Andreas Zumach hielt Vortrag in Dortmund zum Thema „Krieg zwischen Israel und Hamas“

Andreas Zumach ist Experte für internationale Beziehungen und Konflikte. Von 1988 bis 2020 war er Schweiz– und UN-Korrespondent für die taz mit Sitz am europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Der Journalist arbeitet als freier Korrespondent für deutsch- und englischsprachige Print- und Rundfunkmedien.

Er hat mehrere Bücher veröffentlicht. 2009 wurde ihm für sein friedens- und menschenrechtspolitisches Engagement der Göttinger Friedenspreis verliehen.

Vergangenen Donnerstag war Andreas Zumach Gast einer Sonderveranstaltung in Dortmund, welche in der Werkhalle im Union-Gewerbehof stattfand. Der Titel seines Referats: „Der Krieg zwischen Hamas und Israel“.

Zuletzt war Andreas Zumach 2019 zu einem Vortrag in Dortmund

Zuletzt war Andreas Zumach 2019 mit seinem Vortrag „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“ in der Dortmunder Pauluskirche zu Gast. Die Ankündigung des Vortrages hatte seinerzeit im Vorfeld unbegreifliche Kritik ausgelöst. Die Jüdische Gemeinde hatte die Veranstaltung sogar verhindern wollen. Leider kein Einzelfall in Deutschland, wenn Kritik an israelischer Politik im Spiel ist. Indes die Veranstaltung fand statt. Andreas Zumach konnte seine Sicht auf die Dinge darstellen, Missverständnisse ausräumen und auf falsche Tatsachenbehauptungen hinweisen. (Meinen damaligen Bericht können Sie hier lesen.)

Bericht zu Andreas Zumachs Referat am 14. März 2024 in Dortmund

Zumach sprach die Äußerungen von UNO-Generalsekretär António Guterres an, die er nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 getätigt hatte. Diesen Überfall, so Zumach, habe Guterres „ohne Einschränkung vollständig als Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschheit“ verurteilt und die Hamas aufgefordert sofort sämtliche israelische Geiseln freizulassen und den weiteren Raketenbeschuss auf Israel einzustellen. Dann aber habe er den verhängnisvollen Satz „Aber dieser Krieg passiert nicht in einem Vakuum, nicht im luftleeren Raum. Sondern er habe eine Vorgeschichte. Dies erinnere auch an den Ukraine-Krieg. Schließlich habe auch dieser eine Vorgeschichte. Die oft von Medien und Politik ausgeblendet werde.

Dann sei vorallem Israel heftig über Guterres hergefallen. Nie zuvor in der Geschichte der UNO sei so mit einem UN-Generalsekretär so respektlos umgegangen worden.

Ohne die Vorgeschichte, merkte Andreas Zumach an, sei eben auch der Nahostkonflikt nicht zu verstehen.

Zu dieser Vorgeschichte führte Zumach dann aus. Er ging bis 1921 zurück und führte das Publikum weiter bis zur Situation, in welcher es zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948 und der Vertreibung der Palästinenser, Nakba (Katastrophe), wie diese es nennen, gekommen sei. Im Jahre 1947 habe die UNO-Generalversammlung den Teilungsplan beschlossen. Wonach auf dem in Frage stehendem Territorium der jüdische Staat Israel mit 56,5 Prozent und ein Staat Palästina mit 43,5 Prozent entstehen sollte. So allerdings kam es bekanntlich nicht.

An dieser Stelle möchte ich einen Hinweis einflechten: Andreas Zumachs Referat fand hybrid statt – also sowohl in Präsenz als auch via Livestream. Aus Zeitgründen konnte ich nicht persönlich vor Ort dabei sein, weshalb ich den Livestream nutzte. Leider war der Vortrag besonders anfangs akustisch äußerst schwer verständlich. Aus diesem Grund empfehle ich meine Rezension zur kürzlich im pad-Verlag erschienenen Broschüre „Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“ zu lesen, beziehungsweise diese Broschüre im pad-Verlag zu bestellen. Es lohnt sich sie zu lesen. In ihr wird genau auf die Historie des Nahostkonfliktes eingegangen. Allerdings gehe ich einmal davon aus, dass Andreas Zumach sich den Inhalt dieser Broschüre möglicherweise nicht zu eigen macht. Also bitte ich meine Leser, Andreas Zumach nicht für Inhalte dieser Broschüre in Verantwortung zu nehmen.

Für die USA ist es ein Einfaches auf Israels Tun Einfluss zu nehmen

In Verlaufe von Zumachs Schilderungen der Geschichte erinnerte er daran, dass es für die USA ein Einfaches wäre und immer schon war, auf Israels Tun Einfluss zu nehmen. Der seinerzeitige US-Außenminister James Baker habe, nachdem die USA Israel gegen die Raketen aus dem Irak beschützt hatte, Tel Aviv aufgefordert, mit den Palästinensern über eine Lösung des Konfliktes zu verhandeln. Premier Yitzchak Schamir habe das brüsk abgelehnt. Im Juni 1991 sei Baker dann wieder gekommen und habe gesagt, wenn Israel nicht zu Konfliktlösungen bereit sei, dann werde ein schon vom Kongress abgenickter zinsloser Kredit von 13 Milliarden US-Dollar eingefroren. Unter diesen Druck signalisierte Tel Aviv Bereitschaft mit den Palästinensern zu reden. Zumach erinnerte an diese Episode, weil sie zeige, dass eine amerikanische Regierung Druck auf Israel auszuüben vermag; dann hätten sie die Instrumente: „Das gilt heute genauso wie damals.“

Lichtblicke in Richtung Frieden

Die PLO erkannte Israel an. Das Oslo-Abkommen wurde abgeschlossen. Ein kurzer Lichtblick Richtung Frieden sei das gewesen. Während der Regierung von Yitzchak Rabin sei Oppositionsführer der heutige Premier Benjamin Netanjahu gewesen. Und der arbeitete dagegen. Plakate hinter Netanjahu auf der Bühne beiseinen Reden waren zu sehen, die Rabin in SS-Uniform mit einer Schlinge um den Hals am Galgen hängend mit der Aufschrift „Verräter“ zeigten. In dieser Stimmung wurde Rabin am 4. November 1994 von einen, wie es bis heute heiße, „Einzeltäter“ ermordet. Das Friedens- und Versöhnungslager und das Lager, was für eine Zweistaatenlösung standen waren geschwächt. Netanjahus Likud-Partei war damals und ist bis heute gegen eine Zweitstaatenlösung.

Netanjahu finanzierte die Hamas, um die Fatah zu schwächen

Netanjahu habe immer wieder dafür gesorgt, die Hamas mit Millionen von Dollar finanziell zu stärken und zu pampern, um die PLO, die säkulare Fatah, zu schwächen. Um die Zweistaatenlösung zu torpedieren.

Mit Camp-David II im Jahre 2000 sollte später das Oslo-Abkommen gerettet werden. Für den Staat Palästina seien dann nur noch 6 Prozent des Territoriums vorgesehen gewesen. Mahmud Abbas habe dem nicht zustimmen können. Ansonsten wäre er wohl physisch tot gewesen.

US-Präsident Trump erklärte  der Zweistaatenlösung eine Absage

Noch später habe US-Präsident Trump der Zweistaatenlösung eine Absage erteilt. In einem völkerrechtswidrigen Akt hatte er die US-Botschaft nach Jerusalem, die er als Hauptstadt Israels anerkannte, verlegen lassen.

Der Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023

Schließlich kam der Referent auf das Heute und die Frage zu sprechen warum wohl die Hamas diesen Angriff auf Israel durchgeführt hat. Zumach meinte, ihn habe das nicht überrascht und bat darum dies nicht falsch zu verstehen. Zumach: „Angesichts der zunehmenden Frustration und der immer schwierigeren humanitären Lage auch im Gaza-Streifen – schon lange vor dem siebten Oktober – und die UNO-Berichte über die Lage dort sind ja deutlich. Die sagen es gibt kein anderes Gebiet auf der Welt wo auf so engem Raum so viele Menschen unter völlig unzureichenden Lebensverhältnissen leben … plus die Repression durch die Hamas, deren Islamisierung … dass es wieder zu einer Gewalteskalation kommen würde, war nur eine Frage der Zeit.“

Andreas Zumach zur Zukunft

Die Zukunft unterteilte Zumach in kurzfristig, mittelfristig und langfristig.Kurzfristig sei erst einmal die Frage zu klären, wie die bedrohliche humanitäre Situation im Gaza-Streifen, wo bis zu 2,3 Millionen Menschen vor allem vom Verhungern und Verdursten, sowie fehlender medizinischer Versorgung bedroht sind. Zumach ist nicht erinnerlich, in seinen 35 Jahren als UNO-Korrespondent jemals eine vergleichbare Situation erlebt zu haben, in der nun alle, die etwas zu tun haben mit humanitären Programmen im UNO-Bereich so dringend warnen, jetzt etwas zu tun. Niemals zuvor seien in so kurzer Zeit in einem militärischem Konflikt so viele Zivilisten und ein so hoher Anteil von Kindern zu Tode gekommen.

Zumach war klar: Netanjahu würde sich nie auf einen Waffenstillstand einlassen

Zumach sei von Anfang an klar gewesen, dass sich Netanjahu keines Falls auf einen Waffenstillstand einlassen würde. Gewiss allein schon deshalb, weil auf ihn diverse Prozesse u.a. wegen Korruption warten, die ihn wohl hinter Gitter bringen würden.

Andreas Zumach ist nicht der einzige, der der Meinung ist, dass, möglicherweise Israel die Evakuierung des Gaza-Streifens weiter durchzieht und somit sozusagen die Nakba (Vertreibung der Palästinenser) von 1948 fortsetzt oder gar vollendet. Und Israel zynisch darauf setzt, dass die Vertriebenen nicht zurückkommen. (Ich empfehle anbei das Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ von Ilan Pappe.)

Ein Protektorat, um die Menschen im Gaza-Streifen zu schützen?

Andreas Zumach und Mitstreiter empfehlen eine durch ein robustes UNO-Truppenkontigent UN-geschützte Zone (Andreas fand dafür den Begriff Protektorat) für die Menschen im Gaza-Streifen. Zumach erinnerte an Folgendes: „Die Palästinenser sind die einzige Flüchtlingspopulation in dieser Welt, die bis heute keinen Staat haben, in den sie bitteschön zurückkehren können.“

Zwar, merkte Zumach an, wächst weltweit und auch in den USA, wo Chuck Schumer, der dienstälteste der beiden US-Senatoren des Bundesstaates New York nun Israel aufforderte, baldmöglichst Wahlen abzuhalten, die Kritik am Vorgehen Israels; doch gleichzeitig würden weiter Waffen an Tel Aviv geliefert.

Eine Einstaatenlösung?

Auch eine Einstaatenlösung, ein säkularer Staat, wo alle Bewohner jeglicher Konfession mit völlig gleichen Rechten friedlich, mit dem Recht ihre jeweilige Religion auszuleben, zusammenleben könnten, hat wohl keine Chance Realität zu werden. Allerdings, so Zumach, habe in 1950er bis in die frühen 1960er Jahre gerade auch auf der palästinensischen Seite Leute, Prominente, die dieses für das richtige Modell hielten. Der bekannteste von ihnen sei der berühmte Orientalist des letzten Jahrhunderts, Eward Said ,gewesen.

Ein binationaler Staat?

Auch ein Modell eines binationalen Staates gebe es. Zwei Staaten, aber nur ein Territorium. Entwickelt an der schwedischen Lund-Universität. Der eine Staat ist für die palästinensischen Bürger zuständig, der andere für die israelischen. Nur Sicherheitsfragen nach außen die sollte man gemeinsam machen.

Außenministerien Baerbock spricht von der Zweistaatenlösung. Sie sagt aber nicht, was passieren müsste, um sie ins Werk zu setzen

Andreas Zumach gibt zu bedenken: Wenn Leute, wie etwa Frau Baerbock heute von einer Zweistaatenlösung sprächen, müssten sie auch sagen, was passieren müsste, um das umzusetzen. Da müsse gesagt werden, was mit den 700.000 jüdischen Siedlern geschehen solle, die auf palästinensischem Gebieten leben.

