehmende oft schikanöse Behandlung seitens israelische Sicherheitsorgane. Sowie das Beschweigen der Angriffe Israels auf Gaza und deren verheerenden Auswirkungen als unverhältnismäßige Reaktion auf den Raketenbeschuss der Hamas auf israelische Ortschaften.
Ahmad Mansour gab den Besucherinnen und Besuchern seines Vortrags in der Auslandsgesellschaft eine hoffnungsvolle Aussicht mit nach Hause: Wenn wir muslimische Jugendliche, wie die aus anderen Kulturkreisen, endlich als „unsere Jugendlichen“ begriffen und auch als solche behandelten, könnte die Gesellschaft insgesamt davon profitieren.
Der Geschäftsführer des neuen deutschland, Olaf Koppe, begrüßt die Mittelostkorrespondentin Karin Leukefeld; Foto: C.-D.Stille
Durch die Ukraine- und Krimkrise ist ein anderer Konfliktherd, welcher seit Jahren schwelt und viele Opfer gefordert hat und weiter fordert, sowie enorme Zerstörungen von Infrastruktur und historischen Orten zur Folge hat – nämlich Syrien, nahezu aus dem Fokus der Medien verschwunden. Etwa 6 Millionen Flüchtlinge befinden sich in Bewegung, 140.000 tote Männer und Kinder sind zu beklagen. Was wissen wir aber wirklich über Syrien und die Ursachen dieses Konflikten, den die Medien Bürgerkrieg nennen? Vielen von uns dürfte gar nicht bekannt bzw. bewußt sein, dass sich die über Syrien berichtenden Medien vom „Hörensagen“bedienen?
Karin Leukefeld ist eine profunde Kennerin Syriens
Am Montag dieser Woche bestand nun – und zwar in Herne, Nordrhein-Westfalen, eine ziemlich einmalige Gelegenheit, aus dem Munde einer profunden Kennerin Syriens nähere Informationen zum Konflikt erhalten.
Zu verdanken war das dem „neuen deutschland“ im Verein mit einer örtlichen Friedensinitiative. Die sozialistische Tageszeitung hatte zu einem Lesertreffen ins „Zille“ im Kulturzentrum Herne geladen. Der Abend stand unter dem Titel „Syrien – Hinter den Schlagzeilen“. Gast des Lesertreffs war eine Journalisten, die sich auf syrischem Terrain bestens auskennt.
Angekündigt von Edith Grams von der Herner Friedensinitiative und begrüßt von nd-Geschäftsführer Olaf Koppe, sprach Karin Leukefeld im gut gefüllten Saal des „Zille“ über die Situation im Nahen Osten und speziell in Syrien.
Ein regionaler Konflikt hat sich auf den lokalen draufgesetzt
Leukefeld erinnerte daran, dass im Falle Syriens – nach dem sogenannten „Arabischen Frühling“ – andere Länder, „andere Interessenten“, dort eingegriffen hätten: „Wir haben einen regionalen Konflikt, der sich auf den lokalen Konflikt draufgesetzt hat.“ Protagonisten seien die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien, aber auch Israel. Zu den „regionalen Interessenten“, die aber wiederum Konkurrenten untereinander seien, komme, dass man in Syrien einen „internationalen Konflikt“ habe. Nicht etwa weil Syrien besonders reich – etwa an Rohstoffen – wäre. Sondern deshalb, weil das Land ein wichtige geostrategische Lage habe.
Leukefeld: „Und deshalb haben wir einen Konflikt zwischen Ost und West, zwischen Russland und China und den BRICS-Staaten, in diesem Fall Indien und Iran. Und auf der anderen Seite USA und Europa. Und die Golfstaaten.“ Dazu käme eine massive religiöse Aufheizung des Konfliktes. Uns im Westen vermittele sich der Eindruck, es handele sich um einen „innermuslimischen“ Kampf: den Kampf zwischen Schiiten gegen Sunniten. Alle diese Konflikte seien nach drei Jahren inzwischen „so miteinander verwoben, dass es unglaublich schwierig geworden ist, dort eine Lösung herbeizuführen.“
Karin Leukefeld: „Washington Moskau müssen sich einigen, dass sich ihre regionalen Partner zurückziehen“
Die syrische Opposition – der Konflikt hatte ja zunächst im Lande begonnen – meine inzwischen, der Konflikt müsse international gelöst werden. „Washington Moskau müssen sich einigen, dass sich ihre regionalen Partner zurückziehen“, so Karin Leukefeld.
