Podiumsdiskussion im Vorfeld des Digitalgipfels der Bundesregierung in Dortmund: „Genossenschaften in der Plattformökonomie. Für mehr Solidarität im digitalen Kapitalismus“

Die Digitalisierung führt zu einem rasanten Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Entwicklung der Plattformökonomie. Dort manifestieren sich auch die sozialen Herausforderungen des digitalen Kapitalismus, der in seiner jetzigen Ausgestaltung in Form eines knallharten Neoliberalismus enorme Machtasymmetrien schafft. Was vor allem den Shareholdern der Monopol-Plattformen, wie Google, Amazon und Facebook, zugutekommt. Vergangenen Donnerstag hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Genossenschaften in der Plattformökonomie. Für mehr Solidarität im digitalen Kapitalismus“ in den Westfälischen Industrieklub nach Dortmund eingeladen. Der Termin war gut gewählt, findet doch nächste Woche der Digitalgipfel der Bundesregierung in Dortmund statt. Schwerpunkt werden dort digitale Plattformen sein.

Von links: Claudia Henke, Dr. Jan-Felix Schrape, Dr. Christian Tribowski, Markus Sauerhammer und Christina Kampmann. Fotos: C. Stille

Wenn entstehende Plattformen mehr als Kopien bekannter Tech-Giganten sein wollen, braucht es eine gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit Alternativen

In ihren einleitenden Worten zur Podiumsdiskussion machte Henrike Allendorf von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) darauf aufmerksam, dass digitale Plattformen mittlerweile eine große wirtschaftliche Bedeutung haben. Es sei in den letzten Jahren ein enormes Wachstum damit erreicht worden. Unter den fünf größten Unternehmen der Welt seien inzwischen drei digitale Plattformen – Facebook, Amazon und Google – vertreten. Die erzielten enormen Profite kämen allerdings den wenigen Plattformen und den Shareholdern zugute. Was nicht nur politisch problematisch sei, sondern auch soziale Ungleichheiten schaffe. Beleuchtet werden sollten an diesem Abend alternative Organisationsformen für digitale Plattformen – Kooperativen oder Genossenschaften. Die Diskussion um kooperative Plattformmodelle zum jetzigen Zeitpunkt, so Allendorf, „ist umso wichtiger, da deutsche und europäische Akteure im Vergleich mit den USA in der Plattformökonomie noch eine marginale Rolle spielen“. Damit künftig entstehende Plattformen mehr sind als Nachahmungen der bekannten Tech-Giganten, brauche es eine gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit Alternativen. Allerdings sehen sich solche Kooperativen oft politisch schwierigen Rahmenbedingungen gegenüber.

Auswüchse in der Plattformökonomie bringen Leute darauf, diese von den Bedürfnissen der Menschen her zu denken

Den Impulsvortrag unter der Überschrift „Solidarische Plattformökonomie – aber wie?“ wurde von Claudia Henke, Mitbegründerin der Genossenschaft h3-o, aus Hamburg gehalten. Sie verwies auf den Taxidienst Uber und deren App, die man in unterschiedlichen Städten und Ländern nutzen könne. Auch auf Amazon, wo man ja praktisch quasi fast alles bestellen könne. Allerdings, merkte sie an, werde vergessen, dass wir als Nutzer dieser Angebote gar nicht die Kunden sind: „Sondern wir sind das Produkt. Wir sind die Ware.“ Schließlich würden unsere persönlichen Daten gesammelt. Und wir wüssten weder was mit ihnen passiere, noch hätten wir Einfluss darauf. Ebenfalls sei es auch nicht so toll, wenn man in der Plattformökonomie arbeite. Etwa könne Uber seine Bestimmungen ständig ändern, ohne das die Uber-FahrerInnen etwas dagegen tun könnten. Auch falle es schwer sich untereinander solidarisieren. Denn man wisse doch überhaupt nicht wer noch für Uber fahre. Diese Plattformökonomien verursachten massive Einwirkungen auf unsere Gesellschaft. Amazon verändere unsere Innenstädte ungemein. Der Wohnungsvermittler Airbnb habe negative Auswirkungen auf den kompletten Wohnungsmarkt. Diese Auswüchse brächten jedoch Leute auch auf Ideen, wie man Plattformökonomie auch anders denken könne. Henke: „Und tatsächlich wieder von den Bedürfnissen der Menschen her. Und: Wie könne man sie fairer gestalten?“ Eine demokratische Organisation sollte es sein.

Als Beispiel nannte Henke Fairbnb, das eine Alternative zu Airbnb sein will. Da soll darauf geachtet werden, dass eine Wohnung nur im Falle der eigenen Abwesenheit vermietet wird. Und Wohnraum nicht dem Wohnungsmarkt entzogen wird, wie das mittlerweile via Airnbnb geschieht. Und Fairbnb will fünfzig Prozent der Einnahmen sozialen Initiativen, die sich mit fairem Tourismus auseinandersetzen, zur Verfügung stellen.

Das gleiche Geschäft, aber in fair“

Ein anderer Fall, so Claudia Henke, ist der britische Online-Lieferdienst Deliveroo. Ende August entschied sich der Lieferdienst ad hoc aus Deutschland zurückzuziehen. Wohl hauptsächlich deshalb, um Betriebsräte zu verhindern. Die Fahrradkuriere waren davon Ende August förmlich überrumpelt worden. Doch sie hätten sich z.B. in Berlin auf unterschiedliche Weise zusammengetan, um weiterzumachen. Diejenigen, erzählte Claudia Henke, die schon gestartet sind, hätten tatsächlich Aufträge bekommen. Organisiert vorerst über Kurznachrichtendienste. Alternativen seien also durchaus möglich: „Das gleiche Geschäft, aber in fair.“ Das möglicherweise ein Modellprojekt für andere Plattformen sein könnte, findet Henke.

Herausforderungen

Auf solche Alternativen kämen jedoch Herausforderungen bezüglich des Wachstumsmodells Plattformökonomie zu. Es bräuchte natürlich eine Rechtsform. Ein Teil der Essensauslieferer auf Rädern habe sich zusammengesetzt und sei dabei auf die Rechtsform Genossenschaft gekommen. Doch letztendlich entschieden sie sich dagegen und stattdessen für eine Unternehmergesellschaft (UG, haftungsbeschränkt).

