„Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie“ von Moshe Zuckermann – Rezension

Wie frei ist die Kunst? Ab und an lesen oder hören wir: Dies oder jenes sei von der Kunstfreiheit gedeckt. Tönt zunächst einmal gut. Aber wie sieht es in der Praxis aus? In jüngster Zeit grassiert etwas, das mit „Cancel Culture“ benamt ist. Der Begriff wurde in den USA geprägt. Und schwappte – wie so vieles andere – dann auch über den Großen Teich zu uns herüber. Zusammen mit dem Wokismus wird damit viel Schaden angerichtet. Sich dazu berufen fühlende Scharfrichter fällen selbsgerecht ein Urteil über Künstlerinnen und Künstler.

Und Medien und Journalisten (der Journalismus ist hierzulande auch darüber hinaus eh auf den Hund gekommen) schlagen in die von besagten Scharfrichtern gehauene Kerbe. Da wird schon einmal der scharfzüngigen, bewusst provozierenden und in jeder Hinsicht hervoragend guten Kabarettistin Lisa Eckhart Antisemitismus unterstellt. Und die Journaille bis in das hinterletzte Regionalblatt schreibt das von den medialen Vollstreckern ab. Das lesen dann freilich auch Veranstalter. Wenn sie nicht ohnehin schon von Wikipedia entsprechend „informiert“ sind. Die Konsequenzen für die davon betroffenen Künstler können existenzbedrohend ausfallen. Gottlob gibt es noch Menschen – auch unter den Veranstaltern und selbst unter den Journalisten noch! – in deren Oberstübchen anscheinend noch alles so ziemlich seine Ordnung hat; die gegensteuern.

Oder nehmen wir die Operndiva Anna Netrebko, die „gecancelt“ wurde (sie verlor Engagements und Aufritte), weil sie sich nicht deutlich genug (wie die besagten Scharfrichtern urteilten) von „Putin und dessen Krieg“ distanziert hätte. Auch den weltberühmte russischen Dirigent Waleri Gergijew traf es. Der Münchner OB Dieter Reiter (SPD) entließ ihn kurzerhand als Chef der Münchner Philharmoniker. Sein „Vergehen“: Er ist mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin befreundet und wollte sich von ihm und „dessen Krieg“ offenbar nicht deutlich distanzieren.

Also: Wie frei ist die Kunst wirklich? Blicken wir zurück in die Geschichte, erfahren wir recht schnell, dass diese „Freiheit“ immer abhängig von den herrschenden Machtverhältnissen ist. Die Herrschenden, ganz früh auch die Kirche, bestimmten, die Grenzen dieser „Freiheit“. Die freilich auch recht schnell genommen werden konnte und auch wurde. Manche verloren nicht nur die Freiheit sondern auch ihr Leben dabei.

Wobei hier eingefügt werden muss, dass die Kunst durch Auftragsarbeiten für die Kirche enorme Anregung und Aufschwung fand, was Moshe Zuckermann, der Autor des hier zu besprechenden Buches darin auch ausführt.

Zuckermanns Buch trägt den Titel „Rettet die Kunstfreiheit!“. Er führt darin auch aus – wie hier von mir schon kurz angeschnitten -, dass die Kunst schon immer Anfeindungen und Behinderungen ausgesetzt war. Aber schon der Buchtitel, der als Mahnung und Aufruf zu Taten, zu verstehen ist, zielt auf das Heute. Zur Streitschrift des israelischen Historikers und Kulturtheoretikers Moshe Zuckermann (von dem hier auf meinem Blog schon einige Bücher besprochen worden sind) lesen wir:

„Die Forderung nach einer freien und unabhängigen Kunst kennen wir seit dem 19. Jahrhundert. Dieses Streben nach Kunstautonomie fußt auf der Überzeugung, dass der Bereich des Ästhetischen eigenen Regeln folgt, dass Kunst frei sein muss von fremden Ansprüchen, seien diese politischer oder moralischer Natur. Heute scheint es nicht sonderlich gut um dieses Ideal bestellt: Stichworte wie ‚Cancel Culture‘ sowie die oft schrill geführten Debatten darüber, wer eigentlich noch etwas sagen oder zeigen darf, zeugen davon, dass die Autonomie der Kunst mehr denn je gefährdet ist. Kenntnisreich und mit stilistischer Brillanz zeichnet Moshe Zuckermann dieses Spannungsfeld nach. Er fragt nach dem Verhältnis von Kunst und Fortschritt, Politik, Elitarismus sowie kulturindustriellem Kitsch. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als die Rettung der Kunstfreiheit.“

Die Kunstfreiheit wurde ursprünglich vom aufsteigenden Bürgertum befördert. Ein nicht zu unterschätzdender Fortschritt gegen das vormalige, die Kunst einschnürende Korsett, das im Feudalismus stattgehabt und vieles von vornherein verunmöglicht hatte. Wobei durchaus auch anzumerken ist, dass kunstliebende Fürsten durchaus Interessantes oder gar Epoche machendes angestoßen und gefördert hatten.

Doch auch dem Bürgertum ging manches gegen den Strich. Etwa wenn ihrer Meinung etwas nach gegen die seinerzeit vorherrschende Sexualmoral oder religiöse Tabus verstieß. Dann war rasch Schluss mit der Freiheit der Kunst.

Eigentlich müsste man sagen, die Kunst in allen bisherigen Systemen nie völlig frei war. Immer aber wurden dann Nischen gesucht und auch gefunden. Etwa in vorgeblichen sozialistischen Systemen. Unangepasste Künstler mussten sich letztlich immer ihre Freiräume erkämpfen.

Offenbar auch heute wieder! Deshalb dieses Buch.

Es hebt im Vorwort so an: „Der Begriff der Kunstautonomie hat in den letzten Jahrzehnten seine Prominenz eingebüßt. Es will zuweilen scheinen, als hätten sich große Teile der Kunstsoziologie und -philosophie, aber auch die Kunstpraxis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschworen, um ihn endgültig zu desavouieren.“

Ausdrücklich weißt Zuckermann daraufhin, sich seine Darlegungen dem Denken der Frankfurter Schule, allem voran dem Adornos „verschwistert“ sähen.

Weshalb das Buch „mit einer paradigmatischen Beleuchtung des Begriffs der Kunstautonomie, nicht zuletzt aber auch ihrer prästabilisierten Beziehung zum Fremdbestimmten“, beginne.

Der Begriff Kunstautonomie, befindet Moshe Zuckermann, sei „von gewisser Ambivalenz: „Er verweist auf die Selbständigkeit der Kunst im Verhältnis zu dem, was außerhalb ihr liegt, muss aber zugleich in Kauf nehmen, das besagtes <<außerhalb>> stets auch ein (aktiver) Bestandteil der Kunst selber ist. Das gilt freilich für jegliche Autonomie als solche. Man kann ja nur im Verhältnis zu dem, wovon man sich unterscheidet, autonom sein; und das, wovon man sich unterscheidet, muss folglich begrifflicher Bestandteil dessen sein, was für autonom erachtet wird.“

Was ist Kunst?

Diese Frage haben wir uns doch gewiss alles schon einmal gestellt. Der Antworten wären viele. „Das 20. Jahrhundert“, schreibt Zuckermann, „überstieg bei weitem die ersten Anzeichen einer solchen Tendenz, die soziale Realität in die Kunst einzuschleusen, wie sie sich etwa im 17. Jahrhundert in den Gemälden von Ribera und Murillo in Spanien oder in denen von Adriaen Brouwer, Jan Steen, Pieter de Hooch und Rembrandt in Holland […] in Europa des 19. Jahrhunderts gezeigt hatte“ (S.23).

Niemand habe diese neue Tendenz „mit größerer Verve und durchgängiger Konsequenz“ gefördert als Marcel Duchamp. „Nicht von ungefähr wurde bei einer Umfrage unter 500 Künstlern, Kuratoren und Galeriebesitzern sein Werk <<Fountain>>, das von ihm 1917 ausgestellte umgekehrte Pissoir, als das einflussreichste Kunstswerk der Moderne gewählt.“ Allerdings hatte Duchamp den nicht zu vernachlässigenden Vorteil, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits sozusagen arriviert und ein anerkannter Künstler war.

Konzeptkunst betrachtet Zuckermann als auf einem Holzweg befindlich. Ganz und gar sogar letztlich als einen Suizid der Kunst. „Die dem Postulat der permanenten Formüberbietung zugrunde liegende Logik, welche die ihre Geltung aus der progressiven Historiographie des modernen Zeilalters bezieht, mag in der Tat, konsequent zugespitzt, zur radikalen Formaufhebung, mithin zur Forderung ihrer totalen Aufhebung führen.“ (S.69)

Als interessantes Beispiel aus jüngerer Zeit sieht Moshe Zucker die <<Verhüllung des Reichstags>> des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude. Bereits seit 1971 hatten sie ins Auge gefasst, „das Reichstagsgebäude in Berlin – ein historisch wie politisch befrachtetes Bauwerk, das als Ruine im Ostteil der infolge des Zweiten Weltkriegs geteilten Stadt stand – zu verhüllen.“ (S.71)

Aus politischen Gründen war das lange nicht möglich. Schließlich „begann das Künstlerehepaar die Idee planend umzusetzen: Es entstanden tausende von Skizzen, Zeichnungen, Gemälde des Gebäudes im enthüllten und verdeckten Zustand, Modelle in von ihm in diversen Größen […]“ und schließlich auch Computersimulationen. Glücklicherweise gewann das Künstlerehepaar in Person der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Unterstützerin ihres Plans. 1995 schließlich konnte das Verhüllungswerk im Juni 1993. Fünf Millionen Besucher aus aller Welt (mich eingeschlossen) erlebten über drei Wochen die großartige Aktion.

Zuckermann gibt zu bedenken: „Wer aber denkt, dass man die <<Verhüllung des Reichstags>> als abstrakte, ihrer möglichen Verwirklichung im Wesen widerstrebenden Idee hätte belassen können, muss in Kauf nehmen, dass diese Idee vermutlich sehr bald erstickt und als totgeborene Kunst übrig geblieben wäre.“ (S.73)

Adorno hatte ja bekanntlich zunächst beschieden (er schwächte das später wieder ab): „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Aus: Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft).

Die Kunst habe Auschwitz weder vorhergesehen und nicht verhindert, befand Adorno. Moshe Zuckermann dazu in seiner Streitschrift: „[…]weder Unbehagen in der Kultur noch Entsetzen über ihr Versagen führen aus der Kultur heraus“.

Zuckermann kritisiert, was weder Adorno noch Horkheimer veraussehen konnten: Sich „immer professioneller zugerichteten Verführungen zum Konsum, zur kommerziellen Mode, zum Sensationellen auszusetzen.“ (S.124)

Und weiter: „Ob Kunst, Unterhaltung, politisches Ereignis oder Naturkatastrophe, ob Mord oder Hungertod, Ziehung der Lottozahlen oder Abdankung des Ministers – alles verkommt der Präsentations-, Wahrnehmungs- und Verwertungskultur nach zur Ware: Sterben in Afrika hat einen ökonomisch kalkulierbaren prime-time-Wert; es wird als item konsumiert und hat eine Wirkungsdauer, die sich am nächsten item, an der nächsten Sensation, an der ihr folgenden Unterhaltungssendung bemisst. Autoritär ist die fetischierte Hinnahme einer wenn schon nicht << von oben>>, so doch <<hinter den Kulissen>> zubereiteten Totalvirtualisierung des Lebens, welche selbst noch TV-Wettermännern und -frauen zu Kultpersonen mutieren lässt.“

Zuckermann abwartend: „Ob dabei Faschismus im herkömmlichen Sinne gefördert wird, wird sich erst dann erweisen können, wenn sich objektive historische Bedingungen für seine abermalige Erstehungen entwickelt haben sollten.“

Wenn autoritäre Charakterstrukturen weiterhin für die ‚menschliche Grundlage‘ des Faschismus gehalten würden, könne man davon ausgehen, dass sich das traditionell Autoritäre in modernen Gesellschaften überlebt habe, mithin Adorno und Fromm noch umtreibende Gefahr des Faschismus getilgt sein.

Allerdings werde „man sich freilich fragen dürfen, ob dieses Autoritäre nicht gerade in der immanenten Logik und Struktur der Kulturindustrie seinen (un-)würdigen Nachfolger gefunden haben könnte“.

Zuckermann schließt das Kapitel „Kulturindustrie“ mit einem Verweis auf US-Präsident Trump: „Bei einem US-Präsidenten, der aus dem Big Business kam und sein eigenes Leben in Kategorien der Reality Show begriff, lebte und vermittelte, war die Veschwisterung von Kulturindustrie und Affinität zum Faschismus in welthistorischem Maß auf den Punkt gebracht.“ (S.132)

Ein rundum interessante Streitschrift, die nicht nur brillant und kenntnisreich geschrieben ist, sondern welche gewiss auch jede Menge Stoff zur Diskussion liefert.

Jedes Kapitel ist interessant und füllt mögliche Wissenslücken: Kunstautonomie, Kunst und Progress, Konzeptkunst, Kunst und das Politische, <<Hohe>> und <<niedrige>> Kultur, Kulturindustrie, Exkurs: Elitismus, Tod eines Sängers bis hin zum Epilog. Geistig anspruchsvoll und auf hohem Niveau geschrieben. Nicht zum eben mal schnell „verschlingen“. Aus der aufmerksamen Lektüre dieser Streitschrift geht man als Leser dann aber auch mit hohem Gewinn heraus.


Moshe Zuckermann

Die Kunst ist frei?

Eine Streitschrift für die Kunstautonomie

Erscheinungstermin: 20.06.2022
Seitenzahl: 160
Ausstattung: HCoSU
Artikelnummer: 9783864893810

20,00 €

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Foto Verhüllter Reichstag im Gewitter: Claus Stille

„Hier gilt’s der Kunst“. Wieland Wagner 1941-1945. Von Anno Mungen – Rezension

Schon das Cover des hier zu besprechenden Buches triggert die Leser. Jedenfalls so diese, welche halbwegs im Bilde sind über die berühmte Familie Wagner. Da war doch was! Ja, die engen Beziehungen der Familie zu Adolf Hitler. Daran ist kein Vorbeikommen. Auf dem Cover abgebildet ist Wieland Wagner, der sich bei Adolf Hitler eingehakt hat. Zu diesem Titelmotiv heißt es: Adolf Hitler mit den Enkeln Richard Wagners in Bayreuth,1936. Links: Wieland Wagner und rechts Wolfgang Wagner. Aha, also doch keine Fotomontage! Wolfgang Wagner wurde offenbar abgeschnitten? Doch nein: schaut man genauer hin, bemerkt man die rechte Hand Wolfgang Wagners, welcher sich an Hitlers linken Arm einhakt hat. Zu sehen nur, wenn man das Buch aufschlägt und die Innenseite des Schutzumschlags genauer betrachtet. Dortselbst ist Wolfgang nur schemenhaft durch den weiß gehaltenen Text hindurch auf schwarzem Untergrund wahrzunehmen.

Klar: Es geht ja in Anno Mungens Buch „Hier gilt`s der Kunst“ ( Evchens Ausspruch im 2. Akt derMeistersinger von Nürnberg, welcher dem „Neubayreuth“ zum Motto diente)auch um „Wieland Wagner 1941 bis 1945“. Vor 70 Jahren, nämlich im Jahr 1951, fand die Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Als einer der wichtigsten Protagonisten von „Neubayreuth“ gilt Wieland Wagner. Damit gedachte der Wagner-Clan vermutlich in erster Linie daran, die Berührungen mit nationalsozialistischer Politik und den wichtigste Köpfen der Diktatur – vornweg Adolf Hitler – wennschon nicht ungeschehen, aber dennoch so gut es eben ging mit Motto „Hier gilt´s der Kunst“ davon abzulenken.

Über das Buch

Familiengeschichten

Im Oktober 1923, als Wieland Wagner sechs Jahre alt ist, erhalten die Wagners überraschenden Besuch in der Bayreuther Familienvilla. Adolf Hitler besucht die Eltern und den Onkel Houston Stewart Chamberlain, vor allem aber das Grab des Großvaters. Der aufstrebende Politiker pflegt eine ausgeprägte Leidenschaft für die Oper, Richard Wagner und die Idee des Gesamtkunstwerks. Mutter Winifred wird politisch aktiv und hält flammende Reden auf den Diktator in spe. Im Sommer 1925 erlebt Hitler am 28. Juli seine erste Bayreuther Götterdämmerung, er ist wie berauscht: Oper als Droge. Wolf, wie die Kinder Hitler nennen, ist jetzt Teil des Clans, ein väterlicher Onkel, der ab 1930, dem Todesjahr von Siegfried Wagner, zum Ersatzvater avanciert. 1945 liegt Bayreuth in Schutt und Asche. Wagner ist dennoch schon 1951 wieder als Regisseur und Bühnenbildner tätig und zusammen mit Bruder Wolfgang leitet er nun die Festspiele. „Neubayreuth“ findet mit dem Motto „Hier gilt’s der Kunst!“ eine Formel fürs Vergessen. 70 Jahre später wirft der Musik- und Theaterwissenschaftler Anno Mungen ein Licht auf die dunkelsten Jahre der Festspiele sowie der Opernhäuser in Nürnberg und Altenburg. Er beleuchtet das Zusammenspiel von Krieg und Kunst, von Politik und rücksichtslosem Streben nach Erfolg.

Quelle: Werbetext zum Buch (Westend Verlag)

Wie bereits bemerkt: Wenn es um die berühmte Wagner-Familie geht, ist kein Vorbeikommen an Hitler und dem Dritten Reich und die damit verbundenen Gräueltaten. So ist denn auch dem Buch vorangestellt ein Zitat von Peter Adam (aus „The Arts of the Third Reich“, London 1992, S. 9):

„One can only look at the art of the Third Reich through the lens of Auschwitz.“

Autor Mungen sieht Wieland Wagner so: „ein bis in unsere Tage gefeierter Theatermann und Regisseur“. Mungen: „Ohne ihn wäre die Kunstform Oper, so wie sie sich bis heute entwickelt hat, in Deutschland nicht denkbar.“

Nun, das könnte, müsste man auch von Walter Felsenstein (gründete die Komische Oper Berlin) behaupten. Für seine spezielle Art der Opernarbeit machte er den Begriff Musiktheater populär und setzte neue Maßstäbe in der Opernregie. Wobei er betreffs seiner Inszenierungen Anleihen beim Schauspiel nahm. Daher auch der von ihm benutzte Begriff Sängerdarsteller. Zuvor galt in der Regel, dass die Sängerinnen und Sänger kaum in Bewegung waren, sondern ihre Arien körperlich nahezu unbewegt sozusagen an der Rampe absangen.

Wieland Wagner gelte „zu Recht als der ‚Ahnherr‘ des so wirkmächtigen Regietheaters“. Mungen bezieht sich dabei auf dessen Tochter Nike Wagner, die das 2010 so formuliert habe. Richard Wagner selbst hatte für seine Opern genaue Regieanweisungen verfasst. Auf die Cosima Wagner (zweite Frau Richard Wagners), die nach Richard Wagners Tod ab 1883 bis 1908 die Bayreuther Festspiele geleitet hatte und ab 1886 selbst Regie führte und deren Wahrung streng überwachte. Sie hielt äußerst viel von Werktreue.

Wieland Wagner, der Enkel Richard Wagners wagte Modernisierungen. Er leitete zusammen mit seinem Bruder Wolfgang bis zu seinem Tod die Bayreuther Festspiele (1951 bis 1966). Ab 1951 galt Wieland Wagner bereits als prägender Regisseur.

Wieland Wagner hatte sich in jungen Jahren zunächst mit Malerei und Fotografie beschäftigt, bis er bald zur Arbeit als Bühnenbildner und Regisseur fand.

Tagebuchartige Chronik

Autor Mungen versteht sein in tagebuchartige Abschnitte gegliedertes Buch als Chronik, in welcher er „nur das“ berichte, „was die Quellen auch hergeben“. Welche er im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München im einsehbaren Nachlass Wieland Wagners und in Zeitungsberichten des Bayreuther Tagblatts und des Bayreuther Kurier (vormals Bayerische Ostmark) fand.

Mungen bedient sich auch der Tagebuchnotizen von Gertrud Strobel (Archivarin von Haus Wahnfried; welche der nationalsozialistischen Ideologie wohl ziemlich nahe stand). Diese seien, erklärt Mungen in „Quellen und Dank“ (S.152), bisher nicht herausgegeben. Mungen hat sie nach dem Original aus dem Nationalarchiv unter Angabe des Tages des jeweiligen Eintrags zitiert. Über Strobels Haltung zum Hause Wagner und Wieland Wagner im Speziellen erfahren die Leser nichts.

Erfunden: Ein uralter Hausmeister, der durch den Hinterbühnenbereich des Nürnberger Opernhauses geistert

Erfunden in seinem Buch, so Anno Mungen habe er lediglich eine kleine Nebenfigur, „um zu ermöglichen, dass man Sprüche über Philosophen und Arbeiter zu lesen bekommt“ (unter dem Eintrag „schwache Philosophen und starke Männer“ (S148). Gleich einem Geist, so Mungen, habe er einen alten Mann, einen uralten Hausmeister, durch den Hinterbühnenbereich des Nürnberger Opernhauses „durch die endlos anmutenden Gänge der Hinterbühne „schlurfen lassen, „um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist“ (…) „als vieles schon verloren scheint“. 1945. „Das Nürnberger Opernhaus liegt Ende April gespenstisch da. Der Spielbetrieb ist seit über sieben Monaten ausgesetzt.“ (S.148).