Dazu führte Zumach dazu aus, dass er im Mai 2009 mit Medico International und mit dem Kabarettisten Georg Schramm in Palästina und Israel gewesen sei. Abschließend sei man zusammen bei Moshe Zuckermann – damals noch Professor an der Uni in Tel Aviv – gewesen. Zumach damals zu Zuckermann: „Erklär uns doch mal wie eine Zweitstaatenlösung zustande kommt.“ Zuckermann entgegnete genervt: „Lass mich damit doch in Ruh’! Guck dir das doch an.“

Archivfoto: ©Claus Stille

Damals habe es sich um nur 330.000 Siedler gehandelt. Zumach zitierte Zuckermann: „Wenn man eine Zweistaatenlösung will, dann muss eine israelische Regierung den Siedlern sagen, ihr müsst die Koffer packen und umziehen. Und dann muss bereits Ersatzwohnraum bereitgestellt sein in Israel. Und dann werden 80 Prozent der Siedler zwar murren, aber sie werden die Koffer packen und umziehen. Und zwanzig Prozent werden zur Knarre greifen. Und dann muss eine israelische Regierung bereit sein, die Armee in das Westjordanland zu schicken. Und dann werden wir bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit hunderten von Toten auf beiden Seiten haben. Das ist der Preis, wenn man eine Zweistaatenlösung will.“

Was heißt denn Staatsräson?

Dann: Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Noch geht das Morden Israels im Gaza-Streifen weiter – es sterben immer weiter Menschen. Über 300.00 Menschen sind tot. Wohl schon 12.000 Kinder sind um ihr Leben gebracht. Werden wir eine Lösung des Nahostkonflikts erleben? Wohl vorerst leider nicht. Aber klar: Die Hoffnung darauf stirbt zu allerletzt …

Eines immerhin sei klar, sagte Zumach noch gegen Ende, „die Illusion, die spätestens seit 1967 geherrscht hat, die Illusion, man könne diesen Zustand mit sicherheitspolitischen, militärischen und anderen unterdrückerischen Maßnahmen unter Kontrolle halten und managen und man müsse sich nicht um eine politische Lösung des Grundkonflikts kümmern – diese Illusion ist, glaube ich, innenpolitisch in Israel endgültig zerbrochen. Und warum ist sie zerbrochen? Weil Netanjahus Hauptslogan in all den 16 Jahren, in denen er in der Regierung war immer war: Ich garantiere eure Sicherheit. Das ist das zentrale Versprechen von ihm gewesen. Und dieses Versprechen ist nun durch die Taten der Hamas am 7. Oktober in einer Weise unglaubwürdig geworden – das lässt sich nicht mehr reparieren.“ Im Übrigen, informierte Zumach, würden in den jüdisch-israelischen Medien alle Fragen um den Anschlag der Hamas in einer ziemliches Offenheit und aller Schärfe diskutiert. Zumach die Zeitung Haaretz, die hier auch online auf Englisch gelesen werden kann. Des Weiteren gebe es ein ausgezeichnete Internetplattform mit dem Plus972Magazin, gemacht von jüdischen und palstinensischen Journalisten. Da würden Informationen diskutiert, die man in den meisten deutschen Medien nicht findet.

Andreas Zumach ging auch auf den Begriff Staatsräson ein, den einst Angela Merkel bei einer Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, in die Welt gesetzt habe. Auch Gregor Gysi, so Zumach habe sich diesen Begriff damals zu eigen gemacht. Darauf von Zumach einmal angesprochen wusste er angeblich nichts mehr davon und konnte den Begriff auch nicht erklären. Zumach erklärte es ihm. Im Grunde komme das aus dem preußischen Obrigkeitsstaat. Und bedeute gehorchen, sozusagen: ein Basta! Erkläre man das in künftigen Jahren etwa Jugendlichen, bewirke man damit das Gegenteil des Gewünschten.

Welche Verantwortung wir haben

Zumach: Klar, wir haben Israel gegenüber eine Verantwortung, sogar ein doppelte Verantwortung: Eintreten für eine dauerhafte, gesicherte Existenz Israels. Und zweitens eine besondere dazu. Jeder Form von Judenhass (Zumach zieht diesen Begriff dem Begriff Antisemitismus vor) wo immer wir ihn begegnen müsse entschieden lautstark entgegen getreten werden. Zur Verantwortung gehöre auch zu erkennen, dass die völkerrechtswidrige und menschenrechtsfeindliche Besatzungs- und Siedlungspolitik der israelischen Regierung die größte Gefährdung für eine auf Dauer unbedrohte Existenz des Staates Israel ist. Dann haben wir als Deutsche nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht die israelischen Freunde, die Regierung zu kritisieren in ihrer Politik. Allerdings geschehe bei uns genau das Gegenteil. „Bei uns wird in einer Art und Weise jede noch so präzise Kritik an israelischer Regierungspolitik als Antisemitismus diffamiert. Auch um Auftritte zu verhindern, wie auch in Dortmund schon geschehen.“ Auch Worte wir Israelkritik solle man aus dem Wortschatz streichen, weil sie falsch seien.

Kritisch sieht Andreas Zumach den Zentralrat der Juden in Deutschland. Der Zentralrat spiele oft den Lautsprecher der israelischen Regierungspolitik. Dies sei natürlich ein Problem. Das sei eigentlich auch nicht seine Aufgabe. Er ist zuständig für die bei uns in Deutschland lebenden Juden. Er vertritt nicht einmal 50 Prozent von ihnen. Dabei gebe es bei uns auch Menschen – deutsche wie israelische Juden – die eine völlig andere Meinung vertreten als der Zentralrat der Juden. Dies sei vorellem die „Die jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Das seien etwa etwa 170 hierzulande lebende deutsche und israelische Juden.

Deutschlands Verantwortung: Dazu beitragen, diesen Krieg zu beenden

Die Verantwortung Deutschlands liege jetzt darin mit beizutragen, diesen Krieg zu beenden. Und möglichst vielen Menschen im Gaza-Streifen das Leben auch ohne Verletzung zu ermöglichen. Und uns dann ehrlich für eine politische Lösung einzusetzen. Und zwar nicht nur verbal, sondern auch mit der Bereitschaft mitzumachen. Käme es zu einer Zweistaatenlösung unter dem Schutz einer Blauhelmtruppe unter amerikanischer Führung, dann hätte Andreas Zumach überhaupt keine Probleme damit, dass da auch deutsche Bundeswehrsoldaten dabei sind – wenn niemand da in der Region Bedenken hätte.

Ein interessanter Vortrag. Mit anschließenden, ebenso interessanten Fragen aus dem Publikum.

Beitragsbild: Andreas Zumach (Archivfoto: © Claus Stille)

Zum Thema Palästina passender Beitrag aus meinem Archiv.

„Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“ – Eine Broschüre von Peter Hänseler und René Zittlau. Rezension

Der Krieg Israels in Gaza nach dem Überfall der Hamas auf das Land am 7. Oktober 2023 mit inzwischen ca. 30.000 getöteten palästinensischen Menschen (davon ca. 12.000 Kindern!), einem nahezu komplett zerstörten Gazastreifen, 1,7 Millionen Vertriebenen, nach Jahrzehnten der Apartheid , hinterlässt eine von Hungersnot bedrohte Bevölkerung. Die seitens israelischer Politiker offen geäußerte genozidalen Absichten der rechtsextremen Regierung in Tel Aviv sind ein erbärmliches Schreckenszeugnis.

Seit über 128 Tagen wird Gaza zerbombt. 50% aller Häuser sind zerstört, darunter Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Bäckereien usw. Der Zugang zu Wasser, Nahrungsmittel und Strom ist unterbrochen. Hunderte Ärzte, Medizinpersonal, Krankenwagen und Apotheken können ihre Arbeit
nicht mehr fortsetzen.

Fast 70.000 Menschen sind verwundet, mehrere tausend Körper liegen unter Trümmern und können nicht bestattet werden. Menschen die schon mehrmals in den letzten 75 Jahren aus ihren Dörfern oder Flüchtlingslagern vertrieben wurden, sind wieder auf der Flucht. Es wurde viel Leid, Zerstörung, Angst und Hass gesät. Bis jetzt sind mehr als 17.000 Kinder zu Waisenkindern geworden.

Massenmord in Gaza

Wie anders soll man das bezeichnen, was da in Gaza stattfindet – als Massenmord? Zudem kommt noch ein rigoroses Plattmachen der dortigen Infrastruktur. Auch vor Moscheen und Kirchen wird kein Halt gemacht. Die noch am Leben gebliebenen Palästinenser werden Richtung Rafah vertrieben. Aber auch dort sind sie keinesfalls sicher. Es fehlt allenthalben am Nötigsten zum Leben. Eine zweite Vertreibung der Palästinenser. Ist es da falsch von einer weiteren Nakba (Katastrophe) sprechen, die im Gange ist?

Israel will sich offenbar der Palästinenser endgültig entledigen. Will man sie in die Wüste, nach Ägypten treiben? Dies wird Kairo aus verständlichen Gründen nicht hinnehmen. Auch würde ja Israel diese Vertriebenen nie wieder in deren Heimat zurücklassen.

Die ethnische Säuberung Palästinas“

Von Ilan Pappe stammt das Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, welches zu lesen ich unbedingt empfehle. Ilan Pappe ist der Sohn deutscher Juden, die als Folge der Machtergreifung Adolf Hitlers nach Palästina gekommen waren.

„Ihre Lebensgeschichte“ schreibt er im Vorwort zur aktuellen deutschen Ausgabe seines Buches, seine Eltern betreffend, „und das, was mit ihren Familienangehörigen geschah, ist einer der Hauptgründe für die tiefgehende Verpflichtung, die ich empfinde, die Geschichte der Nakba auch deutschen Lesern zu vermitteln.“

Und weiter «Aber auch jenseits meiner persönlichen Geschichte fühle ich, dass die Geschichte der Nakba auf Deutsch eine besondere Bedeutung hat. Wie schon der palästinensische Intellektuelle Edward Said sagte, sind die Palästinenser „die Opfer der Opfer“. Deshalb gibt es eine besondere deutsche Verantwortung für das, was die zionistische Bewegung und später der Staat Israel den Palästinensern angetan haben.«

Es sei seine Absicht gewesen, so Pappe, „zu verdeutlichen, dass die ethnischen Säuberungen von 1948 und vergleichbare israelische Aktionen bis heute das Ergebnis der siedlerkolonialistischen Ideologie ist, die in der indigenen Bevölkerung keine gleichwertigen Menschen sieht“. Und: „Die Dehumanisierung der Palästinenser ist ein wichtiger Bestandteil der zionistischen Ideologie (nicht von Anfang an, sondern erst ab dem Augenblick, an dem die zionistischen Führer Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts beschlossen, dass der einzige Weg sich des europäischen Antisemitismus zu erwehren, die Kolonisation Palästinas sei). Der einzige Weg, die Kolonialisierung zu vollenden, so wie es in Nordamerika geschah, in Australien und Süd-Afrika, war, sich der ursprünglichen Bevölkerung zu entledigen.“

Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“

Ähnlich sehen es auch die Autoren Peter Hänseler und René Zittlau – fußend auf ihren akribischen Recherchen – in der soeben im pad-Verlag erschienen Broschüre „Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“.

Zu dieser Broschüre lesen wir:

«Die Menschen in Palästina sind im übertragenen Sinn Opfer der jüdischen Opfer des verbrecherischen NS-Regimes. Das Versprechen einer Zwei-Staaten-Lösung wird von Israel und seinen Verbündeten sabotiert. Der Krieg in Gaza ist nicht ein Krieg zwischen zwei Staaten, sondern zwischen Besatzern und Besetzten. Die Blockade jeglicher Zufuhr von Energie, Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Gaza, die Zerstörung humanitärer und lebensnotwendiger Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen nimmt bewusst die Zivilbevölkerung ins Visier und verantwortet deren totale Ausrottung. Der Krieg gegen Gaza ist ein Genozid. Die Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit Israel, die Enthistorisierung eines langen schwelenden Konfliktes wird durch das undemokratische Konstrukt von „Staatsraison“ und „bedingungsloser Solidarität“ zur Teilhabe an Kriegsverbrechen.