Historischer Blick auf den Ersten Weltkrieg und den Mittleren Osten
Die Journalistin verwies mit Blick auf die derzeitige Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs darauf, dass dieser „auch in dieser Region des Mittleren Ostens“ begann. Involviert waren das Osmanische Reich, verbündet mit dem kaiserlichen Deutschland, sowie die Franzosen und die Briten. Nach dem Zerbrechen des Osmanischen Reiches wurden neue Grenzen gezogen. Briten und Franzosen hätten sich damals getroffen, um die jeweiligen Interessensphären auszuloten.
Willkürliche Grenzziehungen – Konfliktpotential für die Zukunft
Und wie so oft (z.B. in Afrika) stehen heutige Konflikte im Zusammenhang mit willkürlichen Grenzziehungen von einst. Gefragt worden sei die betroffene Bevölkerung 1919 nur ein einziges Mal, was sie wolle. Einigkeit bestand darin, dass Syrien und Palästina nicht aufgetrennt werden soll. Und nicht Syrien nicht unter französisches Mandat komme. Einen Sonderstatus für die Juden sollte es nicht geben. Darin einig waren sich Christen, Muslime und Juden. Friedenskonferenzen in Paris und in Lousanne, daran erinnerte Karin Leukefeld, haben letztendlich „exakt das Gegenteil“ dessen beschlossen.
Syrien wurde in der Folge mehrfach geteilt und schließlich Frankreich zugesprochen.
Man kann und sollte das alles nachlesen. Nur so sind heutige Konflikte zu verstehen. Gut zu wissen: Erst 1946 hat sich Frankreich aus Syrien zurückgezogen. Ein Nationalstaat musste sich entwickeln.
Syrien hat seine Bevölkerung immer ernähren können
Das Syrien vor dem Konflikt ist nach Karin Leukefelds Einschätzung ein relativ wohlhabendes Land gewesen. Es gibt kaum Öl. Gas ist erst vor Kurzem vor der Küste gefunden worden. Wasser ist der eigentliche Reichtum des Landes. Ein fruchtbares Land. Syrien sei ein Agrarstaat gewesen, der seine Bevölkerung immer hat ernähren können. Wasser ist die Voraussetzung für Zivilisation. Die ältesten Zivilisationen, die wir kennen, hätten dort ihren Ausgang genommen und das dem Wasser zu verdanken. Leukefeld: Nicht zuletzt habe auch Europa von diesen Zivilisationen profitiert. Doch das Wasser kommt via Euphrat und Tigris aus der Türkei. Wir erinnern uns: in der Vergangenheit gab es in der Vergangenheit häufig Konflikte zwischen Ankara und Damaskus. Denn Ankara sitzt sozusagen am Wasserhahn Syriens. Und die Türkei hat das ausgenutzt. Durch das Südost-Anatolien-Projekt und andere türkische Stauddämme wurde der Durchlauf des Wassers ins Nachbarland Syrien immer wieder verringert.
Enormer Verlust für Syrien: Der Golan
Viele von uns dürften vergessen haben oder unterschätzen, was die israelische Besetzung des Golan (nach dem 6-Tage Krieg) für Syrien bis heute für einen enormen Verlust darstellt. Die Golan-Höhen sind nämlich ein sehr fruchtbares Gebiet mit wichtigen Wasserquellen und Reservoirs. Früher ist ganz Palästina von dort versorgt worden. UN-Resolutionen, die verlangen Israel müsse das Land an Syrien zurückgeben muß, werden bis dato ignoriert. Heute sind die Golan-Höhen für Israel ein sehr beliebtes Tourismusgebiet und nachgerade ein Obstgarten paradiesischer Art und zudem Weinanbaugebiet. Karin Leukefeld denkt, viele Menschen die dort Urlaub machten, sich vergnügten, realisierten nicht, dass sie sich eigentlich auf syrischem Boden bewegen.
Die große Landflucht führte zu gesellschaftlichen Spannungen
Heute sei das Wasser knapp geworden. Acht Jahre (2000 – 2008) habe es eine große Trockenheit in Syrien gegeben. Viele zu viele Menschen lebten in Syrien. Südlich von Damaskus gibt es nur ein riesige Basaltwüste.