Henke hat festgestellt, dass die Rechtsform Genossenschaft in Deutschland geradezu vergessen ist. Selbst die Finanzämter seien zuweilen damit überfordert. Zum Vergleich: In Italien gibt es 80.000, in Deutschland nur 8000 Genossenschaften, von denen 1500 inaktiv sind.

Claudia Henke: Ein „historisches Zeitfenster für Innovation ist momentan geöffnet

Claudia Henke spricht bezüglich des Aufbaus einer solchen Plattform von einer „sozialen Innovation“. Was heiße, dass sie der Gesellschaft nütze und andere Dynamiken erzeuge. Zunächst bräuchte Experimentierräume und einen Prototyp. Und erklärte: „Das Internet ist zum Beispiel eine soziale Innovation.“

Claudia Henke machte darauf aufmerksam, dass wir es momentan mit einem „spannenden Zeitraum“ zu tun habe – es „ein historisches Zeitfenster“ für Innovation geöffnet sei. Und diese Innovation könne „unglaublich viel verändern“. Wir hätten die Akteure und das Knowhow. Was uns hindere seien die Rahmenbedingungen in Deutschland.

Podiumsdiskussion mit kompetenten Gästen

Für die Podiumsdiskussion hatte man interessante und kompetente Gäste gewonnen, welche Moderator Dr. Christian Tribowski (Handelsblatt Research Institute) vorstellte:

Von links: Claudia Henke, Dr. Jan-Felix Schrape, Dr. Christian Tribowksi, Christina Kampmann und Markus Sauerhammer.

Die bereits erwähnte Claudia Henke, Dr. Jan-Felix Schrape, Akademischer Mitarbeiter an der Universität Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften, Christina Kampmann, MdL NRW, Sprecherin im Ausschuss für Digitalisierung und Innovation, in der NRW-Landesregierung Kraft Familienministerin sowie Markus Sauerhammer (Vorstand Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e. V.) mit spannender Biografie: von der Hauptschule zum Landwirt, dann über Umwege zum Startup-Business und anschließendes Studium.

Christina Kampmann: Die Politik muss Machtasymmetrien reduzieren und digitales Prekariat verhindern

Christina Kampmann lobte die Ursprungsideen vieler hier bereits erwähnter digitaler Plattformen. Doch der Politik falle die Aufgabe zu die negativen Begleiterscheinungen – wie die Machtasymmetrien – so zu reduzieren, dass die Vorteile überwiegen, die Macht fairer verteilt und digitales Prekariat verhindert werde.

Markus Sauerhammer: „Wir brauchen vernünftige Rahmenbedingungen, um frei experimentieren zu können

Markus Sauerhammer meinte, es bräuchte dringend auch Pioniere und Leute, die ein Risiko nicht scheuten, um solche Plattformen ins Werk zu setzen und gab zu bedenken: „Wer leugnet, dass die Welt gerade im Umbruch ist, der schaut nicht die globale Entwicklung an. Wir brauchen vernünftige Rahmenbedingungen, um frei experimentieren zu können.“

Claudia Henke ergänzte: „Wir brauchen auch für Genossenschaften eine digitale Agenda.“

„Wir hören einander nicht mehr zu. Jeder glaubt er weiß es besser zu wissen. Wir müssen die Probleme beim Namen nennen, um gemeinsam auf Lösungen hinzu zu arbeiten und die Leute sie ausprobieren können“, setzte Markus Sauerhammer hinzu.

Vonnöten ist eine längerfristige Förderung, eine gesellschaftliche Debatte „ohne Scheuklappen“ zu führen und ein „Revival der Genossenschaft“ begrüßenswert

Dr. Jan-Felix Schrape sah eine dauerhafte längerfristige Förderung über die typischen Förderperioden hinaus dringend vonnöten. Dabei müsse eben auch in Kauf genommen werden, dass neun von zehn Projekten vielleicht nicht funktionierten.

Christina Kampmann regte an, einmal eine gesellschaftliche Debatte „ohne Scheuklappen“ darüber zu führen, was wir zwischen den Polen Kapitalismus und Sozialismus für eine Wirtschaft wir eigentlich haben wollen, „die sich wirklich an den Menschen orientiert“. Kampmann würde sich über ein „Revival der Genossenschaft“ freuen.

Forderungen an den Digital-Gipfel der Bundesregierung

Die vom Moderator den Gästen abverlangten Forderungen an den nächste Woche in Dortmund stattfindenden Digital-Gipfel der Bundesregierung lauten: Wenn die Bundesregierung ständig von der Digitalisierung rede, so Markus Sauerhammer, dann müsste endlich auch die digitalen Plattform als Baustein dabei sein, „sonst lügen sie“. Auch für Christina Kampmann ist klar, dass Genossenschaftsgedanke diesbezüglich dort auch wieder „sexy gemacht“ werden müsse.

Der Digital-Gipfel könne einen Beitrag dazu leisten.

Sicher ist sich auch Jan-Felix Schrape, dass sich der Digital-Gipfel nicht nur mit der Regulierung von großen Plattformen sondern auch mit der Förderungen von Alternativen auseinandersetzen muss, weil ansonsten der Verbraucher auch nicht wählen könne.

Er fände es auch begrüßenswert, wenn die SPD das Thema in ihr nächstes Bundestagswahlprogramm aufnähme.

Fragen und Anregungen aus dem Publikum

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion konnten aus dem Publikum noch diverse, in der Sache interessante, Fragen rundum das Thema Genossenschaften und digitalen Plattformen an die Gäste gestellt werden. Belichtet wurde ebenfalls der kritische Gedanke, dass durchaus nicht alle Genossenschaften empfehlenswert sind. Eine Genossenschaft ist immer nur so gut, wie die Leute, die da drin sind“, merkte Claudia Henke an. Und es freilich auch Fälle gegeben hat, wo sich Menschen in Genossenschaften bereichert hätten. Gemeinwohlorientierung benötige auch Kontrolle. Durchaus, hieß es, hätten grundsätzlich auch öffentlich-rechtliche Regelungen ihren Platz in der Gesellschaft. Auch einige Anregungen kamen aus dem Auditorium, welche die Gäste auf dem Podium dankbar aufnahmen.