Da ist, am 14. April 1945, Bayreuth längst gefallen. Unter dem Eintrag „Kampf um weiße Fahnen“ (S.146) heißt es: „Die Amerikaner sind da, die Wagners, die Lafferentz‘ und die Strobels, alle weg. Im nahen Fichtelgebirge stellt Strobel fest: ‚Völlige Auflösung der der Wehrmacht.’“ Die Familien suchen das Weite. Zunächst geht es mit einem Volkswagen nach Überlingen. Dann soll es über den Bodensee in die Schweiz gehen. Doch schweizerische Grenzbeamte weisen sie zurück. Endzeitstimmung. Schlussgesang. Götterdämmerung.

Ob der Versuch des Theater- und Musikwissenschaftlers Mungen, der betreffs seines vorliegenden Buches als Theaterhistoriker ans Werk gegangen ist, die Person Wieland Wagner in einem vergleichsweise sehr kurzem Zeitraum (1941 bis 1945) ausreichend kenntlich zu machen, mögen manche Leserinnen und Leser eventuell infrage stellen. Andererseits ist nicht abzustreiten, dass eben gerade jene von Mungen beleuchteten Jahre prägend wie entscheidend für den Werdegang Wieland Wagners gewesen waren. Und ganz offenbar war er äußerst ehrgeizig, mit dem Ziel im Auge, die Leitung der Wagner-Festspiele zu erlangen. Als erheblichen Ansporn dürften ihm sicherlich die Bemühungen Adolf Hitlers um ihn und dessen hohes Interesse an seinem Fortkommen gedient haben. Angetrieben betreffs der enormen Förderung Wieland Wagners war Hitler selbst gewiss davon, dass er diesen ganz offenbar als Ersatz für einen Sohn betrachtete, welchen er nicht hatte.

Unter „Freundschaftsversprechen“ (S.23) erfahren wir: „Hitler ist Wagners Mentor. Der Diktator verfolgt einen barock anmutenden Hang, das Denkbare in Architektur, Theater, Malerei und Städtebau mit sich selbst im Mittelpunkt zu inszenieren, es ist Teil seiner Politik. Wagner kennt Hitler als den Freund der Eltern von klein an und erbietet ihm Respekt. Der engagiert sich für ihn, und es ist nicht wenig, was Hitler für Wagner tut. Er schanzt ihm Aufträge zu, stellt ihn vom Militär frei und lässt sich von ihm fotografieren. Letzteres ist deshalb nicht gering einzuschätzen, weil Hitler die Bildrechte an seinem Konterfei sonst nur Heinrich Hoffmann einräumt. Wagner aber darf seine Hitlerfotos vermarkten.“

Ein damals anscheinend gutes Geschäft: „Sie bringen dem Siebzehnjährigen im Mai 1934 einen Verdienst von 952,30 Mark, im Juni sind es 900,60 Mark und im August 681,68 Mark. Der Wert der Reichsmark damals entspricht heute dem von vier bis fünf Euro“, weiß Anno Mungen (S.23) zu berichten.

Ein durchaus interessantes Buch, das Einblicke in Familiengeschichten, Theaterarbeit (auch über Bayreuth hinaus: auch die Opernhäuser von Altenburg und Nürnberg betreffend) und natürlich ebenfalls über politische Umstände jener vom Autor in den Fokus genommenen Zeit vermittelt. Es kommt m. E. aufgrund der vom Autor verwendeten tagebuchartigen Gliederung des Buches zwar mit komprimiert verpackten Fakten daher, was ein Ausschweifen vermeidet, dennoch aber detailreich ist. Andererseits aber hat man dem Lesefluss so seine Schwierigkeiten. So kann man als Leser das Gefühl bekommen, etwas Ab- oder Zerhacktes zusammensetzen zu müssen, es irgendwie zu verbinden. Was schon auch gelingt, aber ein gewisses Holpern dennoch nicht ganz zu vermeiden vermag.

Wer mehr über die Wagners im Speziellen erfahren will, muss selbstredend zu anderer, zusätzlicher Literatur greifen, um sein Bild über die gewiss interessante Familie zu vervollkommnen. Auch über Wieland Wagner selbst möchte man sicherlich (noch) mehr wissen. Besonders über sein Wirken nach 1945 wären umfassendere Informationen durchaus wünschenswert.

Auch könnte Mungens Buch nebenbei dazu anregen, sich mit dem hier auf dem Schutzumschlag seines Buches blass unter weißer Schrift kaum sichtbaren Wolfgang Wagner, dem Bruder Wielands, genauer zu befassen. Ich sehe ihn noch immer vor mir, wie er mit seinem weißem Haar zur Bühnentür des Dortmunder Opernhauses kurz vor Vorstellungsbeginn hereinkommt, freundlich die Anwesenden Bühnentechniker und Beleuchter grüßt und den Inspizienten an seinem Platz auf der rechten Bühnenseite mit Handschlag begrüßt, um dann mit seiner Begleitung in Richtung Zuschauerraum zu entschwinden. Er ließ es sich damals nicht nehmen, Wagner-Inszenierungen im Rahmen des „Rings“, wenn sie in Dortmund auf die Bühne kamen, anzuschauen.

Hinweis: Ich empfehle Interessenten das ebenfalls im Westend Verlag erschienene Buch „Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis“ von Moshe Zuckermann.

Anno Mungen

Hier gilt’s der Kunst

Wieland Wagner 1941-1945

Erscheinungstermin:05.07.2021
Seitenzahl:160
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864893292
  • 18,00 Euro

Dr. Shir Hever referierte bei Attac: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Inzwischen gibt es im Nahen Osten einen Waffenstillstand. Tote, Verletzte auf beiden Seiten – der palästinensischen und der israelischen – sowie schlimme Verwüstungen der Infrastruktur und viele zerstörte Wohnquartiere in Gaza bleiben zurück. Der immer wieder aufflammende und in nahezu regelmäßigen Abständen in Gewalt umschlagende Nahost-Konflikt ruht wieder. Aus den Nachrichten ist er ebenso wieder verschwunden.

Die Attac-Gruppe Dortmund hatte für den 31.Mai 2021 zu einer Sonderveranstaltung eingeladen. Unter den Corona-Bedingungen finden die Attac-Veranstaltungen online statt. So auch die gestrige.

Als Referent eingeladen war Dr. Shir Hever. Er ist Geschäftsführer des „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ und Vorstandsmitglied der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Zudem ist Dr. Hever unabhängiger Wirtschaftsforscher und Journalist.

Dr. Shir Hever, hat die jüngsten Ereignisse in Nahost intensiv verfolgt und darüber mehrere Artikel veröffentlicht.

Der Titel der Veranstaltung: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Hamas bezeichnet sich als Sieger nach elf Tagen Bombardement. Verlierer sind die Menschen: 248 Palästinenser*innen wurden getötet; in Israel starben 13 Menschen. Tausende wurden verletzt und obdachlos. Die Ursachen der Eskalation werden und wurden von den meisten Medien in Deutschland wie gewohnt einseitig dargestellt.

Was zweifellos mit unserer unrühmlichen nationalsozialistischen Vergangenheit und zuvörderst mit dem von Hitlerdeutschland verursachtem Holocaust im Zusammenhang steht. Und beim ersten Gedanken anscheinend richtig zu sein scheint und einleuchten mag. Aber letztlich – zu Ende gedacht – auch Fragen aufwerfen muss. Erst recht die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson sei. Wenn er das liest oder hört runzelt selbst Professor Moshe Zuckermann (hier mehr zu ihm) regelmäßig die Stirn und meint, er habe bisher immer gedacht, die Sicherheit Israels sei Staatsräson Israels. Um die jüngste Eskalation zu verstehen, muss man die Situation in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas kennen, muss die Interessen analysieren, die das Pulverfass Jerusalem, vor allem den Stadtteil Scheich Dscharrach, zum Explodieren brachten, und die auslösenden Momente für die Kriegshandlungen erforschen. Das hat Dr. Shir Hever getan und in seinem interessanten Vortrag zum Ausdruck gebracht. Hever lebt seit elf Jahren in Deutschland.

Dr. Shir Hever: Es ist kein Religionskonflikt

Hever machte gleich eingangs seines Referats klar, dass er die Definition, wonach es sich in Nahost um ein Religionskonflikt handele nicht teilt. Sehr wohl aber gebe es von Seiten der israelischen Regierung – namentlich von Premier Benjamin Netanjahu – einen Versuch, diese Angriffe und die Gewalt als Religionskonflikt darzustellen. Ohne Umschweife spricht Hever betreffs der Situation in Israel/Palästina von Apartheid. Dazu möchte ich anmerken: Erst kürzlich stellte Human Rights Watch fest: Israelische Behörden begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Verfolgung. Das sagt die Menschenrechtsorganisation in einem am 27. April 2021 veröffentlichten Bericht. Auch die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem stellte einen Bericht vor, der beweise, das Israel ein Apartheidregime „vom Fluss bis zum Meer“ aufrecht erhalte. Unterdessen hat der Internationale Strafgerichtshof (ISGH) in DIen Haag die Zuständigkeit für Palästina anerkannt und eine Untersuchung über israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Das trifft auch auf die Verbrechen der Hamas und andere Gruppen im Gazastreifen. Im Unterschied allerdings zu Israel haben die Hamas sowie die Regierung (Palästinensische Autonomiebehörde) in Ramallah im Westjordanland die Zuständigkeit des Den Haager Gerichtshofs akzeptiert. Tel Aviv ignoriere das. Dr. Shir Hever: „Aber die Israelis wissen, dass dies keine effektive Strategie ist.“

Israelische Provokationen in Scheich Dscharrach sowie an und in der al-Aqsa-Moschee

Betreffs der Ursachen des neuen Konflikts im Mai sprach Hever über die israelischen Provokationen im Ramadan-Monat im hier bereits erwähnten Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrach, nördlich der Altstadt von Jerusalem. Dem Koran nach war Scheich Dscharrach der Leibarzt des Propheten Mohammed. Scheich Dscharrach, so Dr. Hever, sei nur eines von vielen Gebieten in Palästina, wo israelische Behörden versuchen, diese von Palästinenser*innen ethnisch zu säubern. Die auf diese Weise freigewordenen Häuser sollen dann Juden bekommen. Scheich Dscharrach sei allerdings der einzige Ort, wo jüdischen Kolonisten vor einem Gericht geklagt haben, weil die Häuser vor dem Krieg 1948 Jüd*innen gehört hätten. Was tatsächlich stimmt. Und es ein Gesetz gibt, was den Vorbesitzern das Recht zuspricht, die Häuser zurückzuerhalten.

Shir Hever berichtete, dass vor 12 Jahren selbst Zionisten gegen diese Kolonisierung des Viertels protestiert hätten. Weil sie warnten, dass hier ein gefährlicher Präzendenzfall geschaffen werden könnte. Millionen palästinensischer Flüchtlinge die im Krieg von 1948 ihre Häuser verloren haben, könnten ebenfalls fordern, ihre Häuser zurückzubekommen. Allerdings entschied ein israelisches Gericht, nur Juden hätten das Recht ihre Gebiete von vor 1948 zu beanspruchen.

Premier Netanjahu hat Probleme mit der Regierungsbildung. Der Mann, der in Israel „der Zauberer“ genannt wird, weil er sozusagen immer wieder einen Hasen aus dem Hut zaubert, habe eine rechtsextreme, aus der Knesset ausgeschlossen gewesene Partei wieder zugelassen. Ausgerechnet wurde ein Büro dieser Partei in der Nachbarschaft von Scheich Dscharrach eingerichtet. Provokativ stellte die Partei Tische mit Essen und Getränken mitten im Ramadan auf die Straße, um die fastenden Muslime zu verspotten.

Später habe Netanjahu mit der Partei abgesprochen, dass sie Scheich Dscharrach verlässt. Dafür schickte er starke Polizeikräfte nach Scheich Dscharrach sowie zur al Aqsa-Moschee. Die Polizei sei nachts in die Moschee eingedrungen und habe die Muslime mitten im Gebet angegriffen. 330 Gläubige seien verletzt worden. Israel provozierte auch am Jerusalem-Tor.

Die Reaktion der Hamas folgte auf dem Fuß

Neben dieser empörenden und aggressiven Provokation brachten auch die bevorstehenden Delogierungen von Palästinser*innen in Scheich Dscharrach das Fass zu überlaufen. Die Hamas habe verlangt, dass die israelische Polizei al-Aqsa verlasse. Die aber sei geblieben. So habe die Hamas von Gaza aus ihre Raketen nach Israel gefeuert. Die israelische Armee antwortete auf den gewiss völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas elf Tage lang mit massiven Luftschlägen. Die israelische Bomben seien absichtlich auf große Wohnhäuser abgeworfen worden und hätten gezielt ein Hochhaus, in welchem internationale Medien ihre Büros hatten, in Schutt und Asche gelegt.

Im Vorfeld sei in Ostjerusalem ein Progrom organisiert und versucht worden. Hunderte jüdische jugendliche Männer hätten nach Arabern gesucht, um sie zu töten. Davon sei hier in Deutschland nicht berichtet worden, meinte Dr. Hever. Auch nicht darüber, dass die Hamas 2017 ihre Politik geändert hat. Und von ihrer ursprünglichen Charta abgerückt sei. In der späteren Fragerunde führte Hever das genauer aus: In einem politischen Manifest, das 42 Punkte umfasse. Es sage etwa: Wir haben keinen Streit mit Juden, sondern nur mit der Besatzung. Und sie seien bereit für ein unbefristeten Waffenstillstand und eine effektive Anerkennung der anderen Seite. Und sie stimmte darin zu, in Friedensverhandlungen von der PLO vertreten zu werden. Die deutsche Regierung aber ignorierte das Dokument der Hamas. (Hier finden Sie die Erklärung. Leider nur auf Englisch.)

Über die Anstrengungen Netanjahus, einen Keil zwischen die israelischen Palästinenser zu treiben und sie so zu spalten sei hierzulande ebenso nichts bekannt.

Massaker in der Stadt Lod

Des Weiteren sprach Dr. Hever über die von Juden und Palästinensern bewohnte Stadt Lod. Wie wurde sie aber zu einer gemischten Stadt? Hevers Großvater sei ein Kämpfer in der Palmach, einer Eliteabteilung der Hagana, gewesen. Einer zionistischen Miliz, die im Krieg von 1948 kämpfte. Erst nach dem Tode seines Großvaters habe Shir Hever erfahren, dass dieser an einem Massaker beteiligt war. Dabei seien etwa 8000 Bewohner*innen der Stadt vertrieben worden, die dann zu Fuß nach Jordanien gehen mussten. Alte, Kranke und Junge, die zu schwach für den Fußmarsch waren, hätten Zuflucht in einer großen Moschee gefunden. Neben bei bemerkt: Ich empfehle Ilhan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“.

Die Palmach brannten die Moschee mit den Menschen darin nieder. Juden, meist Auswanderer aus arabischen Ländern wurden in der Stadt angesiedelt. So sei die Stadt zu einer gemischten Stadt gemacht worden. Heute sei sie eine der ärmsten Städte Israels mit Problemen wie Drogensucht, Kriminalität und Gewalt.

Die Situation in Israel

Dr. Shir informierte darüber, dass Premier Netanjahu (nach mehreren Wahlen gibt es noch immer keine stabile israelische Regierung) weiter alles daran setze, um an der Macht zu bleiben. Nur so bleibt er vor einem Gerichtsverfahren wegen Korruption verschont, an dessen Ende er höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde.

Obwohl Israel inzwischen politisch weit nach rechts gerutscht sei, gebe es dennoch – auch in wenigen Medien – noch versöhnliche Stimmen. Wer sich allerdings gegen Apartheid und die Gewalt der israelischen Armee kritisch aus dem Fenster lehne werde bedroht. Einige Journalisten müssten sich von Leibwächtern schützen lassen.

Die Israelis beschleiche, so Dr. Shir,allmählich das Gefühl, dass das Ende des israelischen Staates sehr nahe ist.

Erstmals seit den 1930er Jahren zeigten Palästinenser*innen im Gazastreifen, in Israel und dem Westjordanland große Einigkeit

Im kürzlich beendeten Konflikt haben nach Ansicht von Dr. Hever die Palästinenser*innen sowohl im Gazastreifen, als auch in Israel und dem Westjordanland mehr Einigkeit gezeigt als je zuvor in den 1930er Jahren. Am zurückliegenden 18. Mai sei der erste Generalstreik der Palästinenser*innen ausgerufen. Er umfasste Gaza, das Westjordanland und Israel – „im gesamten historischen Palästina“, so merkte Dr. Hever an. Die israelischen Palästinenser*innen wurden wegen ihrer Teilnahme am Generalstreik entlassen.

Die israelische Seite hat verloren. Die Hamas machte klar, dass sie Zugeständnisse erzwingen kann. Allerdings zu einem hohen Preis

Nach der jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzung und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens hätten sich, sagte Shir Hever, „meldeten sich viele israelische Generäle und Politiker und gaben zu, dass die israelische Seite verloren hat“.

Hever: „Aus strategischer sich hat die Hamas bewiesen, dass sie israelische Zugeständnisse in Jerusalem und besonders bei der al-Aqsa-Moschee erzwingen kann. Und dass sie entscheiden kann, wann die Gewalt beginnt und wann sie endet.“

In Gaza habe man den Waffenstillstand gefeiert, als wäre er ein militärischer Sieg. Ein Sieg zu einem hohen Preis.

Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen

Inwiefern das für uns hier in Deutschland relevant ist, erklärte der Referent so: „ Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen.“ In der Tagesschau wiederhole man stets die lange Phrase „radikal-islamische Terrorgruppe Hamas“. Sie sprächen aber nicht über die „radikal-jüdische Terrorgruppe Likud“. „Denn, wenn sie das sagen würden, würde das als antisemitisch oder rassistisch gegenüber Juden angesehen werden“, so Hever. Und weiter: „Aber hat der Likud nicht mehr Hass und Gewalt gegenüber Zivilist*innen verbreitet als Hamas je getan hat?“ Die Hamas-Partei sei sehr konsequent mit ihrer Botschaft an das palästinensische Volk gewesen. Sie sagten: Wir Palästinenser sind allein auf der Welt. Die internationale Gemeinschaft wird uns nicht helfen. Sie wird nur Israel helfen. Wir müssen mit Waffen für unsere Freiheit kämpfen. Ein anderer Weg ist nicht möglich.

Shir Hever: Ich habe eine persönliche Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen

Hever ist in Jerusalem aufgewachsen. In seiner Schule wurden in den 1990er Jahren zwei Schüler durch von der Hamas angeordnete Selbstmordattentate getötet. Hever: „Für mich ist es keine Frage, ob die Palästinenser irgendwann die Besatzung besiegen und frei wird. Natürlich wird es geschehen. Aber die Frage ist wie. Ich habe eine persönliche, moralische Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen. Um zu beweisen, dass die Palästenser*innen ohne Bomben und ohne Raketen frei werden können. Die Alternative, die die Menschen in Europa anbieten können, ist die BDS-Bewegung, Boykott, Desinvesitionen und Sanktionen, eine Bewegung die von zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wird, die 2005 gegründet wurde und Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt mitreißt.“ Sie basiere auf den Menschenrecht und dem Völkerrecht. Vielen Palästinensern gebe BDS viel Hoffnung.

Hamas allerdings stelle sich konsequent gegen BDS.

Die Verleumdung des BDS in Deutschland

Dr. Hever stellte klar, dass das „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.“, deren Geschäftsführer er ist, keine Pro-BDS-Position habe. Obwohl BIP die Position vertritt, dass Menschen ein Recht haben, BDS zu unterstützen.

Der Referent erinnerte daran, „dass in Deutschland die Versuche, BDS zu verleumden, zu zensieren und zu unterdrücken besonders ekelhaft“ sind. Der Bundestag habe entschieden, dass BDS antisemitisch sei und hat öffentliche Einrichtungen in Deutschland aufgefordert, Räume für Veranstaltungen zu verbieten, in denen BDS diskutiert wird. Politiker wie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein und der Uwe Becker, Bürgermeister von Frankfurt am Main und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft haben behauptet, merkte Shir Hever an, ihre Kampagne gegen BDS zum Wohle der deutschen Juden gedacht ist. Obwohl BDS nicht zum Boykott von Juden aufrufe, schon gar nicht von deutschen Juden. „Es ist einfach eine zynische Manipulation, um die Juden in Deutschland zu Geiseln der Politik des Staates Israel zu machen“, meinte Hever.

Traurigerweise seien ähnliche Versuche, BDS zum Schweigen zu bringen, um der rechtsgerichteten Regierung Israels beizuspringen, von der Trump-Administration in den USA unternommen worden. Und in geringerem Maße auch in anderen Ländern wie Frankreich und Ungarn.

Als Freunde von Hever deutschen Beamten sagten, dass sie der Hamas in die Hände spielen, wenn sie BDS ablehnen, hätten die nicht zugehört. „Ihre blinde Unterstützung“, so Dr. Hever weiter, „für die israelische Regierung, ungeachtet der Verbrechen, die sie begeht, hat die Hamas-Unterstützer in Palästina davon überzeugt, dass sie keine andere Wahl haben als sich zu bewaffnen uns mir Gewalt zu kämpfen, um ihre Recht zu erlangen.“

In diesem Monat habe man das Ergebnis gesehen.