Deutschland macht sich in doppelter Weise mitschuldig am Verbrechen des Völkermordes: durch den geschichtlichen Holocaust an den Jüdinnen und Juden, sowie beim gegenwärtigen Genozid an den Palästinenserinnen und Palästinensern und deren Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat.«

Und weil sich Deutschland in doppelter Weise mitschuldig am Völkermord in Gaza macht, stellte Jürgen Todenhöfer kürzlich Strafanzeige gegen die Bundesregierung:

„Ich habe heute Strafanzeige gegen Mitglieder der Bundesregierung wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen nach §8 und §11 Völkerstrafgesetzbuch erstattet. Die Regierung Netanyahu begeht in Gaza schwerste Kriegsverbrechen. Die Ampel leistet hierzu politisch und militärisch Beihilfe. Unter anderem durch eine Verzehnfachung ihrer Rüstungsexporte an Israel seit Kriegsbeginn. Diese Beihilfe zu Kriegsverbrechen ist strafbar. An der Strafanzeige beteiligt sich ein aus Gaza stammender Deutscher, der bei einem der Angriffe Israels auf Gaza einen Großteil seiner Familie verloren hat. Vertreten werden wir bei unserer Strafanzeige durch die Berliner Strafrechtskanzlei Buse, Herz und Grunst. Als langjähriger Bundestagsabgeordneter, als ehemaliger, kurzzeitiger Strafrichter in einem Terrorismus-Prozess und als deutscher Staatsbürger erwarte ich eine Grundsatz-Entscheidung der deutschen Gerichte zu dieser zentralen juristischen und moralischen Frage der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Das Grundgesetz verlangt von allen Deutschen, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Und nicht den Kriegen westlicher oder pro-westlicher Staaten, die erkennbar mit Selbstverteidigung nichts zu tun haben. Der Generalbundesanwalt steht vor einer schwierigen juristischen und auch politischen Aufgabe. Er darf dem zu erwartenden Druck der Bundesregierung nicht nachgeben. Auch er hat „dem Frieden der Welt zu dienen.“ Zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht ist er unsere wichtigste Hoffnung bei der Verteidigung unseres ausdrücklich friedliebenden Grundgesetzes und unserer rechtsstaatlichen Demokratie. Die einschlägigen Bestimmungen des Völkerstrafgesetzbuchs haben folgenden Wortlaut. Ihre Klarheit lässt keine Zweifel an der Rechtswidrigkeit der israelischen Kriegsführung aufkommen: „§ 11: Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung (1) Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt 1. mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen richtet, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen, 2. mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen zivile Objekte richtet, solange sie durch das humanitäre Völkerrecht als solche geschützt sind, namentlich Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude oder entmilitarisierte Zonen sowie Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, 3. mit militärischen Mitteln einen Angriff durchführt und dabei als sicher erwartet, dass der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht, [Grundsatz der Verhältnismäßigkeit]… wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.“ Soweit der Wortlaut des Völkerstrafgesetzbuches. Klarer kann man nicht formulieren. Und klarer als die Regierung Israels und Deutschlands kann man nicht gegen das Völkerstrafgesetzbuch verstoßen.“ Quelle: Jürgen Todenhöfer auf X

Was unbedingt zu bedenken ist, wenn wer auch immer sich zum Nahostkonflikt äußert, lesen wir in der Einleitung der Autoren zu ihrer Broschüre

«Es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit sich Medien und Exponenten, welche sich gerne als Experten sehen, in ein unsägliches moralisch-emotionales Bad begaben, nur um in Kürze von Fakten überholt zu werden, welche dieselben Exponenten dann zu einer Kehrtwende zwingen. Teilweise ist dies bereits geschehen.

Wir nahmen uns die Zeit, umfassend zu recherchieren und nachzudenken, bevor wir zur Feder griffen; ein Privileg, das News-Medien nicht haben.

Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, Partei zu ergreifen und Exponenten zu verurteilen, sondern Fakten zu ordnen, zu analysieren und so eine Basis für eine Diskussion zu erarbeiten, welche einen Ausweg aufzeigen könnte, auch wenn er nicht – wie so oft – beschritten wird.

Analysen, welche die historischen Fakten, die zur gegenwärtigen Situation führten, ausser Acht lassen, greifen zu kurz.

Die Uniformität der in den westlichen Medien und auf den Bühnen der westlichen Politik vertretenen Standpunkte findet ihren Ursprung nicht nur in politischem Kalkül oder verkrusteten Wertvorstelllungen, sie sind vielmehr ein klarer Hinweis auf das fehlende Verständnis für die Komplexität der Materie.

Dessen sind wir uns bewusst und daher haben sich René Zittlau und ich dafür entschieden, den in dieser Broschüre veröffentlichten Text als gemeinsame Artikel gemeinsam zu schreiben – zu viele Fakten mussten untersucht werden, um innert nützlicher Frist unseren Lesern einen Überblick zu verschaffen. Die einzelnen Teile eröffnen wir regelmässig mit der geschichtlichen Aufarbeitung. Und so beginnen unsere Betrachtungen mit dem Ersten Weltkrieg, da bis 1917 zwischen den Arabern und Juden Frieden herrschte. Es wird keinen unserer Leser verwundern, dass es des Auftauchens des damaligen Imperiums bedurfte, um Zwietracht zwischen Völkern zu säen.«

Welche Absichten hatte der israelische Staat bereits von Anfang an?

Im Kapitel „Grossisrael – keine Verschwörungstheorie“ (S.32)“ lesen wir: «Grossisrael reicht vom Euphrat bis zum Mittelmeer und umfasst aus heutiger Sicht folgende Staaten: Israel inklusive sämtliche Palästinensergebiete, der südliche Teil Libanons, Syrien, Jordanien und Teile Ägyptens, inklusive Alexandria und Port Said.

Laut Wikipedia ist der Wunsch und die Absicht Israels, Grossisrael zu schaffen, eine Forderung von wenigen Extremisten und wird als Verschwörungstheorie abgetan.

«Die Eretz-Israel-HaSchlema-Ideologie hat zu verschiedenen Verschwörungstheorien geführt, die besagen, ein Streben nach einem Grossisrael vom Euphrat bis zum Nil sei das Ziel des Zionismus und israelische Staatsdoktrin.« (Quelle: Wikipedia)

Aussagen des Staatsgründers David Ben Gurion

Interessant sind die Aussagen des Staatsgründers Ben Gurion. Etwa diese in deutscher Übersetzung (Originalquelle: Quelle: David Ben-Gurion, 21. Mai 1948, an den Generalstab. Aus Ben-

Gurion, A Biography, von Michael Ben-Zohar, Delacorte, New York 1978, S. 130.)

«Verschwörungstheorien werden nicht von Staatsoberhäuptern verkündet.»

«Die Archillesferse der arabischen Koalition ist der Libanon. Die muslimische Vorherrschaft in diesem Land ist künstlich und kann leicht gestürzt werden. Ein christlicher Staat sollte dort errichtet werden, mit seiner südlichen Grenze am Fluss Litani. Wir würden einen Bündnisvertrag mit diesem Staat unterzeichnen. Dann, wenn wir die Stärke der Arabischen Liga gebrochen und Amman bombardiert haben, könnten wir Transjordanien auslöschen; danach würde Syrien fallen. Und wenn Ägypten es immer noch wagen sollte, gegen uns Krieg zu führen, würden wir Port Said, Alexandria und Kairo bombardieren. Damit würden wir den Krieg beenden und die Rechnung mit Ägypten, Assyrien und Chaldäa im Namen unserer Vorfahren begleichen.»

Auch dieses Zitat ist über die Maßen unmissverständlich in seiner Aussage.

Die Autoren der Broschüre schreiben (S.34): „Ein weiterer interessanter Hinweis auf die wahren Absichten Israels findet sich in einem Tagebucheintrag Ben Gurions vom 18. Juli 1948 wie folgt:

«Wir müssen alles tun, um sicher zu gehen, dass sie [die Palästinenser] niemals zurückkommen. … Die Alten werden sterben, die Jungen werden vergessen»

QUELLE: DAVID BEN-GURION, IN SEINEM TAGEBUCH, 18 JULI 1948, ZITIERT IN

NAKBA – DIE OFFENE WUNDE. DIE VERTREIBUNG DER PALÄSTINENSER 1948

UND IHR FOLGEN. VON MARLÈNE SCHNIEPER, ISBN 978-3-85869-444-7

„Die als Verschwörungstheorie abgetane Aussage, es sei die Absicht Israels, ein Grossisrael zu schaffen, ist somit widerlegt. Verschwörungstheorien werden nicht von Staatsoberhäuptern verkündet.“

Es folgt im weiteren Verlauf der Broschüre ein wichtiger, unverzichtbarer geschichtlicher Abriss von Ereignissen und Taten, der gekannt werden muss, will man sich zum heutigen Konflikt äußern.

Zunächst gilt es zu wissen: „Palästina, das die heutigen Staaten Israel und Jordanien sowie den Gaza-Streifen und das Westjordanland umfasste, kam durch den Zerfall des Osmanischen Reiches 1920 unter britische Verwaltung, so wie im Geheimabkommen Sykes-Picot von 1916 geplant.

Ab 1917 kam es in der Zeit des britischen Mandats zu einer starken jüdischen Zuwanderung nach Palästina, die durch die Judenverfolgung ab 1933 beschleunigt wurde.

Das Siedlungsverhalten der Juden war nicht selten von Rücksichtslosigkeit und Gewalt gegenüber der palästinensischen Bevölkerung gekennzeichnet, was von der britischen Verwaltung geduldet wurde.

Auf Grund dessen und der schieren Masse an jüdischen Zuwanderern kam es wiederholt zu bewaffneten Unruhen und Aufständen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde durch die UNO eine Zweistaatenlösung herbeigeführt, da die entstandenen Probleme anders nicht mehr beherrschbar erschienen. Im Ergebnis erhielt die jüdische Minderheit 56,47% des Mandatsgebiets (ohne Transjordanien) zugesprochen.

Dieses Gebiet entsprach im Wesentlichen den Territorien, die sich die jüdischen Siedler im Laufe der Zuwanderung angeeignet hatten. Bis zur Teilung gab es dort jedoch keine jüdische Bevölkerungsmehrheit.

David Ben Gurion scherte sich jedoch nicht um UNO-Resolution 181 und nahm das Ende des britischen Mandats am 14. Mai 1948 zum Anlass, am darauffolgenden Tag Israel als Staat auszurufen. Dies im Widerspruch zur von der UNO auferlegten Zweistaatenlösung. Der Staat Israel betrat die Weltbühne und gleichzeitig hörte das historische Palästina auf zu existieren.“ (S.20)

Die Autoren schätzen ein:

„Die Gründung des Staates Israel widersprach dem Ansinnen der Weltbevölkerung, welche sich in der UNO Resolution 181 widerspiegelte und unmissverständlich eine Zweistaatenlösung forderte.

Damit legte der neue Staat den Grundstein für das heute seit bald 80 Jahren dauernde Chaos mit der palästinensischen Bevölkerung, die mit allem Recht für einen eigenen Staat kämpft.

Die Suez-Krise zeigte, dass sich Israel zuerst von Grossbritannien – später von den USA – durchaus einspannen lässt, falls es einen geopolitischen Vorteil für sich erkennt.“ (S.30)

Liest man diese interessante Broschüre, wird von Seite zu Seite immer deutlicher, was der israelische Historiker Moshe Zuckermann einmal in einem Gespräch auf dem You Tube-Kanal International ausführte: «Zuckermann bezeichnet die Besatzung der den Palästinensern zustehenden Gebiete durch Israel als die eigentliche Ursache für den Konflikt. Er kritisiert, dass diese Frage sowohl in Israel aber auch in der internationalen Debatte weitgehend tabuisiert ist: „Israel wollte nie Frieden, die israelischen Eliten bevorzugten seit vielen Jahrzehnten eine Politik der Besatzung und der Apartheid.“«

Die Aufzeichnungen der Autoren „beruhen ausschliesslich auf Fakten, nicht auf Thesen und Theorien“

Die Autoren der vorliegenden Broschüre bekräftigen: «Unsere Aufzeichnungen beruhen ausschliesslich auf Fakten, nicht auf

Thesen und Theorien. Wir analysierten die Ereignisse, lasen und

hörten, was die Mächtigen Israels tatsächlich sagten oder ihrem Tagebuch anvertrauten. Diese Quellen erachten wir als zuverlässig. Es gibt keine faktenbasierten Argumente, welche das Ziel Israels widerlegen, ein Grossisrael zu schaffen und sich dabei der indigenen Bevölkerung dieses Landes zu entledigen und Nachbarn zu berauben. Dies tat und tut Israel ohne jede Rechtsgrundlage. Religiöse Schriften sind keine Rechtsgrundlage und auch keine Basis für seriöse geopolitische Analysen. Darüber hinaus zeigt die Geschichte: Religiös fundiertes politisches Handeln führt zwangsläufig zu Unrecht.« (…) „Ein Krieg folgt dem Drehbuch Ben Gurions.“

Ein menschenwürdiges Leben für die nichtjüdische Bevölkerung ist in den besetzten Gebieten nicht möglich

Mit der nichtjüdischen Bevölkerung geht Israel nicht selten schlimmer als nach Gutsherrenart um: „Israel sperrt den Zugang zu den besetzten Gebieten nach Belieben, von Freizügigkeit kann keine Rede sein. Israel bestimmt, was dort erlaubt ist oder nicht, egal ob es sich um medizinische Versorgung, um Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, oder um Wasserrechte handelt. Ein menschenwürdiges Leben für die nichtjüdische Bevölkerung ist in den besetzten Gebieten nicht möglich. Die UNO beschreibt laut einem

Bericht der FAZ bereits am 12. Juli 2017 den Gazastreifen als unbewohnbar.“

„In israelischen Gefängnissen sitzen Tausende nichtjüdische Einwohner der besetzten Gebiete, darunter viele Kinder. Ohne Anklage, ohne Gerichtsurteil“, erfahren wir aus der Broschüre.