Digital-Gipfel der Bundesregierung nächste Woche in Dortmund.

Dortmund wurde mit dem Label „StadtGrün“ in Silber ausgezeichnet

Am 19. September 2019 ist Dortmund in Bonn mit dem Label „StadtGrün naturnah“ in Silber ausgezeichnet worden. Das Projekt wurde im Bundesprogramm Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Am vergangenen Mittwoch wurde der Preis von Vertreter der Stadt Dortmund, die mit „Grün“ zu tun haben gemeinsam auf dem Hauptfriedhof Vertretern der Presse präsentiert. In drei Jahren wird der Preisträger überprüft. Fest steht, dass das Konzept StadtGrün naturnah nicht nur weitergeführt, sondern auch noch erweitert wird. Die Entsorgung Dortmund GmbH, die einen Teil der Pflege des Straßenbegleitgrüns übernommen hat, schließt sich der Ideee an. Zur Präsentation gab sich Stadtrat Arnulf Rybicki bezüglich des Preises hoffnungsvoll, künftig ein noch höherwertiges Edelmetall erringen zu können. In drei Jahren wird die nächste Auszeichnung vergeben.

Laudatorin Prof. Beate Jessel: „Mit dem Label StadtGrün naturnah schafft das Projekt zusätzliche Anreize, ausgetretene Pfade zu verlassen und mehr Grün statt Grau in die Städte und Gemeinden zu bringen“

Die Laudatio für die Preisträger in Bonn hatte Prof. Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz gehalten und gesagt: „Stadtgrün ist unverzichtbar, denn es schafft nicht nur Lebensräume für Tiere und Pflanzen, sondern auch gesunde und attraktive Lebensbedingungen für uns Menschen.“ Deshalb sei es wichtig, „dass sich immer mehr Kommunen für eine naturnahe Gestaltung und Aufwertung von Grünflächen starken machen“. Und weiter: „Mit dem Label StadtGrün naturnah schafft das Projekt zusätzliche Anreize, ausgetretene Pfade zu verlassen und mehr Grün statt Grau in die Städte und Gemeinden zu bringen. Dass dies gelingt, zeigen die 14 Projekte, die wir heute auszeichnen.“ Beworben hatten sich zunächst 51 Kommunen, von denen letztlich 14 nach einem gut einjährigen Verfahren mit einem Label ausgezeichnet wurden. Honoriert wurden die Kommunen für die Entwicklung artenreicher Wildblumenwiesen, das Pflanzen heimischer Sträucher und das Entwickeln einer zeitgemäßen Grünflächenstrategie, die sich zum Ziel setzt, die Artenvielfalt von Flora und Fauna in der Stadt zu fördern und langfristig durch geeignete Maßnahmen zu sichern.

Ein attraktives und gesundes Wohnumfeld schaffen und die Biodiversität ist der Stadt verbessern

Es geht darum, in naturnahen Parkanlagen und kommunalen Wälder, zusammenhängenden Grünzügen, durch Baumgruppen oder gemischte Baumalleen, heimische Sträucher und Staudenpflanzungen sowie artenreiche Wiesenflächen ein attraktives und gesundes Wohnumfeld zu schaffen. Notwendig dabei ist eine ökologisch ausgerichtete Pflege, die z.B. mit veränderten Mähverfahren und Angeboten für Rückzugs-Brutmöglichkeiten, um die Biodiversität in der Stadt nachweislich zu verbessern.

Besonders beeindruckt war der Labelgeber von den zahlreichen Aktivitäten auf dem Dortmunder Hauptfriedhof

Dortmund konnte sich im Labelingverfahren durch den Einsatz zahlreicher BürgerInnen, Naturschutzverbände, Verein und der beteiligten Fachämter mit seinen eingereichten Projekten im Vorderfeld der ausgezeichneten Kommunen platzieren. Die positiven Auswirkungen der veränderten Grünpflege lassen sich bereits an vielen Stellen im Dortmunder Stadtbild erkennen. So sind bereits 30 Prozent der öffentlichen Wiesenflächen in ein ökologisches und Artenvielfalt steigerndes Pflegeprogramm überführt worden. Besonders beeindruckt zeigte sich der Labelgeber bei einem Vor-Ort-Besuch von den zahlreichen Aktivitäten auf dem Dortmunder Hauptfriedhof. So werden dort z.B. Grabfelder mit alten (insgesamt 127 verschiedenen) Obstsorten (die von den Hinterbliebenen abgeerntet werden) gestaltet oder potentielle Zukunftsbäume gepflanzt, um sie auf ihre Eignung zur Minderung von Klimawandelfolgen zu testen. Dortmund hat diese Bedeutung frühzeitig erkannt und mit der Labelauszeichnung ein plakative Bestätigung ihres Engagements zur Steigerung der Artenvielfalt erhalten.

Stadtrat Arnulf Rybicki bedankte sich bei allen Beteiligten herzlich

Am Mittwoch kamen viele der Beteiligten auf dem Dortmunder Hauptfriedhof zusammen, um das Label zu präsentieren: Der Dezernent für Bauen und Infrastruktur, Arnulf Rybicki, Vertreter aus dem Tiefbauamt, dem Umweltamt, den Sport- und Freizeitbetrieben Dortmund, den Friedhöfen Dortmund und der Stadtentwässerung Dortmund. Bei allen Beteiligten bedankte sich Stadtrat Rybicki herzlich für das großartige Engagement.

Kurzrasenflächen werden in Blühwiesen umgewandelt

Gute Beispiele in Sachen Steigerung der Biodiversität können auf dem Hauptfriedhof besichtigt werden. Etwa sind Kurzrasenflächen in Blühwiesen umgewandelt worden. Das trifft auch auf Flächen im Stadtgebiet (Hörde, Derne, Hombruch, an der Bornstraße, am Pumpwerk Fredenbaum, an der Ardeystraße, auf dem Borsigplatz, oder die Baumscheibe Berghofen) zu. Eine Wiese braucht etwa fünf Jahre bis sie „steht“, wie die Fachleute sagen. Tiere wie etwa Hummeln und Heuschrecken siedeln sich nach und nach an. Etwa 190 Hektar Fläche sind im Stadtgebiet bereits umgestellt worden. Dazu bedarf es auch einer Umstellung des Fuhrparks. Schon lange bevor an Fridays for Future zu denken war, sei an diesen Projekten gearbeitet worden, merkte Sylvia Uehlendahl, die Amtsleiterin des Tiefbauamtes an.