Es bleibe die Frage, beschloss Dr. Hever sein Referat, ob wir den Palästinenser*innen beweisen können, dass „unsere Solidarität effektiver ist als Raketen, um Gerechtigkeit zu erreichen“.

Interessante Frage- und Antwortrunde

An das Referat von Dr. Shir Hever schloss sich eine Interessante Frage- und Antwortrunde an. Till Struckberg von Attac Dortmund eröffnete sie. Er bekannte, Bauchschmerzen wegen des Titels des Referats „Hamas siegt, aber Tausende verlieren …“ zu haben.

Dazu erklärte Hever, dass jeder israelische Offizier eine Reihe von Büchern lesen müsse, die von Militärdenkern wie beispielsweise von Heeresreformer Carl von Clausewitz geschrieben worden sind.

Betreff eines Sieges sei bei Clausewitz definiert, ein Sieger zu sein sei keine Frage, welche Seite mehr Menschen verloren habe. In den meisten Kriegen der Welt verliere der Sieger mehr als der Verlierer.

Stattdessen müsse jede Seite ihre strategischen Ziele definieren. Und sehen, ob diese Ziele am Ende des Kampfes erreicht wurden oder nicht. Ziel der israelische Armee sei es gewesen die Hamas abzuschrecken. Was, so Hever, nicht erreicht worden sei. Interessant: die Hamas-Kämpfer läsen im Übrigen die gleichen Bücher der Militärdenker wie die israelischen Offiziere! Ziel sei es, auch ein Spieler zu werden in Jerusalem betreffs al-Aqsa. Dies hätte die Hamas erreicht. Zudem sei ihnen eine Demütigung Israels gelungen. Allerdings hätte es dabei tausende Verlierer gegeben. Wenn nicht Millionen. Schließlich seien die Ziele der Hamas nicht gleichzeitig die Ziele aller Palästinenser. Wiewohl die Ziele der israelischen Regierung nicht automatisch die Ziele aller Israelis seien.

Natürlich kam auch die Frage nach der Zweistaatenlösung. Shir Hevers Antwort: Sie ist möglich. Allerdings wären die Kosten dafür hoch. Und für die jüdischen Siedler selbstredend sehr schwierig. Ob das die beste Lösung ist wäre wiederum eine andere Frage, so der Referent.

So gebe es Palästinenser, die sagten eine Demokratie – eine Person/eine Stimme -, etwa wie in Südafrika, wäre die bessere Lösung.

Ob das realistisch ist, fragte jemand. Schließlich wären ja dann die Juden in der Minderheit. Shir Hever darauf: „Das Konzept von einem jüdischen Staat ist ein rassistisches Konzept. Das darf sowieso nicht existieren.“

Es gebe ein Unterschied zwischen Staat für Juden und einem jüdischen Staat. Hannah Arendt habe das ausführlich beleuchtet. Jüdischer Staat sage, der Staat selbst ist jüdisch. Die Menschen müssten diesem Staat in dieser Hinsicht dienen. Was eine sehr undemokratische Idee sei. Ein Konzept eines Staates für Juden bedeute, ein Staat, wo Juden gleiche Rechte haben, wie jeder andere. Ein Staat für Juden sei im Beginn des 20. Jahrhunderts kaum zu finden. Heute sei ein solcher Staat beispielsweise Deutschland. Warum also sollte ein künftiger Staat Israel oder Palästina – je nachdem wie dieser dann hieße – nicht so ein Staat für Juden sein?

Wer dann in diesem Staat die Mehrheit hat, sei ja dann den jeweiligen Staatsbürgern – Juden und Palästinensern – überlassen und deren Kinderplanung.

Ursprünglich habe es ja einst, erklärte Hever, auch kein Frauenwahlrecht gegeben. Davor hätten die Männer Befürchtungen gehabt, weil es mehr Frauen gebe.

Inzwischen habe sich das eingespielt und wohl kaum noch in Frage gestellt.

Dr. Hever wurde gefragt, ob man dann nicht befürchten müsse, dass Juden im Einheitsstaat getötet würden. Aus Rache. Darauf entgegnete Dr. Hever wieder mit einem Verweis auf Südafrika. Dort hätten ja die Weißen – einst mit Apartheid herrschende Minderheit – befürchtet, dass die Schwarzen sie dann ermorden würden. Dass sei aber dann nicht passiert.

Dr. Shir Hever hält durchaus – auf Nachfrage antwortend – auch eine Versöhnungskommission abermals mit Verweis auf Südafrika für angebracht. Auch Palästinenser*innen könnten sich das gut vorstellen. Sie verwiesen aber zu recht darauf: Das diese Versöhnungskommission in Südafrika erst möglich wurde nach dem Ende der Apartheid.

Die Frage nach den Möglichkeiten der EU den Nahostkonflikt einer Lösung zuzuführen, beantwortete Shir Hever so zunächst mit einem Hinweis auf das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel, das bereits existiere. Den Bedingungen, der Menschenrechtsklausel nach, dürfe diesbezüglich kein Land eine solche Möglichkeit bekommen, das Menschenrechte systematisch verletzt.





Hever: Wenn die EU ihre eigenen Gesetze ernst nähme und sage, solange es keine Demokratie mit gleichen Rechten für alle in Israel/Palästina gibt, können wir das

Assoziierungsabkommen mit Israel nicht weiter verlängern. Das wäre für israelische Wirtschaft ein Desaster. Shir Hever: „Dann sehen wir in einer Woche – ich bin fest überzeugt – werde die israelische Regierung sagen, unter diesen Bedingungen haben wir keine Wahl. Wir müssen entweder die Besatzung zu Ende bringen oder ein Nationalwahl im Israel-Palästina-Gebiet haben, um eine demokratische Regierung zu bilden.“

Eine interessante Veranstaltung war das mit Dr. Shir Hever. Die wahrscheinlich, wäre sie öffentlich in einer städtischen Einrichtung geplant gewesen, keinen Raum gefunden hätte. Und die üblichen Verdächtigen hätten behauptet die Veranstaltung wäre antisemitisch. Allein, weil kurz über BDS gesprochen worden wäre. Darüber einmal nachzudenken ist angebracht.

Beitragsbild: via Weltnetz.TV

Anbei gegeben via Activismmunich

Abschließend noch einige Beiträge mit Links zu meinen Beiträgen, welche zur Thematik passen, sowie ein Link zu Videos, in denen Dr. Shir Hever spricht:

https://clausstille.blog/2019/11/22/pressemitteilung-von-attac-dortmund-und-dgb-dortmund-diskussion-zum-ratsbeschluss-gegen-antisemitismus-referent-andreas-zumach/




https://clausstille.blog/2018/09/18/der-allgegenwaertige-antisemit-oder-die-angst-der-deutschen-vor-der-vergangenheit-ein-neues-wichtiges-buch-von-moshe-zuckermann/


https://clausstille.blog/2021/04/07/jerusalemer-erklarung-200-holocaust-forscher-wenden-sich-dagegen-kritik-an-israel-als-antisemitismus-zu-diffamieren/


https://clausstille.blog/2017/10/04/die-antisemitenmacher-wie-neue-rechte-kritik-an-der-politik-israels-verhindert-ein-ungemein-wichtiges-buch-von-abraham-melzer/


https://clausstille.blog/2019/12/13/wider-den-antisemitenmachern-der-vortrag-des-journalisten-andreas-zumach-in-dortmund-fand-statt-israel-palastina-und-die-grenzen-des-sagbaren/


https://clausstille.blog/2014/03/25/dr-khouloud-daibes-botschafterin-palastinas-das-andere-gesicht-des-palastinensischen-widerstands/

https://weltnetz.tv/personen/shir-hever


„Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird“. Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder (Hg.) – Rezension

Karl Marx wusste schon: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Gleichermaßen dürfte sich nichts daran geändert haben, dass Vielen das kaum oder eher gar nicht bewusst wird. Sonst würde es wohl viel öfters rappeln im Karton. Dies zu verhindern wissen die Herrschenden. Indem diese von Marx erkannte Tatsache bemäntelt und von ihr abgelenkt wird.

Diese Aufgabe fällt neben Politikern der Regierungsfraktionen – und manchmal sogar Teilen der Opposition – sowie u.a. den Medien zu. Wobei man wissen muss, dass auch die zu einem nicht unerheblichen Teil den Herrschenden, den Wohlhabenden in der Gesellschaft gehören. Und welches Interesse werden sie demzufolge vertreten? Paul Sethe in einem Leserbrief vom 5. Mai 1965 im Spiegel: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. …“

Heute, muss man wissen, sind es viel, viel weniger als diese zweihundert reichen damals.

Wer die Macht hat, muss die Köpfe beherrschen“

Im Vorwort (S.7) zum hier zu besprechenden Buch „Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird“ führen deren Herausgeber Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder eingangs ebenfalls – in verkürzter Form – das Marxsche Zitat an.

Und setzen hintan: „Wer die Macht hat, muss auch die Köpfe beherrschen. Es stellt sich immer die Frage, ob und wie das gelingt. Eine wirkliche Meinungsvielfalt ist daher möglichst auszuschalten, vor allem in aufregenden Zeiten, in denen etwas für die Bevölkerungen durchzusetzen gilt.“

Als Leser hat man sofort etwas vor Augen. Nicht wahr? Die Herausgeber merken jedoch an, das Buch sei noch vor der Coronazeit geplant und konzipiert worden.

Das Buch habe also einen anderen Blickwinkel gehabt. Allerdings hätten „aber die Belastungen und Irritationen von uns allen“ das Projekt verzögert. Nichtsdestotrotz fände man „in verschiedenen Beiträgen Spuren dieser Thematik“.

Wobei das Buch aber kein „Corona-Buch“ sei.

Corona als Brennglas

Allerdings ist es nicht verwunderlich, dass „Corona“ – sozusagen als Brennglas – bei dem beiden Herausgebern – wie gewiss auch bei den Leserinnen und Lesern ihres Buches, welche ihren Hausverstand noch nicht auf der Müllhalde entsorgt haben, einiges kenntlich gemacht hat:

„Zu keinem Zeitpunkt aber konnten wir besser sehen als heute, dass die Macht durch die ‚Meinung‘ herrscht, in überwältigendem Ausmaß nur eine offizielle, veröffentlichte Meinung, vorgetragen mit dem Anspruch des wissenschaftlichen Expertentums, unter Drohung hoher Gefahr für Leib und Leben.“

Die Bruders stellen fest: „In der Regel wirkt sie durch Überredung, Überzeugung, Verführung – durch die Register des Redens, der Behauptung, Belehrung, des Zeigens-, und des Versteckens, Verschweigens, kurz: des Diskurses, einfach dadurch, dass man in den Diskurs einsteigt und sich gemäß seiner Regeln in diesem Diskurs bewegt (s.Foucault 1982/1987, S.255). Foucault meinte damals, nur im Grenzfall braucht sie Gewalt, Befehl oder Vorschrift.“ Und die Herausgeber fragen: „Haben wir nun diesen ‚Grenzfall‘?

Und sie geben an, wie verblüffend es für sei zu sehen war, „wie schnell und offenbar weitgehend die Bevölkerungen fast aller Staaten (190 von 193) weltweit sich den Zumutungen der Corona-Pandemie-Politik gebeugt und sie akzeptiert haben.“

Bereitschaft zum Gehorsam bzw. „Mentalität der Angepasstheit“

Sie schreiben (S.8) von „einer entsprechenden Bereitschaft in der Bevölkerung zum Gehorsam: ein Autoritarismus, der nicht mehr der der klassischen ‚autoritären Persönlichkeit‘ zu sein sein scheint, sondern eine Haltung, die denn Versuchspersonen des Milgram-Experiments näher kommt, eine Haltung, die hinnimmt und damit regierungsaffirmative Orientierungen und Argumente unterstützt. Wir könnten hier eher, sinnvollerweise den Begriff der ‚Mentalität der Angepasstheit‘ einsetzen.“

Almuth Bruder-Bezzel beschäftigt im einleitenden Kapitel „Propaganda und Macht“ (S.14) mit der Geschichte der Herausbildung des modernen „Meinungsmanagements“. Sie arbeitet heraus, „welche psychologischen Prozesse und Dynamiken bei den einzelnen Individuen eine Rolle spielen“. Um zu beschreiben, welche Rolle die Entdeckung der Massenseele für die Propaganda spielt (S.19) nimmt sie Bezug auf die Elitendemokratie des antiken Griechenland und unsere Zeit betreffend auf die berühmte Schrift „Psychologie der Massen“ von 1895 Gustav Le Bons.

Des Weiteren verweist sie u.a. auf die Erkenntnisse aus der Massenkommunikationsforschung von Walter Lippmann („The Public Opinion“) von 1922 und Edward Bernays („Propaganda“). Was hochinteressant ist und obendrein dazu animiert, die erwähnten Schriften selbst zu lesen. Lesen Sie, so Sie mögen, meine Rezension zu „Die öffentliche Meinung“ von Walter Lippmann.

Warum die Gedanken der Herrschenden als die eigenen ausgegeben werden

Klaus-Jürgen Bruder beschäftigt sich in seinem Beitrag damit, was für die Übernahme der Gedanken und Idee der Herrschenden durch die Beherrschten entscheidend ist und warum diese dann als die eigenen ausgegeben werden, um ihnen folgen zu können. Wir täten dann so, als ob wir einem Befehl folgten. Bruder: „Dann realisiert sich das Subjekt als Herr seines eigenen Sprechens und Handelns.“

Und weiter: „Die Herstellung dieser Loyalität läuft nicht nur über die Medien, die ‚Meinungsmacher‘ (Albrecht Müller), die ‚Manufakturen des Konsens‘ (Noam Chomsky).“ In Puncto „Loyalität den ‚Oberen‘ gegenüber, dass es schon ’seine Richtigkeit habe, was sie von uns verlangen, spielt zumindest am Anfang eine Rolle, dass die Bevölkerung überhaupt die ‚Angst‘ übernehmen und entwickeln konnte, die Herrschaft braucht, um ‚unliebsame‘ Forderungen durchzusetzen. Wir können nach Milgram (1974) mit der Bereitschaft rechnen, Gehorsam gegenüber autoritären Anweisungen zu zeigen, auch dann, wenn diese im Widerspruch zu den Forderungen des eigenen Gewissens stehen.“

Schule als „Normalisierungs- und Selektionsanstalt“

Neben den Bruders versammelt die interessante Veröffentlichung dreizehn weitere Autor*innen, die das Thema „Macht“ analysieren und auf Spezialgebiete herunterbrechen. So etwa Bildungsexpertin Magda von Garrell, welche die Schule als „Normalisierungs- und Selektionsanstalt charakterisiert“, wo die „mitgebrachten Ungleichheiten durch Gleichschaltung reproduziert und zugleich Grundlagen und Sekundärtugenden geformt“ und „die Kinder auf ihre Rolle von ’stummen Werkzeugen‘ vorbereitet“ werden. (S.10/S.75: „Meinungslernen in der Schule“)

Fremdbestimmte Arbeitnehmer

Was sich in die Arbeitswelt fortsetzt. Um „Stumme Werkzeuge“ geht es nämlich auch bei Werner Rügemer: „Das organisierte, erpresste Schweigen der abhängig Beschäftigten – und ein beispielhafter Ausbruch“ (S.95). Des Weiteren geht der sich als „interventionistische Philosoph“ verstehende Publizist auf den „fremdbestimmten Arbeitnehmer“, der per definitionem des Bürgerlichen Gesetzbuches 2020 zu „weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“ ist (S.96). Was zur Folge hat (S.96): „Das ArbeitsUnrecht besteht nicht nur in verarmender Niedriglöhnerei und im EU-weit und global organisierten Lohndumping. Working poor – du hast Arbeit, bleibst aber arm.“

Die Herausgeber machen klar (S.11): „Die mit Verschweigen und Lügen manipulativ hergestellte öffentliche Meinung führt dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung aus der Teilhabe ausgeschlossen bleibt, sodass die Machtelite ihre Deutungshoheit und damit ihre Politik gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen und legitimieren kann.“

Moshe Zuckermann analysiert die Orwellsche Umkehrung der Bedeutung von Begriffen am Beispiel des Holocaust-Diskurses, sowohl in der BRD wie auch Israel

Ein wichtigen Beitrag steuerte auch Moshe Zuckermann bei: „Holocaust und „Holocaust“ – eine Meinungsfrage“ (S.153) bei. Dazu schreiben die Herausgeber: „Moshe Zuckermann analysiert die Orwellsche Umkehrung der Bedeutung von Begriffen am Beispiel des Holocaust-Diskurses, sowohl in Deutschland auch Israel, als Möglichkeit, dass das nahende Unglück sich unauffällig heranschleicht, statt mit heftigen Paukenschlag zu beginnen, sodass es den Schein von Routine und Normalität wahrt, und man es ignorant hinnehmen kann.“

Dabei, schreibt Zuckermann, habe „man stets Struktur, Ideologie, Rhetorik und Soziologie des Faschismus im Blick gehabt und sich immer wieder gewundert – wie konnte das nur möglich sein, wie konnte man das sich anbahnende Unheil bloß so ignorant hinnehmen?“ „[S]o, genau wie im eigenen Land zur Zeit entfaltet sich, der Faschismus.“

Betreffs Israel befindet Zuckermann weiter: „Man sieht allenthalben autoritär-diktatorische Tendenzen um sich greifen; man registriert, wie die letzten Reste dessen, was sich einst (verlogenerweise) rühmte, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, zuschanden kommen; man gewahrt, wie das bisschen an vermeintlicher Zivilgesellschaft, die man in Israel zu haben wähnte, rapide verrottet und verkommt.“

Wie der Begriff „Verschwörungstheorie“ von der CIA eingeführt wurde und seit 9/11 abermals inflationär angewendet wird

Ein Autorenbeitrag auf seine Weise interessanter wie der vorangegangene! Mathias Bröckers befasst sich (S.166) als sozusagen ausgewiesener Experte für den vom CIA im Zusammenhang mit dem Mord an John F. Kennedy 1963 eingeführten Begriff „Verschwörungstheorie“, der gegen Kritiker der offiziellen Version des des Geschehens angewandt wurde und nun seit 9/11 abermals inflationär benutzt werde.

Bröckers geht in seinem Beitrag ebenfalls auf die Fälle von Julian Assange und Edward Snowden, gegen die – wie die Herausgeber anmerken: „eine gnadenlose Inquisition eingesetzt wird, wie Hannes Sies (S.237) am Beispiel des Umgangs der Mainstream-Medien mit der skandalösen Verleumdung, Verfolgung und Gefangennahme von Julian Assange zeigt; also einer der berühmtesten Journalisten ausgeschaltet werden kann und welche Rolle die Medien dabei spielen.“

Als durch die Beteiligung am ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 die BRD die Unschuld verlor

Ausdrücklich sei hier auch auf den wichtigen Beitrag zum ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 (gegen Jugoslawien) 1999 von Kurt Gritsch (S.191) verwiesen, wo Gerhard Schröder und Joseph Fischer sozusagen dafür sorgten, dass die BRD ihre Unschuld verlor. Nebenbei bemerkt: Kurt Gritsch hat seine Doktorarbeit unter dem Titel „Die Inszenierung eines gerechten Krieges?“ verfasst. Dazu mehr in meinem Bericht über einen Vortrag von Kurz Gritsch vor einigen Jahren in Kassel.

Was, wenn sich Enttäuschungen in den kommenden Bundestagswahlen Luft machen?

Unbedingt möchte ich hier ebenfalls unbedingt auf den Beitrag von Wolf Wetzel „Der Mord an Walter Lübke und die Auferstehung der Untoten“ (S.220) hinweisen. Im Nachgang zu seinen Ausführungen gibt Wetzel zu bedenken: „Aber die Verhältnisse sind mehr als prekär. Die bis heute nachwirkende Finanzwirtschaftskrise 2007, die Wirtschaftskrise 2019 und die Kosten der Corona-Maßnahmen addieren sich zu unglaublichen Summen auf, die sehr bald dort eingetrieben werden, wo eh nicht viel ist. Das Vertrauen in Deutschland ist mehr als geliehen.“

Und er fragt sich (S.234): „Was passiert, wenn sich“ Enttäuschungen in den kommenden Bundestagswahlen „Luft macht und alle abstraft, die dem Wahlvolk nur noch AHA-Regeln erklären wollten?“

„Das Internet als Meinungsbildner“

Verdienstvoll, dass im Buch im Beitrag von Wolfgang Romey „Das Internet als Meinungsbildner“ (S.122) auch auf das Schein-Internetlexikon Wikipeda, welches häufig zur Denunziation von unliebsamen Personen oder Diffamierung von Meinungen benutzt wird. „Der Fall Wikipedia“ (S.127).

Es wird darauf hingewiesen, wie das von Markus Fiedler in seinem Dokumentarfilm „Die dunkle Seite der Wikipeda“ am Wikipedia-Eintrag des Schweizer Publizisten, Historikers und Friedensforscher Daniele Ganser und im Blog „Geschichten aus Wikihausen“ analysiert und nachgewiesen wird. (Anbei mein Beitrag zu Fiedlers Dokumentarfilm.)