Die Trockenperiode wiederum hatte eine große Landflucht zur Folge. Um die wenigen Großstädte Syriens sind neue „informelle“, Leukefeld sagte, aber auch vom Staat neugebaute Siedlungen entstanden. Trotz allem: Syrien ist nach wie vor Entwicklungsland. Gesellschaftliche Spannungen entstanden. Nach Leukefelds Einschätzung hat auch die syrische Regierung dieser Situation nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Verdeutlichung: Damaskus (die Kernstadt) hat eine Einwohnerzahl von ca. 1,7 Millionen. Um sie herum gibt es Großstädte und kleinere Städte, wo nochmal etwa doppelt so viele Menschen leben. Die wiederum kämen jeden Tag in die Stadt auf der Suche nach Arbeit.
Der Tod Hafez al-Assads bedeutete eine Zäsur für das Land
Syrien ist eine Brücke zwischen Ost und West, Europa und Asien, zwischen Nord und Süd, zwischen dem Kaukasus und Russland und er arabischen Halbinsel.
Deutlich machte Leukefeld, welch Zäsur nach vielen vorangegangenen Konflikten der Tod des rücksichtlos regierenden syrischen Präsidenten Hafez al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, Baschar al-Assad, im Jahr 2000 für das Land bedeutete. Für Karin Leukefeld ist es unstrittig, dass Syrien ein „ganz autokratischer Staat ist“, wo Menschenrechte mit Füssen getreten würden und Demokratie abwesend sei. F#aglos seien Veränderungen notwendig.
Wie kam Syrien in die schwierige Lage von heute?
Mit einem Blick zurück in die Geschichte und auf die jeweiligen Umstände, wollte Leukefeld das kenntlich machen. Eines irretierte die Zuhörer dabei: Karin Leukefeld erwähnte in ihrem Vortrag, Syrien sei zu Hafez al-Assads Regierungszeit Mitglied des Warschauer Pakts gewesen. Gleichzeitig formulierte die Journalistin richtig, Syrien sei „Mitglied der paktfreien Staaten“ gewesen. Was ja an sich schon im Widerspruch zur vorigen Äußerung darstellte.
Auch mir war eine Zugehörigkeit des Landes zum Bündnis „Warschauer Vertrag“ nicht erinnerlich. Und eine kurze Recherche brachte diesbezüglich auch keine Bestätigung. Allerdings wurde zwischen Syrien und der UdSSR 1980 ein sowjetisch-syrischer Freundschafts- und Kooperationsvertrag abgeschlossen. Zu welchem es, wie manche Quellen vermuten, eine Geheimklausel gab. Womöglich meinte Karin Leukefeld das?
Syrien war immer ein Brückenstaat und Europa gegenüber offen
Nichtsdestotrotz ist richtig, dass Syrien in der Sowjetunion militärisch, wirtschaftlich und kulturell einen engen Bündnispartner hatte. Auf diese Zeit gehen viele binationale Ehen zwischen zwischen Syrern und Russen zurück. Wer hätte es gewusst? Zur russisch-orthodoxen Kirche existieren sehr enge Bindungen, führte die Korrespondentin aus.
Kulturell und wirtschaftlich jedoch sei Syrien immer auch nach Europa geöffnet – eben ein Brückenstaat gewesen.
Rasante gesellschaftliche Veränderungen durch Baschar al-Assad
Präsident Baschar al-Assad hat nach Machtantritt rasante gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg gebracht. Eine neue Verfassung wurde diskutiert. Karin Leukefeld: „Es gab den Damaszener Frühling 2001 und 2002, wo sich Diskussionsforen in der Öffentlichkeit bildeten.“
Immer wieder gab es Rückschläge. Von Anfang an habe es einen enormen Konflikt zwischen dem politisch „völlig unerfahrenen“ Baschar al- Assad (einem bei dessen Amtsantritt 35-jährigen Augenarzt) „und den Protagonisten des syrischen Regimes, Geheimdienste, der Militärs, die ja teilweise schon unter seinem Vater gedient hatten. Und den kleinen Baschar al-Assad noch als Kind, sozusagen aus dem Kindergarten kannten.“
Ein interner Konflikt, „der nicht offen ausgetragen“ worden sei. Dies hätte die Bevölkerung auszubaden gehabt. All das habe einen enormen Gesichtsverlust für Baschar nach sich gezogen. Dennoch habe der Präsident einiges erreicht, beispielsweise „eine Menge Verträge mit der Türkei abgeschlossen und die Visapflicht abgeschafft“. Eine Fünf-Meeres-Strategie stand dahinter: Alle Staaten die an das Kaspische Meer, das Schwarze Meer, das Mittelmeer, das Rote Meer und den Persischen Golf angrenzten und „miteinander verknüpft sind“ sollten durch Handel und wirtschaftliche Entwicklung und politische Abkommen „miteinander in die Lage versetzt werden, sich zu entwickeln“. Also „etwas ähnliches wie die Europäische Union“. Manche habe das letzlich wahrscheinlich überfordert.