Private Firmen sind bislang noch nicht am Projekt beteiligt. Man arbeite aber daran, welche mit ins Boot zu bekommen.

Ohne zusätzliche Mittel kann schnell ein Biotop geschaffen werden

Auf dem Hauptfriedhof gibt es verkehrssicher heruntergeschnittene Tothölzer, an denen sich Schadpilze zeigen, die anderswo im Stadtgebiete dazu führen, dass Bäume gefällt werden müssen. Auf dem Hauptfriedhof dienen sie Anschauungs- und Schulungszwecken. Gerd Hettwer (Friedhöfe Dortmund) wies auch auf eine Wiese auf dem Hauptfriedhof hin, die von Schafen beweidet wird. Das sei beim Labelgeber sehr gut angekommen, weil so etwas auf Friedhöfen nicht selbstverständlich sei. Auch gibt es Wasserflächen, auf denen Holzbretter („Rettungsinseln“) installiert wurden. Dort können sich Vögel sicher niederlassen, um zu trinken. Baumscheiben und Wurzelteller sind stehengelassen worden. So könne ohne zusätzliche Mittel schnell ein Biotop geschaffen werden.

Information für die BürgerInnen und die FriedhofsmitarbeiterInnen

Es ist vorgesehen, Informationstafeln sollen aufgestellt werden. Denn immer wieder fragten Friedhofsbesucher, wann diese Tothölzer abtransportiert würden. Nicht immer verstünden BürgerInnen, dass bestimmte Maßnahmen gewollt sind. So würden nämlich absichtlich bei manchen Wiesen im Stadtgebiet nur die Außenkante („Sauberkeitsstreifen“) gemäht. Das ließe manche Menschen denken, die Stadt schludere dort. Naturverjüngung werde nun schon seit 28 Jahren betrieben. Das heißt, Wildwuchs, der von allein gekommen ist, lässt man weiter wachsen. Bäume, die erhalten werden sollen, bekommen eine Manschette zur Information der gärtnerisch tätigen MitarbeiterInnen verpasst.

Kostenneutral erreichte Biodiversität und „ökologische Pflege“

All diese Bemühungen hinsichtlich Biodiversität, warf Stadtrat Rybicki ein, seien kostenneutral. Da habe er schon kritischen Fragen aus dem Rat mit ruhigem Gewissen begegnen können. Manchmal ziehe man sogar einen kleinen Nutzen daraus. Und manches, das vielleicht nachlässig aussehe, sei gewollt, weil es zum Konzept gehöre und Gedanken dahinterstünden. Es werde eben auch „geplant sozusagen ausgewildert“. Auch sei eine sogenannte Saatgutübertragung möglich. So könne Saatgut in andere Flächen in der Stadt eingebracht oder künftig sogar an die BürgerInnen abgeben werden.

Georg Hettwer fügte auf Anfrage an, dass er Unkraut grundsätzlich nicht mehr Unkraut nenne. Vieles würde auf dem Friedhof stehengelassen. Gegen invasive Arten allerdings gehe man indes an. Ebenso werde Wildkraut beseitigt, wo das zwecks Verkehrssicherung vonnöten sei, ergänzte Sylvia Uehlendahl. Es wurde klargemacht: Man lässt nicht Verwildern. Man habe ein Konzept, das „ökologische Pflege“, heißt.

Man gebe sich viel Mühe, so Jürgen Hundorf, die Bevölkerung sozusagen „mitzunehmen“. Denn bestimmte auf dem Friedhof oder im übrigen Stadtgebiet angewandte Maßnahmen könnten auch im eigenen Garten praktiziert werden.

Nun gehen alle Beteiligten, durch den erhaltenen Preis zusätzlich angespornt daran, auf den Preis „StadtGrün naturnah“ in Gold hinzuarbeiten.

Beitragsbild: Claus Stille

Von links nach rechts: Annette Kulozik, Geschäftsleitung der Sport- und Freizeitbetriebe Dortmund), Claudia Vennefrohne (TeamleitungLandschafts- u. Umweltplanung im Umweltamt), Georg Sümer (Teamleitung Gewässer bei der Stadtentwässerung), Martin Rüthers (Technische Dienste Grün im Tiefbauamt), Gerhard Hettwer (Hauptfriedhof Dortmund), Jürgen Hundorf (Technische Dienste Grün
im Tiefbauamt), Arnulf Rybicki (Dezernent für Bauen und Infrastruktur) , Sylvia Uehlendahl ((Leiterin Tiefbauamt), Ralf Dallmann (Betriebsleitung Friedhöfe Dortmund)

Sagt, was ist: Marcus B. Klöckner in „Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“

„Sagen, was ist.“ – Dieser Leitspruch des Gründers des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Rudolf Augstein stammt noch aus Zeiten, da für diese Publikation noch die Bezeichnung „Sturmgeschütz der Demokratie“ passend war. Tempi passati! Böse Zungen bezeichnen den „Spiegel“ heute inzwischen verächtlich als Bildzeitung für Intellektuelle. Doch das Augstein-Motto „erinnert“ (noch heute), so SPIEGEL ONLINE am 4. November 2012 auf Facebook, den 89. Geburtstag Rudolf Augsteins, „uns jeden Tag beim Betreten des Hauses an die eigentlich einzige und wichtigste Aufgabe von Journalisten.“ Ist das so? Einen gewissen Claas Relotius hinderte es nicht daran, Lügengeschichten zu schreiben.

Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird

Der Westend Verlag fragt betreffs des Buches auf dessen Rückseite: „Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“ Marcus B. Klöckner: „Sagen Medien wirklich, „was ist“?“ und liefert die Antwort gleich hinterdrein: „Eindeutig nein! In den tonangebenden Medien ist ein kanonisierter Meinungskorridor entstanden, in dem unliebsame Fakten viel zu oft keinen Platz finden. Das Versagen der Qualitätskontrolle des Spiegel im Fall Relotius, die fehlgeleitete Berichterstattung zur Skripal-Affäre und die NATO-Reklame großer Nachrichtensendungen sind nur die prominentesten Beispiele einer grundlegenden Fehlentwicklung im Journalismus, die bereits bei der Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis der großen Medienkonzerne beginnt. Anhand vieler konkreter Fälle zeigt Marcus B. Klöckner, wie Medien eine verzerrte Wirklichkeit schaffen, die ähnlich der viel gescholtenen Filterblasen der „sozialen“ Medien mit der Realität oft nur noch wenig zu tun hat. Die Konsequenzen sind weitreichend – für unsere Demokratie, für uns alle.“

Mein Eindruck vor Jahren: Vieles stimmte da nicht. War zumindest schräg

Für mich persönlich begannen bestimmte „Produkte“ des Journalismus besonders im Zuge der Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine an zu riechen – oder ganz wie man will: ein Geschmäckle zu entwickeln.

Da stimmte vieles nicht. War zumindest schräg. Da wurde einseitig und antirussisch berichtet. Und es wurde seither nicht besser.

Wachhund sein im Sinne der Vierten Macht – Fehlanzeige!

Aber es begann schon vor der Ukraine-Krise. Immer weniger wurde Journalismus dem gerecht, was mit „Vierter Gewalt“ gemeint ist. Heißt, den Wachhund machen, den Politikern gehörig auf die Finger schauen und eben: Sagen, was ist.

Schon in der Einleitung zu seinem Buch schreibt Klöckner: „Ein Weltbildjournalismus bestimmt in weiten Teilen der Mainstreammedien die Berichterstattung. Zwischen Journalisten und Politikern herrscht weitestgehend ein Nichtangriffspakt – Konflikte, die über eine Scharmützel hinausgehen, finden sich allenfalls auf Nebenschauplätzen. Medien loben wahlweise Merkels ‚Augenringe des Vertrauens‘ oder stimmen (gemeinsam mit einem Teil der Politiker) in den Chor des ‚Uns-geht-es-doch-gut-Liedes‘ ein (S./10)“. Kritik von Rezipienten an einzelnen Beiträgen wird abgebügelt und offenbar als Bedrohung empfunden, Kommentarfunktionen zuweilen ausgeschaltet.

Zensur?

Gleich im ersten Kapitel geht es ab S.17 um „Zensur“. Medienvertreter reagierten auf einen solchen Vorwurf „gereizt“, heißt es dort. „Schnell wird beteuert, dass einzelne Journalisten, aber auch komplette Redaktionen frei in ihren Entscheidungen seien. Weder rufe Merkel persönlich an und diktiere, welche Informationen in den Medien auftauchen dürfen, noch gäbe es sonst eine ‚mächtige Gruppe‘, die ihnen vorschreibe, wie ihre Berichterstattung auszusehen habe. Ist das nicht interessant? Auf der einen Seite stehen Medienvertreter, die durchaus glaubhaft versichern“, schreibt Klöckner, „dass sie keiner Zensur unterworfen sind, während sich auf der anderen Seite ein Publikum bemerkbar macht, das ebenso fest vom Gegenteil überzeugt ist.“

Uns doch, meint Buchautor Klöckner: Zensur ist in unserem Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel

Freilich ist klar: Zensur als solche wird nicht ausgeübt. Dennoch: Marcus B. Klöckner führt uns LeserInnen dahin, „(…) zu erkennen, dass Zensur in unserem Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. (S.12)“ Er führt weiter aus: „Wir werden eine spezielle Form der Zensur kennenlernen“, verspricht er, „die sich zwar in manchem von einer staatlichen, einer von oben verordneten Zensur unterscheidet, aber in ihrer Auswirkung kaum nachsteht. Es handelt sich dabei um eine Zensur, die tief in unser Mediensystem eingeschrieben ist. In den Medien ist das zu erkennen, was wir als eine sozialstrukturell ausgeformte Zensur sprachlich erfassen wollen.“

Medienwirklichkeit, Schieflagen in der Berichterstattung und „Wirklichkeitsentgleisungen“

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Medienwirklichkeit. Und zwar anhand von zahlreichen Beispielen, die veranschaulichen, „dass Schieflagen in der Berichterstattung nicht einfach nur durch Fehler bei der journalistischen Arbeit entstehen (die menschlich sind und jedem passieren können) und dürfen), sondern auf Wirklichkeitsentgleisungen mit Ansage zurückzuführen sind.“

Foto: Christian Evertsbusch, via Pixelio.de

Die LeserInnen würden sehen, so Klöckner, „wie schwer und folgenreich die Wirklichkeitsbrüche in der Berichterstattung sind, und verstehen, dass wir gut daran tun, uns eine alte Erkenntnis des deutschen Soziologen Niklas Luhmann in Erinnerung zu rufen“. „In seiner berühmt gewordenen Auseinandersetzung zur Realität der Massenmedien sagt Luhmann gleich zu Anfang: ‚Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können.’“

Journalisten und Politiker

In weiteren Kapiteln des Buches betrachtet Klöckner die Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern und betrachtet, „was es bedeutet, wenn Journalisten über Macht verfügen, Rederecht abzusprechen oder anzuerkennen.“

Die Oberfläche der Medienkritik durchdringen

Dem Autor geht es hauptsächlich darum, „die Oberfläche der Medienkritik zu durchdringen, um die mehr oder weniger verschleierten sozialen Wirkprinzipien offenzulegen, die für eine Berichterstattung mitverantwortlich sind, die dazu führen, dass viele Mediennutzer glauben, die Medien müssten von irgendeiner verborgenen Macht gesteuert werden.“

Faktoren, die auf den Journalismus auch eine Wirkung haben

Andere Faktoren, die auf den Journalismus freilich auch eine Wirkung haben, wie Besitzverhältnisse in den Medien, Pressekonzentration, hochproblematische Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung von Journalisten, Zeitdruck, fehlende Möglichkeit und Finanzierung von investigativen Recherchen und Auswirkungen, die sich aus den Gesamtproduktionsbedingungen und Herrschaftseinflüsse (S.14) sind bewusst außen vor gelassen worden, so Klöckner – will sie aber keineswegs kleinreden.

