Dr. Shir Hever referierte bei Attac: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Inzwischen gibt es im Nahen Osten einen Waffenstillstand. Tote, Verletzte auf beiden Seiten – der palästinensischen und der israelischen – sowie schlimme Verwüstungen der Infrastruktur und viele zerstörte Wohnquartiere in Gaza bleiben zurück. Der immer wieder aufflammende und in nahezu regelmäßigen Abständen in Gewalt umschlagende Nahost-Konflikt ruht wieder. Aus den Nachrichten ist er ebenso wieder verschwunden.

Die Attac-Gruppe Dortmund hatte für den 31.Mai 2021 zu einer Sonderveranstaltung eingeladen. Unter den Corona-Bedingungen finden die Attac-Veranstaltungen online statt. So auch die gestrige.

Als Referent eingeladen war Dr. Shir Hever. Er ist Geschäftsführer des „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ und Vorstandsmitglied der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Zudem ist Dr. Hever unabhängiger Wirtschaftsforscher und Journalist.

Dr. Shir Hever, hat die jüngsten Ereignisse in Nahost intensiv verfolgt und darüber mehrere Artikel veröffentlicht.

Der Titel der Veranstaltung: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Hamas bezeichnet sich als Sieger nach elf Tagen Bombardement. Verlierer sind die Menschen: 248 Palästinenser*innen wurden getötet; in Israel starben 13 Menschen. Tausende wurden verletzt und obdachlos. Die Ursachen der Eskalation werden und wurden von den meisten Medien in Deutschland wie gewohnt einseitig dargestellt.

Was zweifellos mit unserer unrühmlichen nationalsozialistischen Vergangenheit und zuvörderst mit dem von Hitlerdeutschland verursachtem Holocaust im Zusammenhang steht. Und beim ersten Gedanken anscheinend richtig zu sein scheint und einleuchten mag. Aber letztlich – zu Ende gedacht – auch Fragen aufwerfen muss. Erst recht die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson sei. Wenn er das liest oder hört runzelt selbst Professor Moshe Zuckermann (hier mehr zu ihm) regelmäßig die Stirn und meint, er habe bisher immer gedacht, die Sicherheit Israels sei Staatsräson Israels. Um die jüngste Eskalation zu verstehen, muss man die Situation in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas kennen, muss die Interessen analysieren, die das Pulverfass Jerusalem, vor allem den Stadtteil Scheich Dscharrach, zum Explodieren brachten, und die auslösenden Momente für die Kriegshandlungen erforschen. Das hat Dr. Shir Hever getan und in seinem interessanten Vortrag zum Ausdruck gebracht. Hever lebt seit elf Jahren in Deutschland.

Dr. Shir Hever: Es ist kein Religionskonflikt

Hever machte gleich eingangs seines Referats klar, dass er die Definition, wonach es sich in Nahost um ein Religionskonflikt handele nicht teilt. Sehr wohl aber gebe es von Seiten der israelischen Regierung – namentlich von Premier Benjamin Netanjahu – einen Versuch, diese Angriffe und die Gewalt als Religionskonflikt darzustellen. Ohne Umschweife spricht Hever betreffs der Situation in Israel/Palästina von Apartheid. Dazu möchte ich anmerken: Erst kürzlich stellte Human Rights Watch fest: Israelische Behörden begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Verfolgung. Das sagt die Menschenrechtsorganisation in einem am 27. April 2021 veröffentlichten Bericht. Auch die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem stellte einen Bericht vor, der beweise, das Israel ein Apartheidregime „vom Fluss bis zum Meer“ aufrecht erhalte. Unterdessen hat der Internationale Strafgerichtshof (ISGH) in DIen Haag die Zuständigkeit für Palästina anerkannt und eine Untersuchung über israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Das trifft auch auf die Verbrechen der Hamas und andere Gruppen im Gazastreifen. Im Unterschied allerdings zu Israel haben die Hamas sowie die Regierung (Palästinensische Autonomiebehörde) in Ramallah im Westjordanland die Zuständigkeit des Den Haager Gerichtshofs akzeptiert. Tel Aviv ignoriere das. Dr. Shir Hever: „Aber die Israelis wissen, dass dies keine effektive Strategie ist.“

Israelische Provokationen in Scheich Dscharrach sowie an und in der al-Aqsa-Moschee

Betreffs der Ursachen des neuen Konflikts im Mai sprach Hever über die israelischen Provokationen im Ramadan-Monat im hier bereits erwähnten Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrach, nördlich der Altstadt von Jerusalem. Dem Koran nach war Scheich Dscharrach der Leibarzt des Propheten Mohammed. Scheich Dscharrach, so Dr. Hever, sei nur eines von vielen Gebieten in Palästina, wo israelische Behörden versuchen, diese von Palästinenser*innen ethnisch zu säubern. Die auf diese Weise freigewordenen Häuser sollen dann Juden bekommen. Scheich Dscharrach sei allerdings der einzige Ort, wo jüdischen Kolonisten vor einem Gericht geklagt haben, weil die Häuser vor dem Krieg 1948 Jüd*innen gehört hätten. Was tatsächlich stimmt. Und es ein Gesetz gibt, was den Vorbesitzern das Recht zuspricht, die Häuser zurückzuerhalten.

Shir Hever berichtete, dass vor 12 Jahren selbst Zionisten gegen diese Kolonisierung des Viertels protestiert hätten. Weil sie warnten, dass hier ein gefährlicher Präzendenzfall geschaffen werden könnte. Millionen palästinensischer Flüchtlinge die im Krieg von 1948 ihre Häuser verloren haben, könnten ebenfalls fordern, ihre Häuser zurückzubekommen. Allerdings entschied ein israelisches Gericht, nur Juden hätten das Recht ihre Gebiete von vor 1948 zu beanspruchen.

Premier Netanjahu hat Probleme mit der Regierungsbildung. Der Mann, der in Israel „der Zauberer“ genannt wird, weil er sozusagen immer wieder einen Hasen aus dem Hut zaubert, habe eine rechtsextreme, aus der Knesset ausgeschlossen gewesene Partei wieder zugelassen. Ausgerechnet wurde ein Büro dieser Partei in der Nachbarschaft von Scheich Dscharrach eingerichtet. Provokativ stellte die Partei Tische mit Essen und Getränken mitten im Ramadan auf die Straße, um die fastenden Muslime zu verspotten.

Später habe Netanjahu mit der Partei abgesprochen, dass sie Scheich Dscharrach verlässt. Dafür schickte er starke Polizeikräfte nach Scheich Dscharrach sowie zur al Aqsa-Moschee. Die Polizei sei nachts in die Moschee eingedrungen und habe die Muslime mitten im Gebet angegriffen. 330 Gläubige seien verletzt worden. Israel provozierte auch am Jerusalem-Tor.

Die Reaktion der Hamas folgte auf dem Fuß

Neben dieser empörenden und aggressiven Provokation brachten auch die bevorstehenden Delogierungen von Palästinser*innen in Scheich Dscharrach das Fass zu überlaufen. Die Hamas habe verlangt, dass die israelische Polizei al-Aqsa verlasse. Die aber sei geblieben. So habe die Hamas von Gaza aus ihre Raketen nach Israel gefeuert. Die israelische Armee antwortete auf den gewiss völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas elf Tage lang mit massiven Luftschlägen. Die israelische Bomben seien absichtlich auf große Wohnhäuser abgeworfen worden und hätten gezielt ein Hochhaus, in welchem internationale Medien ihre Büros hatten, in Schutt und Asche gelegt.

Im Vorfeld sei in Ostjerusalem ein Progrom organisiert und versucht worden. Hunderte jüdische jugendliche Männer hätten nach Arabern gesucht, um sie zu töten. Davon sei hier in Deutschland nicht berichtet worden, meinte Dr. Hever. Auch nicht darüber, dass die Hamas 2017 ihre Politik geändert hat. Und von ihrer ursprünglichen Charta abgerückt sei. In der späteren Fragerunde führte Hever das genauer aus: In einem politischen Manifest, das 42 Punkte umfasse. Es sage etwa: Wir haben keinen Streit mit Juden, sondern nur mit der Besatzung. Und sie seien bereit für ein unbefristeten Waffenstillstand und eine effektive Anerkennung der anderen Seite. Und sie stimmte darin zu, in Friedensverhandlungen von der PLO vertreten zu werden. Die deutsche Regierung aber ignorierte das Dokument der Hamas. (Hier finden Sie die Erklärung. Leider nur auf Englisch.)

Über die Anstrengungen Netanjahus, einen Keil zwischen die israelischen Palästinenser zu treiben und sie so zu spalten sei hierzulande ebenso nichts bekannt.

Massaker in der Stadt Lod

Des Weiteren sprach Dr. Hever über die von Juden und Palästinensern bewohnte Stadt Lod. Wie wurde sie aber zu einer gemischten Stadt? Hevers Großvater sei ein Kämpfer in der Palmach, einer Eliteabteilung der Hagana, gewesen. Einer zionistischen Miliz, die im Krieg von 1948 kämpfte. Erst nach dem Tode seines Großvaters habe Shir Hever erfahren, dass dieser an einem Massaker beteiligt war. Dabei seien etwa 8000 Bewohner*innen der Stadt vertrieben worden, die dann zu Fuß nach Jordanien gehen mussten. Alte, Kranke und Junge, die zu schwach für den Fußmarsch waren, hätten Zuflucht in einer großen Moschee gefunden. Neben bei bemerkt: Ich empfehle Ilhan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“.

Die Palmach brannten die Moschee mit den Menschen darin nieder. Juden, meist Auswanderer aus arabischen Ländern wurden in der Stadt angesiedelt. So sei die Stadt zu einer gemischten Stadt gemacht worden. Heute sei sie eine der ärmsten Städte Israels mit Problemen wie Drogensucht, Kriminalität und Gewalt.

Die Situation in Israel

Dr. Shir informierte darüber, dass Premier Netanjahu (nach mehreren Wahlen gibt es noch immer keine stabile israelische Regierung) weiter alles daran setze, um an der Macht zu bleiben. Nur so bleibt er vor einem Gerichtsverfahren wegen Korruption verschont, an dessen Ende er höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde.

Obwohl Israel inzwischen politisch weit nach rechts gerutscht sei, gebe es dennoch – auch in wenigen Medien – noch versöhnliche Stimmen. Wer sich allerdings gegen Apartheid und die Gewalt der israelischen Armee kritisch aus dem Fenster lehne werde bedroht. Einige Journalisten müssten sich von Leibwächtern schützen lassen.

Die Israelis beschleiche, so Dr. Shir,allmählich das Gefühl, dass das Ende des israelischen Staates sehr nahe ist.

Erstmals seit den 1930er Jahren zeigten Palästinenser*innen im Gazastreifen, in Israel und dem Westjordanland große Einigkeit

Im kürzlich beendeten Konflikt haben nach Ansicht von Dr. Hever die Palästinenser*innen sowohl im Gazastreifen, als auch in Israel und dem Westjordanland mehr Einigkeit gezeigt als je zuvor in den 1930er Jahren. Am zurückliegenden 18. Mai sei der erste Generalstreik der Palästinenser*innen ausgerufen. Er umfasste Gaza, das Westjordanland und Israel – „im gesamten historischen Palästina“, so merkte Dr. Hever an. Die israelischen Palästinenser*innen wurden wegen ihrer Teilnahme am Generalstreik entlassen.

Die israelische Seite hat verloren. Die Hamas machte klar, dass sie Zugeständnisse erzwingen kann. Allerdings zu einem hohen Preis

Nach der jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzung und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens hätten sich, sagte Shir Hever, „meldeten sich viele israelische Generäle und Politiker und gaben zu, dass die israelische Seite verloren hat“.

Hever: „Aus strategischer sich hat die Hamas bewiesen, dass sie israelische Zugeständnisse in Jerusalem und besonders bei der al-Aqsa-Moschee erzwingen kann. Und dass sie entscheiden kann, wann die Gewalt beginnt und wann sie endet.“

In Gaza habe man den Waffenstillstand gefeiert, als wäre er ein militärischer Sieg. Ein Sieg zu einem hohen Preis.

Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen

Inwiefern das für uns hier in Deutschland relevant ist, erklärte der Referent so: „ Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen.“ In der Tagesschau wiederhole man stets die lange Phrase „radikal-islamische Terrorgruppe Hamas“. Sie sprächen aber nicht über die „radikal-jüdische Terrorgruppe Likud“. „Denn, wenn sie das sagen würden, würde das als antisemitisch oder rassistisch gegenüber Juden angesehen werden“, so Hever. Und weiter: „Aber hat der Likud nicht mehr Hass und Gewalt gegenüber Zivilist*innen verbreitet als Hamas je getan hat?“ Die Hamas-Partei sei sehr konsequent mit ihrer Botschaft an das palästinensische Volk gewesen. Sie sagten: Wir Palästinenser sind allein auf der Welt. Die internationale Gemeinschaft wird uns nicht helfen. Sie wird nur Israel helfen. Wir müssen mit Waffen für unsere Freiheit kämpfen. Ein anderer Weg ist nicht möglich.

Shir Hever: Ich habe eine persönliche Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen

Hever ist in Jerusalem aufgewachsen. In seiner Schule wurden in den 1990er Jahren zwei Schüler durch von der Hamas angeordnete Selbstmordattentate getötet. Hever: „Für mich ist es keine Frage, ob die Palästinenser irgendwann die Besatzung besiegen und frei wird. Natürlich wird es geschehen. Aber die Frage ist wie. Ich habe eine persönliche, moralische Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen. Um zu beweisen, dass die Palästenser*innen ohne Bomben und ohne Raketen frei werden können. Die Alternative, die die Menschen in Europa anbieten können, ist die BDS-Bewegung, Boykott, Desinvesitionen und Sanktionen, eine Bewegung die von zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wird, die 2005 gegründet wurde und Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt mitreißt.“ Sie basiere auf den Menschenrecht und dem Völkerrecht. Vielen Palästinensern gebe BDS viel Hoffnung.

Hamas allerdings stelle sich konsequent gegen BDS.

Die Verleumdung des BDS in Deutschland

Dr. Hever stellte klar, dass das „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.“, deren Geschäftsführer er ist, keine Pro-BDS-Position habe. Obwohl BIP die Position vertritt, dass Menschen ein Recht haben, BDS zu unterstützen.

Der Referent erinnerte daran, „dass in Deutschland die Versuche, BDS zu verleumden, zu zensieren und zu unterdrücken besonders ekelhaft“ sind. Der Bundestag habe entschieden, dass BDS antisemitisch sei und hat öffentliche Einrichtungen in Deutschland aufgefordert, Räume für Veranstaltungen zu verbieten, in denen BDS diskutiert wird. Politiker wie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein und der Uwe Becker, Bürgermeister von Frankfurt am Main und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft haben behauptet, merkte Shir Hever an, ihre Kampagne gegen BDS zum Wohle der deutschen Juden gedacht ist. Obwohl BDS nicht zum Boykott von Juden aufrufe, schon gar nicht von deutschen Juden. „Es ist einfach eine zynische Manipulation, um die Juden in Deutschland zu Geiseln der Politik des Staates Israel zu machen“, meinte Hever.

Traurigerweise seien ähnliche Versuche, BDS zum Schweigen zu bringen, um der rechtsgerichteten Regierung Israels beizuspringen, von der Trump-Administration in den USA unternommen worden. Und in geringerem Maße auch in anderen Ländern wie Frankreich und Ungarn.

Als Freunde von Hever deutschen Beamten sagten, dass sie der Hamas in die Hände spielen, wenn sie BDS ablehnen, hätten die nicht zugehört. „Ihre blinde Unterstützung“, so Dr. Hever weiter, „für die israelische Regierung, ungeachtet der Verbrechen, die sie begeht, hat die Hamas-Unterstützer in Palästina davon überzeugt, dass sie keine andere Wahl haben als sich zu bewaffnen uns mir Gewalt zu kämpfen, um ihre Recht zu erlangen.“

In diesem Monat habe man das Ergebnis gesehen.

Es bleibe die Frage, beschloss Dr. Hever sein Referat, ob wir den Palästinenser*innen beweisen können, dass „unsere Solidarität effektiver ist als Raketen, um Gerechtigkeit zu erreichen“.

Interessante Frage- und Antwortrunde

An das Referat von Dr. Shir Hever schloss sich eine Interessante Frage- und Antwortrunde an. Till Struckberg von Attac Dortmund eröffnete sie. Er bekannte, Bauchschmerzen wegen des Titels des Referats „Hamas siegt, aber Tausende verlieren …“ zu haben.

Dazu erklärte Hever, dass jeder israelische Offizier eine Reihe von Büchern lesen müsse, die von Militärdenkern wie beispielsweise von Heeresreformer Carl von Clausewitz geschrieben worden sind.

Betreff eines Sieges sei bei Clausewitz definiert, ein Sieger zu sein sei keine Frage, welche Seite mehr Menschen verloren habe. In den meisten Kriegen der Welt verliere der Sieger mehr als der Verlierer.

Stattdessen müsse jede Seite ihre strategischen Ziele definieren. Und sehen, ob diese Ziele am Ende des Kampfes erreicht wurden oder nicht. Ziel der israelische Armee sei es gewesen die Hamas abzuschrecken. Was, so Hever, nicht erreicht worden sei. Interessant: die Hamas-Kämpfer läsen im Übrigen die gleichen Bücher der Militärdenker wie die israelischen Offiziere! Ziel sei es, auch ein Spieler zu werden in Jerusalem betreffs al-Aqsa. Dies hätte die Hamas erreicht. Zudem sei ihnen eine Demütigung Israels gelungen. Allerdings hätte es dabei tausende Verlierer gegeben. Wenn nicht Millionen. Schließlich seien die Ziele der Hamas nicht gleichzeitig die Ziele aller Palästinenser. Wiewohl die Ziele der israelischen Regierung nicht automatisch die Ziele aller Israelis seien.

Natürlich kam auch die Frage nach der Zweistaatenlösung. Shir Hevers Antwort: Sie ist möglich. Allerdings wären die Kosten dafür hoch. Und für die jüdischen Siedler selbstredend sehr schwierig. Ob das die beste Lösung ist wäre wiederum eine andere Frage, so der Referent.

So gebe es Palästinenser, die sagten eine Demokratie – eine Person/eine Stimme -, etwa wie in Südafrika, wäre die bessere Lösung.

Ob das realistisch ist, fragte jemand. Schließlich wären ja dann die Juden in der Minderheit. Shir Hever darauf: „Das Konzept von einem jüdischen Staat ist ein rassistisches Konzept. Das darf sowieso nicht existieren.“

Es gebe ein Unterschied zwischen Staat für Juden und einem jüdischen Staat. Hannah Arendt habe das ausführlich beleuchtet. Jüdischer Staat sage, der Staat selbst ist jüdisch. Die Menschen müssten diesem Staat in dieser Hinsicht dienen. Was eine sehr undemokratische Idee sei. Ein Konzept eines Staates für Juden bedeute, ein Staat, wo Juden gleiche Rechte haben, wie jeder andere. Ein Staat für Juden sei im Beginn des 20. Jahrhunderts kaum zu finden. Heute sei ein solcher Staat beispielsweise Deutschland. Warum also sollte ein künftiger Staat Israel oder Palästina – je nachdem wie dieser dann hieße – nicht so ein Staat für Juden sein?