Macht macht Meinung

„Mit welchen Mitteln und Techniken werden kurzfristige Meinungen sowie längerfristige Wertmaßstäbe und Weltbilder hergestellt? Klaus-Jürgen Bruder und Almuth Bruder-Bezzel liefern eine Analyse, die die gegenwärtige Situation von Verleumdung, Fake News und Verschwörungstheorien vor Augen hat, dabei aber die grundlegenden Prinzipien und Mechanismen der Beeinflussung und Manipulation an ausgewählten Beispielen untersucht.“

Quelle: Westend Verlag

Unbedingt Leseempfehlung im Sinne von Kants Sapere aude!

Klaus-Jürgen Bruder, Almuth Bruder-Bezzel

Macht

Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird

Seitenzahl:256
Ausstattung:Klappenbroschur
Artikelnummer:9783864891106

22,00 €

Klaus-Jürgen Bruder





Klaus-Jürgen Bruder ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie, sowie unter anderem Herausgeber der Schriftenreihe „Subjektivität und Postmoderne“ im Gießener Psychosozial-Verlag.

Almuth Bruder-Bezzel

Almuth Bruder-Bezzel ist Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin mit eigener Praxis, sowie Mitbegründerin des Alfred Adler Instituts Berlin. Sie hat unter Arbeiten zur Geschichte und Theorie A. Adlers und zu psychologisch-gesellschaftskritischen Themen wie etwa Arbeitslosigkeit, Rechtspopulismus, neoliberales Subjekt und Feminismus geschrieben.

„Gegen Entfremdung“ Moshe Zuckermann, Susann Witt-Stahl: Gespräche über Erich Fried – Rezension

Die Schar der Lyrik-Begeisterten dürfte sich im Vergleich mit anderen literarischen Genres in Grenzen halten. Was nichts Neues ist. Das ist schade zu nennen. Und richtig Geld verdienen damit ist Verfassern von Lyrik auch kaum gegeben. Gedichte zu lesen, ist halt offenbar nicht für jeden Menschen spannend. Liegt das an der Schulzeit,wo man sie auswendig lernen oder interpretieren musste? Auch ich muss zugeben, dass ich immer erst ein gewissen Schubser brauche, um Lyrik zu lesen. Aber, wenn ich es dann mal tue, stellen sich bei mir durchaus positive Effekte und öfter als gedacht auch Begeisterung ein.

Erst recht wird die Anhängerschaft von politischer Lyrik überschaubar sein. Dass der Österreicher Erich Fried (* 6. Mai 1921 in Wien; † 22. November 1988 in Baden-Baden)

eine Ikone der politischen Lyrik der Bundesrepublik ab den Sechzigerjahren bis zu seinem Tod 1988 gewesen ist, werden sicher ebenfalls nicht allzu Viele wissen.

Obwohl Fried seinerzeit mit der DDR auch seine Probleme hatte oder es die DDR mit ihm (weil Fried sich „moralisch meist gerechtfertigter Kritik der Sowjetunion, der DDR und am Realsozialismus“ nicht enthielt; S.150)) vielleicht ebenfalls nicht leicht hatte, hielt er auch dort Lesungen ab. Es ist nun schon sehr lange her – es dürfte in den 1980er Jahren gewesen sein -, da er auch in meiner Heimatstadt Halle an der Saale zu einer Lesung im Volkspark gekommen war. Ich finde leider keinen Hinweis mehr darauf. Ich meine heute, das sei so gewesen (wenn ich mich irre, verzeihe man es mir bitte). Ich sehe ihn noch genau dort mit seiner schwarzen Brille auf der Nase vor dem Buch sitzen. Jedenfalls kaufte ich mir in dieser Zeit ein Buch, dass auch Gedichte von Fried enthielt. Und war von ihnen tief beeindruckt.

Moshe Zuckermann und Susann Witt-Stahl beleuchten Erich Frieds dichterisches Werk und dessen Wirken als Marxist, Friedenskämpfer und Antifaschist

Zu seinem 100. Geburtstag beleuchten Moshe Zuckermann und Susann Witt-Stahl das dichterische Werk des herausragenden Literaten und sein engagiertes Wirken als Marxist, Friedenskämpfer und Antifaschist. Das ist höchst interessant und mit Gewinn zu lesen. Wir erfahren viel über Erich Fried und die jeweiligen Zeiten, in denen er wirkte. Moshe Zuckermann (MZ) und Susann Witt-Stahl begannen von Mitte Oktober 2020 einen Gedankenaustausch, zu dessen Behufe sie ein Reihe von Gesprächen über den bedeutenden Lyriker und Intellektuellen führten, welchen sie Anfang Februar 2021 abschlossen. Der Gedankenaustausch umfasst Analysen und Ansichten zu Frieds dichterischen Werk, seinem Wirken als marxistischer Denker und Aktivist sowie zur zeitgenössischen und gegenwärtigen Rezeption des ebenso hochbewunderten wie auch oftmals verhassten und verleumdeten Schriftstellers.

SWS schreibt (S.139) etwa über bestimmte, sich als Linke sehende (wohl Antideutsche), die den Antifaschismus pervertierten, in dem sie „mit dem Finger auf jüdische Linke, lebende wie tote“, zeigen „und krakeelen ‚Nie wieder Auschwitz’“. Und: „Was da an Verdrängtem wieder hochkommt, wenn der in Wien ansässige ‚unabhängige Nahost-Thinktank‘ Mena Watch, an dem viele linke Autoren mitwirken, über Erich Fried Schmähungen wie ‚Kentucky Fried Chicken“ Wider den antizionistischen Gesinnungskitsch. Fried war Antisemit“ verbreitet (…)

Dass die Erträge des durchgeistigten Dialogs von Zuckermann und Witt-Stahl nun uns Leser*innen vorliegen, ist dem Westend Verlag zu danken. Der Band, in welchen sie versammelt sind, trägt den Titel „Gegen Entfremdung“.

Womöglich bleibt dieser Band die gehaltvollste Veröffentlichung dieses Jahres zum 100. Geburtstag von Erich Fried

Durchaus möglich, dass dieser anlässlich des 100. Geburtstags von Erich Fried die gehaltvollste Veröffentlichung dieses Jahres bleiben wird. SWS weist darauf hin: „Dass zum Auftakt dieses Geburtstagsjubiläumsjahres ein Buch erschienen ist, das ausgerechnet Erich Frieds Beziehung zu dem Neonazi Michael Kühnen – die nur aus insgesamt sechzehn Briefen, einer Begegnung und einem Gedicht bestand – zu einem großen Thema macht, lässt jedenfalls nichts Gutes ahnen: Abgesehen davon, dass der Autor den Begriff der Entfremdung, der für Frieds Schaffen zentral ist, seines marxistischen Ursprungs entschlagen, somit ideologisiert und den den Dichter fürs ZDF-Morgenmagazin konsumierbar gemacht hat: Im Untertitel ist sogar von einer ‚deutschen Freundschaft‘ zwischen Fried und Kühnen die Rede.“ Allerdings, schreibt SWS, sei eine „Freundschaft“ nicht belegt. Der Autor des Buches konnte das jedenfalls nicht belegen. Und SWS fragt darüber hinaus, was daran „deutsch“ gewesen sei sollte. „Und zwar weniger, weil Fried Österreicher war, der bis zu seinem Tod im britischen Exil lebte, sondern vor allem weil Fried nationale Gefühle, erst recht Nationalismus, allemal deutschen, der sich zum massenmörderischen Faschismus radikalisiert hatte, zutiefst verabscheut und kaum eine Gelegenheit versäumt hat, das laut zu sagen.“

Der Hintergrund zu dieser Erwähnung ist das bereits im Januar erschienene Buch „Der Dichter und der Neonazi: Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft“ von Thomas Wagner. Warum dieser Autor gerade den Tenor auf diese Begegnung legte, steht infrage. Zum Buch lesen wir auf Amazon:

„21. Januar 1983: Eine unwahrscheinliche Begegnung bahnt sich an. Michael Kühnen – Wortführer der Neonazi-Szene – und Erich Fried – jüdischer Dichter und glühender Antifaschist – sollten sich in einer Fernsehtalkshow begegnen. Doch kurzfristig wurde Kühnen ausgeladen. Die Überraschung war groß, als gerade Fried erklärte, dies sei ein Fehler gewesen.“ (…)

Schauspieler Rolf Becker hat zum Buch ein hervorragendes Vorwort verfasst

Ein hervorragendes Vorwort zum Buch hat der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker verfasst. Eingangs schreibt Becker: „Erich Fried würde sich freuen, könnte er das nachstehende Gespräch lesen. Er würde vermutlich wie zu seinem Lebzeiten kritische und selbstkritische Anmerkungen einbringen – vor allem zu der für ihn kaum voraussehbaren, allenfalls zu erahnenden Entwicklung, die mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Jahr nach seinem Tod begann und sich seitdem in Unheilvolles steigert. Was vor 1989 als Systemauseinandersetzung wahrgenommen wurde, enttarnt sich mit fortschreitender Krise als Versuch imperialistischer Staaten, sich schrittweise die Welt gefügig, wenn nicht untertan zu machen:“ Becker fügt an dieser Stelle Frieds Gedicht „Dann wieder“ an:

Was keiner/geglaubt haben wird/was keiner gewusst haben konnte/ was keiner geahnt haben durfte/das wird dann wieder/das gewesen sein/was keiner gewollt haben wollte/

Rolf Becker schreibt auch über persönliche Begegnungen mit Erich Fried in Bremen und einmal während eines gemeinsamen Fluges.

Der Band ist für Jung und Alt von Wert

Der Band ist m.E. für Ältere wie für Jüngere von Wert. Erstere erfahren aus den sozusagen im Pingpong aufeinander sich abwechselnden Textbeiträge des Autors und der Autorin des Buches im Rückblick, welcher auch Geschichte und geschichtlich markante Ereignisse – etwa die Vorgeschichte und das Entstehen sowie das terroristische Wirken der RAF, aber auch andere Geschehnisse – aufscheinen lassen. Was freilich auch für die Jüngeren einen (Er-)Kenntnisstand eröffnen kann.

Ebenfalls kann im besten Fall der Lyrik ein wenig zu mehr Aufmerksamkeit verholfen werden. Nicht nur der Erich Frieds, nebenbei bemerkt. Fried hat nicht nur bemerkenswerte politische Lyrik verfasst, sondern auch Liebesgedichte, in denen durchaus auch ein erotischer Hauch wabert und Funken sprüht.

Moshe Zuckermann findet, dass Susann Witt-Stahls letzter Textabschnitt (S.154, in welchem sie Fried als einen der „bedeutendsten Ideologiekritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die deutsche (Literatur-)Geschichte eingehen“ sieht, „ein schönes Schlusswort“ sei, dass sie da formuliert habe. Witt-Stahl schließt: „Und nun gilt es, sein Schaffen lebendig zu halten, gegen seine Feinde und auch so manche ‚Freunde‘ zu verteidigen, zu aktualisieren und gegen die Verwerfungen des 21. Jahrhunderts scharf zu machen.“

Möge es so geschehen!

Zuckermann wiederum notiert (S.155) nach dem Zitat eines Gedichts, welches „Erich Fried 1983 anlässlich hundertsten Todestags von Karl Marx als sein eigenes Bekenntnis zum Marxismus beziehungsweise zur Emanzipation des Menschen im Marx’schen Sinne geschrieben hat und das so beginnt: Wenn ich zweifle/an dem/der gesagt hat/sein Lieblingsspruch sei/“Man muss an allem zweifeln“/dann folge ich: Es ist diese feste Gesinnung, die sich bei allem möglicherweise aufkommenden Zweifel angesichts des immerfort schlecht Bestehenden nicht abschrecken lässt und der historischen Mission des Ringens zum die Emanzipation unerbittlich die Treue wahrt. Sie lässt zwar Erich Fried als unzeitgemäß erscheinen. Aber dieser vermeintliche Anachronismus erweist ihn eben auch als unermüdlichen Träger der Wahrheit dessen, was redlichen Linken in der Geschichte immer schon als Auftrag galt: der Kampf gegen Entfremdung, der Kampf um die Freiheit des Menschen.“

Was noch bleibt? Kaufen! Lesen! Weitersagen!

Moshe Zuckermann, Susann Witt-Stahl

Gegen Entfremdung

Lyriker der Emanzipation und streitbarer Intellektueller. Gespräche über Erich Fried

Erscheinungstermin:12.04.2021
Seitenzahl:160
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864893216

Über Moshe Zuckermann

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. 2018 wurde er emeritiert. Im Westend Verlag erschien „Der allgegenwärtige Antisemit“ (2018) und „Wagner. Ein ewig deutsches Ärgernis“ (2020).

Moshe Zuckermann. Foto: C. Stille

Über Susann Witt-Stahl

Die Autorin lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. Seit 2014 ist sie Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Meldodie & Rhythmus. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Ideologiekritik des Neoliberalismus, der modernen Kriege, der Kulturindustrie sowie regressiver Tendenzen in der Linken. Dazu hat sich Bücher und Essays veröffentlicht.

Susann Witt-Stahl. Foto: C. Stille

„Jerusalemer Erklärung“: 200 Holocaust-Forscher wenden sich dagegen, Kritik an Israel als „Antisemitismus“ zu diffamieren

Nach über einem Jahr intensiver Diskussion einigten sich Holocaust-Fachleute und -Forscher auf eine neue Definition für „Antisemitismus“. In ihrer „Jerusalemer Erklärung“ wenden sich

200 Holocaust-Forscher dagegen, Kritik an Israel als „Antisemitismus“ zu diffamieren.

Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“

Wir, die Unterzeichnenden, legen die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vor. Sie ist das Ergebnis einer Initiative, die ihren Ursprung in Jerusalem hat. Zu den Unterzeichner:innen zählen internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, darunter Jüdische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien. Die Erklärung profitierte auch von der Einbindung von Rechtswissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.

Im Geiste der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1969, der Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000 und des Beschlusses der Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust aus dem Jahr 2005 vertreten wir die Auffassung, dass Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.Im Wissen um die Verfolgung von Jüd:innen im Laufe der Geschichte und die universellen Lehren aus dem Holocaust und angesichts des besorgniserregenden Wiedererstarkens von Antisemitismus durch Gruppierungen, die Hass und Gewalt in Politik, Gesellschaft und im Internet mobilisieren, legen wir eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus mit einer Reihe von Leitlinien für die Benutzung vor.

Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus reagiert auf die „IHRA-Definition“, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde. Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kon-troversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als „Arbeitsdefinition“ bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen. Wir hoffen, dass dies sowohl für das Monitoring und die Bekämpfung von Antisemitismus als auch für Bildungszwecke hilfreich sein wird. Wir empfehlen unsere nicht rechtsverbindliche Erklärung als Alternative zur IHRA-Definition. Institutionen, die die IHRA-Definition bereits übernommen haben, können unseren Text als Hilfsmittel zu ihrer Interpretation nutzen.Die IHRA-Definition enthält elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies legt zwar legt einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz; allerdings besteht wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina.

Wir verfolgen ein doppeltes Ziel: (1) den Kampf gegen Antisemitis-mus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren. Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme. Die Feststellung, dass eine kontroverse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen.

Die Leitlinien, die sich auf Israel-Palästina beziehen (Nr. 6 bis 15), sollten als Ganzes betrachtet werden. Generell sollte bei der Anwendung der Leitlinien jede im Lichte der anderen und immer mit Blick auf den jeweiligen Kontext gelesen werden. Zum Kontext kann die Intention hinter einer Äußerung, ein Sprachmuster im Wandel der Zeit oder sogar die Identität des Sprechers oder der Sprecherin gehören, besonders wenn es um Israel oder den Zionismus geht. So könnte etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein, aber auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet.

Kurz: Bei der Anwendung dieser Leitlinien auf konkrete Situationen sind Urteilsvermögen und Sensibilität gefordert.JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS26. März 2021

Vorbemerkung1

A.Allgemein1.

Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als angeboren zu behandeln) oder pauschale negative Verallgemeinerungen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.

2.Das Spezifikum des klassischen Antisemitismus ist die Vorstellung, Jüd:innen seien mit den Mächten des Bösen verbunden. Dies steht im Zentrum vieler antijüdischer Fantasien, wie etwa der Vorstellung ei-ner jüdischen Verschwörung, in der „die Juden“ eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen. Diese Verknüpfung zwischen Jüd:innen und dem Bösen setzt sich bis heute fort: in der Fantasie, dass „die Juden“ Regierungen mit einer „verborgenen Hand“ kontrollieren, dass sie die Banken besitzen, die Medien kontrollieren, als „Staat im Staat“ agieren und für die Verbreitung von Krankheiten (wie etwa Covid-19) verantwortlich sind.

All diese Merkmale können für unterschiedliche (und sogar gegensätzliche) politische Ziele ins-trumentalisiert werden.

3.Antisemitismus kann sich in Worten, Bildern und Handlungen mani-festieren. Beispiele für antisemitische Formulierungen sind Aussa-gen, dass alle Jüd:innen wohlhabend, von Natur aus geizig oder un-patriotisch seien. In antisemitischen Karikaturen werden Jüd:innen oft grotesk, mit großen Nasen und in Verbindung mit Reichtum dar-gestellt. Beispiele für antisemitische Taten sind: jemanden angreifen, weil sie oder er jüdisch ist, eine Synagoge angreifen, Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmieren oder Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht einzustellen oder nicht zu befördern.

4.Antisemitismus kann direkt oder indirekt, eindeutig oder verschlüsselt(‚kodiert‘) sein. Zum Beispiel ist „die Rothschilds kontrollieren die Welt“ eine kodierte Behauptung über die angebliche Macht „der Juden“ über Banken und die internationale Finanzwelt. In ähnlicher Weise kann die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine kodierte Ausdrucksweise sein, Jüd:innen zu rassifizieren und zu stigmatisieren. In vielen Fällen ist die Identifizierung von kodierter Sprache eine Frage des jeweiligen Kontextes und der Abwägung, bei der diese Leitlinien zu berücksichtigen sind.

5.Es ist antisemitisch, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen,indem man behauptet, der vorsätzliche Völkermord der Nazis an den Jüd:innen habe nicht stattgefunden, es habe keine Vernichtungsla-ger oder Gaskammern gegeben oder die Zahl der Opfer bestehe nur in einem Bruchteil der tatsächlichen Anzahl.B.Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind.

6.Die Symbole, Bilder und negativen Stereotypen des klassischen Anti-semitismus (siehe Leitlinien 2 und 3) auf den Staat Israel anzuwenden.

7. Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln.

8.Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionis-mus öffentlich zu verurteilen (z.B. bei einer politischen Versammlung).

9.Anzunehmen, dass nicht-israelische Jüd:innen, bloß weil sie jüdisch sind, zwangsläufig loyaler zu Israel stehen als zu ihren eigenen Ländern.

10. Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.C.Israel und Palästina: Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind(unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht).

11.Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.

12.Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.

13.Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. Dazu gehören seine Institutionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst. Es ist nicht per se antisemitisch, auf systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen. Im Allgemeinen gelten im Falle Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten. Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedler-kolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.

14.Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.

15.Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkommen geschützt zu sein. Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck „doppelter Standards“ betrachtet wird, ist nicht per se antisemitisch. Im Allgemeinen ist die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.

Definition Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).

Leitlinien2

JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS

Fragen und Antworten

Was ist die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA)?

Die JDA ist eine Ressource zur Stärkung des Kampfes gegen Antisemitismus. Sie umfasst eine Präambel, eine Definition und 15 Leitlinien.

Wer hat sie verfasst?

Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen mit Schwerpunkten in der Antisemitismusforschung und verwandten Bereichen. Die JDA wird von einem breiten Spektrum renommierter Wissenschaftler:innen und Institutsleiter:innen in Europa, den USA und Israel unterstützt.

Warum „Jerusalem“?

Die JDA geht ursprünglich auf eine Konferenz am Van Leer Institut in Jerusalem zurück.

Warum jetzt?

Die JDA reagiert auf die Arbeitsdefinition Antisemitis-mus, die die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) 2016 vorgelegt hat. Die „IHRA-Definition“ (einschließlich ihrer „Beispiele“) ist weder klar noch kohärent. Was auch immer die Absichten ihrer Befürworter sein mögen, sie verwischt den Unterschied zwischen anti-semitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und am Zionismus. Dies führt zu Irritationen und delegitimiert gleichzeitig die Stimmen von Palästinenser:innen und anderen, einschließlich Jüd:innen, die sehr kritische Ansichten über Israel und den Zionismus haben. Nichts davon trägt zur Bekämpfung von Antisemitismus bei. Die JDA reagiert auf diese Situation.

Ist die JDA also als Alternative zur Arbeitsdefinition der IHRA gedacht?

Ja, das ist sie. Menschen, die guten Willens sind, suchen nach Orientierung in der Schlüsselfrage: Wann überschreitet die politische Rede über Israel oder Zionismus die Grenze zum Antisemitismus und wann sollte sie geschützt wer-den? Die JDA soll diese Orientierungshilfe bieten und sollte daher als Ersatz für die IHRA-Definition angesehen werden. Wenn eine Organisation jedoch die IHRA-Definition formell übernommen hat, kann sie die JDA nutzen, um die Unzulänglichkeiten der IHRA-Definition zu korrigieren.

Für wen gilt die Definition?

Die Definition gilt unabhängig davon, ob jüdische Identität ethnisch, biologisch, religiös, kulturell usw. verstanden wird. Sie ist auch in Fällen anwendbar, in denen eine nichtjüdische Person oder Institution entweder fälschlicherweise für jüdisch gehalten wird („Diskriminierung aufgrund der Wahrnehmung“) oder wegen einer Verbindung zu Jüd:innen angegriffen wird („Diskriminierung aufgrund von Assoziation“).