Die Medien einer genaueren Betrachtung zu unterziehen ist gelungen

Mit dem vorliegenden Buch ist gut gelungen, die Medien einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und „ihr Sein und einige ihrer Funktionsweisen vor allem aus einem kritisch soziologischen Blickwinkel“ heraus zu „betrachten“.

Die beschriebenen Vorgänge dürften dem Laien verständlich werden

Stellenweise ist das Buch zwar durchaus komplex. Es habe Nachteile und Vorteile, wie der Autor selbst schreibt. Die Nachteile haben damit zu tun, dass ein breiter Leserkreis erreicht und zu diesem Behufe nicht zu tief in sozialwissenschaftlich Theorien hinein getaucht werden sollte. Denn das Buch ist immer so verfasst, dass darin beschriebene Vorgänge auch dem Laien – der überwiegenden Mehrheit also der Medienrezipienten – immer verständlich werden.

Jedenfalls ist es m.E. gelungen, wenigstens einige Gründe, „die für die schweren Verwerfungen im journalistischen Feld verantwortlich sind“, wie Klöckner noch in der Einleitung dargelegt hat, „anschaulich“ zu machen. Vorteil ist, dass den LeserInnen dennoch Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, sich auch in etwas bezüglich komplexeren wissenschaftlichen Theorien kundig zu machen und sie zu verstehen, ohne zu tief in deren Breite und Vielschichtigkeit einzudringen.

Und ich stimme unbedingt dem letzten Satz in der Einleitung zu: „Die Schäden an unserem demokratischen System, die durch die Medien verursacht werden, die weitestgehend ihrer Wächterfunktion nicht mehr nachkommen, sind bereits gewaltig.“

Journalisten mit Stallgeruch und Überzeugungstäter

Nebenbei bemerkt: Es sind vielmehr andere Faktoren, die Journalisten dazu bringen, so zu schreiben, dass manch Rezipient auf die Idee kommt, da wurde Zensur auf den Schreibenden ausgeübt. Das geht subtiler. Einerseits hat es mit der Herkunft von Journalisten zu tun: Viele kommen aus Akademikerhaushalten und haben einen bestimmten Stallgeruch verbunden mit einem vorgeprägten Denken, das mit einem bestimmten Weltbild zu tun hat. Dann gibt es auch eine Reihe von Überzeugungstätern, wie etwa Claus Kleber (ZDF-heute journal), der als Kuratoriumsmitglied der Atlantikbrücke überzeugt ist gewiss hundertprozentig von dem, was er von sich gibt. Der kann gar nicht anders und fühlte sich offenbar pudelwohl dabei, während vielen Zuschauern der Hut hochgeht, wenn sie hören müssen, was Kleber so von sich gibt und wie er mit bestimmten Interviewpartnern umspringt.

Autor Marcus B. Klöckner hat ein Kommentar zum Erscheinen seines Buches „Sabotierte Wirklichkeit“verfasst:

Zensur ist in unseren Medien keine Ausnahme, nichts worüber es erst einmal zu diskutieren gälte. Sie ist Realität. Journalismus ist zudem vor allem in den Zentren der diskursbestimmenden Medien zu einer Art Glaubenslehre geworden. Zuerst das eigene Weltbild bedienen, dann kommen die Fakten.“

Folgt man den Darstellungen und Einlassungen hochrangiger Akteure aus den Medien zu ihrer eigenen Zunft, dann lässt sich sehr oft folgender Eindruck gewinnen: Ja, individuelle Fehler passieren, ja, es gibt Fehlentwicklungen im Journalismus, aber im Großen und Ganzen liefern Medien eine ausgezeichnete Berichterstattung ab. Zensur? Ein ideologisch kontaminierter Journalismus? Eine Berichterstattung, die herrschaftsnah ist? Gerade auch in den Qualitätsmedien? Nichts davon gibt es, so der Tenor. Mit dieser skizzenhaften Zeichnung jener Grundhaltung, die verstärkt vor allem in den Zentren der diskursbestimmenden Medien zu finden ist, wird sichtbar, warum es Mediennutzer so schwer haben, mit ihrer Kritik im journalistischen Feld Gehör zu finden. Ein Problem zu beheben, setzt voraus, das Problem auch zu erkennen. Wenn aber Alphajournalisten mit Nachdruck selbst schwere und schwerste Verwerfungen und Schieflagen innerhalb ihrer Branche nicht einmal ansatzweise erkennen wollen oder erkennen können, dann wird sich im Journalismus und in den Medien nichts ändern.

Wer Medien über einen längeren Zeitraum beobachtet, wer sich genauer mit dem journalistischen Feld kritisch auseinandersetzt, kann nur zu einem sehr düsteren Befund kommen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu wurde einmal im Hinblick auf die Medien in Frankreich gefragt, ob er das journalistische Milieu für reformierbar halte. Seine Antwort darauf: „Die Lage spricht sehr dagegen.“ Das war, wohlgemerkt, bereits im Jahr 1995. Bourdieu verstand die mehr oder weniger verschleierten sozialen Wirkmechanismen, aber genauso auch die Dimensionen von Macht und Herrschaft, die sich gerade auch in einem so wichtigen Feld wie dem journalistischen finden lassen, sehr genau. Viele seiner Einlassungen zu den Medien können wir, mit Abstrichen hier und da, auch auf die Medien in unserem Land und auch auf die Medien in vielen anderen demokratischen Ländern übertragen.
Wer mit Bourdieus Herrschafts- und Gesellschaftsanalysen Medien, Journalismus und das Verhalten von Journalisten näher betrachtet, kann erkennen, dass, um es salopp zu sagen: Hopfen und Malz verloren ist. Eine sozialisationsbedingte Blindheit aufseiten nicht unbeträchtlicher Teile der Journalisten gegenüber real vorhandenen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen, die auch in demokratischen Regierungsformen existieren; ein mehr oder weniger naiver Glaube an die Lauterkeit von Institutionen und Mandatsträgern; real existierende Herrschaftseinflüsse auf die Medien; Konzentrationsprozesse genauso wie prekäre Arbeitsbedingungen für nicht wenige Journalisten. All das führt zur Untergrabung eines Journalismus, wie er eigentlich sein sollte und wie er für eine gesunde Demokratie lebensnotwendig ist.