Wer dann in diesem Staat die Mehrheit hat, sei ja dann den jeweiligen Staatsbürgern – Juden und Palästinensern – überlassen und deren Kinderplanung.

Ursprünglich habe es ja einst, erklärte Hever, auch kein Frauenwahlrecht gegeben. Davor hätten die Männer Befürchtungen gehabt, weil es mehr Frauen gebe.

Inzwischen habe sich das eingespielt und wohl kaum noch in Frage gestellt.

Dr. Hever wurde gefragt, ob man dann nicht befürchten müsse, dass Juden im Einheitsstaat getötet würden. Aus Rache. Darauf entgegnete Dr. Hever wieder mit einem Verweis auf Südafrika. Dort hätten ja die Weißen – einst mit Apartheid herrschende Minderheit – befürchtet, dass die Schwarzen sie dann ermorden würden. Dass sei aber dann nicht passiert.

Dr. Shir Hever hält durchaus – auf Nachfrage antwortend – auch eine Versöhnungskommission abermals mit Verweis auf Südafrika für angebracht. Auch Palästinenser*innen könnten sich das gut vorstellen. Sie verwiesen aber zu recht darauf: Das diese Versöhnungskommission in Südafrika erst möglich wurde nach dem Ende der Apartheid.

Die Frage nach den Möglichkeiten der EU den Nahostkonflikt einer Lösung zuzuführen, beantwortete Shir Hever so zunächst mit einem Hinweis auf das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel, das bereits existiere. Den Bedingungen, der Menschenrechtsklausel nach, dürfe diesbezüglich kein Land eine solche Möglichkeit bekommen, das Menschenrechte systematisch verletzt.





Hever: Wenn die EU ihre eigenen Gesetze ernst nähme und sage, solange es keine Demokratie mit gleichen Rechten für alle in Israel/Palästina gibt, können wir das

Assoziierungsabkommen mit Israel nicht weiter verlängern. Das wäre für israelische Wirtschaft ein Desaster. Shir Hever: „Dann sehen wir in einer Woche – ich bin fest überzeugt – werde die israelische Regierung sagen, unter diesen Bedingungen haben wir keine Wahl. Wir müssen entweder die Besatzung zu Ende bringen oder ein Nationalwahl im Israel-Palästina-Gebiet haben, um eine demokratische Regierung zu bilden.“

Eine interessante Veranstaltung war das mit Dr. Shir Hever. Die wahrscheinlich, wäre sie öffentlich in einer städtischen Einrichtung geplant gewesen, keinen Raum gefunden hätte. Und die üblichen Verdächtigen hätten behauptet die Veranstaltung wäre antisemitisch. Allein, weil kurz über BDS gesprochen worden wäre. Darüber einmal nachzudenken ist angebracht.

Beitragsbild: via Weltnetz.TV

Anbei gegeben via Activismmunich

Abschließend noch einige Beiträge mit Links zu meinen Beiträgen, welche zur Thematik passen, sowie ein Link zu Videos, in denen Dr. Shir Hever spricht:

https://clausstille.blog/2019/11/22/pressemitteilung-von-attac-dortmund-und-dgb-dortmund-diskussion-zum-ratsbeschluss-gegen-antisemitismus-referent-andreas-zumach/




https://clausstille.blog/2018/09/18/der-allgegenwaertige-antisemit-oder-die-angst-der-deutschen-vor-der-vergangenheit-ein-neues-wichtiges-buch-von-moshe-zuckermann/


https://clausstille.blog/2021/04/07/jerusalemer-erklarung-200-holocaust-forscher-wenden-sich-dagegen-kritik-an-israel-als-antisemitismus-zu-diffamieren/


https://clausstille.blog/2017/10/04/die-antisemitenmacher-wie-neue-rechte-kritik-an-der-politik-israels-verhindert-ein-ungemein-wichtiges-buch-von-abraham-melzer/


https://clausstille.blog/2019/12/13/wider-den-antisemitenmachern-der-vortrag-des-journalisten-andreas-zumach-in-dortmund-fand-statt-israel-palastina-und-die-grenzen-des-sagbaren/


https://clausstille.blog/2014/03/25/dr-khouloud-daibes-botschafterin-palastinas-das-andere-gesicht-des-palastinensischen-widerstands/

https://weltnetz.tv/personen/shir-hever


Wider die „Antisemitenmacher“. Der Vortrag des Journalisten Andreas Zumach in Dortmund fand statt: „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“

Die Veranstaltung von DGB Dortmund, At­tac Dortmund, dem Nachdenktreff und der AG Globalisierung konkret in der Aus­landsgesellschaft mit dem Journalisten Andreas Zumach und dessen Vortrag: „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“ in der Pauluskirche hatte im Vorfeld Kritik ausgelöst. Die Jüdische Gemeinde hatte die Veranstaltung sogar verhindern wollen. Leider kein Einzelfall in Deutschland. Die junge GEW erhob ebenfalls Widerspruch. Indes die Veranstaltung fand statt. Andreas Zumach konnte seine Sicht auf die Dinge darstellen, Missverständnisse ausräumen und auf falsche Tatsachenbehauptungen hinweisen. Und im Anschluss wurden an ihn aus dem Publikum Statements und Fragen herangetragen. Es ging kontrovers – im Großen und Ganzen aber – einigermaßen sachlich zu. Vor der Veranstaltung hatte die junge GEW und die Antifa eine Protestkundgebung gegen diese vor der Kirche abgehalten.

Protest gegen die Veranstaltung vor der Pauluskirche. Fotos: Stille

Der Hintergrund

Im September 2019 hatte die Jury des angesehenen Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund bekannt gegeben, den diesjährigen Preis der pakistanisch-britischen Schriftstellerin Kamila Shamsie zuzuerkennen.
Drei Tage später nahm sie davon wieder Abstand. Was war passiert? Kamila Shamsie bekennt sich zur BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“), die in Anlehnung an die frühere Kampagne gegen den Apartheid-Staat Südafrika für einen internationalen, gewaltfreien Boykott des Staates Israel eintritt, bis die völkerrechts- und menschenrechtswidrige Besatzungs- und Be­siedlungspolitik der israelischen Regierung beendet ist.

Die Rücknahme des Jury-Beschlusses stützt sich auf einen Beschluss des Dort­munder Rates vom Februar des Jahres, in dem die BDS-Bewegung als „antisemitisch“ bezeichnet wird. Dieser Beschluss reiht sich ein in eine Anzahl weiterer Beschlüsse von Kommu­nen, Landesparlamenten und dem Bundestag.

Zu Andreas Zumach und dessen Vortrag

Andreas Zumach, selber kein Unterstützer von BDS, wandte sich in seinem Vortrag gegen die zahlreichen Versuche, legitime Kritik an der völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik der israelischen Regierung als antisemitisch oder antiisraelisch zu diffamieren und zu unterbinden.

Für einen Boykott von Waren aus und gegen ein Investment in den von Israel besetzten Gebieten spricht er sich aus.

Gegen einen Boykott von Wissenschaftler und Künstlern aus Israel ist er strikt.

Andreas Zumach ist seit 1988 Schweiz- und UNO-Korrespondent der taz  am europ­äischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Als freier Journalist arbei­tet er auch für andere deutsch- und englisch­sprachige Print- und Rundfunkmedien. Dar­über hinaus hat er mehrere Bücher
veröf­fentlicht. 2009 wurde ihm für sein friedens- und men­schenrechtspolitisches Engagement der Göt­tinger Friedenspreis verliehen.

DGB-Vorsitzende Jutta Reiter: Die Gewerkschaft lehnt einen Boykott gegen Israel ab, ist aber stets zu einem sachlichen Meinungsaustausch bereit

Zur Information der zahlreich erschienen Besucher in der Dortmunder Pauluskirche erinnerte die Vorsitzende des DGB Dortmund Hellweg, Jutta Reiter, daran, dass in dieser auch vom DGB mit getragenen Veranstaltungsreihe öfters schon Referenten aufgetreten seien, die sich mit unterschiedlichen kritischen Themen auseinandersetzten, „die nicht mit den Positionen des DGB übereinstimmen“. Im Sinne einer lebendigen Demokratie hielte es der DGB jedoch für notwendig zuzuhören und zu streiten. Das gelte auch für die Veranstaltung mit Andreas Zumach. Reiter machte deutlich, dass der DGB Dortmund sowie der DGB insgesamt die BDS-Bewegung in keiner Weise unterstütze. Reiter: „Wir lehnen Boykott gegen Israel ab und wir distanzieren uns eindeutig von den Kampagnen“. Auf allen Plätzen der Kirche lag ein dementsprechendes Papier mit der eindeutigen Positionierung des DGB dazu aus.

Die Chefin des DGB Dortmund Hellweg weist auf das auf den Kirchenbänken ausgelegte Positionsverband des DGB-Landesvorstands NRW hin.

Für Reiter selbst ist besonders problematisch, dass der Austausch zwischen Wissenschaftlern, Kulturen – zwischen Menschen gestoppt werden soll. Das entmenschliche uns und bringe uns bezüglich von Lösungen in keiner Weise weiter. Man habe der Veranstaltung nur zugestimmt, befürchtet, dass aufgrund der vom Bundestag beschlossenen Definition, die auch von Ländern übernommen worden sind, Diskussionen zum Thema in städtischen Räumlichkeiten verunmöglicht werden. Und womöglich rechtsgerichtete Organisationen, die nichts mit unseren Werten zu tun hätten, die Meinungsführerschaft über das Thema übernähmen. „Alleine mit Abtauchen und Beschlüssen ist es nach unserer Meinung nicht getan. Wir sehen uns in der Pflicht einer aktiven Auseinandersetzung zu diesem Thema“, erklärte die DGB-Chefin.

Es gelte zu diskutieren, einen Meinungsstreit zu führen und nicht totzuschweigen.

Der eigentlich Skandal in der heutigen Zeit für Jutta Reiter ist, „dass Jüdinnen und Juden in unser Stadt aber auch anderswo Angst haben müssten, wenn solche Veranstaltung wie heute stattfinden“. Da habe man gemeinsam noch große Herausforderungen zu bestehen.

Till Strucksberg (Attac) kritisierte das ausgelegte Positionspapier des DGB NRW und, dass massiv versucht worden sei die Veranstaltung zu unterdrücken

Till Strucksberg (Attac Dortmund) in seiner Funktion als Mitveranstalter bedauerte, auf das in der Kirche vom Landesverband des DGB NRW stammende ausgelegte Positionspapier verweisend, dass darin „nicht mit einem Wort auf den eigentlichen Grund für die Notwendigkeit dieses heutigen Abends eingegangen worden sei. Nämlich auf die menschenrechtswidrige Politik der israelischen Regierung in den von Israel widerrechtlich besetzten Gebieten, auf die Frage, ob diese Kritik mit unserer besonderen Verantwortung als Nachfahren der Täter des Holocaust vereinbar ist und ob diese Kritik mit dem Totschlagargument ‚Antisemitismus‘ unterdrückt werden darf“.

Till Strucksberg von Attac Dortmund.

Auch hier in Dortmund sei diese Unterdrückung in einem Maße versucht worden, wie es die Artikel in den Medien nur ansatzweise ahnen ließen. Weshalb sein Dank an Jutta Reiter, den DGB Dortmund gingen, die bei allen Meinungsverschiedenheiten das Recht auf die Diskussion auch „von unter uns strittigen Themen“ immer verteidigt hätten. Strucksberg gab allerdings auch zu bedenken: „Das Bestehen auf dem Recht auf freie Meinungs- und Diskussionsmöglichkeit ist keineswegs mehr normal.“ Das zeige sich bei der fehlenden öffentlichen Diskussion des Anlasses für diese Veranstaltung.“ Till Strucksberg bezog sich auf die hier bereits erwähnte Grundsatzerklärung zur Bekämpfung von Antisemitismus und den Beschluss des Rates vom Februar, der die BDS-Bewegung explizit als „antisemitisch“ bezeichnet.

Ebenfalls ohne öffentliche Diskussion sei die Zurücknahme des diesjährigen Nelly-Sachs-Preises an die Schriftstellerin Kamila Shamsie „unter den Teppich gekehrt“ worden, weil sie sich als Unterstützerin der BDS-Bewegung offenbart habe.

Andreas Zumach: Dank an die Kirchengemeinde, „dass sie nicht vor dem Druck zurückgewichen sind, diese Veranstaltung doch noch zu verbieten

Andreas Zumach dankte eingangs seines Vortrages der Pfarrerin, dem Pfarrer, dem Kirchengemeinderat ausdrücklich, „dass sie nicht vor dem Druck zurückgewichen sind, diese Veranstaltung in diesen Räumen dann vielleicht doch noch zu verbieten“. So sei das leider in den letzten zwölf Monaten in der Mehrheit aller Fälle gewesen, dass in kirchlichen Einrichtungen das ein Auftreten mit kritischen Inhalten zur israelischen Regierungspolitik verboten wurde. Von mehren jüdischen Gemeinden in Deutschland, erzählte Zumach, sei er diffamiert worden in diesem Jahr.

Wir Deutsche haben eine besondere, eine doppelte Verantwortung „für eine gesicherte und auf Dauer unbedrohte Existenz der Staates Israel“, stellte Zumach fest

Zumach verwies angesichts dieser Veranstaltung auf die besondere, eine doppelte Verantwortung, die wir Deutschen „für eine gesicherte und auf Dauer unbedrohte Existenz des Staates Israel“ haben. Des Weiteren hätten wir die Verantwortung, „jeder Form von Judenfeindlichkeit, wo und wie immer sie sich äußert, entschieden öffentlich und sofort entgegenzutreten“.

Diese Verantwortung wolle Zumach aber ausdrücklich differenziert vom Begriff „Staatsräson“ wissen. Den Begriff gebrauche leider nicht nur immer wieder Bundeskanzlerin Merkel, wenn sie das Verhältnis zu Israel kennzeichne, sondern auch etwa Gregor Gysi. Staatsräson, habe Zumach einmal gegenüber Gysi erklärt, sei eine Begrifflichkeit aus der Zeit der Nationalstaatswerdung auf dem europäischen Kontinent. Der zunächst positiv besetzt gewesen sei. Der Begriff habe gemeint, dass Staat und dessen gewählte Regierungen eine Verpflichtung hatten, zum Schutz gegenüber allen Bürger*innen, aber auch das Gewaltmonopol haben. In der Phase des preußischen Obrigkeitsstaates sei dieser Begriff „immer mehr pervertiert“ worden. Da sei es nämlich darum gegangen, jemanden zur Räson zu ziehen, um Befehl und Gehorsam ohne Widerspruch, ohne kritische Nachfragen. Bei jüngeren Leuten, habe er Gregor Gysi bedeutet, werde man so bei der Bekämpfung von Antisemitismus das genaue Gegenteil bewirken. Man müsse immer wieder neu begründen, warum wir Deutschen eine besondere Verantwortung gegenüber Israel haben.

Eine unbedrohte Existenz des Staates Israel kann es nur geben, wenn auch die universell gültigen Menschenrechte für die Palästinenser*innen umgesetzt sind

Der Kern des Streites sei doch, wie denn unsere besondere Verantwortung wahrzunehmen sei. Andreas Zumach: „Es wird und kann eine sichere und auf Dauer auch unbedrohte und nicht mehr infrage gestellte Existenz eines Staates Israel nur geben und nur geben können,wenn auch die universell gültigen Menschenrechte für die Palästinenserinnen und Palästinenser umgesetzt sind. Und ihr völkerrechtlich verbrieftes Anrecht auf staatliche Selbstbestimmung.“

Wenn das stimme, so Zumach, dann sei Kritik an völkerrechtswidriger Besatzungs- und Besiedlungspolitik auch aus deutschem Munde nicht nur völlig legitim und zwar ganz präzise Kritik an Regierungspolitik. Nur darum gehe es: „Es geht nicht um Israel-Kritik. Das ist ein Pappkamerad,, der hier aufgebaut ist.“ In diese Falle solle man nicht gehen.

Es gehe darum, „dass es eines Tages eines Tages eine unbedrohte Existenz Israels gibt und auch die Verwirklichung der Menschenrechte und der Völkerrechte der Palästinenser*innen.

Zumach: Einiges, was im Vorfeld seines Vortrages geäußert wurde, war „einfach falsch“

Zumach verwies auf seinen im letzten Jahr an der LMU in München gehaltenen Vortrag (Links dazu unter diesem Beitrag) und darauf, dass einiges, was im Vorfeld seines Vortrages hier in Dortmund geäußert worden sei, „einfach falsch“ ist.

Unterschiedliche historische Narrative, von denen ausgegangen wird

Der Referent: Man müsse sich unbedingt verdeutlichen, was denn die historischen Narrative betreffs Palästinas seien, von denen man jeweils ausgeht. Dazu hatte Zumach eine Karte von Palästina von 1946 bis in unsere Zeit (unter diesen Beitrag verlinkt) per Projektion gezeigt. Allerdings war ein technischer Fehler aufgetreten, sodass die erste Grafik nicht sichtbar war. Da wäre das Territorium zwischen Mittelmeer und Jordan, erklärte Zumach, – zu 90 Prozent grün und zehn Prozent weiß: der Stand des Jahres 1946 unter britischer Mandatsverwaltung.

Foto (Archiv): Stille, aufgenommen bei einem Vortrag der Botschafterin Palästinas, Daibes, in Dortmund vor einigen Jahren.

Eine Minderheit unter den Palästinenser*innen betrachte das als ihr Staatsgebiet. Das weist Zumach aber zurück.

Auch in der israelisch-jüdischen Community wiederum gebe es ein Minderheitennarrativ: Man hätte seit 3000 bzw. 5000 Jahren jüdischer Geschichte Anspruch auf dieses Land. Das könne ebenfalls nicht akzeptiert werden, so Andreas Zumach.

Die Entwicklung ist über den Status von 1947 hinausgegangen. Resolution 181 bis heute ohne Einschränkung gültig

Zumach erläuterte am Bild wie 1947 die UNO-Generalversammlung in ihrer Resolution 181 am 29. November 1947 den Teilungsplan beschloss. 54 Prozent des Territoriums war darin für einen künftigen Staat Israel und 46 Prozent für einen künftigen Staat Palästina vorgesehen.

Bestimmte Palästinenser*innen bestünden heute noch auf diesen 46 Prozent. Zumach: Dagegen könne nichts eingewendet werden. Schließlich sei die Resolution 181 bis heute ohne Einschränkung gültig.

Doch Zumach würde allerdings auch dieses Narrativ zurückweisen. Denn die Entwicklung seit 1947 sei über diesen Status weit hinausgegangen. Das sei auch von relevanten Vertretern der Palästinenser*innen anerkannt worden.

PLO-Präsident erkannte Israel an

Schon nach Gründung des israelischen Staates (1948) habe Israel bereits im Jahre 1949 de facto über 78 Prozent für die israelisch-jüdisches Seite unter ihre Kontrolle gebracht. 22 Prozent blieben für einen künftigen palästinensischen Staat. Im 1967er Krieg seien diese 22 Prozent (Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem) auch noch unter israelische Besatzung geraten.