Es genügt die sogenannte Administrativhaft über sie zu verhängen: „Das israelische Militär kann Administrativhaftbefehle von bis zu sechs Monaten ausstellen, um Palästinenser*innen in Gewahrsam zu nehmen, wenn es «vernünftige Gründe» dafür gäbe, dass eine Person eine Gefahr für die «Sicherheit des Gebiets» oder die «öffentliche Sicherheit» darstelle.“ (Quelle:Amnesty International )

Bezüglich der Alleinverantwortlichkeit Israels“ (S.66) informieren die beiden Autoren: „Ein Staat, der über staatsfremdes Gebiet die absolute Kontrolle ausübt, ist infolge dieser Macht für alles verantwortlich, was in diesen staatsfremden und besetzten Gebieten geschieht. Der Besatzer kann sich nicht freisprechen von irgendeiner Gewalt, die er gegen andere ausübt oder die gegen ihn ausgeübt wird. Es spielt dabei auch keine Rolle, welcher Nation oder Religion die unterdrückte Bevölkerung angehört. Denn der Besatzer herrscht per se illegal auf fremdem Gebiet. Somit sind sämtliche seiner erlassenen Regeln ebenfalls illegal, da ohne Rechtsgrund.

Es ist weltweit ein natürliches Recht der Besetzten, sich als Unterdrückte gegen fremde Gewalt auf eigenem Grund und Boden zu wehren.

Eine Besatzungsmacht hingegen hat kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Besetzten, wie das Israel aktuell massiv für sich in Anspruch nimmt und vom politischen Westen und den Mainstreammedien unhinterfragt und uneingeschränkt unterstützt wird und zwar mit höchst unappetitlichen Mitteln, wie wir in «ARD – Glossar rechtfertigt Genozid – Dr. Goebbels wäre stolz»* ausgeführt haben.“ *Verweis in Broschüre auf einen Beitrag auf Voice from Russia.

Wobei hier – um Missverständnisse auszuschließen – allerdings angemerkt sei, dass die Autoren an keiner Stelle und in keinem Fall den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 rechtfertigen.

Wenn die Broschüre ab dem Kapitel Der 7. Oktober 2023 – ein Land versinkt in den Abgründen seiner Geschichte

Israel – ein Land politisch gefangen zwischen dem Gründungsmythos seiner Unabhängigkeitserklärung, der zionistischen Agenda und Realitäten, die nicht auszuräumen sind“ (ab S.66) auf deren Ende zuläuft, ist beim Leser noch einmal höchste Konzentration erforderlich.

Ich pflichte den beiden Autoren unbedingt bei: „Ohne Kenntnis der Geschichte sind die Ereignisse um Gaza und das Westjordanland nicht zu verstehen.“ Sie beleuchten und erörtern die Ursachen des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Sie machen noch einmal unmissverständlich deutlich: „Nur Fakten können unseres Erachtens die Grundlage dafür sein, der Wahrheit näher zu kommen.“

Was die Berichterstattung der Medien angeht, sind sie zu folgender Ansicht und Meinung gekommen, die aufmerksame Zeitgenossen durchaus teilen werden:

„Die öffentlich-rechtlichen Medien und die grossen privaten Medienunternehmen im Westen sind einer Meinungsoligarchie verpflichtet. Eine neutrale Berichterstattung zum Thema Israel wird dadurch unmöglich. Auf diese Problematik verwiesen wir im Artikel „ARD–Glossar rechtfertigt Genozid – Dr. Goebbels wäre stolz“, der anhand eines ARD-internen Glossars speziell zur Nahost-Berichterstattung die Mechanismen offenlegt, mit Hilfe derer eine ausgewogene Information – wie laut Rundfunkstaatsvertrag verpflichtend vorgegeben – gezielt verunmöglicht wird.

Das interne Glossar enthält eine Liste von Experten, die von den Exponenten der betroffenen Fernsehstationen heranzuziehen sind – das sind keine Vorschläge. Die Adressaten des Glossars sind verpflichtet ausschliesslich diese Experten heranzuziehen.“

Nebenbei bemerkt haben sich auch die NachDenkSeiten mit dem Glossar beschäftigt: Hier.

Zum Ablauf des 7. Oktober 2023

Besondere Aufmerksamkeit ist in der Broschüre dem Ablauf des 7. Oktober 2023 gewidmet. Zum Einen wird die israelisch-westliche Darstellung in den Fokus genommen. (S.70):

«Bevor der Sachverhalt von unabhängigen Quellen erörtert werden konnte, gaben die Israelis der Welt vor, was sich abspielte und wie diese „Fakten“ zu bewerten seien. Dem folgten die westlichen Medien in pflichtwidriger Vernachlässigung ihrer Sorgfaltspflicht und die westlichen Regierungen in Verfolgung ihrer politischen Agenden.

Bis heute hat sich folgende Geschichte im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit eingebrannt:

Am 7. Oktober 2023 überfielen ein paar tausend Hamas-Terroristen das friedliche Israel, ermordeten Zivilisten, vergewaltigten Frauen und köpften zahllose Babys, zerstörten brandschatzend israelische Siedlungen und nahmen Geiseln – und dies an einem hohen jüdischen Feiertag, dem Simchat Tora.

Diese Darstellung hält einer faktenbasierten Prüfung nicht stand. «

In ihrer Analyse verwendeten die Autoren „soweit möglich israelische und amerikanische Quellen.«

Unabhängige amerikanische Medien und die israelische Zeitung Haaretz hätten jedoch ein anderes Bild gezeichnet. Als einer der ersten habe der amerikanische Journalist Max Blumenthal auf seinem Blog „The Grayzone“ über die Abläufe und Aktionen berichtet.

Westliche Horrorgeschichten seien letztlich widerlegt worden.

Unfassbarer Höhepunkt dessen sei „die Mär von den 40 enthaupteten israelischen Babys“ gewesen. Wir lesen: „Selbst Präsident Biden hielt es für nötig zu behaupten, Fotodokumente dazu gesehen zu haben. Eine Geschichte, die inzwischen unter dem Faktendruck des tatsächlichen Geschehens stillschweigend kassiert wurde. Fehlen durften auch nicht die inzwischen zum westlichen journalistischen Standard-Repertoire gehörenden „Informationen“ über Massenvergewaltigungen.“

Dieser Nahostkonflikt könnte sich im schlimmsten Falle zu einer Katastrophe entwickeln, die die ganz Region erfasst. Israels Reputation in der Welt hat aufgrund dieses in Gaza verübten Massenmords schon jetzt beträchtlich gelitten. Man kann durchaus einschätzen, dass sich Israel längst mehr schadet, als seine es Feinde tun. Leider erkennt Israel diese Gefahr offenbar selbst nicht.

Es wäre an der Zeit, dass die Weltgemeinschaft dem Leid ein Ende setzt. Dafür trägt die EU eine besondere Verantwortung. Wie Deutschland sich verhält ist eine Schande. Berlin muss seine Stimme erheben und Israel in den Arm fallen, wenn es sich nicht ein weiteres Mal schuldig machen will. Erst recht, wenn es ein Freund Israels sein will. Deutschland muss sich unmissverständlich für die Rechte der Palästinenser einsetzen.

Die Menschen in Palästina und Israel, vor allem Kinder und Neugeborenen haben ein besseres Leben verdient. Leben in Frieden und Gerechtigkeit muss möglich
sein.

Ich finde diese Broschüre ist für all die Menschen, die sich ernsthaft für die behandelte Thematik interessieren, unverzichtbar. Meine Hoffnung: Wer die mit großer Sorgfalt aufgrund von tief gehenden Recherchen verfassten Texte gelesen und verstanden hat, wird sich künftig nicht mehr in unbedachter Weise über diesen Konflikt äußern. Die Broschüre ist auch insofern höchst empfehlenswert, weil sie auf 80 Seiten über alle wichtigen Geschehnisse innerhalb eines geschichtlichen Zeitraums von 100 Jahren informiert. Noch dazu ist zu einem Preis zu erwerben, der für viele Menschen erschwinglich sein dürfte.

Der Philosoph Slavoj Žižek hat auf Freitag.de einen eindringlichen Videokommentar veröffentlicht.

In Gaza zeige sich gerade die zerstörerische Kraft des Fortschritts, und die Kehrseite der europäischen Aufklärung. Der slowenische Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker Slavoj Žižek kommt zum Schluss: Europa muss stärkeren Druck auf Israel ausüben sich auf humanitäre Werte zurückzubesinnen. Im Interesse der Palästinenser, Europas und zuletzt der Sicherheit jüdischen Lebens selbst. Er sagt: „Ich bin ein Pessimist. Ich denke Europa ist zu Ende.“ Seine Hoffnung sei ein Wunder.

Zu den Autoren

Peter Hänseler

betreibt den dreisprachigen (deutsch, englisch, russisch) geopolitischen und geo-ökonomischen Blog voicefromRussia.com.

Er ist Schweizer und lebt in Moskau. Er studierte Jura in Zürich (lic. Iur. 1989), (Dr. iur. 1991) und Washington, D.C. (LL.M., Georgetown University 1994) und arbeitete als Rechtsanwalt (Patent 1993) in Zürich

(Bär & Karrer 1994-1997) und New York (Townley & Updike 1994) bevor er in die Geschäftsleitung der Marc Rich Gruppe eintrat, wo er unter anderem für Russland verantwortlich war (1997-2001). Danach leitete er Immobilienfonds in Russland (PHI Group 2001-2012).

Schon seit Jahren beschäftigt sich Peter Hänseler mit Geopolitik und Geoökonomie und publizierte ab 2008 vor allem in der Weltwoche. 2022 gründete er VoicefromRussia.com. Peter Hänseler publiziert weiter in der Weltwoche, auf ZeroHedge.com, im BloomDoom&Gloom Report des

Schweizer Investment-Guru Dr. Marc Faber und in weiteren geopolitischen Blogs. Er hat sich aus allen geschäftlichen Aktivitäten zurückgezogen, um sich auf seine Arbeit als Publizist zu konzentrieren.

René-Burkhard Zittlau

lebt in Deutschland. Er studierte in den 1980-er Jahren Sprachen

(Russisch und Tschechisch) an der Universität Leipzig mit dem

Abschluss Diplom-Sprachmittler.

Anfang der 1990-er Jahre wechselte er vom Staatsdienst in die private Wirtschaft. Für deutsche mittelständische Unternehmen sehr verschiedener Branchen baute er Tochterunternehmungen in Mittel- und Osteuropa auf und leitete sie teilweise.

Mit Geschichte und Geopolitik beschäftigt er sich bereits seit seinen Studienzeiten. Schreibt u.a. in GlobalBridge und infosperber und vor allem in voicefromRussia.com.

Was ist die Stimme aus Russland?

In diesem dreisprachigen Blog berichtet Peter Hänseler, ein Schweizer der in Moskau lebt, über geopolitische und geoökonomische Themen. Peter Hänseler unterscheidet sich von Mainstream-Journalisten dadurch, dass er Themen aus westlicher und östlicher Sicht betrachtet und bewertet – und somit auch über Themen schreibt, über welche im Westen schwerpunktmässig nicht berichtet wird. Da er in diesem Blog Journalist, Redaktor undHerausgeber in einer Person ist, sieht er sich zudem keinem Einfluss einer Redaktion oder eines Verlags ausgesetzt.

Peter Hänseler ist politisch und journalistisch unabhängig, geht in Russland keiner kommerziellen Tätigkeit nach und bezieht keinerlei Mittel vom Staat oder anderen Organisationen. Der Blog ist für die Leser kostenlos. Spenden sind willkommen.