Festzustellen ist: In unserem Mediensystem hat sich eine Zensur verfestigt, die ohne externen Zensor funktioniert und aus dem journalistischen Feld selbst kommt. Die soziale Zusammensetzung innerhalb der Medien, der Ausschluss nahezu ganzer Schichten und Milieus aus dem journalistischen Feld, die Dominanz bestimmter Weltanschauungen in der Berichterstattung, haben dazu geführt, dass bestimmte Perspektiven, Meinungen, Thesen und Ansichten mindestens innerhalb der diskursführenden Medien nahezu völlig atomisiert sind. Wir haben es in unserem Mediensystem mit einer sozialstrukturell ausgeformten Zensur zu tun, die tief in den Wahrnehmungs- und Denkschemata eines beträchtlichen Teils der Feldakteure verankert ist. Zensurhafte Einzelentscheidungen potenzieren sich, eine medienübergreifende, dauerhafte Zensur entsteht. Die Unterdrückung all jener Perspektiven, die für Irritationen bei der Fraktion der „Weltbildjournalisten“ sorgt, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Je politischer ein Thema ist, umso stärker werden die  wertvollen journalistischen Kriterien der Auswahl und Gewichtung von Nachrichten und Informationen pervertiert – im Sinne der im journalistischen Feld vorherrschenden politischen Glaubensüberzeugungen.

Es ist davon auszugehen, dass viele Journalisten selbst nicht einmal erkennen, wie tief das Zensurhafte in ihren Entscheidungen mitschwingt. Unter anderem auch deshalb, weil ihnen die positiven Rückmeldungen aus dem Feld vermitteln, dass ihre Auswahl und Gewichtung von Informationen und Themen genau „richtig“ sind.

Der Journalismus unserer Zeit trägt Züge einer Glaubenslehre. Die reinsten aller Wahrheiten findet sich vorgeblich in den Wirklichkeitsdarstellungen der großen Medien. Nur wer diese Wahrheiten akzeptiert und  verinnerlicht, darf „sprechen“, sich zu Wort melden. Die Hinterfragung der Medienrealitäten, ja, gar die Fundamentalkritik an den in der Berichterstattung vorherrschenden Überzeugungen, kommt einem Akt der Ketzerei gleich.

Viele Bürger, viele Mediennutzer erkennen, dass mit unseren Medien etwas nicht stimmt. Sie beobachten Tag für Tag, dass Medien gerade dann, wenn es wirklich darauf ankommt, immer wieder nicht so funktionieren, wie sie es sollten.

Sie erkennen, dass die Ansichten und Meinungen von Journalisten zu oft mit denen der Eliten und Machteliten konform gehen.

Wer sich näher mit der Sozialisation von Journalisten auseinandersetzt, die soziale Zusammensetzung des journalistischen Feldes betrachtet und Gedanken über den Rekrutierungsmodus der Medien macht, kommt zu dem Ergebnis, dass das Medienfeld aufgrund der in ihm vorhandenen sozialen Realitäten gar nicht in der Lage ist, dauerhaft und durchgehend diesen von Bürgern so sehr geforderten herrschaftskritischen Journalismus abzuliefern.

Der nüchterne Befund lautet: Das journalistische Feld ist in seiner Breite nicht dazu ausgelegt, „die da oben“ so zu kritisieren, wie es angebracht wäre (man denke als positives Gegenbeispiel an den Auftritt https://www.youtube.com/watch?v=zxS4JJ17h1c des niederländischen Journalisten Rob Savelberg bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages der neu gewählten Bundesregierung im Jahr 2009). Kritische Mediennutzer erkennen, dass es unsichtbare, implizit ausgehandelte rote Linien zwischen Journalisten und Politikern gibt, die als Grenzen festlegen, was als legitime Kritik erlaubt ist und was nicht. Anders gesagt: Das Versagen des Journalismus, wenn es darum geht, den Mächtigen richtig auf den Zahn zu fühlen, hat maßgeblich mit dazu beigetragen, dass politische Weichensteller über Jahrzehnte eine Politik betreiben konnten,  deren Auswüchse sich nun immer deutlicher abzeichnen. Armut und speziell auch Kinderarmut in Teilen unserer Gesellschaft, katastrophale Fehlentwicklungen im sozialen Wohnungsbau, die Ausbreitung neoliberaler Denkkategorien bis ins Innerste von Politik und Gesellschaft, und, nicht zuletzt: Ein Umgang mit unserer Umwelt, der für uns alle nun zu einer Bedrohung geworden ist.

Man muss es so deutlich sagen: Medien tragen an diesen Entwicklungen Mitschuld. All die unterlassenen kritischen Fragen, all die Beschönigungen, die wir unentwegt aus den Medien hören („uns geht es gut“), die offene oder mehr oder weniger verschleierte Unterstützung der Herrschenden von Journalisten, durch die selbst die größten Schweinereien noch flankiert werden (Kriege, Kriegsstimmung schüren, Stichwort: Russland): Der herrschaftsnahe Journalismus ist die täglich zu beobachtende Realität.“

Quelle: Westend Verlag

Nicht einmal Journalisten selbst wollen den Kern der Probleme in ihrer Branche verstehen

Das Erschreckende für mich: Spricht man mit Journalisten – wie ich das kürzlich während eines Treffs von Medienleuten tat – über den realen üblen Zustand des Journalismus in diesem unserem Lande, gestehen die zwar zu, dass da einiges im Argen ist. Mitnichten aber erkennen sie anscheinend die Grundprobleme. Wollen nicht mitbekommen haben, dass die Tagesschau kaum noch ihrer Aufgabe nachkommt, Nachrichten so zu überbringen, dass ich mir als Rezipient selbst eine Meinung bilden kann – sondern im Gegenteil mir quasi verklickert wird, was ich zu denken habe! Und nicht nur allein bei der Tagesschau ist das so. Da wird Meinung gemacht. Das wird immer öfters Papageien-Journalismus betrieben. Da wird nicht nur die Meinung der Bundesregierung oder der Nato herausgetrötet. „Papageien-Journalismus“ leitet sich wohl von einer Typisierung von „Verlautbarungsjournalismus“ (Definition: kritiklose Berichterstattung in den Medien zu mehr oder weniger vorgegebenen Themen in mehr oder weniger vorgegebener Darstellung) ab, wie sie bereits Kurt Tucholsky prägte, der von den „Papagei-Papageien“ gesprochen hatte, die einfach nur etwas nachplappern, was man ihnen vorsetzt – wie verwendet in einem Beitrag von Wolfgang Lieb, einem früheren Herausgeber der „NachDenkSeiten“.