Sollte die JDA offiziell z.B. von Regierungen, politischen Parteien oder Universitäten übernommen werden?

Die JDA kann als Ressource für unterschiedliche Zwecken genutzt werden. Dazu gehören die Aufklärung darüber und die Schaffung eines Bewusstseins dafür, wann Sprache oder Verhalten antisemitisch sind (und wann nicht), die Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus usw. Sie kann genutzt werden, um im vorgege-benen Rahmen von Gesetzen und Normen zum Schutz der Meinungsfreiheit bei der Umsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen zu helfen.

Sollte die JDA als Teil von Gesetzen gegen Hassrede genutzt werden?

Nein, das sollte sie nicht. Sie ist keinesfalls als rechtliches oder quasi-rechtliches Instrument gedacht. Noch sollte sie rechtlich kodifiziert oder dazu genutzt werden, um die legitime Ausübung der Freiheit von Forschung und Lehre zu beschränken oder um freie und offene Debatten innerhalb der durch die Gesetze zur Hasskriminalität vorgegebenen Grenzen zu unterdrücken.

Wird die JDA alle aktuellen Auseinandersetzungen darüber, was antisemitisch ist und was nicht, beilegen?

Die JDA spiegelt klar die fachliche Autorität wissenschaftlicher Expert:innen aus den relevanten Feldern wider, doch kann sie nicht alle Streitpunkte beseitigen. Kein Dokument über Antisemitismus kann erschöpfend sein oder alle Formen vorwegnehmen, in denen sich Antisemitismus in der Zukunft manifestieren wird. Einige Leitlinien (z.B. Nr. 5) geben nur wenige Beispiele, um einen allgemeinen Aspekt zu verdeutlichen. Die JDA ist als Nachdenk- und Diskussionshilfe gedacht. Als solche ist sie eine wertvolle Ressource für

4Layout – Valerie AssmannBeratungen unter Stakeholder:innen/Interessensgruppen darüber, wie Antisemitismus zu identifizieren und wie ihm möglichst effektiv zu begegnen ist.

Warum geht es in 10 der 15 Leitlinien um Israel und Palästina?

Das spiegelt die Gewichtung in der IHRA-Definition wider, in der 7 von 11 „Beispielen“ sich auf die Debatte über Israel konzentrieren. Es reagiert zudem auf eine öffentliche Debatte, sowohl unter Jüd:innen als auch in der breiteren Bevölkerung, die ein Bedürfnis nach Orientierung in Bezug auf Meinungsäußerungen über Israel oder den Zionismus aufzeigt: Wann sollten sie geschützt sein und wann überschreiten sie die Grenze zum Antisemitismus? Was ist mit anderen Kontexten außer Israel und Palästina? Die allgemeinen Leitlinien (1-5) sind auf alle Kontexte anwendbar, einschließlich des rechtsextremen, in dem Antisemitismus zunimmt. Sie sind zum Beispiel auf Verschwörungstheorien anwendbar, dass „die Juden“ hinter der Covid-19-Pandemie steckten oder dass George Soros die Black-Lives-Matter- und Antifa-Proteste finanziere, um „verborgene jüdische Absichten“ zu verfolgen.

Unterscheidet die JDA zwischen Antizionismus und Antisemitismus?

Diese beiden Konzepte unterscheiden sich grundsätzlich. Nationalismus, jüdischer oder sonstiger, tritt in vielen For-men auf, steht aber immer zur Diskussion. Intoleranz und Diskriminierung, ob gegen Jüd:innen oder irgendjemand anderes, sind nie akzeptabel. Das ist ein Axiom der JDA.

Geht also aus der JDA hervor, dass Antizionismus nie antisemitisch ist?

Nein. Die JDA versucht zu klären, wann Kritik an (oder Feindseligkeit gegenüber) Israel oder dem Zionismus die Grenze zum Antisemitismus überschreitet und wann nicht. In diesem Zusammenhang ist es ein wichtiges Merkmal der JDA, dass sie (anders als die IHRA-Definition) auch angibt, was nicht per se antisemitisch ist.

Welche politischen Absichten liegen der JDA in Bezug auf Israel und Palästina zugrunde?

Keine. Genau darum geht es. Die Unterzeichnenden ha-ben vielfältige Ansichten zum Zionismus und zum israelisch-palästinensischen Konflikt, einschließlich möglicher politischer Lösungen, zum Beispiel Ein-Staaten- oder Zwei-Staaten-Lösung. Gemeinsam ist ihnen der Einsatz für zwei Dinge: den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz der Meinungsfreiheit auf der Grundlage universeller Prinzipien.

Aber unterstützt die Leitlinie 14 nicht BDS als gegen Israel gerichtete Strategie oder Taktik?

Nein. Die Unterzeichnenden haben unterschiedliche An-sichten zu BDS. Leitlinie 14 besagt nur, dass gegen Israel ge-richtete Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen, wenn-gleich umstritten, nicht per se antisemitisch sind.

Wie kann man dann entscheiden, wann BDS (oder irgendeine andere Maßnahme) antisemitisch ist?

Dafür gibt es die allgemeinen Leitlinien 1 bis 5. In manchen Fällen ist offensichtlich, wie sie anzuwenden sind, in an-deren nicht. Wie immer kann der Kontext bei der Einschätzung des Charakters jeglicher Form von Intoleranz oder Diskriminierung einen erheblichen Unterschied machen. Zudem sollte jede Leitlinie im Lichte der anderen gelesen werden. Manchmal ist eine Ermessensentscheidung zu treffen. Die 15 Leitlinien sollen dabei helfen.

Laut Leitlinie 10 ist es antisemitisch, „Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell als Jüd:innen zu leben“? Widerspricht das nicht den Leitlinien 12 und 13?

Es besteht kein Widerspruch. Die in Leitlinie 10 erwähnten Rechte haben jüdische Einwohner:innen des Staates, un-abhängig von seiner Verfassung oder seinem Namen. Leitlinien 12 und 13 stellen nur klar, dass es nicht per se antisemitisch ist, andere politische oder verfassungsrechtliche Regelungen vorzuschlagen.

Was sind, kurz zusammengefasst, die Vorteile der JDA gegenüber der IHRA-Definition?

Es gibt mehrere, darunter:

•Die JDA profitiert von mehreren Jahren der Reflexion und kritischen Bewertung der IHRA-Definition. Im Ergebnis ist sie klarer, kohärenter und nuancierter.

•Die JDA führt nicht nur aus, was antisemitisch ist, sondern auch, im Kontext von Israel und Palästina, was nicht per se antisemitisch ist. Dies ist eine Orientierungshilfe, für die es großen Bedarf gibt.

•Die JDA beruft sich auf universelle Prinzipien und verbindet den Kampf gegen Antisemitismus, anders als die IH-RA-Definition, klar mit dem Kampf gegen andere Formen der Intoleranz und Diskriminierung.

•Die JDA trägt dazu bei, einen Raum für die offene und respektvolle Diskussion schwieriger Themen zu schaffen, einschließlich der umstrittenen Frage der politischen Zukunft für alle Bewohner:innen Israels und Palästinas.

•Aus all diesen Gründen ist die JDA stichhaltiger. Anstatt zu spalten zielt sie darauf ab, alle Kräfte im Kampf gegen Antisemitismus breitestmöglich zu vereinen.

Quelle: Diakblog, Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus vom 26. März 2021 (PDF)

Passende Beiträge von mir zum Thema: Hier und hier.

Video: Interview Sabine Kebir mit Moshe Zuckermann via Weltnetz.TV

Buchvorstellung: Menschen mit Mut. Lesen, Nachdenken, mutig sein! – Andrea Drescher (Hrsg.)

Seit einem Jahr nun schon beschäftigt uns die Corona-Pandemie. Und die damit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen, die angeblich zu deren Eindämmung beitragen sollen. Viele Menschen haben quasi Arbeits- bzw. Berufsverbot. Vor allem Selbständige aller möglichen Branchen, Freischaffend tätige Künstler, Techniker, Ladenbesitzer, Gastronomen etc. sind durch Anordnungen der Regierungen die Einnahmequellen genommen. Die ihnen versprochenen staatlichen Hilfen sind oft (noch) nicht bei ihnen angekommen. Während aber die laufenden Ausgaben sich weiter aufhäufen.

Wie geht es den Menschen damit? Darüber ist in den Mainstream-Medien kaum etwas zu hören. Immerhin brachten die NachDenkSeiten einen Beitrag („Die im Dunkeln sieht man nicht“) , wo sich von den Corona-Maßnahmen betroffene Menschen äußerten. Aber davon einmal angesehen: auch vor Corona lief schon viel falsch in unserer Gesellschaft. Corona vergrößerte nur diese Fehlentwicklungen wie ein Brennglas schmerzhaft.

Menschen äußern sich aus eigener Betroffenheit heraus

Nun hat Andrea Drescher einen Band herausgebracht, worin Menschen zu Wort kommen, welche darin ihre Sorgen und Nöte aus eigener Betroffenheit heraus – aber auch als Sorge um die Demokratie und die Verfasstheit unserer Gesellschaft – äußern. Die darin auch ihre Motivation dahingehend darlegen und begründen, warum sie nicht weiter alles zu schlucken gedenken zu wollen. Weil sie es einfach nicht mehr können. Nicht mehr ertragen, was ihnen an Zumutungen auferlegt wurde und weiterhin wird. Vielen stehen die Sorgen Oberkante Unterlippe.

Zum Buch schreibt Herausgeberin Andrea Drescher (sie führte auch die meisten Interviews):

„Dies ist kein Buch über Russland, aber es hat etwas mit Russland zu tun. Dies ist kein Buch über Corona, aber es hat etwas mit Corona zu tun. Dies ist kein Buch über Juden, aber es hat einiges mit Semiten und Antisemiten zu tun. Dies ist kein Buch über Bürgerkriege, aber es hat etwas mit deren Folgen zu tun. Dies ist kein Buch über Demonstrationen, aber es hat einiges mit Widerstand zu tun. Dies ist kein Buch über die Friedensbewegung, aber es hat viel mit der Friedensbewegung zu tun“

Und weiter:

„Es ist definitiv kein Buch über Superman und Superwoman, aber es hat sehr viel mit mutigen Menschen zu tun. Menschen die, warum auch immer, ungewöhnliche Dinge tun. Menschen, die sich außerhalb der Norm stellen, dem Konformitätsdruck der Gruppe nicht nachgeben. Prominente, weniger Prominente und völlig Unbekannte geben in Interviews Beispiel – und damit Impulse oder Inspiration – wie man handeln kann … wenn man will.“

Menschen „aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen und Altersgruppen haben sich auf ein oft persönliches Gespräch eingelassen: Künstler, Schüler, Verkäufer, Anwälte, Geisteswissenschaftler, Arbeitslose, Mediziner, Studenten, Polizisten, Rentner, Soldaten, Hausmänner, Unternehmer, Journalisten …

Man kann niemandem hinter die Stirn schauen, wenn man ihn interviewt, man muss nicht mit jeder Handlung einverstanden sein und man muss nicht jeden Handelnden sympathisch finden. Aber allen gebührt der Respekt für ihren Mut, in ihrer Situation gegen den Strom geschwommen zu sein“.

„Die Idee zu diesem Buch“, erklärt Andrea Drescher, „kam mir am 9. Oktober auf dem Weg zum Schweigemarsch nach Berlin, der am 10.10.2020 „Premiere“ hatte. Ich fuhr mit einem befreundeten Aktivisten zusammen zur Demo. Er erzählte mir einige Details über den Jobverlust seiner Partnerin, die aufgrund ihrer Maskenbefreiung Probleme im Job hatte, sich aber weigerte, klein beizugeben. Das imponierte mir. Es bedeutet Mut, die eigene wirtschaftliche Existenz zu riskieren. Dann fiel mir mein Interview mit einer Ärztin ein, das seitens der Rubikon-Redaktion mit „Der Mangel an Mut“ übertitelt worden war. Da wurde mir klar: Es gibt vielleicht gar keinen Mangel an Mut – man weiß nur nichts von den vielen „kleinen“ mutigen Taten vieler einzelner Menschen! Und schon stand ein Buchtitel vor meinen Augen: „Menschen mit Mut“.

Andrea Drescher: „Mutig sein heißt gegen den Strom zu schwimmen, nicht nur – aber auch – in Zeiten von Corona

Viele Aktivisten der Friedensbewegung schwimmen schon lange gegen diesen Strom, sie haben bereits Schwimmhäute entwickelt, um gegen das, was passiert, ein mutiges Zeichen zu setzen. Einige dieser mutigen Menschen hatte ich bereits im Rahmen meiner Artikelserie „Wir sind Frieden“ befragt, die im Rubikon erschien. Außerdem gab es einige Interviews mit mutigen Filmemachern und Journalisten, die in den NachDenkSeiten veröffentlicht wurden. Hmmm … 22 publizierte Interviews, entstanden zwischen Dezember 2019 und Oktober 2020, wären doch schon mal ein guter Grundstock, dachte ich.

Über 90 Interviews sind es geworden. Genau 92

Das Ergebnis dieser ersten Überlegung liegt jetzt vor. Manche der Interviews kann man bereits online lesen: Free21, Frische Sicht, Neue Rheinische Zeitung, Rubikon und Zivilimpuls publizieren jetzt die – ganz überraschend – gleichnamige Artikelserie „Menschen mit Mut“. Denn JETZT brauchen die Menschen Mut. Und zwar möglichst viele und möglichst viel. Dafür sind alle Gesprächspartner beispielgebend, jeder und jede auf ihre ureigene Art.“

Nachdenken allein reicht nicht: An ihren Taten wollen wir sie erkennen

Diese Gesprächspartner imponieren nicht nur aufgrund ihres Denkens sondern vor allem: wegen ihres Handelns! Denn Handeln kostet zuweilen. Manchmal Geld oder Reputation (oder beides auf einmal) – deren Abhandenkommen, je nachdem, nicht gering zu schätzen ist. Unter Umständen kann damit eben auch der Verlust des Arbeitsplatzes und somit

d e r einzigen Einnahmequelle einhergehen, wovon das Leben eines Menschen und das seiner Familie zu finanzieren ist. Das erfordert nicht wenig Mut. Nicht umsonst heißt Andrea Dreschers Buch „Menschen mit Mut“. Wie bereit erwähnt: diese Menschen denken – vielmehr: sie denken nach, was noch besser ist! Aber letztlich „liefern“ sie auch. Wie heißt es doch so schön in der Bibel: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! (1. Johannes 2,1-6).

Was gar nicht (aber dennoch durchaus auch) heißen muss (kann), dass jemand, aus rein religiösen Gründen so handelt. Auf Menschlichkeit kommt es an! Und die ist uns per Geburt quasi mitgegeben. Bei manch einem geht sie leider im Verlaufe des Lebens verloren.

Zunächst sei angemerkt: Alle im Buch versammelten Interviews interessant. Weil sich die Befragten eine Haltung leisten und für diese – und es sei auch, diese schadet ihnen – auch geradestehen. Einige der Menschen haben auch Irrungen und Wirrungen durchlaufen.

Es ist hier (aus Platzgründen) unmöglich jedes einzelne Interview zu besprechen. Dafür bitte ich um Verständnis. Einige wenige Beiträge habe mich mir im Folgenden erlaubt, etwas umfangreicher aufleuchten zu lassen. Aber ich plädiere, da ich ja alle Interviews gelesen und manche für wirklich bemerkenswert halte – unbedingt dafür das Buch zu kaufen und gern – nach dessen Lektüre – weiterzuempfehlen.

Die Mehrzahl der darin zu Wort gekommenen Personen werden für die Leser*innen sicher Unbekannte sein. Was aber kein Manko ist – im Gegenteil!

Vielleicht aber werden Sie nämlich, verehrte Leser*innen des Buches, die sie ja auch „normale“ Menschen wie die meisten der Interviewten sind, deren Gedanken gerade deshalb nachvollziehen können. Womöglich werden Sie selbst schon ähnliche Gedanken im Sinne gehabt haben. Aber nie selbst den Mut aufgebracht haben, sich auf die Straße zu begeben auf eine der Demonstrationen – vielleicht gar auf die vom Mainstream verteufelten, zumeist pauschal als „rechts“ geframten Querdenken-Demos zu besuchen. Denn wer will sich schon als „Covidiot“, „Aluhutträger“, gar als Rechter oder noch schlimmer als „Nazi“ beschimpfen lassen?

Andrej Nekrasov und „Der Fall Magnitzki“

Wiederum andere Interviewte dürften manchen Leser*innen bekannt sein. Oft gewiss aus den – wie manche zu sagen pflegen „Alternativen Medien“, aber durchaus auch in den „alten“ Medien.

Etwa Andrej Nekrasov: „Von journalistischen Coups,unterschiedlichen Blickwinkeln und der Abscheu vor Lügen“ (S.45) Sie erinnern sich an den Film „Der Fall Magnitzki“, der einem echten, gleichnamigen Fall zugrunde liegt?

Wir lesen: „Als der 1958 in Leningrad geborene Andrej Nekrasov 2007 den Film über die Ermordung von Alexander Litvinenko publizierte, hätte niemand erwartet, dass er sich rund 10 Jahre später würde anhören müssen, ein vom Kreml finanzierter Anhänger des Putin-Regimes zu sein – er selbst wohl am wenigsten. Er hatte am Bett seines Freundes gesessen, als dieser qualvoll an einer Polonium-Vergiftung starb, wofür Nekrasov und viele andere der Regierung bzw. Putin selbst die Verantwortung gaben.“

Andrea Drescher schreibt: „Er war auch 2014 als Vertreter der liberalen russischen Intelligenz davon überzeugt, dass in Russland ein autoritäres System herrsche, gegen das man sich wehren müsse und das, wie der Fall Magnitzki belegte, seine Gegner gnadenlos ermorde. Als sich ihm die Möglichkeit bot, den Fall filmisch aufzubereiten, war er daher sofort Feuer und Flamme.

Es sollte ein Film über den Whistleblower Sergej Magnitzki werden, doch es kam anders als ursprünglich geplant. Das Problem: Im Gegensatz zu vielen westlichen Journalisten konnte Nekrasov die vom involvierten US-Geschäftsmann Bill Browder zur Verfügung gestellten Belege und Dokumente des Falles selbst lesen. Mit erstaunlichen Folgen. Es war eine schmerzhafte Erfahrung für ihn, festzustellen, dass die offizielle Story mit der Realität wenig bis gar nichts zu tun hatte. Der daraus resultierende Film dokumentiert diesen Erkenntnisprozess und stellt einen anderen Whistleblower in den Mittelpunkt: Andrej Nekrasov selbst.“

Wir Leser erfahren vom Andrej Nekrasov im Interview wie man vom gefeierten systemkritischen Dokumentationsfilmer zu einem Filmemacher (gemacht) wird, dem vorgeworfen wird, Anhänger der Regierung Russlands zu sein. Kurz kann man es so erklären: Nekrasovs Doku-Drama „Der Fall Magnitzki“ entspricht nicht mehr dem westlichen Narrativ, wie Russland demzufolge zu sein hat und dargestellt werden muss.

Nekrasow: „Mein Ruf ist quasi ruiniert.“ Die Aufführung des Filmes (einmal stand sie kurz bevor: im Europa-Parlament) wurde immer wieder verhindert. Wesentlich auf Betreiben der Grünen-Politikerin Marieluise Beck.

Aber der mit dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Filmemacher und Journalist gibt nicht auf:

Nekrasow: „Ich setze alles daran, dass „The Magnitzki Act“ doch noch eine breite Öffentlichkeit erreicht. Gleichzeitig arbeite ich an einem neuen Film – kritisch beobachtet von meinem Umfeld. Ich hoffe, dass der Schatten nicht zu einer Selbstzensur führt, das wäre für meine kreative Arbeit wirklich tödlich. Kreatives Schaffen – jeder Artikel, jeder Film, jede Dokumentation – beinhaltet immer Risiken. Geht man diese Risiken nicht mehr ein, nimmt man Rücksicht, dann wird alles zur Routine – und damit nur noch Durchschnitt. Das ist meine größte Befürchtung für meine persönliche Zukunft.“

Westliche Medien betreffend sagt Andrej Nekrasow: „ Man kann sehr vieles im Westen kritisieren, aber wehe es tut dem Establishment wirklich weh.“

Und dann sagt er, die russische Regierung und die Medien angehend für gewisse westliche Ohren sicher Erstaunliches:

„Aber die Regierung verfügt eben nicht über die durchgängige Kontrolle der Medien, wie allgemein angenommen wird. Im Gegenteil: Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die russische Presse freier ist als die des Westens.“

Mehr zum Film hier.