Seit drei Jahren wohnt er aus privaten und kulturellen Gründen wieder in Moskau. Zuvor lebte er in der Schweiz, den USA, Spanien und Thailand.

Was möchte ich mit diesem Blog?

Die derzeitige Gesprächskultur lässt Gegenmeinungen immer weniger zu – seien sie noch so rational und begründet. Dies betrifft nicht nur politische,

sondern immer mehr auch wirtschaftliche Themen.

Die veröffentlichte Meinung gilt heute oftmals als einzige Wahrheit. Andere Meinungen werden zunehmend angefeindet oder ausgeschlossen. Diese Entwicklung hemmt meines Erachtens die freie Meinungsäusserung und den Diskurs in Gesellschaft, Medien und Politik. Darunter leidet die im Westen von Politik und Medien zu Recht hochgehaltene individuelle Freiheit und eine liberale Weiterentwicklung der Gesellschaft. Derzeit verbannen selbst die privaten weltumspannenden sozialen Medien durch Einsetzung von Zensoren mit woken Begründungen und ohne gesetzliche Grundlage User und Quellen; als ob das Publikum nicht fähig wäre, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Anbei empfohlen:

Homepage: https://voicefromrussia.ch/

Via International/YouTube

Zur Broschüre

INHALT: Die Nahost-Problematik versteht man nur, wenn man

die Geschichte und die gegenwärtige geopolitische Lage kennt –

Emotionen helfen nicht / In Feuer geboren – von der Ausrufung

des Staates Israel bis zur Suez-Krise. Die Basis zum Verständnis

der heutigen Situation / Die westliche Beurteilung der

Politik Israels sind Ansichten, welche mit der Realität nichts gemein haben – wir präsentieren die Fakten / Von Camp David bis

Libanon 1982 – Apartheid und Kolonialismus in Israel / Wie der

Vertrag von Oslo zu Hamas und Hisbollah führen musste / Der

7. Oktober 2023 – ein Land versinkt in den Abgründen seiner

Geschichte

Israel – Vom Opfer zum Täter

zum Opfer – ein Hin und Her

seit 80 Jahren

Peter Hänseler / René Zittlau

80 Seiten, mit zahlreichen farbigen Karten,
8.-€*

* Staffelpreis bei Direktbestellung ab 5 Expl.: 7 .– €/St.

pad-verlag – Am Schlehdorn 6 – 59192 Bergkamen – E-Mail: pad-verlag@gmx.net

Schriftenreihe des Forum Gesellschaft & Politik e.V.

Redaktion: Peter Rath-Sangkhakorn

unsere Seite im Netz: http://www.pad-verlag.de

E-Mail: pad-verlag@gmx.net

Die in dieser Broschüre zusammengefassten Beiträge wurden in

einer Israel-Reihe über mehrere Monate auf

https://voicefromrussia.ch

erstveröffentlicht. In den einzelnen Artikeln wurden alle externen

Dokumente, auf die in der Broschüre verwiesen wird, verlinkt.

Es lohnt schon aus diesem Grund ein Besuch. Ebenso finden die

Leser dort alle Artikel, die in der Broschüre an verschiedenen

Stellen als eigene Quellen benannt werden.

Hinweis: Wenn Sie, lieber Leserinnen und Leser, in Wörtern in der von den Autoren der von mir zitierten Sätzen statt eines „ß“ die Schreibweise „ss“ finden, so ist das Schreibweise in der Schweiz geschuldet.

Anbei empfohlen:

Thomas Stimmel spricht mit Iris Hefets.
Thomas Stimmel spricht mit Abed Hassan.

Update am 13.4.2024: İnteressantes neues Video von Dr. Michael Lüders:

Dr. Michael Lüders

… und GAZA und … – Politische Gedichte von Rajani Kanth. Rezension

Bisher sind durch die israelischen Angriffe auf Gaza nach dem Hamas-Überfall auf Israel rund 22.000 Tote zu beklagen. Darunter eine hohe Anzahl von Frauen und Kindern. Die Rede ist von nahezu 8000 Kindern! Viele tote dürften noch unter den Trümmern liegen. Es sind also sehr viele Zivilisten ums Leben gekommen. Ein großes Verbrechen.

Warum ist der Aufschrei über das widerliche Gemetzel nicht viel größer – besonders bei uns hierzulande? Südafrika hat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt und des Völkermords beschuldigt. Die Anhörungen dazu wurden nun für den 11. und 12. Januar angesetzt.

Für unser Land kann man sich nur schämen. Deutschland macht sich in doppelter Weise mitschuldig am Verbrechen des Völkermordes: durch den geschichtlichen Holocaust seitens Hitlerdeutschlands an den Jüdinnen und Juden, sowie beim gegenwärtigen Genozid an den Palästinenserinnen und Palästinensern und der Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat.

Die Menschen in Palästina sind im übertragenen Sinn Opfer der jüdischen Opfer des verbrecherischen NS-Regimes. Das Versprechen einer Zwei-Staaten-Lösung wird von Israel sabotiert. Sie ist – wie Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv, immer wieder anmerkt – inzwischen tot. Zumal ja in den vergangenen Jahren immer mehr israelische Siedler auf dem möglichen palästinensischen Staatsgebiet seßhaft gemacht worden sind. Zuckermann ist sich überdies darin sicher, dass Israel nie einen Frieden mit den Palästinensern gewollt hat. Der Krieg in Gaza ist nicht ein Krieg zwei Staaten, sondern zwischen Besatzern und Besetzten. Die Blockade jeglicher Zufuhr von Energie, Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Gaza, die Zerstörung humanitärer und und lebensnotwendiger Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen sowie Moscheen und Kirchen nimmt bewusst die Zivilbevölkerung ins Visier und verantwortet deren totale Ausrottung. Der Krieg gegen Gaza ist Völkermord. Die Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit Israel, die Enthistorisierung eines langen schwelenden Konfliktes wird durch das undemokratische Konstrukt von ,,Staatsraison“ und ,,bedingungsloser Solidarität“ zur Teilhabe an Kriegsverbrechen.

Der kleine pad-Verlag aus Bergkamen (hier auf meinem Blog finden Sie übrigens eine Reihe von Rezensionen, welche sich mit dort erschienen interessanten Broschüren beschäftigen) hat zeitnah auf den unmenschlichen Gaza-Krieg Israels gegen die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen reagiert. Er veröffentlicht eine Reihe von politischen Gedichten von des Inders Rajani Kanth. Der Titel: „ … GAZA und … “

Gewidmet ist die Veröffentlichung dem palästinensischen Lyriker Ri`at al-Ar`ir, welcher in Gaza durch einen gezielten Angriff der israelischen Armee am 6. Dezember 2023 zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und deren drei Kindern ermordet worden ist.

Im Vorwort zur Broschüre macht Rudolph Bauer darauf aufmerksam, dass ihr Titel an Erich Fried (1921-1988) an dessen Lyrikband und VIETNAM und. Frieds Einundvierzig Gedichte – so der Untertitel seines Buches – sind während des Zweiten Indochina- / Vietnamkriegs (1955-1975) erschienen.

Bauer: „Nach seiner Erstveröffentlichung im September 1966 wurde der Gedichtband von überregionalen Presse totgeschwiegen – insofern auch damals schon im Mainstream. Die Vietnam-Gedichte wurden weder von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) rezensiert, noch von der Zeit oder der Frankfurter Rundschau, weder von der Welt noch von der Süddeutschen Zeitung.“ (S.5)

„In der jetzigen, bedrohlich fortschreitenden Situation der Hochrüstung, Militarisierung, Mobilmachung und Kriegshetze bedeuten die Gedichte von Rajani Kanthmit vollem Namen: Rajani Kannepalli Kanth – ein verzweifeltes Innehalten, eine dramatische Anklage, ein Aufleuchten schriftstellerischer Verantwortung, Bruderworte der antimilitaristischen Solidarität. Sie sind ein nicht zu überhörender Ruf nach Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden.“

(Aus der Einleitung von Rudolph Bauer)

Seinem Gedicht unteilbare schande (S.33) hat Rajani Kanth Worte von Mahatma Gandhi vorangestellt:

Der Westen – in unteilbarer Schande

Was ist das für ein Sieg, wenn der Sieger besiegt bleibt? Macht es für die Toten, die Waisen und die, deren Häuser zerstört wurden, einen Unterschied, ob das wütende Vernichten im Namen des Totalitarismus begründet wurde oder im Namen von Freiheit und Demokratie? Was ist ein Kriegsverbrecher? Ist nicht der Krieg selbst ein Verbrechen gegen Gott und die Menschheit? Sind daher nicht all diejenigen Verbrecher, die Kriege gutheißen, anzetteln und durchführen? Die Schwachen können es nicht vergessen. Vergebung ist das Attribut der Starken. Die Nicht-Kooperation mit dem Bösen ist eine heilige Pflicht.

(Mahatma Gandhi)


unteilbare schande


es gibt keine andere art es festzustellen


der holocaust in Gaza ist ihr letzter strohhalm


nicht-europäer abzuschlachten wie tiere war über vierhundertjahre lang ihr leitmotiv


was bei Gaza den unterschied macht das ist weil alle es sehen unwiderlegbar mit eigenen augen auf breiten bildschirmen ein für alle mal


sicher | sie haben allen ausländischen journalisten den zugang verboten (und wie gewöhnlich das recht der „freien rede“ zelebriert) aber die tapferen palästinenser berichteten ununterbrochen auch wenn sie beschossen und erschossen werden


schulen krankenhäuser bäckereien kirchen moscheen: das neo-faschistische gemetzel ist unaufhörlich und findet kein ende

? haben sie historisch nicht genug blut an ihren händen und warum wünschen sie sich noch mehr reißende sturzbäche davon […] (S.33) (Ausschnitt)

Ein Nachwort von Wolfram Elsner

Das Nachwort zur Broschüre hat Wolfram Elsner geschrieben
Er hatte Rajani Kanth im Jahr 1987 an der University of Utah (UofU) in Salt Lake City (SLC) kennengelernt und in Abständen immer wieder getroffen. „Kanth stammt aus wohlhabender Familie – und Marxist. Mit seiner Herkunftsfamilie hatte er gebrochen.
Er war lebendig, interessiert, diskussionsfreudig, stellte Fragen … und eine mehr als 35-jährige Kollegialität und Freundschaft begann bei diesem Lunch. Wir trafen uns öfter, hatten uns was zu sagen, ich der theoretisch ,,evolutionäre und Institutionen-Ökonom“, er der Marxist „plus“.“
Zwei Jahre später kam er zur Lehre nach Bielefeld. Wäre ich bewusster vorgegangen, hätte ich ihn für ein Sommersemester eingeladen. Aber es wurde ein Wintersemester. Er kam also in einen norddeutschen November. Über norddeutschen Spätherbst und Winter wusste er offenbar nichts.“ […]

Ich schließe mich den Worten Wolfram Elsners betreffs der Beurteilung der Gedichte an und mache sie sozusagen mit Verlaub auch zu meinen: «Spaß beim Lesen kann man nicht wünschen. Es wird sich sicher nicht einstellen, aber Aha-Effekte en masse. Kanth schöpft aus einem großen lebenslangen interkulturellen Wissens-, Erkenntnis- und Erfahrungsfundus und wendet seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden an, in künstlerischer Form. Das ist eine spektakuläre Ergänzung und Erweiterung zum vorhandenen „Konzert“ der aktuellen Nachrichten und Kommentierungen.

Danke, Raj“ Danke, Rudolph! Gut zu wissen, dass es Wissenschaftler und Menschen wie euch gibt. Denkende und mitfühlende Menschen werden Euch las LeserInnen finden.«

Noch ein Hinweis

Und, verehrte Leserinnen und Leser, bitte verabsäumen Sie nicht dem Kapitel „Zeitleiste größerer Kriege der USA Jahr für Jahr (von 1776 – 2011)“ (S.63) intensive Aufmerksamkeit zu widmen. Erschreckend! Diese Daten werden ja von den meisten unserer Politiker und ihnen zum Munde schreibenden und sendenden Mainstream-Medien gern unterschlagen. Sie finden diese der original-Daten-Quelle auch hier.

Und: Bitte empfehlen Sie diese wichtige Broschüre gern weiter.