Eine bedenkliche Entwicklung

Ja, im Journalismus ist einiges im Argen. Und immer mehr Menschen erkennen dies. Doch nicht genug. Es sollten mehr werden. Eine wirklich äußerst bedenkliche Entwicklung gerade in Zeiten, da unsere Demokratie bedroht und auch schon schwer angekratzt ist. Mich als gewesener DDR-Bürger, der nicht nur in diesem verflossenen Land oft mit Kopfschütteln und Magengrummeln Medien rezipiert, sondern als Volkskorrespondent selbst auch für sie ehrenamtlich schreibend tätig war, schmerzt dieser Zustand des Journalismus umso mehr. Für gewöhnlich bin ich nicht naiv. Doch in der Umschwung- und Wendezeit Ende 1989 schrieb ich aufgekratzt – zuvor über Ungarn in den Westen gedüst- an meine hauptamtlichen JournalistenkollegInnen in meiner zuständigen Redaktion in Halle an der Saale von der Festung Ehrenbreitstein über dem Deutschen Eck aus Koblenz auf einer Ansichtskarte optimistisch, sie könnten wohl nun endlich freien und kritischen Journalismus machen. Ein bisschen schäme ich mich heute dafür.

Wir brauchen ein neues Mediensystem“ obwohl mit Bordieu gesagt die Lage „sehr dagegen“ spricht

Ich zitiere nochmal Pierre Bourdieu (wie ihn der Autor Marcus B. Klöckner oft in seinem Buch zu Wort kommen lässt): Frage an Pierre Bourdieu: „Kann sich dieses Milieu

[das der Journalisten]

reformieren?“ Antwort Bourdieu (im Jahr 1995: „Die Lage spricht sehr dagegen.“ (S. 215)

Klöckner hebt in seinem Fazit so an: „Der erste Schritt hin zu einem fundamental herrschaftskritisch ausgerichteten Journalismus besteht darin, die journalistischen Produkte radikal zu hinterfragen.“

Das geschieht. Lösungsmöglichkeiten müssen dann folgen. „Wir brauchen ein neues Mediensystem“ hat Klöckner sein „Fazit“ überschrieben. Und wohl auch andere Personen an den Schlüsselpositionen in den Medien – Ketzer! Klöckner zitiert Rupert Lay (katholischer Theologe, Psychotherapeut und Unternehmensberater) bezüglich der Definition dieses Wortes: Ketzer seien Menschen, „die an der Peripherie, weitab vom ideologischen Zentrum stehend, neue Antworten auf alte Fragen geben; neue Fragen stellen, die Antworten einfordern, die unangenehm, die beängstigend sind und nicht konform gehen mit der allgemeinen Selbstverständlichkeit“.

Um zuzuspitzen, so Klöckner, könnte man nun rufen: „Ketzer in die Redaktionen!“ Was vielleicht zu einfach wäre.

Recht aber hat Klöckner: Wir brauchen ein neues (herrschaftskritisches) Mediensystem. Aber gleichermaßen auch damit: dass dann gerade in der Hochzeit des brutalen, gesellschaftszerstörenden Neoliberalismus auch mit harte Gegenwehr zu rechnen ist.

Und ebenfalls damit, dass wir uns gerade deshalb „darüber im Klaren sein“ müssen, „dass eine tatsächlich funktionierende Presse für unsere Gesellschaft von elementarer Bedeutung ist. Und gibt der Autor zu bedenken: „Je herrschaftsnaher Medien sind, je weniger Medien bereit sind, politische Weichenstellungen fundamental zu kritisieren, umso wahrscheinlicher wird es, dass Politik sich mehr und mehr an den Interessen der Eliten und Machteliten in unserer Gesellschaft ausrichtet.“

Verschwindet die Wächterfunktion journalistischer Medien, bricht eine zentrale Säule der Demokratie weg

Mit dem zunehmenden Wegbröckeln bzw. Verschwinden der Wächterfunktion journalistischer Medien, werde es so sein, „als wäre eine zentrale Säule der Demokratie weggesprengt worden.“ Viele Bürger würden erkennen, stellt Klöckner fest, „dass weder Politik liefere, was sie solle, noch Medien lieferten, was sie versprächen. Ergo würden sich auch immer mehr Bürger im Klaren darüber sein, „wie groß die Gefahren sind, die sich aus einem Journalismus ergeben, der zu einer fundamentaler Herrschaftskritik kaum noch in der Lage ist“.

Zu Recht stünden die Medien in der Kritik, resümiert Marcus B. Klöckner. Ich schließe mich seiner Hoffnung an, dass „noch mehr Bürger begreifen, wie groß die Gefahren, die sich aus einem dysfunktionalen Mediensystem ergeben, sind.“

„Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“, heißt es in der ersten Strophe der 15strophigen Hymne „Patmos“ von Friedrich Hölderlin. Ist das so?

Ich halte es mit Klöckner: „Die Kritik an den Medien muss noch lauter werden.“

Das hier besprochene Buch wird zweifellos kompetent dazu beitragen. Es gesellt sich aus meiner Sicht verdienstvoll zu einer Reihe ebenfalls hervorragender im Westend Verlag erschienener medienkritischer Bücher hinzu. Es sagt, was ist!

Marcus B. Klöckner

Sabotierte Wirklichkeit

oder Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird

Erscheinungstermin: 14.10.2019
Seitenzahl: 240
Ausstattung: Klappenbroschur
Artikelnummer: 9783864892745