Verhandlungen, die unter der Bedingung in Genf stattfanden, dass PLO-Präsident Yassir Arafat vor der UNO-Generalversammlung Israel anerkenne und und bestimmte Sätze der Gründungscharta der PLO revidiere, habe es 1988 in Madrid gegeben.

Das Oslo-Abkommen weckte Hoffnungen auf die Realisierung der Zweistaatenlösung

Später hätten dann Geheimverhandlungen unter norwegischer Vermittlung zum Oslo-Abkommen geführt. Was dann zu großen Hoffnungen Anlass gegeben habe, dass nun die Zweistaatenlösung in greifbare Nähe rücke.

Diese habe auf der Territorialverteilung von 1978 basiert, zu 22 Prozent für die Palästinenser*innen. Dahinter, meinte Zumach, könne man nicht zurück.

Später habe Israel aber beklagt, man habe auf palästinensischer Seite keinen Partner auf der anderen Seite mehr. Die sei aber, so der Referent, auch kein Argument dafür den Palästinenser*innen einen eignen Staat vorzuenthalten und die Besatzung die illegale Besiedlung immer weiter zu treiben.

Auch die Hamas verübte – wie die israelische Armee – Kriegsverbrechen.

Klar sei auch, dass die Hamas mit Angriffen auf Israel auch Kriegsverbrechen verübe. Allerdings sei dafür längst nicht immer die Hamas verantwortlich, sondern inzwischen auch Kämpfer des IS. Genau wie umgekehrt Luftangriffe der israelische Armee auf den Gazastreifen ein Kriegsverbrechen seien.

Diese und die Einschnürung des Gazastreifens durch Israel treibe unter den Palästinenser*innen eine Frustration und Radikalisierung voran.

Das Narrativ der Zweistaatenlösung sei zwar auf beiden Seiten noch nicht völlig verschwunden, jedoch die Chance einer Realisierung kleiner geworden.

Andreas Zumach: „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist das wichtigste Dokument, was es auf der Erde überhaupt gibt“

Andreas Zumach beteuerte, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte für ihn „das wichtigste Dokument ist, was es auf dieser Erde überhaupt gibt“: „Ein Schatz!“

Andreas Zumach: „Ich bin ein Menschenrechtsfetischist.“

Zumach bekannte: „Ich bin ein Menschenrechtsfetischist. Wir haben keine andere verlässliche Richtschnur für politisches Handeln als diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.“

Völkerrecht ist unmittelbar gültiges Recht – auch bei uns“

Die Resolution des UNO-Sicherheitsrates 242 (nach dem 1967er Krieg), wonach die israelische Seite zur vollständigen und sofortigen Beseitigung der völkerrechtswidrigen Besatzung aufgerufen wurde, gelte bis heute uneingeschränkt. Auch die BRD und alle in ihr tätigen Politiker seien daran verantwortlich gebunden. Zumach: „Völkerrecht ist unmittelbar gültiges Recht – auch bei uns.“

Er sagte das ausdrücklich im Zusammenhang mit dem kürzlich erfolgten Beschluss des Europäischen Gerichtshofs, wonach Waren aus den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten, die in die EU exportiert werden exakt ausgezeichnet werden müssen, damit die Kund*innen die souveräne Entscheidung haben, ob die sie kaufen wollten oder nicht.

Kritik an israelischer Regierungspolitik als antisemitisch-antiisraelisch zu brandmarken, das wird schon länger betrieben. Eine Kampagne richtete sich vor allem gegen Juden

Legitime Kritik an israelischer Politik, merkte Andreas Zumach an, seitens Israels als antisemitisch zu brandmarken habe es übrigens schon lange vor dem Erscheinen der BDS-Kampagne gegeben. Bereits in den Mitte der 1970er Jahre. Schon 1974 habe Israel eine Kampagne zur Erklärung der eignen Politik namens Hasbara gestartet. Eine Propagandakampagne, die das eigne Image international aufpolieren soll. Was auch andere Staaten täten. Jedoch sei bis dahin zurückzuverfolgen, wie seither Kritik an israelischer Regierungspolitik als antisemitisch-antisraelisch gebrandmarkt wird. Diese Kampagne habe sich vor allem gegen Juden gerichtet. Gegen israelische, deutsche und amerikanische Jüd*innen, die gewagt hätten, sich kritisch gegen israelische Regierungspolitik zu äußern. Zumach nannte einige Beispiele, inzwischen teilweise verstorbener Personen: Uri Avnery, die Rechtsanwältin Felicia Langer sowie Friedensaktivist Reuven Moskovitz, Rolf Verleger (einst Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Lübeck und Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland), Reiner Bernstein (wurde als „selbsthassender Jude“ bezeichnet, obwohl er gar kein Jude ist) sowie den Völkerrechtler Richard Goldstone.

Zu Goldstone: er sollte die Kriegsverbrechen der Hamas im Gaza-Krieg in Israel untersuchen, durfte aber niemals nach Israel einreisen. Er hat aber über Telefoninterviews viele Fakten zusammengetragen, die den Vorwurf von Kriegsverbrechen der Hamas rechtfertigten. Allerdings hat Goldstone auch im Gazastreifen die Tatsachen israelischer Kriegsverbrechen festgestellt. Der so entstandene Goldstone-Bericht sei ihm zum Verhängnis geworden. Zumach: „Ich habe selten erlebt, wie ein Mann so zerstört worden ist.“ Auch Goldstone wurde zum Antisemiten gestempelt.

Ministerpräsident Benjamin Netanyahu habe einmal gesagt: „Israel unterliegt keinerlei militärischen Bedrohung.“ Aber BDS sei eine existentielle Bedrohung. Es geht wohl in erster Linie um das Image des Landes. Zur BDS-Bekämpfung sei eigens eine Sonderabteilung geschaffen worden.

Ein Vorwurf, der dem BDS gemacht wird, läuft ins Leere

Diese Kampagne sei also nicht neu, sondern habe in Reaktion auf BDS nur eine neue Eskalationsspirale erreicht. Die Forderung des BDS nach Rückkehr aller palästinensischer Flüchtlinge werde von deren Kritiker*innen immer gerne dazu benutzt zu sagen, damit solle die Existenz Israels zerstört werden. Völkerrechtlich klar sei zwar: Jeder Flüchtling besitze das Recht in seine Heimat zurückzukehren. Umfragen jedoch hätten ergeben, lediglich 800.000 Palästinenser*innen würden das Recht dann auch wirklich in Anspruch nehmen.

Die drei Ziele des BDS (Quelle: Wikipedia)

  • die „Besatzung und Kolonisierung allen besetzten arabischen Landes“ beenden und die Mauer abreißen,
  • das „Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit“ anerkennen,
  • das Recht der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, respektieren, schützen und fördern, wie es in UN-Resolution 194 vereinbart worden sei.[24]

Klarstellungen, Kritik an Falschbehauptungen und das Recht auf Meinungsfreiheit

Andreas Zumach befürwortet den BDS nicht. Den Vorwurf jedoch, der BDS sei antisemitisch hält er aber für falsch.

Dass die Jüdische Gemeinde Dortmund behauptet habe, er hätte versucht BDS vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen, sei „eine schlichte Falschbehauptung, eine tatsachenwidrige Falschbehauptung“ machte Zumach in der Pauluskirche klar. An die Adresse des DGB-Landesvorstandes NRW gerichtet, sagte der Journalist: in der dessen Erklärung hätte er sich differenzierte Töne gewünscht. Selbst, wenn man dort den BDS für antisemitisch halte, gebe es ein Recht auf Meinungsfreiheit für die BDS-Leute. Das habe selbst die ehemalige EU Außenkommissarin Federica Mogherini immer wieder betont.

Klage gegen Anti-BDS-Beschluss in München

In München, berichtete Zumach, existiere ein Beschluss, wonach sich in städtischen Räumen niemand zu BDS äußern dürfe. Das gelte selbst dann, wenn gegen den BDS gesprochen werden solle. Dagegen wurde geklagt. Die Klage eines Mannes sei zunächst abgewiesen worden. Aber womöglich werde der sich an höhere Instanzen wenden.

240 jüdische und israelische Wissenschaftler wandten sich mit einem Aufruf an die Bundesregierung

240 jüdische und israelische Wissenschaftler, informierte Zumach, hätten sich mit einem „Aufruf an die Bundesregierung mit der Bitte gewandt: Setzen sie „BDS“ nicht Antisemitismus gleich“ (Link unter diesem Artikel).

Andreas Zumach zur Demo vor der Kirche

Zur Demo der jungen GEW vor der Veranstaltung auf der Straße äußerte sich Zumach ebenfalls. Er teilte die Meinung einer Rednerin, wonach man gegen Judenfeindlichkeit und Antisemitismus angehen müsse. Aber Behauptungen über seine Person, die ihn in „assoziative Nähe zu Rechtspopulismus“ stellten, seien infam.

Klare Distanzierung

Ebenfalls stellte er klar, dass er sich von populistischen Sprüchen, wie in der Stellungnahme der Jüdischen Gemeinde Dortmund erwähnt, „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, immer schärfstens distanziert hat. Die Gemeinde, kritisierte Zumach habe ihn in ihrer Stellungnahme falsch und verzerrt zitiert.

Man möge sich doch bitte nicht des Rufmordes bedienen, wie dies bestimmte Kreise täten.

Ein Vergleich, den Zumach als infam bezeichnete

Auch zum Boykott sagte Zumach noch etwas. Dass von BDS-Gegnern immer wieder der Vergleich zu „Kauft nicht beim Juden“ in Anschlag gebracht wird, sei in Bezug auf von BDS angeprangertem Besatzungsunrecht infam.

Andreas Zumach: „Die ganze Geschichte wirtschaftlicher Druckmaßnahmen ist ausschließlich eine Geschichte von wirtschaftlichem Druck, um Situationen des Unrechts und Unterdrückung der kolonialen Ausbeutung und Diskriminierung zu überwinden. Das fange mit den Quäkern in den USA an, welche zu wirtschaftlichem Druck gegen Sklavenhalter aufriefen. „Kauft nicht beim Juden!“, sei das einzige Beispiel in der Geschichte, wo wirtschaftliche Druckmaßnahmen gegen eine Minderheit zu ihrer Diskriminierung und ihrer Schädigung eingesetzt wurden und war der Beginn der Straße, die nach Auschwitz führte Wer den Vergleich anstellt, der hat entweder den Holocaust nicht verstanden oder aber verharmlost den Holocaust und seine Opfer.“

Fragen aus dem Publikum und kontroverse Wortwechsel

Andreas Zumach stellte sich vielen kritischen Fragen. Die diffamierenden Anwürfe betreffs der Veranstaltung kritisierte ein Herr hart. Worum es Andreas Zumach hauptsächlich geht, erklärte er so: „Weil ich sehe, dass dieser inflationäre Antisemitismusvorwurf mit dem immer wieder gearbeitet wird, den dringend notwendigen Kampf gegen Judenfeindlichkeit schwächt.“

Nach einem Statement eines älteren GEW-Gewerkschafters sprachen Andreas Zumach „schon problematische Zustände in unseren Gewerkschaften“ an. In München habe die DGB-Jugend, die Linksjugend, Die Falken und die Grüne Jugend eine Veranstaltung mit Falschbehauptungen diffamiert.

Von anderen ähnlichen Vorgängen hatte Zumach Kenntnis. Man müsse davon abkommen, hinterrücks und mit Verleumdungen zu agieren. Er wies diesbezüglich auch auf das bedenkliche Treiben der Antideutschen hin.

Ein Mann stellte sich am Mikrofon als „Antisemit“ vor. Ihm wurde entsprechend eines zur Kenntnis gegebenen Hinweises zur Veranstaltung verwehrt sich zu äußern.

Andreas Zumach sprach noch die sogenannte Arbeitsdefinition von Antisemitismus an, auf der Antisemitismus-Beschluss des Bundestages sowie der von Ländern und Kommunen beruhe. Dieser wiederum orientiere sich an an einer Vorlage der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Deren Definition

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“

bezeichnete Zumach „als fürchterlich vage“. Kritiker sagten, das sei nicht wirklich brauchbar.

In Deutschland gebe es in Bezug auf Antisemitismus keinen Strafrechtsparagrafen. In der Schweiz, wo Zumach seit 30 Jahren wohnt, gibt es Antisrassismus-Strafnorm, unter der sei es auch möglich gewesen, Menschen, die sich judenfeindlich geäußert hätten, juristisch vorzugehen.

Zumach selbst nannte seine persönliche Definition, die seiner Meinung nach völlig ausreichen würde:

Judenfeindlichkeit ist jede Form von Diskriminierung, Beleidigung, Unterdrückung, Gewalt gegen und sonstiges Vorgehen gegen Menschen, weil sie Juden sind.“

Andreas Zumach gab auch zu bedenken, dass der Zentralrat der Juden immer so tue, als vertrete er alle Jüd*innen in Deutschland – das tue er nicht. „Aber wenn der Zentralrat dann immer wieder, wenn es um israelische Politik geht, um israelisches Vorgehen – auch militärisches – von sich aus völlig ohne Not sich dazu öffentlich verhält, das unterstützt, dann kann er sich nicht darüber wundern, das Menschen dann auch den Zentralrat kritisch ansprechen bezüglich israelischer Politik.“

Zu Diffamierungen Veranstaltung in Dortmund sagte Zumach noch: Er finde es schon absurd, dass diejenigen, die die Meinungsfreiheit einschränken wollen, indem sie eigentlich diese Veranstaltung verhindern wollten und das mit Verleumdungen tut. Und wenn man sich dann dagegen wehrt, dass sie dann aufschreien: O, der will ja unsere Meinungsfreiheit einschränken.“

In der DGB-Jugend gibt es ein Problem, meinte Zumach. Dort hätten die Antideutschen (hierzu mehr) in den letzten zehn Jahren sehr erfolgreich agitiert. Damit müsse sich der Erwachsenenteil des DGB stärker auseinandersetzen.

Fazit

Eine wichtige Veranstaltung war das in der Pauluskirche Dortmund. Man wünschte sich auch an anderen Orten in Deutschland mehr Mut bei angefragten Veranstaltern – seien es kirchliche oder kommunale. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Der Vortrag von Andreas Zumach „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“ fand statt. Das ist gut so. „Antisemitenmacher“ (nach einem Buchtitel von Abraham Melzer) und Diffamierer, die den Vortrag massiv hatten verhindern wollen, kamen nicht durch damit. Das ist den mutigen Veranstaltern des Abends zu verdanken, die sich nicht hatten einschüchtern lassen. Die Meinungsfreiheit siegte. Einer bedenklichen Entwicklung, wobei unbequeme Meinungen be- und verhindert sollen, ist hier einmal entgegengetreten worden. Fast könnte man bezüglich dieser Entwicklung – in zwar etwas anderem Zusammenhang – von einer Art neuem McCarthyismus sprechen. Jedenfalls was deren diffamierende Wirkung angeht.

Dazu passend: „Diskurs-Manipulation“ von Karin Leukefeld (Quelle: Rubikon)

Links

https://www.rosalux.de/publikation/id/41168/gutachten-zur-arbeitsdefinition-antisemitismus-der-ihra/

https://www.anders-denken.info/informieren/%E2%80%9Earbeitsdefinition-antisemitismus%E2%80%9C-ihra

https://de.wikipedia.org/wiki/Boykott

https://www.infosperber.ch/Medien/Antisemitismus-BDS-Israel-Lobby-Suddeutsche-Andreas-Zumach

https://de.wikipedia.org/wiki/Goldstone-Bericht

http://palaestina-portal.eu/texte/boykott_israel_BDS.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Hasbara

Klicke, um auf Zumach-2018.pdf zuzugreifen

https://www.ngo-online.de/2013/10/05/zur-geschichte-israels-und-palastinas/

http://palaestina-portal.eu/Karten-palestina-von-der-landkarte-verschwunden.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Antideutsche

1. Klima-Dialog Dortmund hatte einen gar nicht mal so üblen Start, der zuversichtlich stimmte

Vergangenen Samstag hatte in der Dortmunder Pauluskirche der 1. Klimadialog Premiere. Er stand unter dem Motto „Zukunft ist für alle“. Damit wurde in Dortmund die Dekade des Klimawandels sozusagen eingeläutet. Die InitiatorInnen finden: Die Menschheit steht vor den zehn entscheidendsten Jahren unserer Geschichte. Vornehmlich den SchülerInnen und Studierenden der „Fridays for Future“- Bewegung in der Dortmunder Innenstadt sei es zu verdanken, ließen die OrganisatorInnen im Vorfeld der Veranstaltung verlauten – die uns Freitag für Freitag darauf hinweisen, dass es längst 5 vor 12 ist -, hätten den entscheidenden Anstoß für den 1. Klimadialog gegeben.

Die Friday-for-Future-Bewegung lieferte den Rückenwind, den 1. Klima-Dialog aufs Gleis zu setzen

Foto: Hans Lantzsch

Diesen Rückenwind nutzte jetzt ein „Klimabündnis Dortmund“, zu welchen sich 23 Organisationen – und es werden ständig mehr – und Initiativen aus den Bereichen Energie, Mobilität und Naturschutz mit der Fridays-for-Future-Bewegung zusammengeschlossen haben. Thomas Quittek auf einer Pressekonferenz im Vorfeld der Veranstaltung, Sprecher des BUND Dortmund dazu: „Ein Bündnis so vieler Verbände und Initiativen mit insgesamt 8000 Mitgliedern – davon seien zwar nicht alle aktiv, jedoch alle stünden hinter den Zielen – ist in dieser Form einmalig für Dortmund. Quittek machte deutlich, dass dem Klimabündnis Dortmund alle beitreten könnten. Niemand müsse verbandsseitig gebunden sein.

Folgerichtig standen die Jugendlichen von „Fridays for Future“ (FFF) auch im Mittelpunkt der Auftaktveranstaltung in der Pauluskirche.

Pfarrer Friedrich Laker erklärte eingangs, dass man sich als Klima-Bündnis nun in den nächsten zehn Jahren Monat für Monat treffen werde, um eine Art „Klima-Parlament“ zu bilden.

Luna: „Ich sage, dass wir uns in einer Notlage befinden“

Luna für FFF kritisierte die kürzliche Entscheidung des Dortmunder Rates, den Klimanotstand nicht auszurufen (nebenbei bemerkt: kürzlich hat neben Münster, Dortmund und Düsseldorf inzwischen auch Köln den Klimanotstand ausgerufen; CS.). Unter anderen der SPD-Fraktionsvorsitzender im

FFF-Aktivistin Luna. Foto: Hans Lantzsch

Dortmunder Rat hätte bestritten, dass wir uns nicht in einer Notlage befänden. Luna dagegen haltend: „Ich sage, dass wir uns in einer Notlage befinden.“

Das Mädchen prangerte an, dass sich Dortmund mit FFF schmücke und sogar einen Sommerkongress (vom 31. Juli bis zum 4. August) organisiere: „Dennoch nimmt uns die Stadt nicht ernst. Und unsere Forderungen erst recht nicht.“

Luna versicherte, sie werde keine Protestpause einlegen. Denn die Klima-Krise mache ja auch keine Pause.