Der Autor

Rakamı Kanth


Rajani Kannepalli Kanth ist Professor, Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. Er ist in Indien geboren und besitzt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er lehrt auf den Gebieten der Anthropologie, der Soziologie und Politikwissenschaft, der Geschichte, der Wirtschaft und der Philosophie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ökonomie, Sozialtheorie und Politik sowie Frauenfragen. Neben seiner weltweiten universitären Lehr- und Forschungstätigkeit war er in New York als Berater für die Vereinten Nationen tätig. Im Jahr 2007 gründete er in Salt Lake City, Utah, den Weltfriedenskongress; siehe https://en.wikipedia.org/wiki/World_Peace_Congress.


Leben und Bildung


Rajani K. Kanth wuchs in Madras, Indien, auf und hat an verschiedenen Institutionen in Indien und im Ausland studiert, darunter am St.George’s College, am Loyola College, an der Delhi School of Economics, der Columbia University und der New School for Social Research. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften/Statistik/Politik erworben, sowie je einen Master-Abschluss in Soziologie und Ökonomie. Promoviert hat er 1980 auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften mit ciner Arbeit über,,Politische Ökonomie und Laissez-faire“, die 1986 publiziert wurde.


Akademischer Werdegang


Kanth begann seine akademische Laufbahn als Dozent fir politische Soziologie an der neu eröffneten indischen Jawaharlal Nehru Üniversity in Neu Dehli. 1974 besuchte er die Columbia University, von der er 1975 an die New School for Social Research in New York wechselte.1979 lehrte er an der UN International School in New York, an der St.Jho Oniversity sowie als Teaching Fellow an der New School for Social Research. Im selben Jahr erwarb er seinen zweiten Master in Wirtschaftswissenschaften, während er gleichzeitig als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Columbia University tätig war und 1980 in Wirtschaftswissenschaften promovierte. Seine Doktorarbeit wurde 1986 als Buch mit dem Titel,,Politische Ökonomie und Laissez-faire““ veröffentlicht.


Nach einer Zeit als Wirtschaftsberater der Vereinten Nationen, des UNFPA und des Centre for Transnational Corporations in New York zwischen 1979 und 1981 kehrte er an die Akademie zurück und wech、selte dann an die State University of New York, wo er bis 1985 lehrte.Von da an übernahm er Positionen in einer Vielzahl von Institutionen:u. a. am Providence College der University of Utah, der Oxford University in Großbritannien, an den deutschen Universitäten Bielefeld und Bremen, der Universität Aarhus in Dänemark, der University of New South Wales und der University of Technology in Australien, am Wag ner College in New York, an der National University of Singapore und an der Harvard University. 2012 war er als Fellow am Institute for Advanced Studies der Jawaharlal Nehru University in Indien.
Wissenschaftliche Veröffentlichungen
Political Economy and Laissez-Faire. 1986 – Explorations in Political Economy. 1991 – Capitalism and Social. Theory. 1992 – Paradigms in Economic Development. 1994 – Against Economics: Rethinking Political Economy. 1997 – Breaking with the Enlightenment.1997 – Against Eurocentrism. 2005 – The Challenge of Eurocentrism. 2009
Towards Immediacy in World Peace. 2013 – The Post-Human Society.
2013


Schriftstellerische Publikationen


The ‚Forever Young Regime. 2013 – Revue: A Boutique of Verse.2013. The Matter With Danny. 2013 – The Last Journey: A Voyage to the Center of the Soul. 2013.

Zu Rudolph Bauer

Rudolph Bauer ist Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Einer der wenigen, die sich in Bild und Schrift auch künstlerischer Ausdrucksmittel bedienen, um ihr fachliches Wissen mit politisch-kritischem und gesellschaftlichem Engagement zu verbinden. Er war Professor für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen. Geboren 1939 in Amberg/Oberpfalz, studierte er nach dem Abitur u. a. die Fächer Politologie, Soziologie und Philosophie an den Universitäten in München, Erlangen, Frankfurt am Main und Konstanz. Berufliche Erfahrungen sammelte er u. a. als freier Mitarbeiter und Journalist bei Tageszeitungen und Zeitschriften, bei „konkret“ und der Frankfurter Studentenzeitung „Diskus“; als freiberuflicher Sozialforscher in Offenbach/Main; als Forschungsassistent und Vertretungsprofessor an der Universität Gießen; als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für das Chinesisch-Deutsche Lexikon am Fremdspracheninstitut Nr. 1 der Universität in Beijing in der VR China; als Fellow in Philanthropy am Institute for Policy Studies der Johns Hopkins University in Baltimore/Mass. in den USA. Bauer ist Autor bzw. Herausgeber einer Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen.

Zu Wolfram Elsner

Wolfram Elsner: Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen; 2012-2014 und 2014-2016 Präsident European Association for Evolutionary Political Economy – EAEPE ; Lehr- und Forschungsaufenthalte in Europa, USA, Australien, Südafrika, Russland, Mexiko, China; assoziierter Professor der Univ. of Missouri―Kansas City (UMKC), USA, und der Jilin Uni, Changchun, China; Editor-in-Chief des Review of Evolutionary Political Economy – REPE.

Zur Broschüre

INHALT: Vorwort Rudolph Bauer / Das Biest / Was ist das Leben von Nicht-Europäern wert? / Ulima Thule / Das Ende des Imperiums / Die Wurzeln allen Übels / Helfershelfer der Massenmörder /Der Westen in unteilbarer Schande / Wer stoppt den Genozid in Gaza? / Haben 30 Tage die Welt verändert?/Gruß nach Gaza / Brüderlichkeit / von Guernica bis Gaza. Oder: Die endlose Kette des Bösen / Gräueltaten: Guernica, Dresden und Gaza / Wertfrei? / Über die Einzigartigkeit / Zeitleiste größerer Kriege der USA Jahr für Jahr (von 1776 – 2011) / Nachwort von Wolfram Elsner I Zur Person: Der Autor der politischen Gedichte – Der Übersetzer und Bildmonteur – Der Verfasser des Nachwortes

Rajani Kanth
… und GAZA und …
Politische Gedichte
ca. 80 Seiten, 6.– e*
Nachdichtungen und Bildmontagen: Rudolph Bauer
Nachwort: Wolfram Elsner

Redaktion pad-Verlag: Peter Rath-Sangkakorn


*Staffelpreis bei Direktbestellung ab 5 Expl: 5.–/St.
pad-Verlag- Am Schlehdorn 6

59192 Bergkamen /pad-Verlag@gmx.net

Beitragsfoto, Foto Wolfram Elsner: Claus Stille

Foto Rifat El-Arir: Screenshot C.S.

Foto: Rudolph Bauer: via Screenshot weltnetz.tv

Anbei gegeben:

„Denk ich an Deutschland …“ von Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann. Buchempfehlung

Das Verhältnis Deutschlands zu Israel ist aus den uns bekannten Gründen ein ganz besonderes. Ein heikles zumal. Aus eben diesen Gründen ist Deutschland in Israel verständlicherweise ein empfindliches Thema. Nun bietet sich interessierten Leserinnen und Lesern eine Chance einen nähere Einblicke in die verschieden Problematiken zu gewinnen. Einblicke, die Politik und Medien uns so nicht vermitteln. Zwei hochkarätige Experten haben das Thema in vielen unterschiedlichen Aspekten beleuchtet. Dies sind Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv und Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Beide widmeten ihr gesamtes Forschungsleben der deutschen Geschichte. Getan haben sie dies via einer über ein Dreivierteljahr geführten E-Mail-Korrespondenz.

Das Buch in welchem diese Korrespondenz der beiden Historiker festgehalten wurde ist im Jahr 2022 zuerst auf Hebräisch in Israel erschienen.

Nun liegt es auf Deutsch vor. Herausgebracht vom Westend Verlag.

In einem WDR 5 – Interview [4] danach gefragt wer den Band lesen solle, antwortete Moshe Zimmermann, die Durchschnittsleser sollten dies tun. Diese Empfehlung teile ich unbedingt. Denn was wissen die Durchschnittsleser schon von diesem Thema?

Zimmermann sagte, in Israel dürfte die Beachtung dieses Buches nicht sonderlich hoch ausfallen. Seine Erklärung: Er und Moshe Zuckermann gehörten dem linken Flügel in Israel an, der im Übrigen stetig abnehme. Zudem täte man sie beide dort als „Spinner“ ab.

Moshe Zuckermann (zuletzt erschien von ihm im Westend Verlag sein Buch „Die Kunst ist frei?“ [1]) schrieb vor Erscheinen des hier vorzustellenden Bandes im Overton Magazin [2] zu dessen Inhalt und Anliegen des im Pingpong erfolgten E-Mail-Wechsels von ihm und Moshe Zimmermann:

«Den Schwerpunkt des Dialogs bildet die Triade Deutschland-Israel-Palästina, die historisch, soziologisch, sozial-psychologisch und kulturell beleuchtet wird. Diesem Projekt liegt die Absicht zugrunde, über die reichlich verzweigten Zusammenhänge dieser Konstellation samt diverser, sich aus ihr ergebenden thematischen Ableitungen Rechenschaft abzulegen, die sie bestimmenden Sachverhalte zu klären, mithin aufzuklären. Dass dies notwendig ist, weiß jeder, der sich mit den historischen Strukturen dieser Konstellation, mit deren ideologischen Beladungen, kollektivpsychischen Befindlichkeiten und den gewichtigen politischen wie sozialen Auswirkungen befasst hat.«

*Lesen wir, was Moshe Zuckermann in seiner ersten E-Mail an Moshe Zimmermann schrieb: „Der Versuch, Israel, Deutschland und Palästina in einem homogenen historisch-politischen Zusammenhang zu setzen, ist so notwendig wie problematisch. Er ist notwenig, weil die Konstellation dieser Triade in der Tat prägnante, unleugbare historischen Wurzeln aufweist. Deutschland hat den Holocaust des europäischen Judentums verursacht .“ Der Staat Israel wurde als nationale staatliche Zufluchtsstätte für das jüdische Volk gegründet. Um gegen jedes künftig drohende Unglück gewappnet zu sein. Verständlich. Aber liegt nicht da schon die Krux? Zuckermann: „Aber die Staatsgründung als emanzipativer Akt für die Juden ging mit einer kollektiven Katastrophe für das palästinensische Volk einher.“ Die Palästinenser nennen diese Katastrophe Nakba. Zuckermann weiter: „Die Benennung einer solchen Vebindung ist dahingehend problematisch, dass die Konstellation zugleich die ideologische Instrumentalisierung ihrer katastrophischen Aspekte samt deren Unterordnung unter heteronome Bedürfnisse und zudem unzulässigen Vergleiche und widersinnige Kausalverbindungen ermöglicht. Es lohnt sich daher, die zentralen ideologischen Grundlagen der Kontext-Koordinaten dieser unheiligen Dreifaltigkeit zu untersuchen.“

Zuckermann fragt sich, „ob es selbstverständlich war, die Adresse der Sühne für die von Deutschland am jüdischen Volk begangenen Verbrechen gerade im Staat Israel zu finden“.

„Als aber 1952 das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen beschlossen wurde, war allen Beteiligten klar, dass des sich um einen Deal handelte“, schreibt Zuckermann, „desen Logik auf den partikularen Interessen einer jeden der beiden Seiten basierte.“

Ben Gurion war der erste, der von einem <<anderen Deutschland<< gesprochen hatte. Und er verschaffte dem Deal parlamentarische Geltung. Moshe Zuckermann: „Wie man die getroffenen und verwirklichte Entscheidungen auch betrachtet, Deutschland und Israel wollten letztlich beide den Deal, beide aus je eigenen zweckgerichtetem Kalkül: Jenes wollte bezahlen und dieses wollte bezahlt werden. Die ermordeten Opfer und die Überlebenden wurden mutatis mutandis zum Schlüsselfaktor bei der Umwandlung der historischen Schuld und der Sühne in einen materiellen Tauschwert.“ (S.13)

Diesbezüglich muss ich da an den marxistische Dichter Erich Fried denken, welchen die Journalistin Susann Witt-Stahl kürzlich in einem Beitrag zur Erwähnung brachte. Da „er das restaurative und revanchistische Wesen der Adenauerschen »Wiedergutmachung« und die perfide Ideologie des Begriffs – mit dem die Opfer des Naziterrors verhöhnt wurden, indem sogar ihr unermessliches Leid durch den Deal ›moralische Entlastung für das Täterland gegen Geld für die israelische Regierung‹ in den politischen Warenverkehr eingespeist wurde – entlarvte: »Die Wiedergutmachung kann eine geschickte Art sein, die Wiederschlechtmachung wieder gut einzuführen.«

*Dieser Abschnitt wurde am 8. Oktober 2023 eingefügt.