Sung Hyung Cho: Ein Blick hinter den eisernen Vorhang – Einblicke in ein anderes Nordkorea (ab S. 411)

Andrea Drescher hat mit Sung Hyung Cho gesprochen und schreibt vorgespannt: „Nordkorea ist ein Land, das seit Jahrzehnten vom Rest der Welt abgeschottet ist, der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West ist zwischen Süd- und Nordkorea noch traurige Realität. Was wirklich im Land vorgeht, weiß man nicht. Folgt man den gängigen Narrativen der westlichen Medien, ist es eine Militär-Diktatur, die die eigenen Landsleute verhungern lässt und dem jeweiligen Führer blindlings huldigt. Dass diese Darstellung zumindest unvollständig ist, macht die 2016 erstmals im Kino ausgestrahlte Dokumentation der südkoreanischen Filmemacherin Sung Hyung Cho „Meine Brüder und Schwestern in Norden“ deutlich, der 2017 unter dem Titel „Meine Brüder und Schwestern in Nordkorea“ auch auf ARD, WDR und im HR zu sehen war. Sung Hyung Cho erhielt als erste Südkoreanerin eine Dreherlaubnis, da sie über einen deutschen Pass verfügt. Von 2012 bis heute hat sie das Land insgesamt neun Mal bereist und besitzt daher ein deutlich differenzierteres Bild als viele Journalisten, deren Berichte oft außerhalb des Landes und ohne Kenntnis der Landessprache entstehen. Sung Hyung Cho ist Filmemacherin und Professorin an der Hochschule der Bildenden Künste Saar.“

Jede ach so gruselige Geschichte über Nordkorea – verbreitet durch westliche Medien – werde hierzulande gern für bare Münze genommen.

Drescher fragt: „Ganz aktuell berichten die Medien ja wieder über Nordkorea. Dort soll die neue Stadt Samjiyon von Kinderhänden errichtet worden sein. So liest man beispielsweise im „Focus“: „Inbegriff der modernen Zivilisation“: Von Kinderhänden errichtet: Machthaber Kim Jong Un eröffnet neue Stadt in Nordkorea. In Samjiyon wurden ein Museum, ein Wintersportgebiet, rund 10.000 Wohnungen und Gewächshäuser für Heidelbeeren und Kartoffeln errichtet. Tausende Arbeiter waren dafür nach AFP-Informationen im Einsatz, viele davon Soldaten. Laut KCNA mussten auch Studenten in den Semesterferien dort arbeiten. Diplomaten berichteten darüber hinaus von Kinderarbeit.“

Sung Hyung Cho antwortet:Das ist mal wieder eine dieser typischen Meldungen, durch die sich unsere Medien auszeichnen. Diese „neue Stadt“, die in der Nähe des heiligen Berges, dem Geburtsort von Kim-Jong Il, liegt, hat einen Flughafen, der 1980 eröffnet wurde. Die Stadt gibt es also schon etwas länger. Ich war selbst schon dort.

Richtig ist, dass man dort sehr viel investiert hat, um die Gegend zu einer Vorzeigestadt und Tourismus-Zentrum auszubauen. Dass Kinder dort mitgearbeitet haben sollen, halte ich für kompletten Blödsinn. Nordkorea hat mehr als genug Soldaten und alle wichtigen Bauarbeiten werden vom Militär durchgeführt. Man ist sehr ehrgeizig, will die neuen Gebäude in Rekordzeit hochziehen. Kinder auf der Baustelle würden die Arbeiten nur unnötig belasten. Man arbeitet an diesen Prestige-Objekten Tag und Nacht. Bei dem Tempo, das die Soldaten vorlegen, kommen nicht mal „normale“ Männer mit, geschweige denn Kinder. Das ist meines Erachtens nur eine der üblichen Standarddiffamierungen. Mit irgendetwas muss man die Sanktionen – unter denen das Land schwer leidet – ja rechtfertigen.

Es ist einfach haarsträubend, was alles über Nordkorea geschrieben wird. Ich verstehe nicht, wie solche „Informationen“ zustande kommen. Aber der durchschnittliche Leser oder Zuschauer der Nachrichten glaubt es. Man kann alles Mögliche und Unmögliche über Nordkorea erzählen, da es ja kaum neutrale Berichte gibt. Das war mit ein Grund, dass ich meinen Film gemacht habe.“

Markus Fiedler

Über den engagierten Filmemacher Markus Fiedler notierte Andrea Drescher (S.268):

„Markus Fiedler hat es wieder gewagt zu hinterfragen, was vielen als selbstverständliche Wahrheit erscheint. Nach seiner gnadenlosen Analyse der Situation in der vermeintlich neutralen Wikipedia hat er das nächste heiße Eisen angepackt. Er hat es gewagt, die Konsensstudie „Quantifying the consensus on anthropogenic global warming in the scientific literature“ des Kognitionspsychologen Cook (Cook et al.) von 2013 zu überprüfen – um festzustellen, dass die von allen Medien zitierten Ergebnisse nicht haltbar sind.

Für alle, die ihn noch nicht kennen: Markus Fiedler ist als Biologe mit Hauptfächern Molekulargenetik und Mikrobiologie als Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule. Er ist kritischer Beobachter der Wikipedia und der dunklen Machenschaften hinter der sauberen Fassade dieses Scheinlexikons und hat die Filme „Die dunkle Seite der Wikipedia“ und „Zensur – die organisierte Manipulation der Wikipedia und anderer Medien“ gemacht.“ Zu Fiedlers ersten Film lesen gern diesen Beitrag von mir.

Angemerkt: Unterdessen wurde Markus Fiedler wegen seiner Aufklärungsarbeit in Sachen Wikipedia diffamierend in die antisemitische Ecke gerückt und verlor seine Lehrerstelle.

Üble Diffamierungen: „Wenn die Nazikeule nicht mehr ausreicht“

Dazu passen diese Beiträge im Buch sehr gut: „Wenn die Nazikeule nicht mehr ausreicht“ Teil 1 (S.471), „Wenn die Nazikeule nicht mehr ausreicht“ Teil 2 (S.480) und „Wenn die Nazikeule nicht mehr ausreicht“ Teil 3 (S.488)

Andrea Drescher selbst hat jüdische Wurzeln: (…) „gemäß der religiösen Lehre bin ich Jüdin. Meine Mutter war Jüdin, meine Großmutter war Jüdin, der Stammbaum meines Großvaters mütterlicherseits lässt sich ebenfalls lückenlos auf jüdische Familien zurückführen.“

Weiter stellt Drescher fest:

„Nichts ist in Deutschland politisch gefährlicher, als als Antisemit bezeichnet zu werden. Man wird zur Persona non grata und riskiert gesellschaftliche Ächtung. Die traurige Vergangenheit hat bei den Deutschen zu einem – nicht ganz unberechtigten – historischen Schuldbewusstsein geführt, welches Menschen bei rassistischen Angriffen gegen Juden sehr wachsam macht. Das ist auch gut. Daher macht man um alles, was auch nur in die Nähe eines Antisemitismus-Verdachts gerät, instinktiv einen großen Bogen. Der Begriff Antisemitismus als Totschlagargument dient dazu, Themen zu diskreditieren, Kritiker zu diffamieren und deren Punkte in ein schlechtes Licht zu rücken, sodass „normale“ Menschen es nicht mehr wagen, sich zu bestimmten Themen zu äußern. Sich mit „antisemitisch“ abgestempelten Themen auseinanderzusetzen oder die Narrative, die diesen Stempel erhalten haben, zu hinterfragen, erfordert daher einiges an Mut.

Bereits 2014 hat man die Mahnwachen für den Frieden mithilfe der Antisemitismus-Keule diskreditiert. Aufgrund der dort geäußerten Kritik am Finanzsystem, die man seitens linker Ikonen als strukturellen Antisemitismus bezeichnete, wurde eine ganze Bewegung diffamiert, in eine Ecke geschoben und der anfangs stark wachsenden Bewegung die Energie genommen. Das war schon schlimm. Aber 2020 haben Vertreter regierungsnaher Institutionen – konkret Frau Kahane, Herr Klein und Herr Kühnert – mit der Bundespressekonferenz (BPK) am 24. November 2020 in meinen Augen endgültig eine rote Linie überschritten, als sie Antisemitismus und Corona-Proteste de facto gleichsetzten.“

Anmerkung, C.S.: Anetta Kahane (Mitinitiatorin der Amadeu Antonio Stiftung) war Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

Es ist perfide, dass sogar nicht davor zurückgeschreckt wird Jüdinnen und Juden als Antisemiten oder „selbst hassende Juden“ abzustempeln, wenn sie Kritik an gesellschaftlichen Verwerfungen üben, die dem Mainstream nicht in den Kram passen.

Nebenbei bemerkt hat Moshe Zuckermann ein interessantes Buch dazu geschrieben „Der allgegenwärtige Antisemit“. Und von Abraham Melzer stammt das nicht minder wichtige Buch „Die Antisemitenmacher“.

Doch – wie schon erwähnt: lesen Sie bitte auch die vielen anderen Interviews mit Leuten, die für gewöhnlich nicht in der Öffentlichkeit bekannt sind. Und schauen Sie bitte auch das hier eingepflegte Video mit dem Interview von Druschba FM mit Andrea Drescher. Darin erhalten Sie noch weitere Informationen zum Buch.

Ansonsten empfehle ich das Buch unbedingt. Versehen mit dem Hinweis (und wie Andrea Drescher selbst im Buch schreibt), dass man nicht mit allem, was die sehr unterschiedlichen Menschen, die für das Buch interviewt wurden, ganz einverstanden sein muss. Denn es sind eben auch Leute darunter, die bevor sie mutig geworden sind, sogar mehr oder weniger unpolitisch gewesen sind. Und da kann es eben schon einmal sein, dass man in Gruppen gerät, die sich später als eine für einen fragwürdige Richtung marschieren oder – wie es bei den Mahnwachen von 2014 gewesen ist auch von bedenklicher Seite unterwandert gewesen sein konnten. Und wenn man sich da aus eigener Kraft und eingedenk von Kants Sapere aude sozusagen wieder herausgewurschtelt hat – Hut ab!

Noch eines liegt mir auf dem Herzen: Im Buch befindet sich auch ein Interview mit dem Initiator von „Querdenken 711“, Michael Ballweg.

Michael Ballweg: Vom Unternehmer zum Querdenker – (k)ein weiter Weg (S.290). Hätte ich ihn interviewt, wäre mir persönlich die Frage wichtig gewesen, wie es dazu kam, dass zahlreiche Mitstreiter von „Querdenken“ sozusagen in die Arme des selbsternannten Königs von Deutschland getrieben wurden. Ohne, dass die Eingeladenen in Kenntnis darüber gesetzt wurden, mit wem dieses Treffen stattfinden würde. Was der Bewegung mit Sicherheit geschadet hat. Bis heute habe ich da seitens der Querdenken-Orga keine befriedigende Erklärung erhalten. Dazu hier ein Beitrag von mir.

Informationen zum Buch

Das Buch „Menschen mit Mut“ enthält 92 Interviews mit bekannten Persönlichkeiten wie Dr. Daniele Ganser, Ralf Ludwig oder aus St. Petersburg Thomas Röper und Andrei Nekrasov – aber auch mit weniger bekannten, jedoch mindestens genauso mutigen Menschen, darunter Polizisten und Ärzte. Die gesammelten Geschichten fordern dazu auf, das zu tun, woran man glaubt. Sie sollen dem Leser und der Leserin dabei helfen, dem Druck standzuhalten, auch wenn man sich in einer Minderheit wähnt. Besonders augenöffnend sind auch die Beiträge über und aus Russland. Allerdings: Andrea Drescher wurde von ihrem Verlag im Stich gelassen und braucht nun dringend zahlreiche Vorbestellungen von ihrem 500-seitigen Buch! Vorbestellt werden kann es hier. Der Erlös geht komplett an die Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V. (www.fbko.org)

Andrea Drescher

Im Gespräch

Menschen mit Mut

Lesen, Nachdenken, mutig sein!

Ars vobiscum

Menschen mit Mut – Vorverkauf

€25,00

Über die Herausgeberin

Andrea Drescher, Jahrgang 1961, lebt seit Jahren in Oberösterreich. Sie ist Unternehmensberaterin, Informatikerin, Selbstversorgerin, Friedensaktivistin, Schreiberling und Übersetzerin für alternative Medienprojekte sowie seit ihrer Jugend aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln überzeugte Antifaschistin. Bisher erschienen von ihr „Wenn eine eine Reise tut“, „Wir sind Frieden“ sowie das „Selbstversorgerbuch für die Küche von Oma & Co“.

Als sie Kind war, wollte sie Journalistin werden, schrieb mit 13 erste Presse-Artikelchen in Lokalblättern. Mit dem Abitur in der Tasche entschied sie sich ganz pragmatisch für ein Informatik-Studium. Schon von Jugend an als Selbst- und Querdenkerin geprägt, sah sie keine Chancen, die Autorität eines Chefredakteuers oder die Blattlinie einer Zeitung ohne Widerspruch zu akzeptieren, sodass sie sich keine guten beruflichen Perspektiven erwartete.

Als Informatikerin mit Nebenfach Marketing nutzte sie die Entwicklungsmöglichkeiten, die ihr ein IT-Unternehmen bot. Sie landete im internationalen Marketing – wo sie erste Chancen bekam, Text zu produzieren und dann die bis dato recht brachliegende Pressearbeit aufbaute.

Mit einer kleinen Wald-und-Wiesen-Werbeagentur creaPower machte sie sich 1999 selbstständig, betreute IT-Unternehmen, darunter auch namhafte internationale Konzerne, im Marketing. Welche Agentur hat schon eine Informatikerin als Texterin im Team? Über die PR-Aufgaben für ihre Agentur-Kunden entwickelte sie sich langsam zur Fachjournalistin.

Als sie 2016 Tommy Hansen begegnete und die Möglichkeit bekam, sich auch über politische Themen auszulassen, erfüllte sich ihr Jugendtraum. Seitdem schreibt sie – als „freie Radikale“ – für Free21, Frische Sicht, NachDenkSeiten, Rubikon und Zivilimpuls sowie für ihren Blog http://www.oberhubistan.at. Ehrenamtlich. Denn sie kann und will sich den Luxus der politischen Unabhängigkeit leisten.

Ihre Motivation: Ich will mich nie bei der Antwort auf die Frage: „Warum hast du damals nichts getan?“ schämen müssen – außerdem fehlen mir Reisen und Bergsteigen in Zeiten der Coronakratur.

Rezension: Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis. Von Moshe Zuckermann

Wagner? Oh Gott, mag da ausgerufen werden. Ist nicht über Richard Wagner schon genug Papier beschrieben worden? Mag sein. Doch eines ist ebenso klar: An der Person Richard Wagner ist eben nicht so leicht vorbeizukommen. Um ehrlich zu sein: Überhaupt nicht. Erst recht am Komponisten Richard Wagner. Denn was wäre die Musikgeschichte und deren Entwicklung nach ihm ohne den genialen Tondramen-Schöpfer, den revolutionären Tondichter?

Da haben wir es wieder: Ist eine durchaus kritisch zu sehende Persönlichkeit in diese und den ihr wohnenden genialen Künstler zu trennen? Glasklar wohl kaum. Schließlich entspringt das Geniale der Kunst aus dem Inneren, dem Geist dieser Persönlichkeit und seinen Ansichten, die sich Laufe des Lebens in ihm herangebildet haben bzw. von ihr eventuell auch wieder verworfen worden sind. Wir haben es auch heute noch und werden es wohl auch künftig immer wieder mit Persönlichkeiten in Kunst und Kultur zu tun (haben), wo sich diese Frage stellt. Man denke nur dabei an die Filmregisseure Roman Polański oder Woody Allen.

Moshe Zuckermann nahm die Herausforderung an, sich an Wagner zu versuchen

Die Frage, ob es nicht „schon genügend Historisches, Politisches, Musikologisches und Kunstphilosophisches, Ideologiekritisches und Polemisches, Bewunderndes und Gehässiges, Musiktheoretisches und Feuilletonistisches über dieses kontroverse Genie geschrieben und zusammengetragen worden?“ (S.7) hat sich auch Moshe Zuckermann gestellt. Und bejaht. Dennoch hat der Soziologe die Herausforderung angenommen, „sich an diesem ‚Thema‘ ein weiteres Mal versuchen zu wollen“. Gut so. Es lohnt sich deshalb unbedingt sein neues Buch „Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis“, das in Form eines Essays verfasst ist, aber, wie Zuckermann anmerkt, „mithin keine stringente wissenschaftliche Darstellungsweise“ beanspruche, zu lesen.

Wer war Richard Wagner?

Schließlich hat so mancher ein bestimmtes Wissen von Richard Wagner im Kopf, das er entweder sich selbst erarbeitet hat oder durch einseitige Schriften übergeholfen bekam. Auf der einen Seite gibt es da die verbissenen Wagnerianer, die nichts auf ihren Helden kommen lassen und jede einzelne Szene, jeden einzelnen von ihm gesetzten Ton auf das Vehementeste verteidigen. Und andererseits seine Kritiker – ja Verächter, die in ihm hauptsächlich einen schlimmen Antisemiten sehen. Das wird nicht selten auch Opernbühnen ausgetragen. Wo das heutzutage weit verbreitet

„Theater-Wagner“, leicht beschädigt. Fotos (2): Claus Stille

auftretende Regie-Theater schon manches Mal seltsame Blüten treibt und kalkulierte Skandale verursacht.

Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher

Ein Beispiel hier nur, was auch Zuckermann in seinem Buch erwähnt:

Da erschien vor Jahren in einer Inszenierung von Burkhard C. Kosminiski an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Richard Wagners „Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher – inklusive Gaskammern auf der Bühne. Burkhard C. Kosminski (vom Schauspiel kommend) „hatte für seine erste Operninszenierung die sagenhafte Handlung um „Tannhäuser“ im Venusberg und den Sängerkrieg auf der Wartburg in der Zeit des Nazi-Regimes und der frühen Bundesrepublik angesiedelt – und damit den Antisemitismus des Komponisten und dessen Einfluss auf die Nazi-Ideologie thematisiert“, wie seinerzeit der SPIEGEL schrieb.

Und weiter:

„Während der berühmten „Tannhäuser“-Ouvertüre sinken nackte Darsteller in einem Kreuz aus gläsernen Würfeln, die sich mit Nebel füllen, zu Boden. Der Venusberg, bei Wagner Ort der hedonistischen Liebe, wird zum Schauplatz einer brutalen Erschießungsszene. Venus in Nazi-Uniform und ihre SS-Schergen ermorden eine Familie und zwingen „Tannhäuser“ dazu, ebenfalls zu töten.“

Nicht selten, merkt Moshe Zuckermann im Buch an, ist der Skandal von vornherein eingeplant – vor allem in Bayreuth. Regisseure werden da ab und an gewiss auch unter diesem Gesichtspunkt eingekauft. Dazu kommt noch das übliche Theater des Wagner-Clans und schon beißt die Presse an und zu – hat ihre Skandal. Das Publikum buht oder verlässt gar laut die Türen schlagend den Wagner-Tempel auf dem Grünen Hügel …

Da könnte ein wenig gut bis gar nicht unterrichtetes Publikum oder Medienkonsument*innen gar auf die Idee kommen, Richard Wagner sei ein Weggeführte von Adolf Hitler – der beim Wagner-Clan aus- und einging – gewesen. Dessen Lieblingskomponist er war. Dabei starb Wagner „im Jahre 1883“, worauf Zuckermann hinweist (S.140), „also volle sechs Jahre vor Hitlers Geburt“.

Wagners Wandlung vom linken Revolutionär zum latenten Antisemiten

In Moshe Zuckermanns Buch werden wir Leser*innen umfassend über den Werdegang Richard Wagners in Kenntnis gesetzt. Wir erfahren auch, wie Zeitgenossen über ihn dachten und schrieben, bzw. später über ihn geschrieben wurde. Und wir lesen von der Wandlung Wagners vom linken Revolutionär (1848) zum angepassten Königstreuen und latenten bis zuweilen erbitterten Antisemiten. Was in sich in überlieferten persönlichen Papieren bis hin zu Wagners Schriften und Opern verfolgen lässt.

Nichtsdestotrotz meint Moshe Zuckermann: „Richard Wagner war kein geistiger Wegbereiter des deutschen Nationalsozialismus.“

Zuckermann gibt zu bedenken (S.12):

Ein geglücktes 1848 hätte – pauschal ausgedrückt – einen Rückzug in die ‚deutsche Innerlichkeit‘ im Sinne einer Flucht aus dem Leben in die Irrationalität, ins Mystische, in Kunst um der Kunst willen‘ als Ideologie, hätte Bismarck, vielleicht gar Hitler unwahrscheinlich gemacht. Eine erfolgreiche Revolution 1848 hätte Deutschland vermutlich auf den demokratischen Pfad geführt und einem Heine gehuldigt. Deutschland konnte Wagner als Hohepriester deutschen Geistes feiern.“

Zuckermann fragt sich jedoch (S.13 oben): „Aber stimmt das so? Kann dies apodiktisch behauptet werden? Was Heine angelangt, gewiss. Bei Wagner liegen die Dinge weitaus komplizierter.“

Auch, ist sich der Autor sicher, sei Wagner heute kein deutsches Ärgernis mehr. Die einzigen, die sich noch um ihn kümmerten und ihn hin und wieder als Ärgernis inszenierten, seien die Regisseure; sie würden dafür zumeist ausgebuht werden. Wie etwas weiter oben bereits beschrieben.

In Israel wird das Werk Wagners nach wie vor boykottiert. Das hat Gründe

Interessant gewiss auch das letzte Kapitel des Buches „Wagner in Israel oder Die Wonnen der Ignoranz“ (S.121).

Wagner dort aufzuführen ist wegen des seit Staatsgründung eingehaltenen halboffiziellen Wagner-Boykotts, „welcher die Nichtaufführung von Wagner-Musik in Israel zur normativen Auflage für alle Orchester des Landes hat werden lassen“ stets verunmöglicht worden. Nicht „ideologiekritische Fragen und Bedenken (die man gegen Wagners kontroverses künstlerisches Werk gewiss anführen kann), welche das öffentliche Verhältnis Israels zu diesem Werk und Person nach nach zu einem die israelische Shoah-Erinnerung bedienenden, quasi-staatlichen kulturellen Symbol gerannen“, seien allerdings der Auslöser dafür gewesen.