Interessante – zuweilen auch kontroverse – Diskussionen nach der Fishbowl-Methode mit bedenkenswerten Vorschlägen

Jeweils drei Stühle links und drei Stühle rechts luden dann zu Wortmeldungen und zu Diskussionsbeiträgen nach der sogenannten Fishbowl-Methode ein. Fishbowl ist laut Wikipedia eine Methode der Diskussionsführung in großen Gruppen. Die Methode hat ihren Namen nach der Sitzordnung: sie soll in etwa einem Goldfischglas gleichen, um das die Teilnehmer im Kreis herumsitzen.

Die Stühle wurden nach und nach besetzt. Anwesende BürgerInnen und Bürger nutzten die Möglichkeit sich zu Wort melden.

FFF-Aktivist mit Titanic-Beispiel: Müssen den Kurs ändern

Darunter u.a. ein Künstler, Aktivisten von Attac und dem Bündnis DEW-kommunal. Auch ein leitender Mitarbeiter von DEW21 (Dortmund Energie und Wasser – kommunale Tochtergesellschaft der Stadt Dortmund) betrat das Podium. Er meldete sich recht oft zu Wort. Weswegen im Verlauf der Veranstaltung im Publikum leichter Unmut Luft machte (Stichwort: Bitte keinen Werbeblock!). Freilich konnte aber niemand wissen, ob dieser Herr von seinem Betrieb zum Klima-Dialog geschickt wurde, um in gutes Licht zu setzen, oder sein Dasein rein eigenem Interesse geschuldet war.

Es wurden seitens der BürgerInnen durchaus einige bedenkenswerte gute Vorschläge gemacht. Und durchaus auch kontrovers diskutiert. Ein Bürger empfand es als Manko und war enttäuscht, dass kein offizieller Vertreter der Stadt Dortmund zu diesem 1. Klima-Dialog gekommen war. Er gestand, von der Politik in Sachen Verkehrs- und Klimapolitik tief enttäuscht zu sein. Er stelle sich die Frage, wie die Verantwortlichen das Vertrauen von BürgerInnen wieder zurück zu gewinnen gedächten.

Pfarrer Friedrich Laker spricht zu den Gästen. Foto: C. Stille

Ein junger Vertreter von FFF urteilte, dass die Politik wüsste, dass wir in der Krise sind, dies jedoch verdrängten.Seit sechs Monaten währten nun die Klimastreiks und so gut wie gar nichts sei passiert. Er griff auf das Beispiel der Titanic zurück: „Die haben den Eisberg gesehen und dann noch dreißig Sekunden gewartet, bis sie abgedreht sind.“ Ein sofortiges Reagieren hätte die Katastrophe vielleicht noch abwenden können. Er glaube, symbolisch befänden wir uns auch in dieser Dreißig-Sekunden-Phase: „Wir müssen jetzt den Kurs ändern, damit was passiert – auch in Dortmund.“

Andere Diskutanten erklärten, dass doch alle Menschen für sich selbst etwas gegen den Klimawandel tun könnten – wenn das auch nicht immer ganz einfach sei und manches Mal auch am inneren Schweinehund scheitere.

FFF-Aktivistin Merle Bösing (1. v.l.)  Foto: Hans Lantzsch

Merle Bösing von FFF macht dies auch, sagte sie. Doch, wenn dies nicht alle täten sei das doch frustrierend. Ihr fehlt es an politischen Rahmenbedingungen, die ein klimafreundliches Verhalten fördern. Wie könne es denn sein, dass es billiger sei mit dem Auto zu fahren als mit der Eisenbahn? „Wieso ist auf einmal ein Flug günstiger als wenn ich mit dem Auto fahre? Wieso sind klimafreundliche Aktionen teurer als klimaschädliche?

Auch, merkte Merle Bösing an, dürfe klimafreundliches Verhalten aber auch nicht an der Sozialen Frage hängenbleiben.

Ein Herr kritisierte die Subvention des Dortmunder Flughafens jedes Flugzeugs mit zehn Euro pro Person: „Aber für die Armen in der Region habt ihr nicht mal ein Sozialticket, das angemessen ist?!“ Er forderte dazu auf, die Verantwortlichen in der Dortmunder Politik und auch in der Wirtschaft in der Klimafrage zu stellen und sich mit ihnen anzulegen. Die Eltern rief er dazu, ihre Kinder in ihrem Protest zu unterstützen und nicht alleine zu lassen.

Till Strucksberg von Attac betrachtete die von Dortmund auch so hochgelobte E-Mobilität kritisch. Und fragte, wer denn eigentlich den Strom für das Laden der E-Autos liefere. Steinkohlekraftwerke, die auch Dortmund belieferten erzeugten inzwischen elektrische Energie auch mittels schmutziger Kohle, die unter äußerst kritisch zu nennenden Bedingungen abgebaut werde (dazu hier mehr). Desgleichen gelte für den Abbau etwa von seltenen Erden, die für die Herstellung der Batterien notwendig seien.

Erster Aufschlag des Dortmunder Klima-Dialogs hatte gar nicht so üblen Start

Als erster Aufschlag, wie es eine Dame auf dem Podium bezeichnete, hatte dieser 1. Klima-Dialog ein zuversichtlich machenden gar nicht mal so üblen und Hoffnung auf Weiteres machenden Start. Das Klimabündnis Dortmund hat einen zehnjährigen Weg vor der Brust.

Erstmals wurde auf dem 1. Klimadialog das Musivideo „The Gardener“ (sh. auch Artikelanfang) von Nic Koray gezeigt.

Foto: Hans Lantzsch

Foto: Hans Lantzsch

Mit dabei auch Lorenz Redicker vom Verkehrs Club Deutschland. Foto: C. Stille

Diskutierte auch mit: Till Strucksberg von Attac (Bildmitte). Foto. C. Stille

Dortmund: Thomas Kubo informierte über die Vorzüge der Bodensteuer

Referent Thomas Kubo.

Das Bundesverfassungsgericht entschied in seinem Urteil vom 10. April 2018, dass die Bemessung der Grundsteuer für Immobilien verfassungswidrig ist. Nun hat der Gesetzgeber bis Ende 2019 Zeit, die Bemessungsgrundlage der Grundsteuer verfassungskonform zu reformieren. Gelingt dies nicht, drohen Einnahmeausfälle für die Kommunen. Denn gegen jeden Grundsteuerbescheid kann dann Widerspruch eingelegt werden. Hintergrund: Die seit mehr als 50 Jahren nicht mehr angepassten Einheitswerte für Grundstücke sieht das Gericht für als überholt an. Überdies verstoße man damit gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes. Die Grundsteuer B (auf Bauland und bebautes Land) wird heute auf Basis von Einheitswerten erhoben, die auf die Jahre 1964 (West) und 1935 (Ost) zurückgehen.

Referent Thomas Kubo versuchte seinem Publikum eine komplizierte Materie nahezubringen

Am vergangenen Montag versuchte nun der Münsteraner Verleger Thomas Kubo (Verlag Thomas Kubo) in einer von Attac Dortmund, dem DGB

Gastgeber Till Strucksberg.

Dortmund-Hellweg sowie dem Nachdenkreffs getragenen Veranstaltung Licht in die trockene, für Laien komplizierte Materie zu bringen. Kubo gehört zu den Befürwortern einer Bodensteuer. Der Titel der Veranstaltung lautete dann auch: „Bodensteuer statt Grundsteuer: Gut für Mieter und Umwelt, schlecht für Spekulanten und Großgrundbesitzer“. Till Strucksberg von Attac Dortmund zeigte sich in seiner Ankündigung des Referenten froh darüber, ein so aktuelles Thema vorgestellt zu bekommen. Im Verlag Thomas Kubo ist in diesem Februar erschienen: Grundsteuer: Zeitgemäß!: Der Reader zum Aufruf“.

Kubo bemühte sich zunächst nach Kräften, das komplizierte Grundsteuerrecht im Bezug auf die Grundsteuer B darzustellen. Des Weiteren wollte er seinem Publikum die politische und verfassungsrechtliche Ausgangslage schildern und die derzeit kursierenden aktuellen, im Raum stehenden Reformvorschläge vorstellen. Wobei es insbesondere darum gehen sollte ihre Nachteile aufzuzeigen. Last but not least wollte Thomas Kubo argumentieren, warum die Bodenwertsteuer aus seiner Sicht die überlegene Reformalternative ist.

Die Grundsteuer ist die zweitwichtigste Einnahmequelle der Kommunen

Die Grundsteuer, legte Kubo anhand einer Grafik klar, stelle für alle Kommunen nach der Gewerbesteuer die zweitwichtigste – nahezu konstante – Einnahmequelle dar.

Noch bevor die zweite Minute des Vortrags überhaupt begonnen hatte, kamen bereits Fragen und Einwürfe aus dem Publikum. In der Grafik hatte jemand einen Fehler entdeckt: statt – wie angegeben – aufgeführter Millionen hätten dort Milliarden Euro bezüglich bundesweit eingenommener Grundsteuer stehen müssen. Für Dortmund, so Kubo, bedeute dies Einnahmen aus der Grundsteuer von 120 Millionen Euro. Was pro Kopf etwa 200 Euro ausmache.

Die Grundsteuer, erklärte der Referent, berechne sich aus der Steuermesszahl (steht im Grundsteuergesetz), den Einheitswert (wird von den Finanzbehörden festgelegt) und dem Hebesatz (wird von den Kommunen festgelegt und am Ende mit allen anderen Werten multipliziert; bestimme letztlich die Höhe der Grundsteuer).

Die Kommunen können die Höhe der Grundsteuer über den Hebesatz regulieren

In der Presse lese man immer wieder Meldungen, darauf wies der Referent hin, wonach das neue Grundsteuermodell die Kosten um das Dreißigfache (so im Focus gefunden) erhöhen werde. Kubo gab jedoch zu bedenken: „Wenn die Kommune sich entscheidet alles so zu lassen wie es ist, vom Grundsteueraufkommen, dann kann sie das über den Hebesatz (bspw. für Dortmund 610 Prozent) machen.“ Vollkommen unabhängig von der Bundespolitik.

Anhand eines Berechnungsbeispiels kam Thomas Kubo auf einen Grundsteuerbetrag für Dortmund von 640 Euro. Nehme man einen Dreipersonenhaushalt an, bedeute dies ca. 213 Euro pro Person und entspreche damit dem Bundesdurchschnitt.

Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Reformvorschläge

Thomas Kubo ging auf eine Reihe von Reformvorschlägen hinsichtlich der Grundsteuer ein, die inzwischen aufgekommen sind. Die Bayern favorisierten etwa eine Flächensteuer. Das einzig Interessante sei dann die Gebäudefläche.

Da in der Presse seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts viel geschrieben werde, wobei nichts selten immer wieder die gleichen Vorschläge nur in anderem Gewand diskutiert würden, verwies Kubo auf einen (unten verlinktem) Reader „Mehr Boden für die Grundsteuer“ von Ralph Henger und Thilo Schaefer vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln hin. Mit dessen Hilfe könne jeder hereinkommende Vorschlag anhand dessen selbst bewertet werden.

Neben der Finanzierung des Staates werden der Grundsteuer unterschiedliche Zwecke beigemessen

Es kamen abermals erneute Fragen nach dem eigentlichen Sinn und Zweck des Steuerinstrumentes Grundsteuer auf. Dieser, so erklärte Kubo, diene – wie eben andere Steuern auch – der Sicherstellung der Finanzierung des Staates, ihr werde aber je nach parteipolitischer Färbung ein andere Zwecke beigemessen. Gehe man etwa aus ökologischer Sicht heran, „dann hat die Grundsteuer den Zweck den Flächenverbrauch irgendwie zu regeln“, merkte Kubo an. Bestimmte Parameter gäben aber den höheren Ausschlag. Die Argumentation der Initiative „Grundsteuer: Zeitgemäß!“ stelle explizit soziale

Das Publikum warf viele Fragen auf.

und ökologische Faktoren in die Vordergrund.

Ein zum Nachdenken anregender Gedanke von Till Strucksberg

Till Strucksberg warf etwas Grundsätzliches zum nachdenken Anregendes ein: „Grundsteuer oder Bodensteuer gibt es nur in einem System, wo der Boden Privatbesitz ist. Man sollte sich vielleicht vorstellen, dass das nicht sinnvoll ist. Da der Boden ein Grund ist, der allen Menschen gehört. Ein Allgemeingut ist. Dann müsste der gar nicht besteuert werden.“ (Anmerkung C.S.: M.E. ist in der  Volksrepublik China der Staat Eigentümer von Grund und Boden. Firmen und Privatpersonen können das Nutzungsrecht als eine Art Erbpacht erwerben. Als Zeitraum sind bis zu 70 Jahren vorgesehen.)

Den Vorschlag von Bundesfinanzminister Scholz hält Thomas Kubo für ungeeignet

Kompliziert sei vor allem, fuhr Thomas Kubo mit seinem Vortrag fort, den Wert eines Gebäudes zu bemessen. Nach dem Vorschlag von Bundesfinanzminister Scholz solle das Baujahr plus geschätzte Miete eines Gebäudes eine Rolle spielen. Kubo setzte dem entgegen, dass ja jedes Gebäude in gewissermaßen ein „Individualbau“ sei. Demzufolge kann es alt, aber gut im Schuss und renoviert oder eben auch so gut wie abrissreif sein: „Das Baujahr ist vollkommen ungeeignet, um einen ähnlichen Sachverhalt auszudrücken.“

Immer wieder griffen ZuhörerInnen in den Vortrag ein. Ein Herr, der mit Vermietungen Erfahrung hat und regelmäßig entsprechende Auskünfte ans Finanzamt geben muss, fand, die bekämen dadurch schon durchaus wichtige Informationen.

Thomas Kubo: Kaum Mehrarbeit für die Behörden bei Anwendung der Bodenwertkomponente

Nach Thomas Kubo solle die Bodenwertkomponente den Vorzug erhalten. Heranzuziehen wäre die Steueridentifikationsnummer, die jeder Mensch hierzulande hat und einen Eigentümer – beides führe eindeutig auf eine Person zu. Die Wohnrichtwerte lägen ebenfalls flächendeckend vor. In Deutschland tagten etwa regelmäßig tausend öffentlich und hoheitlich bestellte Gutachterausschüsse, die die Bodenwerte in Zonen erfassen und dabei relativ genau auf einen entsprechenden Wert kämen. Ziehe man diesen Datenwerte hinzu, käme, meinte Kubo, kaum Mehrarbeit auf die Behörden zu.

Abschließend verlieh Referent Thomas Kubo seiner Hoffnung Ausdruck beim Publikum Interesse für die Bodenwertsteuer geweckt „und das Thema bei Ihnen präsent gemacht zu haben“. Das dürften die Anwesenden bejaht haben. Wenngleich auch der Vorhang geschlossen worden war und so manche Frage hatte offen bleiben müssen. Für reichlich Nachdenkstoff dürfte der Ausflug in die komplizierte Materie aber allemal gesorgt haben.

Hier noch einmal die Vorzüge der Bodensteuer in Kürze, wie sie von deren Befürwortern ins Feld geführt werden:

– Die Bodensteuer ist gerecht!

– Die Bodensteuer ist einfach!

– Die Bodensteuer entlastet Mieter!

– Die Bodensteuer spart Flächen!

– Die Bodensteuer unterstützt die Siedlungsentwicklung!

– Die Bodensteuer schöpft Bodenwertsteigerungen ab!

Links zum Thema:

http://www.grundsteuerreform.net/

https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/ralph-henger-thilo-schaefer-mehr-boden-fuer-die-grundsteuer-247476.html

https://www.amazon.de/Grundsteuer-Zeitgemäß-Reader-zum-Aufruf/dp/396230004X

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-021.html

1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12)(Az. 1 BvL11/14 u.a.

Nächste Veranstaltung von Attac Dortmund, DGB Dortmund-Hellweg und Nachdenktreff:

„INF-Vertrag erhalten!“

Nur Abrüstung schafft Sicherheit

Referentin: Regina Hagen, Kampagne „Büchel ist überall! Atomwaffenfrei.jetzt“

Montag, 8. April 2019, 19.00 Uhr

Auslandsgesellschaft, Steinstraße 48

„Schmutzige Kohle für Dortmund“ – Vorträge von Maria F. Herrera Palomo und Alejandro Rodriguez

Die Referenten: Alejandro Rodriguez und Maria Fernanda Herrera Palomo. Fotos: Claus-D. Stille

In der Dortmunder Auslandsgesellschaft fand kürzlich eine interessante Veranstaltung unter dem Thema „Schmutzige Kohle für Dortmund“ statt. Till Strucksberg von Attac Dortmund informierte über die Hintergründe.

Im Jahre 2011 hatten sich zwei Tochterfirmen der Stadt Dortmund zusammengetan mit fünf anderen Ruhrgebietsgemeinden und den Energieversorger STEAG, den viert- oder fünfgrößten Energieerzeuger in der BRD, übernommen. STEAG unterhält Kraftwerke und ist ein großer Kohleimporteur. Die von STEAG verfeuerte Kohle stammt zu einem großen Teil aus Kolumbien. Till Strucksberg: „Damals schellten natürlich die Alarmglocken.“ Schließlich wusste man über die bedenkliche Lage in Kolumbien mit vielen Menschenrechtsverletzungen Bescheid. Gewerkschafter, Aktivisten oder Vertreter vom Kohleabbau betroffenen Gemeinden waren ermordet worden. Man habe sich, so Strucksberg, mit Organisationen und Aktivisten zusammengetan, die sich schon länger mit dem Thema beschäftigten. Mehrere Jahre,

Till Strucksberg moderierte die Veranstaltung.

so Strucksberg sei intensive Aufklärungsarbeit betrieben worden. Sie hätten sich auch an politische und wirtschaftliche Verantwortliche gewandt. Nach einiger Zeit habe der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (sitzt im Aufsichtsrat von RWE) schließlich zu sogenannten Kohlegesprächen eingeladen. Die hochrangig gewesen seien, weil u.a. DEW (Stadttochterfirma Dortmunder Energie und Wasser) RWE und STEAG Vertreter entsandten. Auch kirchliche Vertreter und Aktivisten von Urgewald hätten teilgenommen. Aber auch da sei „noch nicht viel dabei rumgekommen“, erklärte Strucksberg, „jedenfalls bei der Lage vor Ort“.

Aus der Ankündigung zur Veranstaltung:

Riesige schwarze Wunden klaffen in der Landschaft der zwei ärmsten Provinzen im Norden Kolumbiens. Seit über 30 Jahren wird hier, nahe der Atlantikküste, Steinkohle für den Export abgebaut. Die Minen verschlingen Schritt für Schritt den Lebensraum der dort ansässigen indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung: Dörfer, die der Mine im Weg sind, werden – z.T. sogar gewaltsam – geräumt und in abgelegene und unfruchtbare Gegenden „umgesiedelt“, ohne Zugang zu natürlichen Gewässern und ohne geregelte Wasserversorgung. Flüsse werden umgeleitet oder trocken gelegt. Brunnen und Grundwasser sind kontaminiert. Regelmäßige Sprengungen in den Gruben sowie ungesicherte Kohletransporte, mitten durch bewohnte Ortschaften, sorgen für eine starke Staubentwicklung. Für die Region und die dort lebenden Menschen bedeuten diese Umwälzungen: Armut, Abhängigkeit, häufige Erkrankungen, hohe Kindersterblichkeit und schwerwiegende Umweltschäden.