Und weiter:

«Die Koordinate Deutschland-Israel meint nicht nur die Beziehungen Deutschlands zum Staat Israel, sondern auch die damit einhergehenden Sedimentierungen des Verhältnisses zu Juden und zum Zionismus. Von selbst versteht sich dabei die beide Seiten betreffende kollektivpsychische Neuralgie angesichts des von Deutschen an Juden im 20. Jahrhundert Verbrochenen. Gleichwohl geht die Fragestellung in diesen Band übers Katastrophische hinaus und analysiert die philosophisch-ideologischen Impulse, die der Zionismus gerade aus der deutschen politischen Philosophie und den Ideologemen des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert bezogen hat.«

Nicht unwichtig:

«Erörtert wird dabei auch die Triftigkeit der Behauptung einer deutsch-jüdischen Symbiose, die Gershom Scholem seinerzeit apodiktisch in Abrede stellte. Vor allem wird aber auch der Einfluss der aus diesem Diskurs gewonnenen Einsichten auf die heutigen deutsch-israelischen Beziehungen, mithin die ideologische Handhabung des Umgangs mit dem Antisemitismus kritisch unter die Lupe genommen.

Der diesbezügliche Wirkzusammenhang ergibt sich aus den Strukturen der Koordinate Israel-Palästina. Denn während sich die politische Kultur Deutschlands infolge der Shoah mit Israel als der “nationalen Zufluchtsstätte der Juden” identifiziert, erhebt sich immer mehr die Frage, mit was für einem Israel sich Deutschland solidarisiert. Kann Deutschland es sich leisten, sich unabdingbar mit einem Land zu solidarisieren, das ein Jahrzehnte währendes, verbrecherisches Okkupationsregime betreibt, sich dabei zunehmend als Apartheidstaat entpuppt, und sich durch eine von Rassismus, Fremdenhass und faschistoiden Elementen durchwirkten politischen Kultur auszeichnet?«

In Zuckermanns Antwort auf eine E-Mail Zimmermanns schreibt dieser am 30. April 2021:

„Es sei dabei, so besehen, hervorzuheben, dass der Zionismus von Anbeginn vom Antisemitismus «abhing«, es lässt sich gar behaupten, dass er eine objektives Interesse an dessen Bestehen hatte. Ich habe mal (ich weiß nicht mehr, wo) eine Ausspruch Ben Gurions gelesen, demzufolge der Antisemitismus dem Zionismus nütze, wenn er sich zuweilen, abschwäche, müsse er belebt werden.“ (S.22)

Überdies bekäme (…) „die israelische Bevölkerung kaum je Zugang zu Forschungen, die die soziologischen, psychologischen, politischen Dimensionen des Phänomens beleuchten, geschweige denn zu Untersuchungen dazu, inwiefern Israel selbst mit seiner Politik Rechtfertigungen für latente antisemitische Ressentiments produziert. Hinzu kommt, dass Israel auch im Rest der Welt keinesfalls Antisemitismus bekämpft; es bietet allenfalls den von ihm betroffenen Juden an, nach Israel zu emigrieren.“

Moshe Zuckermann skeptisch: „Es lässt sich natürlich fragen, ob der bestehende Antisemitismus überhaupt bekämpft werden kann.“

Moshe Zuckermann erklärt, als er „1970 (nach einem Jahrzehnt der Abwesenheit) nach Israel zurückkehrte“, dass „dies aus dezidiert zionistischen Gründen geschah“.

„Heute bin ich kein Zionist mehr, weil mir klar geworden ist, dass der Weg, den das zionistische Israel, in das ich, wie gesagt, als Zionist remigrierte, beschritten hat, ein schlechter, ein verbrecherischer und abstoßender Weg ist. Über das melancholische Gefühl hinaus, das mich zunehmend erfasst bei der Erkenntnis, dass ich die letzte Phase meines Lebens in einem Land zubringe, das sich beschleunigt faschisiert, einem Land, das von einem staatlichen Rassismus wie auch von einem grassierenden Alltagsrassismus durchwirkt ist, den nur noch die wenigsten Bürger dieses Staates zu bekämpfen bereit sind, einem Land, das es seit seinem Bestehen nicht geschafft hat, seine ethnischen, klassenmäßigen, politischen und ideologischen Konflikte und Zerrissenheiten zu bewältigen, und über die sich anhaltend verdichtende Überzeugung hinaus, dass es keinen Weg zurück mehr gibt von dem, was sich hier vor meinen Augen ereignet, bin ich vom erniedrigenden Gefühl beherrscht, besiegt worden zu sein, dem Gefühl, dass alles, wofür ich jahrzehntelang stand und gekämpft habe, eine erschütternde Niederlage erlitten habe.“

Zuckermann stellt sich auf den Standpunkt, an dem er sich sagt, „dass ein anständiger Mensch nicht mehr Zionist sein kann, wenn Zionismus das ist, was sich im Staat Israel in den Jahrzehnten seines Bestehens, besonders ab 1967, verwirklicht hat“. (S177/178)

Zimmermann, so Zuckermann, stelle dagegen fest, „dass die historischen Entwicklung des Zionismus nicht zwangsläufig so hätte verlaufen müssen, der Zionismus also in seinen Anfängen auch andere ideologischen Ansätze und alternative Potentiale enthalten habe“.

Zimmermann gibt sich bedrückt. Und schreibt in seiner Antwort-Mail: „Ich selbst habe ja auch eine Bedingung gestellt, nämlich: nur wenn Zionismus das ist, was die aufgeklärten Zionisten vor der Staatsgründung verwirklicht haben. Ich aber gehe (anders als Du) davon aus, dass diese Ideale auch heute noch umsetzbar sind. Als realistischer Beobachter ist mir gleichwohl klar, dass diese Alternative unter den heutigen Umständen nur eine geringe Chance hat.“

Weshalb, das sagte Moshe Zimmermann im weiter oben erwähntem Radiointerview. Die derzeitig ins Amt gelangte rechte Regierungskoalition in Israel, in welcher auch rechtsradikale bis rechtsextreme Minister sitzen, lässt natürlich diese Chance letztlich bei Null liegen.

Zimmermann erinnerte an die Weimarer Republik, wo auch die radikalen Kräfte erstarkten.

Noch einmal sei aus Moshe Zuckermanns Ausführungen im Overton Magazin zitiert: „Als Historiker behandeln wir diese Probleme nicht in polemischer Absicht, sondern im Bestreben, ihre sachliche Analyse zu fördern – etwa herauszufinden, wie der israelische Militarismus (über das Selbstverständliche der “Sicherheitsfrage” hinaus) mit langzeitlichen ideologischen Einflüssen aus dem 19. Jahrhundert zusammenhängt.

Hieraus ergibt sich auch die ideologische Grundstruktur der Koordinate Deutschland-Palästina. Denn da Deutschland sich als Israel (mithin den mitkodierten “Juden”) gegenüber verantwortlich sieht, und die Palästinenser Israels Feinde sind, beschränkt sich Deutschland inadäquaterweise in seiner Kritik an Israels Repressionspolitik. Die Palästinenser, die sich als “Opfer der Opfer” sehen – Israel gebraucht(e) in der Tat oft genug die Shoah-Erinnerung als Rechtfertigung seiner repressiven Maßnahmen gegen die Palästinenser –, haben dabei das Nachsehen.“

Da kommt einen natürlich auch Angela Merkels 2008 getätigte Äußerung vor dem israelischen Parlament, der Knesset, in den Sinn, wonach Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson sei. [5]

Moshe Zuckermann hat diese Äußerung seinerzeit etwas irritiert.

Zuckermann verweist in diesem Beitrag auch darauf: «Nicht zuletzt, um die Kritik daran abzuwehren, hat Deutschland die Antisemitismus-Definition für sich in Anspruch genommen, die den sogenannten “israelbezogenen Antisemitismus” mit einbezieht, mithin jede (von Palästinensern) an Israels Politik erhobene Kritik als “antisemitisch” stempelt. Das an den Palästinensern durch Juden verübte historische Unrecht wird so durch den Bezug auf die von Deutschen an Juden verübten Verbrechen zwangsläufig perpetuiert.

Im Buch wird auch die den israelischen Diskurs besonders in den letzten Jahren umtreibende Frage erörtert, ob man “vergleichen darf”, d.h. ob man die strukturellen Entwicklungen in Israel mit Entwicklungen, die zum deutschen Nazismus führten, dem Vergleich aussetzen darf. Wo die Grenzen eines solchen Vergleichs liegen, dürfte auf der Hand liegen. Warum man aber um den Vergleich gar nicht herumkommen kann, ist in diesem Band zu lesen.«

Über die Antisemitismus-Definition (IHRA) lesen Sie hier etwas: [3]

Mögen viele Menschen diesen Band lesen. Mit unserem Eintritt in das Buch betreten wir ein weites Feld. Er enthält wichtige historische und politische Informationen, die unserer Wissen – das hinsichtlich des im Dialog der beiden Autoren ins Auge gefassten und beackerten Themas. Moshe Zuckermann und Moshe Zimmermann haben interessante Aspekte nicht nur angetönt, sondern bestmöglich beleuchtet und aus ihrer eigenen Biografie heraus mit Erinnerungen in Verbindung gebracht.

Beide Historiker trennt in betreffs ihrer Ansichten kaum etwas. Sie führen einen angeregten und uns Leser gewiss anregenden kollegialen Dialog, welcher uns sehr viel zu geben vermag und so manchen zum Nach- und Weiterdenken bringen kann.

Moshe Zuckermann, Moshe Zimmermann

Erscheinungstermin:25.09.2023
Seitenzahl:260
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864894022

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Über das Buch

Deutschland aus israelischer Perspektive.

Deutschland ist in Israel ein empfindliches Thema – das im vorliegenden Gesprächsband von zwei hochkarätigen Experten in vielen unterschiedlichen Aspekten beleuchtet wird. Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv und Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität in Jerusalem, widmeten ihr gesamtes Forschungsleben der deutschen Geschichte. Ihr Buch ist ein profunder Dialog zu den Themen: Die Shoah der europäischen Juden, der israelisch-palästinensische Konflikt, der Antisemitismus und seine Instrumentalisierung zu politischen Zwecken, die zionistische politische Kultur Israels und ihre deutschen Wurzeln, und vieles mehr. Die Gespräche eint der Versuch, die Themen auf gemeinsamer Basis tiefergehend zu ergründen und auch Nuancen zu erörtern, die der öffentliche Diskurs oft in grober Eindimensionalität rezipiert.

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. Im Westend Verlag erschien von ihm zuletzt „Die Kunst ist frei?“ (2022).

Moshe Zimmermann, geb. 1943 in Jerusalem, Professor emeritus für deutsche Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem; nach dem Studium der Geschichte und Politologie in Jerusalem und Hamburg Promotion über die Emanzipation der Hamburger Juden an der HU Jerusalem (1977); von 1986 bis 2012 Direktor des Richard-Koebner-Minerva-Zentrums für Deutsche Geschichte und Professor am Fachbereich für Geschichte der Hebräischen Universität. Mehrere Gastprofessuren an deutschen Universitäten.

Links

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Buchempfehlung zum besseren geschichtlichen Verständnis und der Umstände der Entstehung Israels: „Die ethnische Säuberung Palästinas“ von Ilhan Pappe.

„Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie“ von Moshe Zuckermann – Rezension

Wie frei ist die Kunst? Ab und an lesen oder hören wir: Dies oder jenes sei von der Kunstfreiheit gedeckt. Tönt zunächst einmal gut. Aber wie sieht es in der Praxis aus? In jüngster Zeit grassiert etwas, das mit „Cancel Culture“ benamt ist. Der Begriff wurde in den USA geprägt. Und schwappte – wie so vieles andere – dann auch über den Großen Teich zu uns herüber. Zusammen mit dem Wokismus wird damit viel Schaden angerichtet. Sich dazu berufen fühlende Scharfrichter fällen selbsgerecht ein Urteil über Künstlerinnen und Künstler.