Zuckermann (S.125): „Das darf stutzig machen: In einem Land, das ganze sieben Jahre nach Auschwitz einen offiziellen ökonomischen Vertrag mit dem von ihm selbst als solches apostrophierten ‚anderen Deutschland‘ abschloss, mithin gleich zu Beginn seines staatlichen Bestehens die Materialisierung der Sühne etablierte; in einem Land, das knappe zwanzig Jahre nach der Vernichtungskatastrophe (aus nachvollziehbaren praktischen Gründen) volle diplomatische Beziehungen mit dem Urheberland der Katastrophe einging; in einem Land, in dem viele seiner infrastrukturellen Gebilde, Institutionen und großen zivilen wie militärischen Anschaffungen durch deutsches Kapital finanziert werden (…)“

Da sei eben ein 1883 verstorbener Komponist zum halboffiziellen Symbol dieser Beziehung avanciert.

Da werde eben verständlicherweise argumentiert – was auch nicht wegdiskutiert werden sollte, meint Zuckermann) mit der notwendigen Rücksichtnahme auf Gefühle und Empfindlichkeiten von Shoah-Überlebenden.

Allerdings weist der Autor darauf hin, dass es an der Zeit sei, „dass man aufhört, Shoah-Überlebende als monolithischen Block mit einheitlich gebildeten Empfindungen und homogen geformten Willen wahrzunehmen“. Weiter: „Manche Shoah-Überlebende werden Wagners Kunst (aus welchem Grund auch immer) hassen, andere mögen sie bewundern, die meisten dürfte sie mehr oder minder kalt lassen. Für Shoah-Überlebende, die außerhalb Israels leben, ist Wagner schlicht kein Thema.“

Das „Verbot aufrechtzuerhalten (selbst wenn es aus dem Munde von Shoah-Überlebenden kommen sollte), nichts anderes als eine weitere Etappe auf dem langen Weg der Ideologisierung des israelischen Shoah-Gedenkens“, stellt Moshe Zuckermann fest.

Wagner wird also schlicht als „Symbolwert“ gebraucht (S.129). Ein Aufbruch – ein Umdenken – sei nicht gewollt: „Zu viel steht auf dem Spiel – das gesamte, über Jahrzehnte gepflegte Shoah-Gedenken Israels müsste überdacht werden. Zu viele Menschen, zu viele Institutionen sind daran interessiert, dass dem nicht so werde.“

Zuckermann gesteht aber zu: „Wagner war ohne Zweifel einer der obsessivsten und (gemessen an seiner Zeit) gefährlichsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts. Das sollte man auf keinen Fall verharmlosen, aber eben auch nicht außer Proportion geraten lassen.“

Es reiche schon, was er realiter war und in seiner Lebenszeit als Antisemit anrichtete; ihn aber zum Vorreiter der Ideologie des ‚Dritten Reiches‘, gar zum gesinnungsverbündeten Verkünder des von den Juden verbrochenen Völkermordes hochzudeuten (…)“, ginge zu weit.

Zuckermann kann sich vorstellen, „dass mit dem Jahrzehnte währenden Boykott kein genuines Shoah-Gedenken, sondern, ganz im Gegenteil, dessen farcehafte Verhunzung gefördert wurde (S.136). [Mit] „dem Erhalt der Boykott-Ideologie würden wohl „ganz andere, schwerer lastende Probleme als die Aufführung oder Nichtaufführung von Musik eines Tonsetzers aus dem 19. Jahrhunderts abzudecken trachten“.

Wagner? Wagner!

Wagner? Oh Gott muss nach Moshe Zuckermann bravourös geschrieben Essay niemand ausrufen, finde ich. Noch einen Wagner-Buch unter vielen also? Warum nicht – es wird seinen Platz finden. Leser*innen, die vielleicht nicht gerade zu den großen Wagner-Kennern gehörten bzw. verwirrt sind durch das, was man ihnen bislang über den großen Tonsetzer nahebrachte, erfahren über das kenntnisreich geschriebene Buch viel interessantes. Nach Lektüre des neuen „Zuckermanns“ – ich muss zugestehen, ein Fan von ihm zu sein – ist man auf jedenfalls um einiges klüger worden. Man sieht klarer. Ein Skandal stellt dieser Wagner wohl heute eigentlich nur noch auf der Bühne dar, wenn sich Vertreter*innen des Regie-Theater an ihm vergreifen. Und das ist durchaus gewollt. Mögen die Wagnerianer auch noch so sehr im Dreieck springen.

Moshe Zuckermann während einer Veranstaltung in Dortmund (Archiv).

Moshe Zuckermann

Seitenzahl: 144
Ausstattung: Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer: 9783864893117

18,00 €

Der Kampf gegen Antisemitismus ist wichtig, darf jedoch die Debattenkultur nicht vergiften

„Ein klares und deutliches Zeichen gegen Antisemitismus setzen 20 Organisationen und Verbände: sie haben eine entsprechende Grundsatzerklärung (hier der Link dorthin; C.S.) formuliert und werden sie unterzeichnen“, berichten die Nordstadtblogger aus Dortmund. Gut so. Denn:

„Der Antisemitismus war auch nach 1945 nie weg hierzulande. Und mindestens unterschwellig, noch eingenistet in von Nazi-Propaganda vernebelten Köpfen. Er hatte sich höchstens hinter Gardinen verborgen oder spitzte immer mal wieder widerlich in Form eines am Biertisch von Stammtischbrüdern zum Besten gegebenen Juden-Witzes aus rauchgeschwängerter Kneipenluft hervor.

Doch auch der Kampf gegen den Antisemitismus fand stets statt. Und das war und ist auch nötig“, schrieb ich in meiner Rezension zu Moshe Zuckermanns Buch „Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ hier auf diesem Blog.

Warum schrieb Zuckermann das Buch?

Dazu merkte ich an: „Was jedoch seit einiger Zeit betreffs der Anwendung des Begriffs „Antisemitismus“ zu konstatieren ist, kommt einen ziemlich irre

Prof. Moshe Zuckermann. Foto: C.-D. Stille

vor. Kurzum. Es geht auf keine Kuhhaut. Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe, als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren, hat da seine ganz persönlichen Erfahrungen machen müssen. Weshalb er aus innerem, stetig neu befeuerten Antrieb – gespeist aus An- und Vorwürfen gegen ihn – einfach nachgeben musste und ein neues Buch mit dem Titel „Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ geschrieben hat. Für uns LeserInnen ist das von großem Nutzen. Es lehrt uns die zugegebenermaßen alles andere als einfache Materie Seite um Seite besser zu verstehen.“

Ich schrieb weiter:

Im Vorwort (S.7) gleich Tacheles. Zuckermann schreibt: „Ein Ungeist geht um in Deutschland – es ist, als habe sich der Orwellsche Neusprech ein neues Feld für seine realhistorische Manifestation gesucht und es gefunden: im Antisemitismusdiskurs des heutigen Deutschland.“ Das ist bei weitem nicht zu dick aufgetragen, sondern bittere Tatsache, wie wir LeserInnen erfahren.

„In der Auseinandersetzung mit dem Antirassismus werden wahllos und ungebrochen Begriffe durcheinandergeworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Nicht-Juden des Antisemitismus bezichtigt“, lesen wir auf dem Buchrücken. „Die Debattenkultur in Deutschland ist vergiftet und die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses geraten.“

Die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“

Grundsatzerklärungen wie die in Dortmund haben inzwischen mehrere Kommunen abgegeben. Diese Erklärungen – auch die Dortmunder – fußen auf der „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ der IHRA“:

Grundlage für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist die vom Deutschen Bundestag am 18. Januar 2018 beschlossene (BT Drucksache 19/444)»Arbeitsdefinition von Antisemitismus« der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) mitsamt ihren Anhängen in der von der Bundesregierung am 27. September 2017 dargelegten Form.“

Und weiter:

Im gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – und in Anlehnung an die IHRA-Definition – ist „Antisemitismus eine bestimmte Wahrnehmung von Juden,die sich als Hass gegen über Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeinden, Institutionen oder religiöse Einrichtungen.“

So weit so gut. Aber dann kommt ein Passus, der in bestimmten Fällen problematische Auswirkungen zeitigen kann:

Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.

Die Definition umfasst alle aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus als Praxis der Gewalt in Wort und Tat. So gilt es heute und in Zukunft gegen alle Formen von Antisemitismus vorzugehen – gleich ob traditionell-religiös, rassistisch, schuldabwehrend, islamistisch ‚antiimperialistisch‘ oder auf Israel bezogen.“

Ein Ungeist geht um in Deutschland“, findet Moshe Zuckermann

Warum das problematisch Auswirkungen zeitigen kann und in der Praxis auch zeitigt, hat nicht nur Moshe Zuckermann erfahren müssen. Aus meiner Rezension: „Im Vorwort (S.7) gleich Tacheles. Zuckermann schreibt: „Ein Ungeist geht um in Deutschland – es ist, als habe sich der Orwellsche Neusprech ein neues Feld für seine realhistorische Manifestation gesucht und es gefunden: im Antisemitismusdiskurs des heutigen Deutschland.“ Das ist bei weitem nicht zu dick aufgetragen, sondern bittere Tatsache, wie wir LeserInnen erfahren.

„In der Auseinandersetzung mit dem Antirassismus werden wahllos und ungebrochen Begriffe durcheinandergeworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Nicht-Juden des Antisemitismus bezichtigt“, lesen wir auf dem Buchrücken. „Die Debattenkultur in Deutschland ist vergiftet und die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses geraten.“

Aufgrund des etwas weiter oben von mir problematisierten Passus‘ können nämlich rasch Menschen, die den Staat Israel wegen seiner Politik kritisieren, unter Beschuss geraten. Dazu schrieb ich in der Rezension zu Zuckermanns Buch:

„Besonders perfide zu nennen ist, wenn Juden, sogar welche, die den Holocaust überlebt haben oder in der eigenen Familie Tote durch den Holocaust zu beklagen haben – nur weil sie in irgendeiner Form Kritik am israelischen Staat und dessen Tun üb(t)en, sich als „jüdische Antisemiten“ (so wurde der Dichter Erich Fried einst benannt, weil er sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser aussprach) oder mindestens als „sich selbsthassende Juden“ bezeichnen lassen müssen. Was schlimm ist. Schlimmer noch ist, dass Kritiker Israels – so sie hierzulande eine Buchlesung vorhaben oder einen Vortrag halten wollen – immer öfters Schwierigkeiten haben eine Räumlichkeit dafür zu bekommen. Zumindest in manchen Universitäten und Sälen von Kommunen. Diese Personen werden dann auch über die Presse in die antisemitische Ecke gestellt. So manche jüdische Gemeinde, der Zentralrat der Juden in Deutschland und im Hintergrund die israelische Botschaft in Deutschland orchestriert diese Stimmung gegen missliebige, weil kritisch gegenüber Israels Politik gegenüber den Palästinensern eingestellte Menschen. Ein Weiteres tut die israelische Hasbara (Propaganda), welche – vom Staat finanziell gut dotiert – entsprechende Stimmung verbreitet.“

Moshe Zuckermann, in dessen Familie Holocaustopfer zu beklagen sind, bekam – bzw. Veranstalter – in Deutschland des Öfteren Schwierigkeiten in bestimmten Räumlichkeiten Vorträge zu halten. Dazu in meiner Rezension:

„Nicht selten im vorauseilenden Gehorsam stellen Kommunen und Unis einfach keine Räumlichkeiten für solche Veranstaltungen zur Verfügung oder

Buchcover, Buchabbildung

sie kündigen schon zugesagte Vermietungen. Manchmal gelingt es den als Antisemiten verunglimpften Referenten gerichtlich eine bereits zugesagte Raumvermietung durchzusetzen, manches Mal sind sie auch darauf angewiesen, dass private oder kirchliche Einrichtungen Räume zur Verfügung stellen. Wie bereits bemerkt: Moshe Zuckermann hat das selbst erlebt und dürfte das auch künftig wieder erleben. Auch Abraham Melzer („Die Antisemitenmacher“ (hier meine Rezension) war bzw. ist selbst damit konfrontiert. Und die Lobby der „Antisemitenmacher“ verfährt nach dem Motto: „Wer Antisemit ist, bestimme ich.“

Der wirklich reputable Journalist Andreas Zumach geriet in die Kritik

Solche Geschehnisse sind mittlerweile keine Seltenheit mehr: sie häufen sich. Das EineWeltHaus München berichtet:

„Medienrealität live fragt, was solche Tabus mit einer Gesellschaft machen, die auf Öffentlichkeit baut – auf Journalist*innen, die ungehindert Themen setzen und auf Bürger*innen, die sich aus einer Vielzahl von Quellen informieren können, damit die Gesellschaft sich über ihre Probleme klar werden und diese lösen kann. Dabei ist klar: Antisemitismus darf genau wie Rassismus keine Bühne haben. Aber was passiert, wenn der Vorwurf „Antisemit“ genutzt wird, um unbequeme Stimmen aus der Öffentlichkeit zu verbannen – Menschen, die die israelische Besatzungspolitik kritisieren oder Menschenrechtsverletzungen thematisieren?

Medienrealität live hat für die Veranstaltung einen prominenten Gast gewinnen können: Andreas Zumach ist einer der Motoren der Friedensbewegung und berichtet seit 1988 aus Genf für die taz und andere große Medien. Er war freiwilliger und hauptamtlicher Referent der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. 2009 bekam er den Göttinger Friedenspreis. Für das Thema des Abends besonders relevant: Andreas Zumach ist im Beirat des „Bündnisses zur Beendigung der israelischen Besatzung“.
Facebook-Veranstaltung: https://www.facebook.com/events/340204539869975/
Mehr Informationen: http://medienblog.hypotheses.org/

Und noch einmal Andreas Zumach betreffend: Die Kontext Wochenzeitung informiert am 13.2.2019:

Andreas Zumach ist ein exzellenter Journalist und ein Ausnahmetalent in der Erwachsenenbildung. Er arbeitet überwiegend von Genf aus, als UNO-Berichterstatter für viele Medien, und er ist seit Jahrzehnten gern gesehener Gast in Volkshochschulen und anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, denn er besitzt die seltene Fähigkeit, komplexe Sachverhalte ohne Vereinfachung verständlich zu machen. Obwohl er hohe Anerkennung genießt, wurde Zumach im Dezember 2018 von der Evangelischen Erwachsenenbildung (EEB) Karlsruhe ausgeladen, für die er den Vortrag „Israels wahre und falsche Freunde“ halten sollte. Der zuständige Dekan Thomas Schalla teilte ihm mit, die Veranstaltung könne aufgrund von „Irritationen verschiedener Art“ nicht stattfinden. Solange Rosenberg von der Jüdischen Kultusgemeinde Karlsruhe hatte bei der EEB interveniert, denn Zumach sei bereits mit israelfeindlichen Äußerungen aufgefallen. Andreas Zumach intervenierte sofort seinerseits, und in der Folge willigte Solange Rosenberg ein, alle Anschuldigungen schriftlich zu widerrufen. Doch trotz schriftlicher Unterlassungserklärung blieb Dekan Schalla bei seiner Absage.

Bärbel Illi, Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), schrieb an die Landesregierung und an die Stadt Reutlingen, die Ausstellung sei Teil der Kampagne der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) und Andreas Zumach ein antiisraelisch agierender Referent. Zumach aktivierte seine Anwälte, und bereits einen Tag später unterschrieb Illi eine Widerrufs- und Unterlassungserklärung. Wir von der VHS Reutlingen zeigen die Ausstellung weiterhin, bis zum 2. März. Und wir haben keinerlei Anlass, Andreas Zumach auszuladen. Er wird am 20. März einen Vortrag halten mit dem Thema: „Die Grenzen des Sagbaren und unser aller Verantwortung für gerechten Frieden in Nahost“.“

Albrecht Müller und Jens Berger befürchten: „Kampagne gegen Antisemitismus wird vermutlich Antisemitismus stärken“

Fraglos ist es wichtig gegen Antisemitismus Flagge zu zeigen und entsprechend konsequent dagegen vorzugehen. Zum Problem werden aber solche Grundsatzerklärungen zur Bekämpfung des Antisemitismus, wenn sie dazu missbraucht werden würden, Kritiker der israelischen Politik zum Schweigen zu bringen. Albrecht Müller und Jens Berger (NachDenkSeiten) bringen das in ihrem Beitrag vom 1. März 2019 auf den Punkt. Sie befürchten „Kampagne gegen Antisemitismus wird vermutlich Antisemitismus stärken“ (Überschrift)

Wir lesen erschrocken: „Zwischen 2005 und 2018 wurden 90 Veranstaltungen, die sich kritisch mit der Politik Israels auseinandersetzen wollten, von der Israel-Lobby entweder massiv gestört oder verhindert.“

Die Autoren weiter:

Der alte und schlimme Antisemitismus nutzte geschickt die Unterstellung, Juden würden sich Vorteile dadurch verschaffen, dass sie abgesprochen und gemeinsam handeln. Die neue Kampagne der „Guten“, die die Kampagne gegen angebliche Antisemiten betreiben, befördert genau dieses Vorurteil. Man steht staunend am Wegesrand und stellt fest, was an absurder Behinderung offener Diskussion und demokratischer Willensbildung heute möglich ist“ (Fettung aus dem ursprünglichen Beitrag übernommen.)

Und Müller und Berger geben zu bedenken:

„Wer nur einen Hammer besitzt, sieht in jedem Problem einen Nagel. Und wer selbst nur über die „Waffe“ des Antisemitismusvorwurfs verfügt, der sieht nun einmal überall Antisemiten. Auffallend ist, dass längst vergessen geglaubte antisemitische Stereotype durch den angeblichen Kampf gegen den Antisemitismus heute ihre Wiedergeburt feiern. Wer käme denn sonst heutzutage ernsthaft auf die Idee, Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine wie auch immer geartete Kontrolle über das Finanzsystem zuzuschreiben? Derlei Unsinn sollte doch eigentlich seit mehr als zwei Generationen im Papierkorb der Geschichte verrotten. Wenn heute Kritik am Finanzkapitalismus und seinen Akteuren ohne Not und außerhalb des Kontextes unter Rückgriff auf längst verdrängte antisemitische Stereotype in eine antisemitische Ecke gedrängt werden soll, ist dies an Absurdität kaum zu übertreffen. Die Israel-Lobby hält jene antisemitischen Stereotype am Leben und nutzt sie selbst aktiv, um anderen Menschen Antisemitismus zu unterstellen. Damit erfüllt sie freilich ihrem angeblichen Ziel, den Antisemitismus zu bekämpfen, einen Bärendienst.“

Fazit

Nun setzen also auch 20 Organisationen und Verbände aus Dortmund ein „klares und deutliches Zeichen gegen Antisemitismus“. Gut? Gut gedacht ist nicht immer gut gemacht. Unter den 20 Organisationen und Verbänden aus der Stadt, die sich hinter die Grundsatzerklärung gestellt haben, befindet sich auch die Auslandsgesellschaft NRW e.V.  Es wird zu beobachten sein, ob auch in Dortmund künftig Referenten, die sich kritisch mit der Politik Israels befassen, oder sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, Probleme haben werden, Räumlichkeiten zu bekommen. Wenn ihnen zuvor das Etikett „Antisemit“ angeklebt wird und die Veranstalter in vorauseilendem Gehorsam Räume kündigen. Bekäme denn Moshe Zuckermann – so er denn von der Auslandsgesellschaft eingeladen würde – die Möglichkeit in deren Räumen zu referieren?

Anbei gegeben:

Antisemitismus-Nichtdefinition

Über das Scheitern, den Antisemitismus zu definieren.

Ein Beitrag des Verfassungs- und Völkerrechtlers Norman Paech (Quelle: Rubikon)

„Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ – Ein neues, wichtiges Buch von Moshe Zuckermann

Der Antisemitismus war auch nach 1945 nie weg hierzulande. Und mindestens unterschwellig, noch eingenistet in von Nazi-Propaganda vernebelten Köpfen. Er hatte sich höchstens hinter Gardinen verborgen oder spitzte immer mal wieder widerlich in Form eines am Biertisch von Stammtischbrüdern zum Besten gegebenen Juden-Witzes aus rauchgeschwängerter Kneipenluft hervor.

Doch auch der Kampf gegen den Antisemitismus fand stets statt. Und das war und ist auch nötig.

Neuerdings hat Deutschland sogar einen Antisemitismus-Beauftragten. Gut. Besser wäre es gewesen einen Antirassismus-Beauftragten zu installieren. Nun ja.

Moshe Zuckermanns neues Buch aus innerem Antrieb heraus entstanden. Zu unserem besseren Verständnis schwieriger Materie von Nutzen

Moshe Zuckermann. Foto: C. Stille

Was jedoch seit einiger Zeit betreffs der Anwendung des Begriffs „Antisemitismus“ zu konstatieren ist, kommt einen ziemlich irre vor. Kurzum. Es geht auf keine Kuhhaut. Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe, als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren, hat da seine ganz persönlichen Erfahrungen machen müssen. Weshalb er aus innerem, stetig neue befeuerten Antrieb – gespeist aus An- und Vorwürfen gegen ihn – einfach nachgeben musste und ein neues Buch mit dem Titel „Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ geschrieben hat. Für uns LeserInnen ist das von großem Nutzen. Es lehrt uns die zugegebenermaßen alles andere als einfache Materie Seite um Seite besser zu verstehen.