El Cerrejón, die größte Kohlemine Kolumbiens und gleichzeitig eine der größten der Welt beliefert u.a. die deutschen Stromerzeuger STEAG und RWE. An beiden Unternehmen hält die Stadt Dortmund beachtliche Anteile. So sind auch wir Bürgerinnen und Bürger unmittelbar mitverantwortlich, nicht nur als Konsumenten, sondern sogar als Mitbesitzer!

Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam mit den
betroffenen Menschen des globalen Südens nach verträglichen Lösungen zu
suchen.

Die Gäste: Maria Fernanda Herrera Palomo und Alejandro Rodriguez

Till Strucksberg schätzte sich glücklich, zur Veranstaltung zwei tief im Thema steckende Referenten aus Kolumbien begrüßen zu können. Gekommen waren die seit zwanzig Jahren in Deutschland lebende Maria Fernanda Herrera Palomo, Diplom Wissenschaftlerin Lateinamerika, Universität zu Köln und der ebenfalls in der BRD lebende Alejandro Rodriguez, Kolumbianer, Biologe der Universidad Nacional in Kolumbien und internationaler Korrespondent von El Centro de Estudios del Trabajo.

Zur politischen und gesellschaftlichen Lage Kolumbien

Maria Fernanda Herrera Palomo verschaffte den ZuhörerInnen zunächst ein Überblick über die politische und gesellschaftliche Lage Kolumbiens. Sie sprach von großen Einkommensunterschieden im Lande. Und erwähnte die Paramilitärs, die bei der Aneignung von Grund und Boden für die Kohle abbauenden internationalen Konzerne und beim Schutz der die Landbevölkerung ausbeutenden der Großgrundbesitzer ab dem Ende der Kolonialzeit

eine verachtenswerte Rolle gespielt hätten und weiter spielten. Freiheitskämpfer wie Paramilitärs – erwähnte Palomo am Rande – finanzierten sich über den Drogenhandel. Die Paramilitärs hätten Menschenrechts- und Landrechtsverteidiger im großem Stil ermordet. Wenn auf diese Weise sozusagen die Bahn frei gemacht worden sei, wären hernach stets die großen ausländischen Konzerne gekommen, um das Land auszubeuten.

Kolumbien betrachtet den Bergbau als Entwicklungsmotor, welcher das Wirtschaftswachstum ankurbelt

In Kolumbien werde, erklärte die Wissenschaftlerin, werde der Bergbau als ein Entwicklungsmotor angesehen, der das Wirtschaftswachstum ankurbele. Allerdings gingen 95 Prozent der geförderten Kohle in den Export. Kolumbien decke seinen Energiebedarf vorwiegend aus Wasserkraft. El Cerrejón, die größte Kohlemine Kolumbiens, müsse man sich so groß wie der Bodensee vorstellen.

Mindestens 49.000 Menschen seien in den Kohleregionen sowie aus dem „Kohlekorridor“ vertrieben worden. Tausende Menschen seien bei blutigen Massakern ermordet worden. Fünfhundert Menschen wären verschwunden. Sie sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Viele Morde seien nicht aufgeklärt worden, die auch von Konzernen finanzierten Paramilitärs töteten weiter. Menschen erkrankten, wegen verschmutzen Wasser, Fischern wurde die Lebensgrundlagen geraubt: Bäche und Flüsse wurden zerstört oder umgeleitet. Die Luftqualität in den betroffenen Regionen habe sich erheblich verschlechtert. Die Krebserkrankungen nahmen mit dem Kohleabbau massiv zu. Häufig erkrankten die Menschen Lungenkrebs. Auch Hauterkrankungen treten auf. Kinder starben hungers. Die Regierung brüste sich mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, erwähne jedoch mit keinem Wort, wie viele durch den Kohleabbau weggefallenen sind. Die Gemeinden wurden nicht angemessen entschädigt.

Solidarität von kolumbianischen Freundinnen, a las „Mujeres Guerreras de la Sierra Colombia“ aus dem Cesar für Proteste zum Erhalt des Hambacher Forstes

Ganz akuell: Vorgeführt wurde ein Video von Freundinnen, a las „Mujeres Guerreras de la Sierra Colombia“ aus dem kolumbianischen Cesar, mit welchem Kolumbianerinnen ihre Solidarität mit den Protestlern in Deutschland, welche sich als FreundInnen der Natur der Abholzung des Hambacher Forstes (#hambibleibt) entgegenstellen.

Maria Fernanda Herrera Palomo findet, das die Sozialstandards der Indigenen viel höher sind als die der Europäer. Und die Art wie sie mit der Umwelt umgehen – davon könne man hier in Europa viel lernen. Die KolumbianerInnen forderten keine Hilfe aus dem Westen. Im Gegenteil. Sie wollen Aktionen wie die im Hambacher Forst unterstützen, um Verständnis für den Schutz der Umwelt zu wecken.

Alejandro Rodriguez wollte dieses Solidaritätsvideo als Motivation verstanden wissen, dass wir uns vermehrt gegenseitig vernetzen und gemeinsam für die gleichen Ziele im Sinne des Umweltschutzes und der Menschenrechte zusammenarbeiten sollten.

Alejandro Rodriguez setzte das Publikum über die geografische Lage von bestimmten Gebieten in seiner Heimat, die vom Kohleabbau betroffen sind, und referierte über die ökonomische Aspekte. Er sprach von einem riesigen Kohlebecken, dass ausgerechnet unter einem Fluss liegt. Auch das erweckt das Interesse der multinationalen Konzerne.

Grassierende „Holländische Krankheit“ – Kolumbien ist kein Paradies mehr

Betreffs des Kohleabbaus und Kolumbiens attestierte Rodriguez seinem Land von der „Holländischen Krankheit“ befallen zu sein. Um Investitionen in die Kohle interessant zu machen habe Kolumbien ganz viele Investitionen innerhalb weniger Jahre ge- und befördert. Dies aber habe nie die sozial-ökonomische Krise beseitigt. Das durch den Kohleabbau erwirtschaftete Geld sei nicht in Kolumbien geblieben. Es gebe inzwischen keinen Bergbauboom mehr. Die Preise für Primärgüter seien gesunken. Man befände sich in einer tieferen Krise. Rodriguez: „Man soll nicht alles glauben was man hört: Kolumbien ist kein Paradies mehr.“ Es sei längst nicht mehr so lohnend in Kolumbien zu investieren. Geld für soziale Zwecke oder die Infrastruktur fehle. Man produziere zu viel Kohle und müsse vieles, darunter Lebensmittel importieren. Zudem habe ein „Freihandelsabkommen“ mit der EU abgeschlossen, das zu wirtschaftlichen Abhängigkeiten geführt. Noch im Jahre 1960 sei der Landwirtschaftssektor in Kolumbien sehr stark gewesen. Bergbau hätte damals gar nicht existiert.

Auch die Kindheitssterblichkeit sei in dieser Zeit geringer gewesen. Die Indigenen lebten traditionell sowie natur- und wetterabhängig bedingt nicht immer am selben Ort – sie seien Nomaden. Der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten sei ihnen durch Naturzerstörung nahezu verunmöglicht worden. Überhaupt lebten in Kolumbien viele Menschen unter der Armutsgrenze.

Gesetze zum Schutz der Bevölkerung und zu Entschädigungen werden mit Tricks über umgangen

Maria Fernanda Herrera Palomo erklärte ergänzend, es gebe in Kolumbien durchaus Gesetze, die die Bevölkerung schützten und auch Entschädigungen regeln – leider werde aber seitens der Konzerne und der Regierung viel und übel getrickst, um die Vorschriften zu umgehen. Wichtig sei zu wissen, was vor der Kohle war und wer die Probleme hernach verursacht hat. Und der ist dafür verantwortlich. Das Ausmaß dieser Probleme werde nicht von der Regierung in Kolumbien, nicht von der Regierung in Deutschland und nicht von den Unternehmern und nicht von den Abnehmern der Kohle anerkannt. Die Konzerne wollten davon nichts wissen. „Natürlich profitieren die Energiekonzerne von der schlechten Lage des kolumbianischen Staates.“ Momentan gebe es einen Rausch, einen Run auf Bergbautitel. Die meisten Kolumbianer profitieren nicht davon. Die Korruption im Lande ist sehr hoch.

Maria Fernanda Herrera: Die Lebensgrundlagen aller Menschen werden zerstört: „Was in Kolumbien passiert, fühlen wir hier.“

Die Ausgangsidee, dass die Länder sich entwickeln müssten, dass sie ihre Türen öffnen müssten für bestimmte Investoren, beinhalte große Fehler und führe sie auf einen Holzweg. Und die Bevölkerung in Europa denke, die armen Länder in Südamerika brauchen Geld – das sei nur ein Teil der Wahrheit. Man müsse immer bedenken, was davor war. Sonst kämen wir in dieser Geschichte nicht zusammen. Allein 120 Umweltaktivisten seien dieses Jahr schon umgebracht worden. „Unsere Freunde müssen“ sich dauerhaft verstecken. „Das heißt“, beschwor Maria Fernanda Herrera Palomo eindrücklich die ZuhörerInnen. „wir brauchen total viel Unterstützung. Wir brauchen eine sehr gute Lösung. Und die kennen wir schon seit fünfhundert Jahren. Das ist nicht neu. Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Kolonialismus, Postkolonialismus, Neokolonialismus – was eben in vielen Ländern dieser Erde passierte und weiter passiere.

Hier in Deutschland verstürben jedes Jahr 66.000 Menschen aufgrund von Feinstaub. Über dreitausend bei Verkehrsunfällen. „Das ist eine Katastrophe. Aber Terrorismus ist unser Problem!?“, skandalisiert sie. Wir haben es aber hier wie in Kolumbien vor allem mit „Wirtschaftsterrorismus“ zu tun. Es würden die Lebensgrundlagen aller Menschen zerstört. „Was in Kolumbien passiert, fühlen wir hier.“

Der Preis für Energie ist viel zu hoch – „Paremos la mina! Besser leben ohne Kohle“

Till Strucksberg fragte nach den Wünschen der betroffenen Bevölkerung. Maria Fernanda Herrera Palomo könne nur für die Menschen und Organisationen sprechen, antwortete sie, die ihr persönlich bekannt seien. Und diese sind dabei diese Minen zu stoppen. Zu viele Menschen seien schon gestorben, zu viele Menschen hätten schon Lungenkrebs, Flüsse sind trocken gefallen. Die Menschen wollten nicht einfach nur Geld, höchstens um zunächst zu überleben. Aber es ginge dann darum, das Land zurückzugewinnen, die Flüsse, die Natur zurückzubringen. Alles soll wieder sauber und fruchtbar werden. Die Menschen redeten nicht von Ressourcen, kennen diesen Begriff gar nicht, sondern sprächen nur von der Mutter Erde „und weinten in ihrer Seele“. Sie habe mit Leuten von RWE geredet, die sagten, machen sie sich keine Sorgen, einen Fluss den wir heute umleiten, können wir morgen wieder umleiten. Herrera entgegnete ihnen damals darauf: Ich hacke ihnen die Hände ab und gebe ihnen dann Prothesen.

Der Preis für die Energie sei viel zu hoch. Es heiße hier, „wir müssen uns vernetzen, wir brauchen elektrische Autos und Häuser die selber aufs Klo gehen …“ Die meiste Energie verbrauchen die Industrie und die Waffenproduzenten und in den Autoverkehr. Die betroffenen Menschen in Kolumbien sagten: „Paremos la mina! Besser leben ohne Kohle“

Der Dortmunder OB will nach Kolumbien reisen. Die Konzerne verstehen die betroffenen Menschen nicht

Strucksberg: Man habe seit 2011 betreffs der Causa immer unhängige Beobachter gefordert. Weil angeblich die einen dies, die anderen das sagten, wie die Energiekonzerne befänden. Nun habe sich der Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau bereiterklärt nach Kolumbien zu reisen. Till Strucksberg erinnerte daran, was sich die Konzerne als vermeintlich gute Lösung für die vom Kohleabbau vertriebenen Menschen in Kolumbien ausgedacht hatten: Betroffenen habe man schreckliche Steinhäuser gebaut. Doch das, was ihnen genommen wurde, sei ihnen nicht entschädigt worden.

Herrera: Es geht nur um „politisches Make-up“ – Man braucht auch gar nicht nach Kolumbien zu fahren: Alles Nötige ist über Berichte, Filme, Dokumente und Gerichtsurteile zu erfahren

Aus Herreras Sicht gehe es da nur um „politisches Make-up“. Und man brauche auch gar nicht nach Kolumbien zu reisen. Es gebe viele Berichte, Filme und Dokumente und Gerichtsurteile – da könne man alles erfahren. „Die ganze Geschichte von vorne bis hinten. Ganz offiziell. Von der Regierung selbst. Es gibt tausend NGOs – man braucht nicht dorthin zu gehen, um zu wissen.“ RWE brüste sich damit, dass es Schulen gebe und jetzt sogar ein Fitnessstudio (!). Es handele sich um Kolonialismus.

Wir baggern die Welt von den anderen ab und verwandeln das in Plastik und Schrott und geben wir unsere Spenden dorthin“

Wenn Menschen von dort hier her kämen, begriffen sie nicht, dass wir hier aus Plastik essen oder immer in Häusern leben („Ihr seid nicht frei“). Die Menschen, die sie kenne, lehnten unsere Lebensweise als Nonplusultra, auf europäische Art zu leben – alle müssten das gleiche wissen und dies leben – als falsch ab. Auch das Spenden sei doch falsch: „Wir baggern die Welt von den anderen ab und verwandeln das in Plastik und Schrott und geben wir unsere Spenden dorthin.“

Maria Fernanda Herrera Palomo: „Die Haltung muss sich ändern“

Herrera: „Die Haltung muss sich ändern. Von uns allen. Der erste Schritt muss sich doch mit folgenden Fragen befassen: Wie begegne ich den anderen? Was ist die Geschichte des anderen? Die kapitalistische Lebensweise ist problematisch. Alles muss schnell gehen. Es gebe aber eben keinen Baum, der schnell wachse. Es brauche Kooperation und Solidarität. Wir müssen uns gegenseitig austauschen.

Kontrovers ging es in Fragerunde und Diskussion zu. Stadtvertreter Struß kritisierte die Darstellungen von Till Strucksberg als mindestens verkürzt dargestellt. Strucksberg wies dies zurück

Dortmund will die RWE-Aktien behalten und die auch die Beteiligung an STEAG nicht beenden. Ein anwesender Mitarbeiter der Stadt Dortmund, Christoph Struß, gab sich etwas erstaunt, wie über die nichtöffentlichen Kohlegespräche in der Veranstaltung berichtet worden sei. In einem offenen Podiumsgespräch mit dem OB und Vertretern von RWE sei doch darüber informiert worden. Derzeit sei bei der Stadt Dortmund genau zu diesem Thema eine Stelle ausgeschrieben. Es sei seitens der Stadt wirklich sehr viel passiert, dieses Thema betreffend. Struß kritisierte Strucksberg. Er habe nicht korrekt informiert, bzw. manches stark verkürzt dargestellt. Strucksberg wies dies zurück. Die STEAG habe nur eine andere Sicht auf die Dinge. Die Leute in Kolumbien wollten im Einklang mit der Natur leben und keine von STEAG finanzierte Infrastruktur und Umsiedlungen. OB Sierau habe bereits das dritte Mal in der Botschaft Kolumbiens in Berlin vorgesprochen, um Gespräche über das Thema zu führen. Auch darüber sei in der Veranstaltung nicht informiert worden. Wo andere von trocken gefallenen Flüssen sprächen, seien gar keine. So trivial wie dargestellt, sei die Situation in Kolumbien eben nicht. Sogar eine Partnerregion werde von der Stadt Dortmund jetzt gesucht.

Empörung und Kritik aus den Reihen des Publikums

Eine Zuhörerin empörte sich. Warum begriffe man denn nicht, dass die Leute in Kolumbien ganz anders leben wollten, wie westliche Konzerne und Politiker sich das dächten.

Ein weitere Frau, engagiert beim Arbeitskreis Pax Christi International berichtete von einem Besuch in der fraglichen Region im Februar. Sie kritisierte die Lügen der Konzerne und ihre Beschwichtigungen. Das Problem der Industrieländer sei eben, dass sie zu viel verbrauchen. Das wüssten sie im Grunde genommen auch und dennoch betrieben sie dieses Wirtschaftsmodell weiter. Über Peru sei gleiches berichten wie über Kolumbien.. Nicht vergessen werden solle, dass die Probleme früher oder später zu uns kämen. Dieses Wirtschaftsmodell wenn wir das einfach weiterführen wollten, bedeute, dass andere zuerst aber auch uns kaputtmacht. Mancher im Publikum erinnerte sich an der Stelle wohl an Papst Franziskus deutliche Worte: „Diese Wirtschaft tötet“ (Quelle: Frankfurter Rundschau)

Kritik von Aljandro Rodriguez an seiner Meinung nach falschen entwicklungspolitischen Zielsetzungen

Alejandro Rogriguez und seine Kollegin Maria Fernanda Herrera Palomo.

Alejandro Rodriguez äußerten sein Unverständnis darüber, dass die GIZ GmbH (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) eine entwicklungspolitische Arbeit in seiner Meinung nach den falschen Gebieten in Kolumbien leiste. Kooperation zwischen BRD und Kolumbien werde an einem Tisch verhandelt, aber wichtige Themen kämen nicht vor. Bürgermeister in Kolumbien hätten keinen Einfluss vor Ort auf von der Zentralregierung dekretierte Entscheidungen in den Kohlabbaugebieten

Stattdessen gibt es nun eine Kooperation der Nato mit Kolumbien.

Zuhörer: „Wir werden in vielfältiger Weise verarscht“

Zum Aufmerken gedachter Zwischenruf eines Zuhörers. Wir sollten einmal einen Blick vom Dortmunder Flughafen in die Landschaft werfen: Dort sehe man vier Kraftwerke, die auch schmutzige Kohle aus Kolumbien verfeuerten. Schornsteine gebe es nicht. Die Abgase gingen über die Kühltürme ab. Der Herr „Wir werden in vielfältiger Weise verarscht.“ Den geplanten Besuch von OB Sierau in Kolumbien bezeichnete er als „Augenwischerei“.

Wir müssen etwas hergeben“, appellierte die Diplomwissenschaftlerin ans Publikum

Maria Fernanda Herrera Palomo machte zum Schluss der hochinteressante Veranstaltung auf einen Irrtum unserer Gesellschaft aufmerksam: Unserer Absicherung in Sachen Energieversorgung müssten wir schmutzige Kohle immer weiter kaufen. Indessen weitere Menschen stürben! „Audits bringen gar nichts. Sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie unterstelle nicht, dass immer vorsätzlich böse gehandelt werde. Aber der Schaden sei schon sehr groß. „Wir müssen etwas hergeben“, appellierte die Diplomwissenschaftlerin an die ZuhörerInnen. „Wir wollen uns nur kümmern wie es uns passt und immer nur so viel, dass es nicht wehtut. Das sei grundfalsch. Als Gesellschaft müssten wir uns Gedanken machen. Und sie fragte:

„Wie viele Tote brauchen wir noch?“ Das Problem sie die Macht des Marktes, zuvörderst der Neoliberalismus. Wieder wandte ein Zuhörer ein: „Es werden nur Symptome bekämpft. Die Kohlewasserstoffindustrie ist destruktivste Industrie überhaupt. Sie wird weltweit mit 500 Milliarden Dollar subventioniert – warum?!“

Positives Fazit und die Aufforderung im Gespräch zu bleiben

Till Strucksberg von Attac gab zu bedenken, jeder könne in der Sache etwas tun. Denn jeder ist Kunde eines Energieanbieters oder einer Bank. Ein Wechsel sei doch möglich.