Aber bekanntlich hat sich der türkische Premier später aus Eigeninteresse – einem Traum von einem neuen Osmanischen Reich? – anders orientiert.
Änderung der Wirtschaftsform erfolgte vielleicht zu rasant
Besonders einschneidend, betonte Karin Leukefeld, habe sich aber die Änderung der Wirtschaftsform in Syrien – von der sozialistischen Planwirtschaft „auf die soziale Marktwirtschaft“ – gesamtgesellschaftlich ausgewirkt.
Die Märkte waren geöffnet: „Da gab es praktisch kein Halten mehr.“
Internet, Satelitenfernsehen, ein neues Bankenwesen mit Geldautomaten vorher unbekannten Checkkarten wurde „innerhalb kürzester Zeit entwickelt“. Eine rasante, wohl zu rasante Entwicklung.
Zugleich erwartete der Westen von Syrien, dass das Land sich in diese Richtung (die Causa Ukraine läßt grüßen!) entscheiden.
Die USA streben gen Zentralasien
Karin Leukefeld schätzt dazu ein: Der Westen wiederhole immer wieder die gleichen Fehler. Und allen voran die USA, beanspruche Weltmacht Nummer 1 sein und bleiben wolle. Weshalb sie die Kontrolle über die Rohstoffe der Erde müssten. Washington unternehme alles um seinen Einfluss auszudehnen. Klappe das nicht, so verfahre man eben nach dem Motto: Was ich nicht einnehmen kann, destabilisiere ich. So verschärfe man politische Konflikte. Beziehungsweise löse diese aus. Man schaue sich nur die Karte an, bat Karin Leukefeld: Der einzige stabile Staat in der Region sei der Iran. Die USA strebe nach Zentralasien.
Westliche Forderungen nach „humanitären Korridoren“ in Syrien als politisches Druckmittel und Einfallstor für Waffen und Kämpfer?
Syrien sei heute „ein weitgehend zerstörtes Land, in weiten Bereichen ist Krieg“. Es gibt eine Resolution im UN-Sicherheitsrat, wonach alle in Syrien agierenden Parteien aufgefordert werden, humanitäre Hilfe zuzulassen. Auf einer Karte zeigte die Referentin: 15 UN-Organisationen sind im Land aktiv. „Dazu kommen Organisationen des Roten Halbmonds und des Internationalen Kommitees vom Roten Kreuz.“ Syrien hat 13 Provinzen. Überall dort sei die UN vertreten.
Karin Leukefeld fragte, was wohl hinter den Aufrufen in erster Linie an die syrische Regierung stecke, dass sie humanitäre Hilfe zulassen solle. Siebzig Prozent der humanitären Hilfe organisiere die syrische Regierung bzw. syrischen Nichtregierungsorganisationen (es gibt 1400). Als Grund dafür,dass man immer wieder die syrische Regierung für die humanitäre Katastrophe – die es ja wirklich gibt -verantwortlich mache, ist der: Es wird politischer Druck ausübt.
Hilfskonvois haben mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen
Leukefeld führt ein Beispiel dafür an, wie schwer es ist zu helfen. Eine Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes erzählte es ihr: Sie hätten einen Konvoi von 20 bis 40 Lkw mit medizinischen Hilfsgütern, Nahrungsmittel, Decken und Matratzen fertig gemacht. Vor der Abfahrt sind Genehmigungen nötig. Es wird mit der Syrischen Armee geredet. Die geben ihr Okay, allderdings verbunden mit dem Hinweis: da müsse noch mit anderen gesprochen werden. Sie hätten nicht überall Kontrolle. „Die Anderen“, dass sind dann mindestens 17 verschiedene Kampfverbände. Die müsse man erst einmal alle erreichen! Schließlich hatten sie von 16 Kampfverbänden die Genehmigungen. Die siebzehnte Gruppe sah dann, dass sie u.a. Milchprodukte aus Dänemark geladen hatten. „Dänemark“, sagten die dann, „dass sind doch die mit den Mohammed-Karikaturen? Das kommt nicht in Frage. Ihr kommt hier nicht durch!“
Auch die immer wieder geforderten „humanitären Korridore“ haben ihre Haken. Warum ist Damaskus dagegen? Weil Kämpfer und Munition die gleichen Wege gehen, wie Waffen und Munition und es wäre „eine Missachtung der staatlichen Souveränität“.