Es geht ein Ungeist um in Deutschland

Im Vorwort (S.7) gleich Tacheles. Zuckermann schreibt: „Ein Ungeist geht um in Deutschland – es ist, als habe sich der Orwellsche Neusprech ein neues Feld für seine realhistorische Manifestation gesucht und es gefunden: im Antisemitismusdiskurs des heutigen Deutschland.“ Das ist bei weitem nicht zu dick aufgetragen, sondern bittere Tatsache, wie wir LeserInnen erfahren.

„In der Auseinandersetzung mit dem Antirassismus werden wahllos und ungebrochen Begriffe durcheinandergeworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Nicht-Juden des Antisemitismus bezichtigt“, lesen wir auf dem Buchrücken. „Die Debattenkultur in Deutschland ist vergiftet und die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses geraten.“

Israel-Kritiker werden als Antisemiten verleumdet

Besonders perfide zu nennen ist, wenn Juden, sogar welche, die den Holocaust überlebt haben oder in der eigenen Familie Tote durch den Holocaust zu beklagen haben – nur weil sie in irgendeiner Form Kritik am israelischen Staat und dessen Tun üb(t)en, sich als „jüdische Antisemiten“ (so wurde der Dichter Erich Fried einst benannt, weil er sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser aussprach) oder mindestens als „sich selbsthassende Juden“ bezeichnen lassen müssen. Was schlimm ist. Schlimmer noch ist, dass Kritiker Israels – so sie hierzulande eine Buchlesung vorhaben oder einen Vortrag halten wollen – immer öfters Schwierigkeiten bekommen eine Räumlichkeit dafür zu bekommen. Zumindest in manchen Universitäten und Sälen von Kommunen. Diese Personen werden dann auch über die Presse in die antisemitische Ecke gestellt. So manche jüdische Gemeinde. der Zentralrat der Juden in Deutschland und im Hintergrund die israelische Botschaft in Deutschland orchestriert diese Stimmung gegen missliebige, weil kritisch gegenüber Israels Politik gegenüber den Palästinensern eingestellte Menschen. Ein Weiteres tut die israelische Hasbara (Propaganda), welche – vom Staat finanziell gut dotiert – entsprechende Stimmung verbreitet.

Die Lobby der Antisemitenmacher bestimmt wer Antisemit ist

Nicht selten im vorauseilenden Gehorsam stellen Kommunen und Unis einfach keine Räumlichkeiten für solche Veranstaltungen zur Verfügung oder sie kündigen schon zugesagte Vermietungen. Manchmal gelingt es den als Antisemiten verunglimpften Referenten gerichtlich eine bereits zugesagte Raumvermietung durchzusetzen, manches Mal sind sie auch darauf angewiesen, dass private oder kirchliche Einrichtungen Räume zur Verfügung stellen. Wie bereits bemerkt: Moshe Zuckermann hat das selbst erlebt und dürfte das auch künftig wieder erleben. Auch Abraham Melzer („Die Antisemitenmacher“ (hier meine Rezension) war bzw. ist selbst damit konfrontiert. Und die Lobby der „Antisemitenmacher“ verfährt nach dem Motto: „Wer Antisemit ist, bestimme ich.“

Die widersinnige Gleichstellung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik

Es geht, wie Moshe Zuckermann im Vorwort anmerkt, „letztlich vordringlich um das Verhältnis von Deutschen zu Juden, um die Last der deutsch-jüdischen Vergangenheit und um ihre perversen Auswirkungen auf den gegenwärtigen deutschen Diskurs über diese Kategorien“. Weiter: „Und weil Judentum, Zionismus und Israel in diesem inadäquaten, ideologischen Gerangel gleichgestellt werden, um daraus – negativ gewendet – die widersinnige Gleichstellung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik abzuleiten, diese Gleichstellung sich aber zum unerbittlichen Glaubensbekenntnis verfestigt hat, gerät die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses: Deutsche solidarisieren sich mit einem Israel, das seit mindestens fünfzig Jahren Palästinenser knechtet, und wenn man sie drauf hinweist, dass diese Solidarität nicht haltbar ist, gerät man in ihrem Munde zum Antisemiten, zum Israelhasser oder gar zum sich selbsthassenden Juden.“ (S.7/8)

Begriffe verstehen und einordnen lernen

Es empfiehlt sich dieses neue Buch von Moshe Zuckermann sehr aufmerksam zu lesen und sich deshalb reichlich Zeit dafür zu nehmen. Dann – so verspreche ich – wird man mit Gewinn daraus auftauchen. Schon die Begriffe Judentum, Zionismus erfordern es sich unbedingt darauf einzulassen, um sie zu verstehen und richtig einordnen zu können. Nicht das erste Mal weißt Zuckermann nun auch in diesem Buch abermals auf Folgendes hin:

Auch den historischen Zusammenhängen weit vor der Staatsgründung Israels und danach bis heute hin betreffend sollte großes Interesse geschenkt werden. Zuckermann hat sie im Kapitel „Israel“ (ab S. 24) von „1897 – Der erste zionistische Kongress“ (S.26) bis „2018 – Die dystopische Gegenwart“ (S.54) akribisch beschrieben.

Moshe Zuckermann: „Nicht alle Zionisten sind Juden. Und nicht alle Israelis sind Juden“

Nicht das erste Mal weißt Zuckermann auch in seinem neuen Buch auf Folgendes hin, was auch nicht allen LeserInnen bewusst gewesen sein dürfte: „Nicht alle Juden sind Zionisten. Die meisten Juden leben nicht in Israel und wollen das auch nicht. Nicht alle Zionisten sind Juden. Und nicht alle Israelis sind Juden.“ Aufmerken werden gewiss auch diejenigen LeserInnen des Buches, so sie noch nicht selbst darauf gekommen sind, wenn Zuckermann mit der im Westen verbreiteten Ansicht, Israel sei die „einzige Demokratie des Nahen-Ostens“ gründlich aufräumt. Erst recht das am 19. Juli 2018 von der Knesset verabschiedete „Nationalitätengesetz“, habe eigentlich nur „ganz unverhohlen und staatsoffiziell“ bestätigt, „dass Israel nicht nur längst schon Praktiken eines Apartheidstaates betreibt, sondern offenbar auch gesetzlich verankert und proklamiert betreiben will.“

Zuckermann: „Es ist rassistisch, da es ein Fünftel der Bevölkerung offiziell zu Bürgern zweiter Klasse werden lässt; es ist antidemokratisch weil es die bis dato offizielle zweite Landessprache, Arabisch, zu einer ‚Sprache mit Sonderstatus‘ verkommen lässt.“ (S. 64)

Holocaust und Holocaust-Erinnerung

Alle im Buch aufscheinende Probleme sind selbstverständlich stets u.a. auch in irgendeiner Weise mit dem von Hitlerdeutschland verbrochenen Holocaust verbunden, der letztlich ausschlaggebend dafür war, dass der Staat Israel in Palästina gegründet wurde. Was gleichzeitig die Vertreibung von Palästinensern (von diesen als Nakba beklagt) zur Folge hatte.

Und zudem beschäftigt sich das Buch mit der Art und Weise wie Israel mit dem Holocaust und mit der Holocaust-Erinnerung umgeht. Selbstredend ebenfalls damit, wie in Deutschland damit verfahren wird.

So schlimm antisemitische Vorfälle hierzulande auch sind, meint Moshe Zuckermann: „Deutsche Antisemiten vergreifen sich nicht an Juden“

Antisemitische Vorfälle in Deutschland – so bedauerlich sie auch sind – empfindet Moshe Zuckermann nicht wirklich als „Weltuntergang“. „Im Gegensatz zum historischen Antisemitismus, zum nazistischen allemal, sind heutige Ausfälle für Juden nicht existenzbedrohend, man wird gesellschaftlich nicht durch Antisemitismus geächtet, ist keinerlei eklatanten Diskriminierung, auch keinerlei performativen Verfolgung ausgesetzt , man sieht sich nicht genötigt, ins Exil zu gehen, schon gar nicht ist man mit dem Leben bedroht.“ Der Autor meint (S.163/164): „Deutsche Antisemiten vergreifen sich nicht an Juden.“ Bei antisemitischen Vorkommnisse organisierten sich „gleich bundesweite Kippa-Kampagnen, werden Echo-Preise entrüstet zurückgegeben.“ (…) Nebenbei empfand Zuckermann das Kippa-Tragen (sogar im Bundestag) als Zeichen der Solidarität mit einem angegriffenen Juden wohl eher als bizarr. „Was die deutschen Kippa-Träger offenbar nicht kannten, war die Ikonografie der Kippa.“ So wird die schwarze Kippa von orthodoxen und ultraorthodoxen Juden, die sich noch dazu „durch ihren theologisch begründeten Nicht- beziehungsweise dezidierten Antizionismus auszeichnen“ getragen. (S.178) Die gehäkelte Kippa, so erklärt Zuckermann, trügen meistens „nationalreligiöse Juden“.

Uneingeschränkte Solidarität Deutscher mit Israel lässt Zuckermann mit dem Kopf schütteln

Über die quasi uneingeschränkte Solidarität Deutscher (Staatsraison) mit Israel und somit auch mit der rechten Regierung Netanjahu kann Zuckermann offenbar nur mit dem Kopf schütteln. Er schreibt von einem sich zunehmend faschisierenden rechten politischen Lager dort, welches „starken Rückenwind durch die Präsidentschaft Donald Trumps in den USA“ erhalte.

Netanjahu werde so ermöglicht „seine Macht – trotz schwerster Korruptionsvorwürfe – nahezu unangefochten auszubauen und zu befestigen dabei auch auch jegliche Berührungsängste mit Faschisten und selbst prononcierten Antisemiten skrupellos fallen zu lassen“ (S.194)

„Davon“, merkt Moshe Zuckermann an, „weiß der deutsche Antisemitismus-Diskurs nichts, davon will er nichts wissen.“ Und: „Ginge es ihm lediglich um die Bekämpfung des Antisemitismus im eigenen Land, ließe sich das nachvollziehen.“

Abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen?

Es bedürfe „nicht der zionistisch begründeten Solidarität mit Israel, um den Antisemitismus stets und unerbittlich bekämpfen zu wollen“.

Deutlich macht der Autor, was offenbar Viele nicht bedenken, nicht wahrhaben wollen oder können: „Wenn man nun aber Antisemitismus und Israelkritik wie selbstverständlich gleichsetzt, Israel- und Zionismuskritik an den Antisemitismus koppelt, kommt man schlechterdings nicht um die entscheidende Frage herum, was für ein Israel das sei, mit dem man sich solidarisch wähnt.“

Nägel mit Köpfen macht Moshe Zuckermann, wenn der (S.195 oben): „Was besagt diese Blindheit gegenüber dem realen Israel über die deutschen Anhänger Israels, die Deutschlands ‚Verantwortung‘ für den zionistischen Staat als grenzenlos erachten?“ Die Antwort darauf: „Zunächst und vor allem, dass diese ‚Solidarität‘ primär in der deutschen Befindlichkeit wurzelt, die sich von der historischen Monstrosität ableitet, welche die Deutschen an den Juden verbrochen haben.“

Weiter unten auf Seite 195 streicht Zuckermann kristallklar heraus, dass einen da ob der „vielbemühte(n) ‚Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit‘ samt der von ihr abgeleiteten ‚Verantwortung‘ ein „wesentlich beunruhigenderes Gefühl“ beschleichen könne: „Sollte sich etwa die abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen und verbrecherischen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen erweisen?“

Moshe Zuckermann sieht „Hitlers verlängerten Arm“ viele Deutsche wirken

Gegen Ende seiner Ausführungen bringt der Autor auf den Punkt, was das Irre an der Komplexität der schwierigen Materie sozusagen den Boden aus dem Fass schlägt: „Denn allein schon die Vorstellung, dass Deutsche sich anmaßen, Juden und erst recht jüdische Israelis wegen ihrer Israelkritik des Antisemitismus zu bezichtigen, ist als nichts anderes zu begreifen als eine zur Perversion verkommenes deutsche Befindlichkeitsproblem. Man kommt nicht umhin, in diesem Zusammenhang von ‚Hitlers verlängertem Arm‘ zu sprechen [Anm. C.S sh. auch S.85]. Viele Deutsche sind mit ihm offenbar noch lange nicht durch – nicht nur im Sinne der einst postulierten Unfähigkeit der Deutschen zu trauern, sondern als Residuum eines latenten antisemitischen Ressentiments, das sich – im heutigen Deutschland tabuisiert – neue Wege und Bahnen der legitimen Manifestation sucht.“

Zuckermann stellt klar: „Nur Antisemiten können Juden als Antisemiten besudeln, um sich selbst von der erbärmlichen Unwirtlichkeit ihres deutschen, allzu deutschen Antideutschseins zu erlösen.“ Diesen Satz muss man erst mal sacken lassen.

Zuckermanns neues Buch unbedingt empfehlenswert. Es bläst uns ein Stück weit die Vernebelung weg, durch die uns eine bestimmte Ideologie blicken lässt

Das neue Buch von Moshe Zuckermann ist unbedingt empfehlenswert, weil es uns auch ein ziemliches Stück weit die Vernebelung wegbläst durch die uns die herrschende, in bestimmter Weise ideologisch besetzt, Politik und Mainstream-Medien auf die Dinge blicken lassen. Es ist nicht nur mit ausgewiesenem historischen Sachverstand geschrieben, sondern lotet auch psychologisch tief – was einen die beackerte Thematik klarwerden lässt.

Die kluge Ideologiekritik von Susann Witt-Stahl im zweiten Teil des Buches

Angehängt ist dem klug und aus Kompetenz und reichlichem Wissen geschriebenem Buch Moshe Zuckermanns eine nicht minder kluge Ideologiekritik der Journalistin Susann Witt-Stahl, unter dem Titel „(Anti-)Deutsche Zustände“ (ab S.197). Sie ist schon deshalb als wichtig zu empfehlen, weil viele Otto-Normal-Bürger mit dem Begriff „Antideutsche“ gar nichts anzufangen wissen.

Die Antideutschen kommen aus der Nie-wieder-Deutschland!-Bewegung (ein Motto der „Radikalen Linken“, die sich 1990 gegen die deutsche Wiedervereinigung ausprachen und vor deren Folgen warnten. Später spaltete sich die deutsche radikale Linke in „Antideutsche“ und „Antimperialisten“. Die Antideutschen tun sich mit einer völlig unkritischen Pro-USA- und Pro-Israel-Haltung hervor.

Witt-Stahl schreibt von einer „Rechtswende von Linken im Täterland und ihr Verrat am humanistischen Judentum“.

Im Kapitel „’Antideutsche‘ Ideologie und deutsche Realität“ zitiert die Autorin (S.198) den Schweizer Germanisten Stefan Mächler („Die Shoa ist zur Meistererzählung geworden“) der den ideologischen Gebrauchswert so erklärte: „Wer sich mit ihrer Legitmationsmacht und Rhetorik ausrüstet, dem ist nicht zu widerstehen.“ Und Susann Witt-Stahl: „Kaum jemand hat das besser verstanden als die deutschen Linken, die nach 1990 das dringende Bedürfnis verspürten, von der ‚unterdrückten in die unterdrückende Klasse zu wechseln‘, wie der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker die große Flucht- und Absetzbewegung von mittlerweile Ex-Linken in die rechte ‚bürgerlich Mitte‘ beschrieb; andere suchten und fanden im Rechtspopulismus einen faulen Kompromiss. Viele von ihnen firmierten unter dem selbst gewählten Namen ‚Antideutsche‘, die gemäßigte Variante unter ‚Antinationale‘, und stellen sich mit großenem ‚Nie wieder Deutschland!‘-Getöse als ‚Wölfe‘ vor – wie Karl Marx und Friedrich Engels in Die deutsche Ideologie die Junghegelianer nannten.“

Im Epilog der Blick eine Warnung vor der „Abenddämmerung der bürgerlichen Demokratie“, die „(wieder) in eine historische Finsternis übergehen“ könnte

In ihrem Epilog (S. 239) warnt Witt-Stahl davor, dass das, was Jan Philipp Reemtsma 1990 im Siegestaumel seiner Klasse verkündete -„Die Linke hat nicht nur welthistorisch verloren, sondern es gibt sie nicht mehr“ -, eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Witt-Stahl: „Selbst im sich zwar bereits im Zustand der Erosion befindenden, aber noch funktionierenden Rechtsstaat BRD, in dem linken Oppositionellen maximal der Entzug finanzieller Mittel, Diffamierung oder politische und soziale Isolation droht, ziehen es erschreckend viele von ihnen vor, sich in Servilität gegenüber den untragbaren deutschen Zuständen statt in Solidarität mit dem bedrängten humanistischen Judentum und muslimischen Minderheit zu üben.“ Und gar nicht einmal übertrieben, schließt Witt-Stahl ihre Ideologiekritik: „Gar nicht auszudenken, wie kläglich solche Linke erst versagen und eine bisweilen jetzt schon unerträgliche Feigheit und Untertanenmentalität entfalten werden, wenn die Abenddämmerung der bürgerlichen Demokratie (wieder) in eine historische Finsternis übergehen wird.“

Lesen und Handeln!, möchte man an dieser Stelle laut rufen. Denn ist es nicht schon nach Zwölf?

Das Buch

Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit

Erschienen im Westend Verlag

Erscheinungstermin: 04.09.2018
Seitenzahl: 256
Ausstattung: EPUB
Art.-Nr.: 9783864897207

13,99 €

inkl. 19% MwSt.

Moshe Zuckermann zu seinem Buch via Weltnetz.tv

 

Der Autor

Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main, wo er auch studierte. Später lehrte er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006 und 2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern. Moshe Zuckermann ist regelmäßig mit Beiträgen für Hörfunk, Fernsehen und verschiedene Printmedien tätig.

Susann Witt-Stahl lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. Seit 2014 ist sie Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Melodie & Rhythmus

Dazu auch: Susann Witt-Stahl und Rolf Becker präsentierten Moshe Zuckermanns Buch auf dem 20. Pressefest der UZ in Dortmund

Susann Witt-Stahl, die Chefredakteurin von Melodie & Rhythmus. Magazin für Gegenkultur, präsentierte am 8. September 2018 am 20. Pressefest der UZ („Unsere Zeit“) in Dortmund gemeinsam mit dem Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker.

Gespräch über das neue Buch von Moshe Zuckermann (v.l.n.r: Rolf Becker, Susann Witt-Stahl und jW-Chefredakteur Stefan Huth. Foto: C. Stille

Zunächst übermittelte Witt-Stahl beste Grüße von Moshe Zuckermann – sie hatte zuvor mit ihm telefoniert -, welcher anlässlich der Uraufführung eines Orgelwerks von ihm in Großbritannien weilte.

Susann Witt-Stahl skandalisierte Rüstungsexporte etwa auch nach Israel, also in ein Krisengebiet (ein grober Verstoß gegen die eigenen Rüstungsexportrichtlinien) und eine immer engere Militärkooperation Berlins mit Tel Avivs (Häuserkampfausbildung der Bundeswehr in Israel), Joint Ventures in Sachen Drohnentechnologie und, „dass deutsche Unternehmen, mit finsterster Vergangenheit, wie Rheinmetall – Verbrecherunternehmen – dass diese Unternehmen in Israel unglaublich fette Profite einfahren und schalten und walten können wie sie wollen“. Dies seien „mittlerweile hegemoniale Vorstellungen von deutscher Vergangenheitsbewältigung“, so Susann Witt-Stahl.

Sie äußerte den Eindruck, „dass jüdische Linke nur noch einen Wert haben: nämlich als Bauernopfer für eine regressive Bewältigung deutscher Vergangenheit“.

Rolf Becker meinte als Entgegnung auf die Ausführungen von Susann Witt- Stahl, „man müsse in einige Punkte differenzieren“. Der Schauspieler und Gewerkschafter warnte vor einer Pauschalisierung. Auf der einen Seite habe man „den Block der Faschos“, der sei klar einschätzbar. „Aber es gibt viele, die auf die Argumentation reinfallen, der Antideutschen beziehungsweise diese Argumentation benutzen.“ Das seien die Leute, die im Grunde nichts anderes machen als überzulaufen ins Lager der herrschenden Klasse. „Wir haben das im gewerkschaftlichen Bereich“, wenn es um Israel gehe. Völlig unzweideutig sei es, wenn es um Auschwitz gehe, „unser Denken so auszurichten, dass sich ein Auschwitz nicht wiederholen kann“. Wenn man jedoch auf die Israel-Palästina-Frage komme und die Staatsraison, die von Frau Merkel verkündet worden ist, dann käme als erste Reaktion: „Halt bloß die Schnauze.“ Becker: „Sie blocken. Sie wissen wesentlich mehr. Sie Vorbehalte die aus Richtung der Antideutschen kommen. Aber sie scheuen sich aufgrund der innergewerkschaftlichen Verhältnisse ihr Bedenken zur Sprache zur bringen.“

Zornig werde Becker, „wenn aus Kreisen der Antideutschen oder Leuten, die ihre Argumentation teilweise übernehmen, Moshe Zuckermann, Abraham Melzer oder viele andere als selbsthassende Juden bezeichnet werden, wenn sich Deutsche anmaßen zu bestimmen, wer ein richtiger oder falscher Jude ist“.