Alejandro Rodriguez befand: „Auf politischer Ebene ist es schwer etwas zu verändern.“ Aber gehandelt werden müsste: In Kolumbien engagierte NGOs „werden geschlachtet“.

Maria Fernanda Herrero Palomo zog für sich und ihren Kollegen ein positives Fazit dieser Veranstaltung. Sie fordert dazu auf im Gespräch bleiben und miteinander für Veränderungen zu arbeiten.

Veranstalter des Abends waren: Die Initiative Dortmund Kolumbien (Attac, Bündnis dew-kommunal, Ev. Kirche, Iberoamerika-Kreis der Auslandsgesellschaft, IZ3W)

Zu den Gästen

Diplom-Wissenschaftlerin Maria Fernanda Herrera Palomo.

Maria Fernanda Herrera Palomo, Diplom Wissenschaftlerin Lateinamerika,
Universität zu Köln. Seit 2013 arbeitet sie zu dem Thema „Globale
Umwelt- und soziopolitische Verhältnisse zwischen den Ländern des
globalen Nordens und globalen Südens“ und befasst sich besonders mit den
Widerstandsbewegungen der Völker, die unter den verheerenden
Auswirkungen des Kohleabbau in Kolumbien leiden. Aktiv ist sie beim
Informationsbüro Nicaragua, der Initiative Dortmund Kolumbien und
Ausgeco2hlt.

Alejandro Rodriguez, Kolumbianer, Biologe der Universidad Nacional in
Kolumbien und internationaler Korrespondent von El Centro de Estudios del Trabajo. Er arbeitet seit Jahren zusammen
mit dem Comité Cívico por la dignidad de la Guajira (Bürgerkomitee für

Biologe Alejandro Rodriguez.

die Würde von La Guajira.

Weitergehende Informationen

„Das gute Leben“ (Film)

Bisherige Aktivitäten von Attac Dortmund

Urgewalt – Kampagne Kohle Divestment

Weitere Quellen:

https://www.kolko.net/agrokraftstoffe-ressourcenkonflikte-und-megaprojekte/kohlebergbau-guajira-wenn-der-fluss-rumort-fuehrt-er-steine-mit-sich/

https://www.kolko.net/agrokraftstoffe-ressourcenkonflikte-und-megaprojekte/kolumbiens-kohle-deutschlands-doppelmoral/
Pax Bericht: the Dark side if the coal auf Englisch:
https://www.paxforpeace.nl/publications/all-publications/the-dark-side-of-coal
Vattenfall Report:
https://corporate.vattenfall.com/globalassets/corporate/sustainability/doc/vattenfall_colombia_coal_report_english.pdf
AsK Online:
http://www.askonline.ch/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/bergbau-und-rohstoffkonzerne/glencore-in-kolumbien/umstrittene-kohleimporte/
http://www.askonline.ch/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/bergbau-und-rohstoffkonzerne/glencore-in-kolumbien/

Prof. Dr. Andreas Fisahn mit Vortrag in Dortmund: „Perspektiven von Demokratie und Rechtsstaat“

Am vergangenen Donnerstag war Prof. Andreas Fisahn (Universität Bielefeld) zu Gast in der Attac-Reihe „Globalisierung konkret“ in der Auslandsgesellschaft NRW Dortmund. Er wollte seinen ZuhörerInnen einen Überblick über Ansprüche an die Demokratie geben. Es ging ferner darum, sie mit der Wirklichkeit in der EU und Deutschland zu kontrastieren. Fisahns Referat beinhaltete viel interessante Aspekte, die vielleicht im öffentlichen

Prof. Dr. Andreas Fisahn während seines Vortrags an der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund. Fotos: C.-D. Stille

Diskurs oft nicht Berücksichtigung finden, da zu wenig zurückgeblickt wird. Was aber betreffs heutiger Realität bzw. gegenwärtigen Erscheinungen von Wichtigkeit wäre. Im Anschluss an Prof. Fisahns Vortrag entspann sich nach leicht zähem Beginn dann recht bald eine intensive Diskussion zwischen TeilnehmerInnen und Referent. Obwohl gegen Ende des Abends kleine Missverständnisse – bedingt durch eine allzu komprimierten Vortrag – ausgeräumt werden konnten, verließ manche/r ZuhörerInnen den Saal dann doch möglicherweise ratlos. Auch der Referent verleugnete nicht – hinsichtlich der Zukunft der Europäischen Union und der Entwicklung der Demokratie (nicht zuletzt der hierzulande) einigermaßen ratlos zu sein.

Der Angst der Minorität der Reichen vor der Majorität der Armen wurde schon frühzeitig Rechnung getragen

In der Einleitung hatte Gastgeber Till Strucksberg (Attac Dortmund) angekündigt, dass Dr. Fisahn die Frage behandeln würde, ob überhaupt Demokratie und Kapitalismus vereinbar sind oder ob nicht die Spaltung zwischen Arm und Reich zwangsläufig zu ihrer Zerstörung führen muss. Strucksberg weiter: „Als Wiege der Demokratie gilt das antike Athen. Dort wurde die Auswahl der Regierenden nicht durch Wahlen, sondern per Los bestimmt. Den Gründern der us-amerikanischen Verfassung war solche Demokratie suspekt; sie sprachen lieber von Republik. James Mason, einer von ihnen, forderte, die Regierungsform müsse so gestaltet sein, dass die Minorität der Reichen

Gastgeber Till Strucksberg von Attac Dortmund.

gegen die Majorität der Armen geschützt werde. Deshalb wurde dort wie auch nach der Französischen Revolution das System der Wahl von Repräsentanten installiert, das uns heute als die einzige, alternativlose Form der Demokratie erscheint.

Demokratie in Verruf. Fisahn: Halbierte Demokratie immerhin

Bereits in der Einladung zur Veranstaltung hatte es geheißen: „Aber die Demokratie ist in Verruf geraten. Das zeige die große Anzahl der Veröffentlichungen von populären und wissenschaftlichen Büchern über das Thema „Demokratie“. Repräsentation sei eine Technik – so konstatierten viele der AutorInnen – zur Besetzung von Herrschafts- und Führungspositionen und zur Vortäuschung, der Wille des Volkes.
Durch die Entwicklung internationaler Konzerne und ihren Einfluss auf die Politik habe sich die Kritik am bestehendem demokratischen System vertieft: Von „Postdemokratie“, „simulativer Demokratie“, „Demokratie als Illusion“, „Demokratie als Hure der freien Welt“, der „Smarten Diktatur und „Fassadendemokratie“ sei die Rede.“ Till Strucksberg zitierte Bertold Brecht: „Die Macht geht vom Volke aus – aber wo geht sie hin?“

Der Referent, so Strucksberg, gestehe der Demokratie immerhin noch zu, halbiert zu sein.

Angekündigt war denn der Vortrag auch unter dem Titel „Halbierte Demokratie in der EU und Deutschland“, der auf den Attac Basis Text 51 „Hinter verschlossenen Türen: Halbierte Demokratie?“ , erschienen im VSA-Verlag 2017 von Andreas Fiesahn zurückgeht. Für den Vortrag hatte der Referent den Titel jedoch in „Perspektiven von Demokratie und Rechtsstaat“geändert.

Rechtsstaat im Fordismus repressiver als im neoliberalen Kapitalismus, allerdings …

Fisahn sprach über die These, wonach der Rechtsstaat des Fordismus (bis in die 1970er, 1980er Jahre) repressiver gewesen sei als der Rechtsstaat im neoliberalen Kapitalismus. Allerdings seien heute die Sicherheitsapparate im Vergleich zu den 1950er Jahren stark aufgerüstet, auch informationell und zentralisiert. Wie beim G 20-Gipfel zu sehen gewesen wäre. Statt mit Weichmützen liefen Polizisten heute als „Ninja Turtles“ auf. Man müsse im „neoliberalen Rechtsstaat“ eine Form von „repressiver Toleranz“ konstatieren. Es gelte Liberalität gegenüber dem

„verwertbaren Humankapital – wie das bei Schröder ja hieß“. Fisahns Theorie: „Demokratie und Fordismus war integrativer.“

Zentrales Problem der Demokratie in der EU: EU-Gesetze machen politische Richtungswechsel quasi unmöglich

Zur allgemeinen Problematisierung habe die Europäische Union mit ihren Vorgaben (u.a. Europäische Gesetze, Lissabonner Vertrag, Europäische Verträge) und die zweifellos bestehenden Demokratiedefizite beigetragen. Sie schränke Handlungsmöglichkeiten – auch das Rückgängigmachen

bestimmter Dinge – der einzelnen Mitgliedsstaaten ein bzw. verunmögliche sie nahezu. Politische Richtungswechsel seien damit quasi unmöglich. Prof. Fisahn: „Für mich ein zentrales Problem der Demokratie in der Europäischen Union.“

Es gebe halt zwei gegenläufige Tendenzen Liberalisierung im Bereich des Rechtsstaates beim Übergang vom Fordismus in den neoliberalen Kapitalismus. Und wir hätten „eine Entleerung der Demokratie oder eine Entwicklung zur Fassadendemokratie“.

Iliberalisierung des Rechtsstaates“ und „Diktatur der Troika“

Ausdrücklich problematisierte Dr. Fisahn die rechtspopulistischen Entwicklungen in Polen („mit leicht sozialem Touch“) und Ungarn, die eben das Nützliche der EU (Subventionen) als Rosinen herauspickten, aber nicht daran dächten Flüchtlinge aufzunehmen. Sowie das Kurz-Österreich mit einer ÖVP-FPÖ-Regierung mit seiner stramm neoliberalen (12-Stundentag!) Österreich-first-Politik. Aber er skandalisierte auch die derzeitige Seehofer-Politik und die restriktiveren Polizeigesetze in Bayern (bereits in Kraft) und NRW (geplant). Der Referent nennt das „Iliberalisierung des Rechtsstaates“. In der EU haben wir seit 2012 die „Diktatur der Troika“ in Griechenland als „autoritäre Wirtschaftsregierung“. „Da ist die Demokratie abgeschrieben worden.“

„Illiberalisierung heiße jedoch noch nicht autoritärer Staat.

Offene Grenzen bräuchte die EU für Leute die politisch verfolgt sind. Und um die überhaupt noch reinlassen zu können, bräuchten wir „ein effektives Asylrecht für politisch Verfolgte“ für die EU.

Die Veranstaltung in der Dortmunder Auslandsgesellschaft war sehr gut besucht.

Prof. Dr. Fisahn: „Wir haben noch keinen autoritären Staat.“

Der Meinung, dass der Neoliberalismus – wie Prof. Dr. Christoph Butterwegge leider finde und die AfD nur die Ausdrucksform dessen ist – glaubt Prof. Dr. Fisahn hingegen nicht.

Fisahn sehe das eben aus der Perspektive des Juristen: „Wir haben noch keinen autoritären Staat.“ Was der Neoliberalismus an liberalem Fortschritt im Bereich des Rechtsstaates gebracht habe, auch wenn die repressive Toleranz zu verteidigen ist gegen Rechts, gegen die AfD. Der Hauptfeind sei nicht der Neoliberalismus, sondern in der EU sei der Neoliberalismus verbunden dem Europäischen Gedanken, ist sich Andreas Fisahn sicher.

Fragen und Diskussion

Auf Nachfrage wegen aufgekommener Unklarheiten trug der Referent noch nach, dass der Neoliberalismus mit seinen sozialen Folgen freilich auch

zurückschlägt und eher autoritäre Tendenzen befördere. Zumal eine Politik der Ausgrenzung und Deklassierung Unsicherheit schaffe.

Die von Peter Glotz vorhergesagte Zweidrittelgesellschaft ist längst Realität

Inzwischen, so Fisahn, hätten wir ja längst die einst vom damaligen SPD-Generalsekretär Peter Glotz in den 1980er Jahren vorhergesagte „Zweidrittelgesellschaft“: Ein Drittel ist abgehängt, ein weiteres Drittel hat Angst abgehängt zu werden. Das Potential auf dem Rechten aufbauten. Es gebe also tatsächlich ein Zusammenhang zwischen neoliberaler Wirtschaft und nationalistischer, rechtspopulistischer Entwicklung, wie wir im Augenblick feststellen könnten.

Andreas Fisahn: Der Weg in den Nationalstaat ist im Augenblick nicht sinnvoll

Die Kosmopoliten in den Gesellschaften wollten in der EU bleiben, erklärte der Referent, diese aber demokratisieren. Während die Kommunitaristen sagten, das brauchen wir nicht, wir können auch zurück zum Nationalstaat. Da entstünden automatisch Anknüpfungspunkte nach rechts. Fisahn bescheinigt der EU „ein fundamentales Demokratiedefizit“. Dennoch sei „der Weg in den Nationalstaat im Augenblick nicht sinnvoll, weil er falsche Konnotationen hat“.

Die EU bereits abgeschrieben?

Ein junger Herr zitierte Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Schmitt wirke immer noch aus dem Dritten Reich nach, so Dr. Fisahn, weshalb er persönlich den Staatsrechtler einfach nicht zitiere. „In der Demokratie habe ich keine Souveränität“, beschied Andreas

Fisahn. Souveränität existiere nur gegenüber anderen Staaten. Der junge Mann meinte zur EU, die sei für ihn bereits abgeschrieben, die werde nie demokratisch.

Besorgnis: Aufrüstungsdynamik erhöht ohnehin bestehende Kriegsgefahr

Ein älterer Herr beklagte, die EU betreffend, eine in Gang gesetzte Aufrüstungsdynamik, welche die ohnehin schon bestehende Kriegsgefahr erhöhe. Zusammen mit dem Demokratiedefiziten und der Frage Krieg und Frieden gerate die Europäische Union doch in einer Dynamik, die nach Rechts treibe. „Die also in den Abgrund treibt.“

Die „Mehrheitsdiktatur“ werde uns als repräsentative Demokratie verkauft, meinte ein Zuhörer

Ein anderer Herr befürchtet ein Scheitern, bzw. Versagen der EU in der Flüchtlingsfrage. Wieder ein anderer Zuhörer sprach angesichts der Wahlergebnisse der letzten Zeit und den daraus resultierenden großen Koalitionen von ein Quasi-Festschreibung von einer „Mehrheitsdiktatur“, die uns aber als repräsentative Demokratie verkauft werde.

Andreas Fisahn zuversichtlich, dass es der Rechtsstaat richtet

Bezüglich der Zukunft der EU wie der Entwicklung der Demokratie zeigte sich Fisahn ratlos.

In Sachen der erwähnten „Mehrheitsdiktatur“ gab er sich zuversichtlich, dass der Rechtsstaat da letztlich Abhilfe schaffen könne. Auch könne sich positiv auswirken, dass die Leute bestimmte Dinge, was das Funktionieren der Demokratie anlangt, über die Jahre gewissermaßen eingeübt hätten.

Till Strucksberg von Attac.

Fraglich, ob unsere demokratische Strukturen der zunehmenden Privatisierung an Produktionsmitteln trotzen können

Attac-Mann Strucksberg hatte da Verständnisprobleme. Und sorgte sich angesichts der Tatsache, dass der zunehmende Privatbesitz an Produktionsmitteln unabhängig von unseren demokratischen Strukturen eine solche große Macht hat und noch weiter bekommt, dass es fraglich ist, dass diese ewig existieren.

Fazit

Versorgt mit vielen interessanten Details, aber ein bisschen ratlos, doch immerhin angeregt, die Diskussionen mit anderen Mitmenschen anderswo fortzusetzen, ging man an diesem Abend auseinander

Eine Veranstaltung von DGB Dortmund, Attac Dortmund, Nachdenktreff und
AG „Globalisierung konkret“ in der Auslandsgesellschaft

Zum Referenten

Andreas Fisahn ist Professor für öffentliches Recht an der Universität
Bielefeld, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Zahlreiche
Veröffentlichungen, darunter der Attac Basis Text 51 „Hinter
verschlossenen Türen: Halbierte Demokratie?“ VSA-Verlag 2017

Zum Thema passend: Ein anderes, von „jabberwock“ aufgezeichnetes Referat von Prof. Dr. Andreas Fisahn

Europaabgeordneter Sven Giegold referierte in Dortmund: „Wer die EU vorschnell verdammt, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler“

Till Strucksberg (Attac-Regionalgruppe Dortmund), Sven (Giegold, MdEP), Birgit Weinbrenner (Ev. Akademie Villigst) und Klaus Wegener Präsident Auslandsgesellschaft NRW e.V.) Foto (v.l.n.r): Claus Stille

Die EU ist vielfach in der Krise. Ein Rechtsruck geht durch Europa. Antieuropäische Populisten und Fremdenfeindlichkeit haben in vielen Mitgliedsländern Oberwasser. Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit verstärken die breite Unzufriedenheit mit der EU. Das gefährdet zunehmend die größten Errungenschaften des Projekts Europa: Das Zusammenwachsen des Kontinents und den Frieden. Darüber zu sprechen war Sven Giegold, Europaabgeordneter aus NRW und Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament sowie Obmann der grünen Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik, am Dienstag dieser Woche in die Auslandsgesellschaft NRW nach Dortmund gekommen.

Sven Giegold sieht keine Alternative zur EU

Schon nach wenigen Worten seines Referates wurde klar: Giegold, seit 2009 Abgeordneter im Europäischen Parlament, verkennt nicht was schief und unglücklich läuft in der EU. Jedoch tritt er Kritikern, welche zur EU nur noch sagen: „Hau wech den Scheiß“, vehement entgegen. Seine schwer wegzuwischenden Argumente: Auch in den Nationalstaaten laufe so manches falsch. Zudem wären diese oftmals gar nicht in der Lage große Herausforderungen – Giegold führte als Beispiel den Klimaschutz an – allein zu stemmen.

Bittere Fragen, die in der europäischen Politik schwer zu lösen sind

Zunächst sprach Sven Giegold in den letzten Jahren erfolgten Rechtsruck in der EU und auch hier in Deutschland an. Diese Rechtsparteien, so der Politiker, „werben dafür das Europäische Projekt zurück abzuwickeln“. Gründe dafür seien große, bittere Fragen, die in der europäischen Politik schwer zu lösen sind. Die Menschen zu recht zweifeln ließen. Das erste sei, das Europa ja ganz bewusst – wie in den Europäischen Verträgen zu lesen – nicht „als Zugewinngemeinschaft im wirtschaftlichen Sinne, sondern als Wertegemeinschaft“ gegründet worden sein. „In den letzten Jahren“, schätzte Sven Giegold ein, „ist es in Europa an die Grundwerte gegangen“. Als Beispiele führte er Ungarn unter Viktor Orban an, „der Wahlkampf mit antisemitischen Ressentiments“ und gegen Flüchtlinge gemacht habe sowie dafür sorge, dass die Presse in die Hände von Leuten gelange, die ihm politisch nahestehen. Des Weiteren sei die Steueroase Malta ein Problem, „wo nach wir vor zwei korrupte Minister im Amt sind“. Zypern hänge „massiv am Schwarzgeld aus Russland“. Auch die Morde an Journalisten in Malta und der Slowakei seien bedenkliche Anzeichen.