Forderung muss lauten: Keine Waffen mehr für Kampftruppen
Stattdessen müsse man ja wohl viel eher fordern, dass die Kampftruppen keine Waffen mehr bekommen. Und verlangen, dass Kämpfer, nicht mehr über die Grenze gelassen werden. Die Türkei spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Allein aus Deutschland sind offenbar 300 von Islamisten verführte Jugendliche nach Syrien eingeschleust worden. Und auch aus Syrien geflüchtete junge Menschen werden in der Türkei umgedreht, indem man sie drillt, damit sie „etwas für Land tun“ und sie letztlich als Kämpfer zurückschickt.
„Infam“: Kämpfer kommen über den Golan. Die Weltgemeinschaft tut nichts
Selbst über den Israel besetzten Golan sickerten Kämpfer ein. Das sei „besonders“ infam, meint Leukefeld, weil es ja ein entmilitarisiertes Gebiet sei. Die Syrische Armee darf hier keine Waffen einsetzen. Beobachtet wurde das von der UN und Israel. Karin Leukefeld ist sich sicher, dass der UN-Sicherheitsrat diese ganzen Informationen hat. Leukefeld: „Ich hatte schon 2012 darüber geschrieben.“ Unternommen wurde nichts. Die Staatengemeinschaft schaut zu.
Keinesfalls weiter militärisch agieren
Wie schwierig die Lage auch sei, führte Karin Leukefeld aus, sie zeige: Auf keinen Fall ist ihr militärisch zu begegnen. „Es ist sowieso schon alles aufgeheizt genug.“ Das Land brauche einen Waffenstillstand und die Möglichkeit ihr Land wieder aufzubauen.“
Das Ausmaß der Waffenlieferungen aus Katar, Saudi-Arabien, Jordanien und Kroatien an die Kämpfer wurde durch weitere Ausführungen der Referentin überdeutlich. Die meisten dieser Lieferungen werden per Flugzeuge in die Türkei geliefert und dann von dort nach Syrien geschleust. Beteiligt sind die jeweiligen Luftwaffen. Ein Skandal!
Seymour Hersh: CIA und MI 6 verdeckt in Waffentransporte verstrickt
Gestern sei sein (zunächst auf Englisch) ein sehr interessanter Artikel von Seymour Hersh erschienen. Hersh schreibt, es habe im Januar 2010 eine Vereinbarung gegeben, dass der CIA und der MI 6 die Waffenlieferungen organisieren. „Geld und Hardware kam aus den Staaten.“ Die nötige Infrastruktur für die Waffentransporte wurden ja benötigt. Das sei verdeckt erledigt worden. Karin Leukefeld: Unsere Medien greifen das leider unzureichend auf. Stattdessen vermittele man, es ginge bei den Kämpfen in Syrien um Demokratie und Freiheit.
Kein Bürgerkrieg in Syrien: ein Stellvertreterkrieg
Aus den zunächst nachvollziehbaren Protesten der syrischen Bevölkerung um den „Arabischen Frühling“ herum, ist nach Aufassung Karin Leukefelds ein Stellvertreterkrieg geworden. Deshalb nennt sie den Syrien-Konflikt deshalb auch nicht „Bürgerkrieg“. Die dabei Involvierten vergössen allerdings quasi syrisches Blut für ihre Interessen.
„Ein dramatisches Bild“: Zweite Nakba
Beeindruckend war ein Foto, das in Yarmouk aufgenommen wurde: Eine zerstörte Straße übervoll von Menschen, die nach Hilfsgütern unterwegs zu einem Checkpoint sind. Leukefeld: „Ein dramatisches Bild.“ Und weiter: „Da haben mal 180.000 Menschen gelebt.“ Das Leben boomte dort, die Mieten waren billig. Im Dezember 2012 wurde das „Lager“ (man nennt es so, weil es 1948 das erste Flüchtlingslager für vertriebene Palästinänser in Syrien war), eigentlich ein Stadtteil von Damaskus., „sozusagen von bewaffneten Kämpfern überfallen.“ Leider sei die Hamas daran beteiligt gewesen.