Wo es knirscht in der EU: die Euro- und die Flüchtlingskrise

Giegold nannte als einschneidendes Problem auch das Handeln von EU-Staaten in der Flüchtlingskrise. Das habe auch ein schlechtes Licht auf Deutschland geworfen. Jahrelang hätten die EU-Außenstaaten Ländern wie Deutschland die Flüchtlinge vom Hals gehalten. Deren Sorgen habe Berlin jedoch nicht hören wollen. Dann seien 2015 die Türen geöffnet worden. Giegold: „Deutschland entdeckte seine Liebe zur Solidarität.“ Berlin habe erwartet, dass andere Staaten die Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel übernehmen, „ohne dass es dazu eine europaweite Debatte gab“. Unterdessen sei Deutschland längst wieder umgeschwenkt und dafür die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU abzuwehren. „Das Gegenteil von dem was Menschenwürde eigentlich bedeute“, skandalisierte Sven Giegold. Das Handeln Deutschlands – den anderen Staaten Flüchtlinge sozusagen aufzwingen zu wollen – habe zu enormen Spannungen in der EU geführt. Die Euro-Krise sei das dritte große Thema, „wo es knirscht“. Es fehle an einer gemeinsamen Steuerpolitik. In der Praxis führe das zum Dumping. „Andere Länder empfinden, dass sie für eine Krise zahlen mussten, die sie gar nicht bestellt hatten.“ Stichwort: Kredite an Griechenland, Portugal, Spanien und Irland.

Die Länder wiederum, welche die Kredite empfingen, hätten harte Auflagen erfüllen müssen. Die Lasten landeten einseitig bei den ärmeren Bevölkerungsschichten, erinnerte Sven Giegold. „Was dort zu einem enormen Unwohlsein geführt hat.“

Der Unmut über die aufscheinenden Probleme in Europa wächst

Viele Leute bezweifelten heute, dass es ihnen besser als früher gehe. Das ursprünglich Versprechen der EU auf eine Erhöhung des Wohlstandes bröckele, merkte der Grünen-Politiker an. Der Unmut in Europa über die aufscheinenden Probleme dort wüchsen. Und diese dürften, da zeigte Giegold sicher, bei den Europawahlen im nächsten Jahr zu entsprechenden Reaktionen führen.

Die unerträgliche Arroganz Deutschlands

Deutschland schrieb Sven Giegold ins Stammbuch. Übel sei es, wenn derjenige, der gestärkt aus einer Krise hervorgegangen ist – wie eben der einstige „kranke Mann Europas“, Deutschland – in Brüssel, in den Medien „immer noch erzählt, ihr seid blöd und wir Deutschen wissen wie es geht und ihr müsst alle nur so werden wie wir und euch mal am Riemen reißen, dann wird’s schon“.

„Diese Schäuble-Art, diese Reden im Bundestag – Sie müssen sich mal anhören, wie das etwa in Italien ankommt“, erklärte Giegold und schickte hinterher: „Dieses Besetzen von Plätzen mit Handtüchern, dass hat man uns ja noch irgendwie nachgesehen, aber diese politische Arroganz ist unerträglich.“

Europas Einfluss oft zu gering

Der Referent wies auf die derzeit schwelenden schweren Konflikte in der Welt und das Thema Frieden hin: „Wie soll ein einzelner Staat dazu beitragen, dass es etwas friedlicher zugeht auf der Welt?“ Syrien etwa sei das klassische Beispiel, was passiert, wenn Europa keinen Einfluss ausübe. Ganz andere Mächte seien da am Start gewesen. Giegold nannte Russland, Saudi-Arabien und den Iran. Diese Aufzählung stieß bei einigen Zuhörern auf Unmut: Hätten nicht in erster Linie die USA genannt werden müssen? Ein Herr wandte ein: „Das ist ein geopolitischer Krieg!“ Giegold meinte die USA erwähnt zu haben. Hatte er aber nicht.

Was also wäre zu tun?

Den Rechtspopulisten könne man nicht nur entgegentreten mit Rationalität. Man müsse zunächst einmal sagen was man an Europa habe und bisher erreicht habe im positiven Sinne. Als gutes Beispiel führte Sven Giegold „zuspitzend“ eine Million „Erasmus-Babys“ an,

dadurch, dass Studierende heute international mobil seien. Sowie vier Millionen „Erasmus-Großeltern“, wo Familien über Grenzen hinweg Bande geknüpft hätten. Giegold: „Das ist ein unglaublicher Beitrag zur Völkerverständigung, der es viel viel schwerer macht wieder aufeinander loszugehen.“ Dennoch müsse zugegeben werden, dass „Europa in vielerlei Hinsicht inperfekt ist“. Als große Errungenschaft bezeichnete Giegold die europäische Gerichtsbarkeit (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte).

Eine europäisches Steuersystem bauen, für „dass alle ihren Beitrag leisten“ gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung

Für soziale Gerechtigkeit und mehr Solidarität in Europa sorgen könnte man, so Giegold, indem man ein Steuersystem baue, „dass dafür stehe, dass alle ihren Beitrag leisten“. Denn im Moment sei es ja so, dass die EU sehr viele Möglichkeiten bietet Steuern zu vermeiden oder zu hinterziehen: „Tausend Milliarden Euro gehen uns jährlich durch die Finanzkriminalität verloren.“

Es brauche einen europäischen Mindeststeuersatz.

Sven Giegold: Eine Trennung zwischen dem Geld der Mächtigen und der demokratischen Politik herstellen!

Im 19. Jahrhundert sei es gelungen „eine relative Trennung zwischen Kirche und Staat“ zu erreichen. „Eine absolute Voraussetzung für die Demokratisierung und Rechtsstaat“, erinnerte Giegold. Nun im 21. Jahrhundert stelle „sich die Frage ob es uns gelingt eine Trennung zwischen dem Geld der Mächtigen und der demokratischen Politik herzustellen“. Und Sven Giegold überzeugt: „Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir als demokratische Rechtsstaaten jeden Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern.“

Die europäische Einigung zu verdammen, wäre ein großer Fehler, meinte der Grünen-

Zusammenfassend, fand Sven Giegold, die europäische Einigung sei eine enorme Errungenschaft. „Und jeder der sie es vorschnell wegen Unzufriedenheit über Punkte verdammt, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler. In Europa laufen viele Dinge schief, genauso wie in Berlin, in NRW, in Dortmund – aber dass wir das haben ist die Voraussetzung dafür, dass wir demokratische Kontrolle zurückgewinnen. Deshalb lohnt es sich darüber zu streiten welche Richtung diese EU nimmt und ob sie demokratischer, solidarischer und ökologischer wird.“

Die sich an den Vortrag anschließende Frage- und Diskussionsrunde ließ noch einmal klarwerden, wie kritisch diese EU und ihr derzeitiges Erscheinungsbild von verschiedenen Köpfen im Saale mittlerweile bedacht und gesehen wird. Von Menschen übrigens, die gewiss keine EU-Gegner, sondern vielmehr sehr unzufrieden mit dem Ist-Zustand dieser Gemeinschaft sind. Dementsprechend kontrovers verlief dann auch die Diskussion. Till Strucksberg (Attac Dortmund) ging u.a. auf die vielen Visionen ein, die Giegold geäußert hatte – „die muss man auch haben“ – und beklagte, dass erreichten Erfolge bei den Protesten gegen TTIP und CETA nun wieder im Sande verliefen. Das Investitionsschutzabkommen EU etwa mit Japan rufe so gut wie keine Resonanz hervor, obwohl nun wieder in Geheimen verhandelt werde. Strucksberg meinte, er benötige „Nachhilfe“ von Sven Giegold wie etwa die von ihm geforderte einheitliche Besteuerung in der EU erreicht werden solle – selbst wenn die Grünen oder der fortschrittliche Teil der Abgeordneten einmal die Mehrheit im EU-Parlament haben sollte -, wenn doch alle 27 EU-Staaten zustimmen müssten. Eine Zuhörerin empfand das Vorgetragene als zu negativ. Ein Herr entgegnete: „So ist der momentane Zustand halt.“

Sven Giegold nahm sich viel Zeit für die Beantwortung der komplexen Fragen aus dem Publikum, welche eine komplexe Befassung damit notwendig machte.

Die interessante Veranstaltung – getragen von der Attac-Regionalgruppe Dortmund, dem DGB Dortmund-Hellweg sowie der Evangelischen Akademie Villigst – reizte die von Auslandsgesellschaft vorgesehenen Schlusszeit reichlich aus. Referent Giegold hatte, indem er die Vorzüge des Europäischen Projekts gegen deren nicht wenige, nicht weg zu retuschierenden Fehler, standhaft und im Brustton der Überzeugung verteidigte, sozusagen einen Ritt auf der Rasierklinge gewagt. Den Gesichtern so mancher Menschen im Publikum war abzulesen, wie aus deren Äußerungen in der Diskussion und den Gesprächen nach der Veranstaltung herauszuhören war, dass man aufgewühlt, wenig überzeugt oder gar enttäuscht nachhause gehen würde. Wie lautete noch einmal das Thema des Vortrags? „Europa gerecht umsteuern“! Dagegen dürfte gewissn keiner der Anwesenden gewesen sein. Ganz im Gegenteil. Nur der Glaube an die Umsetzung dieser hehren Worte fehlt wohl Vielen. Bliebe freilich noch die Hoffnung. Die stirbt bekanntlich zuletzt.

Was Sven Giegold dazu meint, stand in der Einladung zur Veranstaltung:

„Europa braucht mutige Verteidiger und konsequente Reformen. Wir wollen in Gemeinschaftsprojekte investieren, die Europa ökologisch, sozial und wirtschaftlich nach vorne bringen. Das kann Europa leicht bezahlen, wenn wir konsequent gegen Steuerdumping und Wirtschaftskriminalität vorgehen. Dafür braucht es an wichtigen Stellen mehr Europa. Doch mehr Europa wird nur breite Unterstützung finden, wenn Europa demokratischer und sozialer wird. Dazu gilt es, die Macht einflussreicher Lobbygruppen einzuschränken und die EU insgesamt transparenter, bürgernäher und solidarischer zu machen.“

„Globalisierung konkret“ bei Attac Dortmund: Merle Groneweg von PowerShift e.V. referierte zum Thema „Alles für uns!? – Die EU-Handelspolitik und der Globale Süden“

Till Strucksberg (Attac Dortmund). Fotos (3): C. Stille.

Was Till Strucksberg von Attac Dortmund zur Einstimmung dem Vortrag von Merle Groneweg (PowerShift e.V.) voran schickte stand im Zusammenhang mit dessen Thema: „Alles für uns!? – Die EU-Handelspolitik und der Globale Süden“. Die Dortmunder Stadtwerke DSW21 und die Dortmunder Energie und Wasser DSW21 seien nämlich an einem Stadtwerkekonsortium beteiligt, dass der STEAG gehört. STEAG beziehe seine Importkohle hauptsächlich vom größten Tagebau der Welt, der Mine El Cerrejón, gelegen in einer der ärmsten Regionen Kolumbiens. Wo, wie Strucksberg informierte, die Kohle „zu unsäglichen Bedingungen abgebaut wird“. „Menschen werden teilweise gemeinsam vertrieben, die Anwohner – meistens Indigene – leiden unter schwerer Luftverschmutzung und dem Abbau des größten Tagebaues in Lateinamerika.“ Der Abbau werde durch stündliche Sprengungen mit Dynamit betrieben (Attac Dortmund dazu hier und hier.)

Kein Einzelfall

Zwei große Konzerne, so Till Strucksberg, machten erhebliche Gewinne, „doch nichts kommt vor Ort an“. Die Stadt Dortmund verzeichne „erhebliche Gewinne – etwa 30 Millionen jährlich“ durch die Beteiligung an STEAG, was „unseren Haushalt aufhübscht“. Doch wie es dort vor sich geht, darum kümmere sich kaum einer. Unterdessen habe es Attac durch Aktivitäten über einen längeren Zeitpunkt hinweg geschafft, dass man inzwischen vom Oberbürgermeister gehört werde, der einen Gesprächskreis eingerichtet habe. Dies, betonte Strucksberg, sei kein Einzelfall. Damit leitete der Attac-Aktivist zur Vorstellung der Referentin aus Berlin über.

Global Europe und Handel für alle

Zunächst sprach Merle Groneweg über Global Europe and Trade for all (dazu hier und hier etwas) – Handelsstrategien der EU. Letzteres sei eine Reaktion auf den Stillstand betreffs der WTO-Verhandlungen. Dazu hier mehr und zu den Free Trade Agreements (FTAs). Eine Reaktion sei das auch auf den Widerstand von Ländern des Globalen Südens ihre Märkte für die EU und der Liberalisierung (sprich: weitere Privatisierungen zu fordern) zu öffnen. So habe sich die EU eben etwas anderes ausgedacht, um ihre Ziele quasi geschickt über gewisse Umwege doch noch zu erreichen. Es gehe der EU im Wesentlichen auf darum, sogenannte nichttarifere Handelshemmnisse (Steuern auf Ex- bzw. Importe) abzubauen.

Druck auf die Staaten des Globalen Südens, dem die kaum Paroli bieten können

Seit den Widerständen gegen TTIP und Ceta, war zu erfahren, habe die EU dazugelernt und etwa der Passus „verantwortungsbewusstere Handels- und Industriepolitik“ in einen Text eingefügt. Was nicht heißt, dass die Länder des Globalen Südens heute wirklich gleichberechtigte Handelsbedingungen im Vergleich zu ihren EU-Partnern erhalten hätten. Auf sie wird ein ziemlicher Druck aufgebaut, dem die wenigsten Länder des Globalen Südens Paroli bieten können. Zumal, wie Till Strucksberg zu sagen wusste, dann die Länder des Westens schon einmal mit der kaum verhüllten Drohung winkten, die Entwicklungshilfe bei wenig oder keinem Entgegenkommen auch zu drosseln können. Im Grunde, sagte Groneweg, mache die EU selber klar, Entwicklungshilfe gebe es gegen entsprechendes Entgegenkommen der Länder und für die ungehinderte und sozusagen „diskriminierungsfreie“ Lieferung von Rohstoffen. Schon deshalb sind die Handelsbeziehungen nicht im Gleichgewicht, weil viele Rohstoffe nicht Vorort veredelt, in geringem Maße oder überhaupt nicht weiterverarbeitet werden, was – wäre dem nicht so – eigentlich Arbeitsplätze schüfe. Der Westen respektive die EU und die dortigen Konzerne hätten meist auch gar kein Interesse eine verarbeitende Industrie in den Staaten des Globalen Südens durch Investitionen zu befördern.

EU braucht „ungehinderten Zugang zu Rohstoffen“

Merle Groneweg zitierte in diesem Kontext den früheren EU-Handelskommissar Karel de Gucht: „Wir sind die größte Volkswirtschaft der Welt,

Die Referentin reagiert auf das Publikum.

deshalb brauchen wir ungehinderten Zugang zu Rohstoffen.“ Einem Zuhörer entfuhren ob diesem Zitat die nicht ins ganz Abwegige gehenden Fragen: „Was steckt da dahinter? Unter allen Umständen? Muss man auch Krieg führen deswegen?“ Soweit wollte indes Merle Groneweg nicht gehen.

Der Export von landwirtschaftlichen Produkten aus der EU beraubt lokale Bauern in den Entwicklungsländern ihrer Einnahmequellen

Des Weiteren mache die EU durch einen Export von landwirtschaftlichen Produkten (hier in irrsinniger Überproduktion entstanden bzw. hier nicht absetzbar: Schweine, Hühnerfüße oder Milch und Milchpulver) etwa nach Afrika die dortigen Bauern kaputt, die preislich gegenüber diesen Mengen überhaupt nicht mithalten könnten. Da nütze es auch nicht sonderlich viel, dass die EU frühere Direktsubventionen dieser Exporte eingestellt habe. Denn nun fordere man halt stattdessen die Absenkung bzw. Abschaffung von Zöllen. Afrikanische Staaten dürften etwa gar keine Einfuhrzölle mehr erheben, wenn sie Nahrungsprodukte importieren.

An der Demokratie vorbei

Angesprochen wurde auch die Praxis der Regulatorischen Kooperation (im Rahmen von TTIP ruchbar geworden). Was nichts anderes heißt, wie Till Strucksberg auf Nachfrage der Referentin einwarf, im Grunde nichts anderes heiße, als das etwa ein Gremium eingerichtet werde, das „schon im Vorfeld einer Gesetzgebungsinitiative darüber informiert werde, was ablaufen soll und beratend eingreifen kann“. Heiße, das geschehe schon bevor unsere Abgeordneten die Gesetze überhaupt vorgesetzt bekämen. Schon wisse das Gremium was beabsichtigt ist und könne Einfluss nehmen. Was also freilich der Demokratie zuwiderlaufe. Dazu käme der Race to the bottom, was einen Abwärtswettlauf, den stetigen Abbau von Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards bedeute. Der Bevölkerung werde das oft über Banalitäten verkauft, etwa der Vereinheitlichung von Pkw-Blinkerhöhen in den USA und der EU – wer werde da schon dagegen sein?

Ein interessantes Thema, alles in allem ein interessanter Vortrag, der gewiss dazu anregt sich noch umfangreicher darüber zu informieren. Es war dies eine weitere Veranstaltung in der Reihe „Globalisierung konkret“ in Kooperation mit: Attac Dortmund,  DGB Dortmund-Hellweg

Am Rande bemerkt: Wir müssen uns nicht „totgoogeln“

Gastgeber Till Strucksberg ging nach dem Referat noch kurz schmunzelnderweise auf eine Äußerung ein, die Merle Groneweg sicher gewohnheitsmäßig über die Lippen gegangen war. Sie hatte an einer Stelle gesagt, sie habe sich wegen einer Informationen „beinahe totgegoogelt“. Strucksberg wies freundlich und durchaus zum Nachdenken animierend daraufhin, dass es auch noch andere Suchmaschinen gebe, die man benutzen könne.

Ex-Wirtschaftsminister Ecuadors Pedro Paez zu Gast beim Nachdenktreff Dortmund über Globalisierung und Neoliberalismus. Dystopisch anmutende Aussichten, die an die Nieren gingen

Dr. Pedro Paez (rechts) mit Übersetzerin Kerstin Sack (links). Fotos: Claus Stille

Das internationale Handels- und Finanzsystem ist weiterhin in keinem guten Zustand. Experten rechnen fest mit einer neuen Finanzkrise. Die sozialen Errungenschaften der Bevölkerungen sind längst angegriffen und beschädigt. Fazit der hier beschriebenen Veranstaltung: Sie dürften künftig noch weiter abgebaut werden.

Pedro Paez: Steuerflucht und Steuervermeidung zu verhindern wird auch künftig eine Illusion bleiben

Gerade als Dr. Pedro Paez, der vormalige Wirtschaftsminister Ecuadors zu einem Vortrag bei der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) in Genf weilte, erhielt er Kenntnis von den Paradise Papers. Gestern referierte Paez bei der Veranstaltung „Nachdenktreff“ in der Reihe „Globalisierung konkret“.

Hoch angesehene Monarchien, Gruppe Unternehmen oder Oligarchen, welche durch die Paradise Papers bekannt geworden seien, hätten „am Rande der Legalität, aber auf jeden Fall außerhalb der Legitimität“ operiert. Steuervermeidung oder Steuerflucht zu verhindern werde auch in diesem Falle eine Illusion bleiben, war sich Pedro Paez sicher. Schließlich hätte sich auch nach dem Bekanntwerden der Panama Papers nichts verbessert. „Im Gegenteil. Es ist noch schlechter geworden“, konstatierte der Ex-Wirtschaftsminister Ecuadors gestern in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund.

Wir befinden uns in einer kriminellen Situation

Der Niedergang der Möglichkeiten der Regulierung bedeute gerade für die Länder des Südens geringere Möglichkeiten zur Entwicklung. Es gebe eine immer größere Konzentration von Reichtum und damit eine enorme Fülle von Macht auf globaler Ebene. Dazu käme noch die Rolle der Kommunikationsmedien und der Wissenschaft. Einer der wichtigsten Intellektuellen der USA, Noam Chomsky, habe nachgewiesen, dass die Herstellung eines Konsenses ein großes Problem ist. Die Korruption durchziehe eigentlich alles. Was mit den Finanzmärkten zu tun habe. Wir befänden uns eigentlich „in einer kriminellen Situation“. Es gehe nicht um Einzelfälle. Vielmehr sei das „ein systemischer Prozess“.

0,001 Prozent der Reichen agieren zum Nachteil des Rests der Menschheit

Die Mehrheit der Bevölkerung werde „disqualifiziert“. Es sei das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass diejenigen, welche die Gesetze anwenden und die Institutionen, die zur Kontrolle vorgesehen seien, gegen eben diese Gesetze verstießen. Was im einher gehe mit der „Degradierung der Zivilgesellschaft“. Vergleichsweise geringe 0,001 Prozent der Reichen agierten zum Nachteil des Rests der Menschheit.

Oxfam:  Acht Milliardäre besitzen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung

Und Paez zitierte die von der Nichtregierungsorganisation Oxfam veröffentlichten Berichten zur jährlich immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich. Unterdessen (2016) verfügten demnach acht Milliardäre genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Vor drei Jahren seien es noch 285 gewesen. Paez: „Ein Prozess, der in der Geschichte der Zivilisation noch nie dagewesen ist.“ Das bedeute eine Enteignung der Menschen, auch die Unmöglichkeit wichtige Entscheidungen zu treffen. Das betreffe auch wichtige Anteile der Unternehmen und der Nationalstaaten. Gerade in den Ländern des Südens sei dadurch ein wichtiger Part der öffentlichen Wirtschaft zerstört worden. Das sei ein Prozess, der uns unpersönlich erscheine. Anscheinend seien die „unsichtbaren Märkte“ dafür verantwortlich. Es erscheine uns wie „ein Naturereignis, das unabwendbar“ sei. Die Erzählung wäre, dass nur diese Märkte effizient seien. Alles was um das Geld herum passiere, erscheine uns als „ein unvermeidliches Phänomen“.

Soziale Verhaltensweisen wurden durch antisoziale Verhaltensweisen ersetzt

Einst habe der britischer Minister Gresham den Goldgehalt des Geldes verringern lassen. Es gab dann sozusagen gutes und schlechtes Geld. Dasselbe passiere bei uns heute mit der Ethik. Es gibt gutes Verhalten und schlechtes. Soziale Verhaltensweisen wären durch antisoziale Verhaltensweisen ersetzt worden. Diese negativen Verhaltensweisen verbrauchten immer mehr Ressourcen. Letzterer – in den letzten Jahrzehnten rasend schnell verstärkt – hätten eine unglaubliche Konzentration von Macht zur Folge gehabt. Die Globalisierung sei eine neue Form des Kapitalismus. Verbunden mit der Durchlässigkeit der Grenzen und der Zerstörung des Nationalstaates. Was vorher die Voraussetzung zu dessen Entwicklung gewesen sei, verkehre sich ins Gegenteil. Alles Versprechungen, die den Menschen gemacht worden betreffs einer Verbesserung ihrer Verhältnisse seien nicht eingetreten. Höchstens für einen geringen Prozentsatz von ihnen von Nutzen gewesen. Dr. Paez: „Das Paradoxe daran, dass sich all dies entwickelt hat in einer der besten Phasen des meisten Wachstums.“ Im Grunde sei ab den 1970ern damit begonnen worden, alles Soziale – angefangen vom New Deal in den USA – und größeren Umverteilung in Zeiten einer starken Sozialdemokratie einem Zurückdrehen zu unterziehen.

Schlimmer Mechanismus: Sich Verschulden, um Schulden zu bezahlen

Die Überproduktion habe Krisen entstehen lassen. Produktion und Konsum seien auseinander gefallen. Man verlegte sich auf die Spekulation. In der ersten Phase wurden Offshore-Center vergrößert und Steueroasen geschaffen. Die zweite Phase wäre die Steigerung der Zinsraten seitens der FED. „Die Diktatur der Weltbank, der WTO und des IWF“, die auf der Grundlage der Verschuldung von Staaten agierte, führte auch zu einem Druck auf selbige, um ihre Politik zu ändern. Die Derregulierung der Finanzen, bezeichnete Pedro Paez als „unverantwortlich“. Die Situation der Menschen in den einzelnen Ländern verschlechterte sich. Der Mechanismus dahinter: „Sich verschulden, um Schulden zu bezahlen.“ Paez warnte ausdrücklich davor, dass uns dasselbe jetzt nochmal bevorstehe. Die dritte Phase zeige die zerstörerische Kraft dieser Politik. Paez sieht eine weltweite Instabilität des Finanzsystems. Von der ersten bis zur dritten Phase habe sich der Prozess umgekehrt. Ein zwangsläufiger Prozess meint Paez, der sich selbst verstärke.

Angebliche Krisenlösungen beruhen auf Nicht-Nachhaltigkeit

Alle angeblichen Krisenlösungen seien Scheinlösungen, meint Paez. Weil es Instrumente sind, welche Krisen weiter verschärften. In Zeiten einer bevorstehenden, nie zuvor gesehenen technischen Revolution, sehe es zwar zunächst nach einer ständigen Verbesserung des Lebens aus. In Wirklichkeit aber hätten wir es mit einer systemischen Krise zu tun, die auf einer Nicht-Nachhaltigkeit beruhe.

Dr. Paez: Die etzte Finanzkrise war nur die Spitze des Eisberges

Die Modernisierung unserer Gesellschaft lasse das Materielle hinter uns. Wir träten in eine „post-industrielle Phase“ ein. Die unsicheren Beziehungen in der Finanzwelt führe zur Anwendung von Praktiken (etwa Schattenbanken, Derregulierung), welche früher verboten gewesen seien. „Vormoderne Instrumente“, sagte Paez, „die man uns als ganz tolle Instrumente“ verkaufe, die jedoch nur zum Bankrott „und zu noch größeren Problemen unserer Zivilisation“ führten. Die letzte Finanzkrise sei nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Pedro Paez: „Wir werden erleben, dass wir wieder in genau so eine Phase eintreten. Das wird zu einer noch größeren Enteignung führen. Sowie eine noch geringere Einflussnahme der Politik hervorrufen.

Schlimme Folge: „Weniger Instrumente und weniger Macht für die ganze Menschheit“

Es werde zu einer noch größeren Konzentration von Geld und Macht kommen. „Das ist dann die neue Nachkrisenwelt“. Die Spekulanten würden noch mehr Instrumente in die Hand bekommen, um ihre Macht auszuüben. Das hieße: „Weniger Instrumente und weniger Macht für die ganze Menschheit.“

Wir stünden, ist sich Pedro Paez sicher, vor einer Epoche großer Gefahren. Das werde nicht nur den Süden, sondern auch den Norden betreffen. Mit verheerenden Folgen für die Ethik, die Gesetzgebung, den Umweltschutz und vielen anderen mehr.

Im Vergleich zu Trump erscheine uns Bush jr. moderat, dessen Vater noch moderater und im Vergleich zu diesem Reagan wiederum als moderater und im Vergleich zu diesen Nixon moderater. „Eisenhower“, schmunzelte Paez, „war im Vergleich zu alldem fast Kommunist.“

Die Bevölkerung werde sukzessive um ihre sozialen Errungenschaften gebracht, meint Pedro Paez

Die dazu ergriffenen Maßnahmen erinnerten an das frühere Agieren der extremen Rechten. Pedro Paez: „Manche angebliche Krisenlösungen kommen gefährlicher Weise sehr einfach daher.“ Manche dieser „Lösungen“ habe man vor 50 oder 60 Jahren in Europa erlebt. Durch die neuen Technologien seien diese Lösungen viel einfacher ins Werk zu setzen. Leider litten wir unter dem Druck der größten Mächte unserer Welt. Dr. Paez: „Während wir hier sitzen erhöht sich die finanzielle Intensität gigantisch“. Allein durch verschiedene Instrumente, etwa der Kryptowährung Bitcoin verringerten sich die Kontrollmöglichkeiten des Staates bzw. verunmögliche sich eine Übernahme von Verantwortung. Eigentlich sollten alle Gewinne aus produktiven Handlungen hervorgehen. Alle produktiven Aktivitäten seien ein Teil der Realökonomie.

Durch „den Staatsstreich von Monica Lewinski“, lächtelte Paez süffisant, kamen die Finanzderivate samt Derregulierung auf. „Es scheint, als sei Präsident Clinton nicht ganz bei Bewusstsein gewesen, als er die entsprechende Gesetzesänderung unterschrieben hat.“

Reise nach Jerusalem – Die vorhandenen Schulden können realwirtschaftlich niemals beglichen werden

Allein die traditionellen Schulden würden zu einer Insolvenz führen. „Mit dem was auf der Welt erwirtschaftet wird“, gab Pedro Paez zu bedenken, „können die Schulden niemals erwirtschaftet werden“. Wenn man den „Wert“ der Derivate hinzuzähle erst recht nicht. Allein die Deutsche Bank habe 57 Billionen Dollar an Derivaten gehabt. Bei JP Morgan Chase war es noch schlimmer. Eine einzige Bank hatte so viel an Schulden wie die ganze Welt (63 Billionen) erwirtschaftet hat. Peaz warf zur Veranschaulichung das Spiel „Reise nach Jerusalem“ ein. Man habe nur sechs Stühle, aber 21 Tänzer. Aber dann kommen auf einmal noch 150 dazu. Pedro Paez: „Könnt ihr euch vorstellen, was passiert, wenn die Musik auf einmal aufhört?“ Die Politik der Zentralbank habe anstatt mehr Stühle zur Verfügung zu stellen, gemacht, dass die Musik einfach nicht aufhört. „Jede Sekunde kommt ein neuer Tänzer hinzu! Das ist eine explosive Situation.“

Aber wie kann von Überproduktion gesprochen werden, wenn auf der anderen Seite Menschen Hunger leiden?“, gab Dr. Paez zu bedenken

Die Ergebnisse für die Bevölkerung seien gravierend. Für die Gesundheit heißt es, ist kein Geld da. Für Flüchtlinge gibt es kein Geld. Für Umweltprojekte gibt es auch kein Geld. Auch nicht für die Entwicklung von Wissenschaft und die Kultur. Unter dem Tisch ist jedoch Geld für die Rettung von Banken da. Paez: Zur Verantwortung würden sie für Verfehlungen jedoch nicht gezogen – „too big to fail. Too big to jail“. Die Politik erzähle es gehe um Freiheit und um Demokratie, wenn irgendwo militärisch interveniert wird. Dafür sei Geld da. Diese ganze fehlgeleiteten Finanzwelt überdecke schon lange die Realwirtschaft. Es werde dafür gesorgt, dass die vorhandene Torte nicht wächst. Das koste Arbeitsplätze. Nicht nur die Kriegsindustrie töte. Millionen Menschen hungerten. Allein etwa u.a. dadurch, weil Brennstoffe aus Pflanzen gemacht würden – subventioniert durch die stärksten Länder der Welt. „Ich weiß, dass euch die Dinge, die ich hier sage ans Herz, den Kopf schwer machen und vielleicht an die Nieren gehen. Aber wie kann von Überproduktion gesprochen werden, wenn auf der anderen Seite Menschen Hunger leiden?“ Dabei sei es noch nie zuvor möglich gewesen so viel Produktivkraft zu entwickeln wie jetzt. Das vorhandene System mache es indes unmöglich dies zum Vorteil aller Menschen zu nutzen.

Der Neoliberalismus hat nie das Ziel gehabt, die Bedingungen für die Mehrheit der Menschen zu verbessern

Aus der ganzen Misere heraus könne auch der Westen nur durch die weitere Senkung wichtiger Standards kommen. Die Differenzen lägen zwischen den Oligarchien, der Bourgeoisie und der Bevölkerung der Welt. Der Neoliberalismus bedeutete die Verbesserung der Einkommen der Oligarchien und führte zugunsten des Konsums. Die Torte werde immer kleiner.

Das habe zur Folge, dass der Kalte Krieg sich wieder erhitze. Was auch bedeute, einen Finanz-, Handels und Wirtschaftskrieg erleben zu müssen.

Rechte Kräfte in Lateinamerika führen Restauration herbei

Für Lateinamerika sei zu verzeichnen, dass in einigen Ländern, wo progressive Regierungen wirken konnten und Investitionen anstießen negative Auswirkungen – sogar eine Verbesserung auf das Bruttoinlandsprodukt wurde möglich – auf die Bevölkerungen gemindert werden konnten. Nun verschlechtert sich das wieder. Leider greife nun wieder eine konservative Restauration rechter Kräfte in Lateinamerika um sich. In Argentinien und Brasilien sind erneut konserva­tive Kräfte an der Macht. Auch in Peru und Paraguay sind die Linksregie­rungen abgewählt.

Der Neoliberalismus habe nicht zum Ziel gehabt, die Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerungen zu verbessern.

Dystopisch anmutenden Aussichten, die an die Nieren gingen. Das Schreckensszenario ist längst in Anwendung

Links im Bild Moderator Till Strucksberg.

Ein spannender, sachlich fundierter Vortrag des Ex-Wirtschaftsministers von Ecuador Pedro Paez in Dortmund. Mit dystopisch anmutenden Aussichten, die an die Nieren gingen. Eine ehrliche Sicht auf die Dinge. Das gruselige daran: die Schreckensszenario ist längst in Anwendung .Den Veranstaltern des Nachdenktreffs, DGB Dortmund Hellweg und Attac Dortmund ist dafür zu danken. Moderator der gut besuchten Veranstaltung war Till Strucksberg (Attac), die Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche hatte Kerstin Sack (Attac-Koordinierungskreis) übernommen.

 

 

 

Hier geht es zum Vorbericht.

Warum gegen den G20-Gipfel demonstrieren? Alexis Passadakis macht das heute in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund deutlich

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während eines früheren Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Der G20-Gipfel in Hamburg wirft seine Schatten voraus und gleichzeitig viele Fragen auf. Und daraus resultierende Kritik wird laut.

Attac Dortmund informiert:

„Am 7./8. Juli 2017 versammeln sich die Staatsoberhäupter und
Regierungschefs der G20 in Ham­burg zum  jährlichen Gipfeltreffen. Die
Gruppe der 20 ist ein in­formeller Club der 20 bedeutendsten Industrie-
und Schwellenländer“, schreibt Till Struckberg und fährt fort:
„Die G 20-Staaten unterscheiden sich zwar in ihren politischen Systemen, auch
ver­treten sie unterschiedliche Strategien bei der wirtschaftlichen
Regulierung und ih­rer Einbindung in den Weltmarkt. Wofür demonstrieren wir dann?

Es läuft etwas gehörig falsch auf der Welt:

*   Kriege und bewaffnete Konflikte scheinen kein Ende zu nehmen. 1,8
Billionen Euro werden jährlich für Rüstung und Krieg ausgegeben.
Gleichzeitig steigen die Rüstungsexporte.
*   Über 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Auf der
Suche nach Sicherheit ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer, das zur
tödlichsten Grenze der Welt geworden ist.
*   Rassismus und offener Hass nehmen in vielen Ländern der Welt zu –
auch in Deutschland. Die herrschende Politik gibt diesen Stimmungen nach
und befeuert sie noch. Inzwischen werden Geflüchtete sogar in
Kriegsgebiete wie nach Afghanistan abgeschoben.
*   Der menschengemachte Klimawandel ist eine bedrohliche Realität.
Seine Auswirkungen sind schon heute spürbar und treffen vor allem
diejenigen Men­schen und Länder, die ihn am wenigsten verursacht haben.
*  Die soziale Spaltung hat dramatische Ausmaße erreicht. Gerade
einmal 8 Männer haben mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der
Weltbevölkerung.

Am 7. und 8. Juli treffen sich die politisch Verantwortlichen für dieses
menschli­che und soziale Desaster. Sie reden über „Bekämpfung von
Fluchtursachen“, aber keines der großen Herkunftsländer sitzt am Tisch.
Sie reden über „Partner­schaft mit Afrika“, aber es fehlt fast der
gesamte Kontinent. Sie reden über den Klimawandel, vertreten aber die
Interessen der Erdöl-, Kohle- und Autoindustrie. Sie reden über Frieden,
sind aber selbst die größten kriegführenden und rüs­tungsproduzierenden
Staaten.

Die Welt ist aus den Fugen. Wer sie ändern will, braucht eine neue Politik.

Gemeinsam wollen wir zum G20-Gipfel den solidarisch-emanzipatori­schen
Pol der Gesellschaft sichtbar machen. Dem zynischen „Weiter so“ der G20
wollen wir unsere Entwürfe für eine sozial gerechte, friedliche und
ökologisch zukunfts­fähige Welt entgegenstellen. Dazu wird es in
Ham­burg einen Dreiklang von Ge­gengipfel, Aktionen zivilen Ungehorsams
und einer Großdemonstration am 8. Juli geben; vorbereitet von vielen
Initiati­ven und Organisationen in der G20-Platt­form.“

Am heutigen Montag referiert Alexis Passadakis zum Thema unter dem Titel

„Global gerecht statt G 20“ – Warum wir gegen Trump, Erdogan… und die
ungerechte Weltordnung am 8. Juli in Hamburg demonstrieren (müssen)!

Die Demonstranten, welche nach Hamburg reisen, um gegen den G20-Gipfel zu protestieren, werden ein festungsmäßig abgesperrtes Hamburg und gewiss auf Polizeibeamte mit martialisch wirkender Ausstattung treffen. Ein Polizist hat sich dazu mit einem Offenen Brief zu Wort gemeldet.

Logo via AGNRW

Heute Abend 19 Uhr in der Auslandsgesellschaft NRW Dortmund, Steinstr. 48 (Nordausgang Hauptbahnhof, neben
Cinestar)