Innerhalb von zwei Tagen seine 160.00 Menschen von dort geflohen. Freunde von Karin Leukefeld, die dort wohnten, nannten diese Vertreibung aus Yarmouk die zweite Nakba. Nakba, so nennen die Palästinenser die Vertreibung aus ihrer Heimat, die furchtbare Katastrophe ihres Volkes.
Man macht Frieden mit dem Feind
Was wäre in Syrien zu tun? Karin Leukefeld: „Man muss unbedingt dafür sorgen, dass dort die Waffen schweigen.“ Und das erste was getan werden muss, ist dafür zur sorgen, dass keine Waffen mehr ins Land kommen!“ Dringend müsse begonnen werden, einen Dialog zu führen. „Einen Dialog zu beginnen. Man macht Frieden mit dem Feind. Und nicht mit seinem Nachbarn.“ Die Genfer Gespräche, seine immerhin ein Anfang gewesen. Die Syrer hätten angefangen einen Dialog zu führen. Lokale Waffenstillstände seien vereinbart.
Es gebe Vereinbarungen zwischen der Armee und lokalen Kämpfern, so dass Familien wieder zurückkehren könnten. Die politsche Opposition in Syrien sei durch durch die Militarisierung des Konfliktes völlig an die Wand gedrückt: „Heute wollen die Leute nicht mehr Demokratie und Freiheit. Sie wollen Waffenstillstand und ihren Alltag irgendwie wieder bewerkstelligen.“ Wahrlich „eine schwierige Lage“, wie Leukefeld ihren Vortrag beschließt.
Fazit
Ein hochinteressanter, spannender Vortrag, in welcher die bedrückende Lage in welcher sich Syrien befindet, eindrucksvoll geschildert und detailreich erklärt wurde. Noch dazu von jemanden wie Karin Leukefeld, die das Land und den Mittleren Osten seit vielen Jahren kennt und Informationen aus erster Hand liefern kann. Deprimierend dabei daran erinnert zu werden, dass es in Syrien 6 Millionen Binnenflüchtlinge gibt. Und dazu noch einmal 4 Millionen Menschen, die das Land verlassen haben. Dazu: 2012 hatte Syrien eine Bevölkerung von 22,4 Millionen.
„Syrien – hinter den Schlagzeilen“ – der Titel der Veranstaltung war gut gewählt. Und die Referentin hat geliefert. Harte Fakten, die verdaut werden wollen. Der Abend in Herne lieferte abermals den Beweis: Was uns die Mainstream-Medien an Informationen über die Situation in Syrien bislang verkauften, war nicht selten – Ausnahmen bestätigen die Regel – einseitig. Und von den Intereressen des Westens beeinflusst. Wie wir ja nun wieder im Falle der Ukraine erleben müssen.
Karin Leukefeld ist es zu danken, dass – wenigstens für die Besucher der gestrigen Veranstaltung – das Thema Syrien, wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Es war nicht zuletzt wegen der Ereignisse in der Ukraine und auf der Krim aus dem Fokus der Medien geraten. Nach ihrem Vortrag fällt es schwer, nur immer vom Assad-Regime zu sprechen oder davon zu hören. Denn das gibt es so ja nicht. Vielmehr hat man es mit einem System mit vielen Knotenpunkten und unterschiedlichen Interessen zutun. Zu denken wäre da an die gleich mehreren Geheimdienste und die Militärs. In der Not halten sie das System zusammen. Weil man wisse: Wenn einer fällt, fällt möglicherweise alles.
Was wird aus Assad? Leukefeld: Er steht sehr unter Druck. Im Juni stehen Präsidentschaftswahlen an. „Wenn er sich frei entscheiden kann, dann macht er lieber seine Augenarztpraxis wieder auf. Er hat aber diese Freiheit nicht mehr zu entscheiden.“ Assad wird also wohl nicht umhin können nochmals zu kandidieren. Leute in Syrien sagen, es wäre besser, wenn Assad weg wäre. Andere meinen, dann würde das Blutbad noch größer. Karin Leukefeld tendiert zur zweiten Meinung.
Hier ein Vortrag von Karin Leukefeld zu Syrien zum Anhören (in leicht gekürzter Form) via „r-mediabase.eu„.