Und Medien und Journalisten (der Journalismus ist hierzulande auch darüber hinaus eh auf den Hund gekommen) schlagen in die von besagten Scharfrichtern gehauene Kerbe. Da wird schon einmal der scharfzüngigen, bewusst provozierenden und in jeder Hinsicht hervoragend guten Kabarettistin Lisa Eckhart Antisemitismus unterstellt. Und die Journaille bis in das hinterletzte Regionalblatt schreibt das von den medialen Vollstreckern ab. Das lesen dann freilich auch Veranstalter. Wenn sie nicht ohnehin schon von Wikipedia entsprechend „informiert“ sind. Die Konsequenzen für die davon betroffenen Künstler können existenzbedrohend ausfallen. Gottlob gibt es noch Menschen – auch unter den Veranstaltern und selbst unter den Journalisten noch! – in deren Oberstübchen anscheinend noch alles so ziemlich seine Ordnung hat; die gegensteuern.

Oder nehmen wir die Operndiva Anna Netrebko, die „gecancelt“ wurde (sie verlor Engagements und Aufritte), weil sie sich nicht deutlich genug (wie die besagten Scharfrichtern urteilten) von „Putin und dessen Krieg“ distanziert hätte. Auch den weltberühmte russischen Dirigent Waleri Gergijew traf es. Der Münchner OB Dieter Reiter (SPD) entließ ihn kurzerhand als Chef der Münchner Philharmoniker. Sein „Vergehen“: Er ist mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin befreundet und wollte sich von ihm und „dessen Krieg“ offenbar nicht deutlich distanzieren.

Also: Wie frei ist die Kunst wirklich? Blicken wir zurück in die Geschichte, erfahren wir recht schnell, dass diese „Freiheit“ immer abhängig von den herrschenden Machtverhältnissen ist. Die Herrschenden, ganz früh auch die Kirche, bestimmten, die Grenzen dieser „Freiheit“. Die freilich auch recht schnell genommen werden konnte und auch wurde. Manche verloren nicht nur die Freiheit sondern auch ihr Leben dabei.

Wobei hier eingefügt werden muss, dass die Kunst durch Auftragsarbeiten für die Kirche enorme Anregung und Aufschwung fand, was Moshe Zuckermann, der Autor des hier zu besprechenden Buches darin auch ausführt.

Zuckermanns Buch trägt den Titel „Rettet die Kunstfreiheit!“. Er führt darin auch aus – wie hier von mir schon kurz angeschnitten -, dass die Kunst schon immer Anfeindungen und Behinderungen ausgesetzt war. Aber schon der Buchtitel, der als Mahnung und Aufruf zu Taten, zu verstehen ist, zielt auf das Heute. Zur Streitschrift des israelischen Historikers und Kulturtheoretikers Moshe Zuckermann (von dem hier auf meinem Blog schon einige Bücher besprochen worden sind) lesen wir:

„Die Forderung nach einer freien und unabhängigen Kunst kennen wir seit dem 19. Jahrhundert. Dieses Streben nach Kunstautonomie fußt auf der Überzeugung, dass der Bereich des Ästhetischen eigenen Regeln folgt, dass Kunst frei sein muss von fremden Ansprüchen, seien diese politischer oder moralischer Natur. Heute scheint es nicht sonderlich gut um dieses Ideal bestellt: Stichworte wie ‚Cancel Culture‘ sowie die oft schrill geführten Debatten darüber, wer eigentlich noch etwas sagen oder zeigen darf, zeugen davon, dass die Autonomie der Kunst mehr denn je gefährdet ist. Kenntnisreich und mit stilistischer Brillanz zeichnet Moshe Zuckermann dieses Spannungsfeld nach. Er fragt nach dem Verhältnis von Kunst und Fortschritt, Politik, Elitarismus sowie kulturindustriellem Kitsch. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als die Rettung der Kunstfreiheit.“

Die Kunstfreiheit wurde ursprünglich vom aufsteigenden Bürgertum befördert. Ein nicht zu unterschätzdender Fortschritt gegen das vormalige, die Kunst einschnürende Korsett, das im Feudalismus stattgehabt und vieles von vornherein verunmöglicht hatte. Wobei durchaus auch anzumerken ist, dass kunstliebende Fürsten durchaus Interessantes oder gar Epoche machendes angestoßen und gefördert hatten.

Doch auch dem Bürgertum ging manches gegen den Strich. Etwa wenn ihrer Meinung etwas nach gegen die seinerzeit vorherrschende Sexualmoral oder religiöse Tabus verstieß. Dann war rasch Schluss mit der Freiheit der Kunst.

Eigentlich müsste man sagen, die Kunst in allen bisherigen Systemen nie völlig frei war. Immer aber wurden dann Nischen gesucht und auch gefunden. Etwa in vorgeblichen sozialistischen Systemen. Unangepasste Künstler mussten sich letztlich immer ihre Freiräume erkämpfen.

Offenbar auch heute wieder! Deshalb dieses Buch.

Es hebt im Vorwort so an: „Der Begriff der Kunstautonomie hat in den letzten Jahrzehnten seine Prominenz eingebüßt. Es will zuweilen scheinen, als hätten sich große Teile der Kunstsoziologie und -philosophie, aber auch die Kunstpraxis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschworen, um ihn endgültig zu desavouieren.“

Ausdrücklich weißt Zuckermann daraufhin, sich seine Darlegungen dem Denken der Frankfurter Schule, allem voran dem Adornos „verschwistert“ sähen.

Weshalb das Buch „mit einer paradigmatischen Beleuchtung des Begriffs der Kunstautonomie, nicht zuletzt aber auch ihrer prästabilisierten Beziehung zum Fremdbestimmten“, beginne.

Der Begriff Kunstautonomie, befindet Moshe Zuckermann, sei „von gewisser Ambivalenz: „Er verweist auf die Selbständigkeit der Kunst im Verhältnis zu dem, was außerhalb ihr liegt, muss aber zugleich in Kauf nehmen, das besagtes <<außerhalb>> stets auch ein (aktiver) Bestandteil der Kunst selber ist. Das gilt freilich für jegliche Autonomie als solche. Man kann ja nur im Verhältnis zu dem, wovon man sich unterscheidet, autonom sein; und das, wovon man sich unterscheidet, muss folglich begrifflicher Bestandteil dessen sein, was für autonom erachtet wird.“

Was ist Kunst?

Diese Frage haben wir uns doch gewiss alles schon einmal gestellt. Der Antworten wären viele. „Das 20. Jahrhundert“, schreibt Zuckermann, „überstieg bei weitem die ersten Anzeichen einer solchen Tendenz, die soziale Realität in die Kunst einzuschleusen, wie sie sich etwa im 17. Jahrhundert in den Gemälden von Ribera und Murillo in Spanien oder in denen von Adriaen Brouwer, Jan Steen, Pieter de Hooch und Rembrandt in Holland […] in Europa des 19. Jahrhunderts gezeigt hatte“ (S.23).

Niemand habe diese neue Tendenz „mit größerer Verve und durchgängiger Konsequenz“ gefördert als Marcel Duchamp. „Nicht von ungefähr wurde bei einer Umfrage unter 500 Künstlern, Kuratoren und Galeriebesitzern sein Werk <<Fountain>>, das von ihm 1917 ausgestellte umgekehrte Pissoir, als das einflussreichste Kunstswerk der Moderne gewählt.“ Allerdings hatte Duchamp den nicht zu vernachlässigenden Vorteil, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits sozusagen arriviert und ein anerkannter Künstler war.

Konzeptkunst betrachtet Zuckermann als auf einem Holzweg befindlich. Ganz und gar sogar letztlich als einen Suizid der Kunst. „Die dem Postulat der permanenten Formüberbietung zugrunde liegende Logik, welche die ihre Geltung aus der progressiven Historiographie des modernen Zeilalters bezieht, mag in der Tat, konsequent zugespitzt, zur radikalen Formaufhebung, mithin zur Forderung ihrer totalen Aufhebung führen.“ (S.69)

Als interessantes Beispiel aus jüngerer Zeit sieht Moshe Zucker die <<Verhüllung des Reichstags>> des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude. Bereits seit 1971 hatten sie ins Auge gefasst, „das Reichstagsgebäude in Berlin – ein historisch wie politisch befrachtetes Bauwerk, das als Ruine im Ostteil der infolge des Zweiten Weltkriegs geteilten Stadt stand – zu verhüllen.“ (S.71)

Aus politischen Gründen war das lange nicht möglich. Schließlich „begann das Künstlerehepaar die Idee planend umzusetzen: Es entstanden tausende von Skizzen, Zeichnungen, Gemälde des Gebäudes im enthüllten und verdeckten Zustand, Modelle in von ihm in diversen Größen […]“ und schließlich auch Computersimulationen. Glücklicherweise gewann das Künstlerehepaar in Person der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Unterstützerin ihres Plans. 1995 schließlich konnte das Verhüllungswerk im Juni 1993. Fünf Millionen Besucher aus aller Welt (mich eingeschlossen) erlebten über drei Wochen die großartige Aktion.

Zuckermann gibt zu bedenken: „Wer aber denkt, dass man die <<Verhüllung des Reichstags>> als abstrakte, ihrer möglichen Verwirklichung im Wesen widerstrebenden Idee hätte belassen können, muss in Kauf nehmen, dass diese Idee vermutlich sehr bald erstickt und als totgeborene Kunst übrig geblieben wäre.“ (S.73)

Adorno hatte ja bekanntlich zunächst beschieden (er schwächte das später wieder ab): „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Aus: Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft).

Die Kunst habe Auschwitz weder vorhergesehen und nicht verhindert, befand Adorno. Moshe Zuckermann dazu in seiner Streitschrift: „[…]weder Unbehagen in der Kultur noch Entsetzen über ihr Versagen führen aus der Kultur heraus“.

Zuckermann kritisiert, was weder Adorno noch Horkheimer veraussehen konnten: Sich „immer professioneller zugerichteten Verführungen zum Konsum, zur kommerziellen Mode, zum Sensationellen auszusetzen.“ (S.124)

Und weiter: „Ob Kunst, Unterhaltung, politisches Ereignis oder Naturkatastrophe, ob Mord oder Hungertod, Ziehung der Lottozahlen oder Abdankung des Ministers – alles verkommt der Präsentations-, Wahrnehmungs- und Verwertungskultur nach zur Ware: Sterben in Afrika hat einen ökonomisch kalkulierbaren prime-time-Wert; es wird als item konsumiert und hat eine Wirkungsdauer, die sich am nächsten item, an der nächsten Sensation, an der ihr folgenden Unterhaltungssendung bemisst. Autoritär ist die fetischierte Hinnahme einer wenn schon nicht << von oben>>, so doch <<hinter den Kulissen>> zubereiteten Totalvirtualisierung des Lebens, welche selbst noch TV-Wettermännern und -frauen zu Kultpersonen mutieren lässt.“

Zuckermann abwartend: „Ob dabei Faschismus im herkömmlichen Sinne gefördert wird, wird sich erst dann erweisen können, wenn sich objektive historische Bedingungen für seine abermalige Erstehungen entwickelt haben sollten.“

Wenn autoritäre Charakterstrukturen weiterhin für die ‚menschliche Grundlage‘ des Faschismus gehalten würden, könne man davon ausgehen, dass sich das traditionell Autoritäre in modernen Gesellschaften überlebt habe, mithin Adorno und Fromm noch umtreibende Gefahr des Faschismus getilgt sein.

Allerdings werde „man sich freilich fragen dürfen, ob dieses Autoritäre nicht gerade in der immanenten Logik und Struktur der Kulturindustrie seinen (un-)würdigen Nachfolger gefunden haben könnte“.

Zuckermann schließt das Kapitel „Kulturindustrie“ mit einem Verweis auf US-Präsident Trump: „Bei einem US-Präsidenten, der aus dem Big Business kam und sein eigenes Leben in Kategorien der Reality Show begriff, lebte und vermittelte, war die Veschwisterung von Kulturindustrie und Affinität zum Faschismus in welthistorischem Maß auf den Punkt gebracht.“ (S.132)

Ein rundum interessante Streitschrift, die nicht nur brillant und kenntnisreich geschrieben ist, sondern welche gewiss auch jede Menge Stoff zur Diskussion liefert.

Jedes Kapitel ist interessant und füllt mögliche Wissenslücken: Kunstautonomie, Kunst und Progress, Konzeptkunst, Kunst und das Politische, <<Hohe>> und <<niedrige>> Kultur, Kulturindustrie, Exkurs: Elitismus, Tod eines Sängers bis hin zum Epilog. Geistig anspruchsvoll und auf hohem Niveau geschrieben. Nicht zum eben mal schnell „verschlingen“. Aus der aufmerksamen Lektüre dieser Streitschrift geht man als Leser dann aber auch mit hohem Gewinn heraus.


Moshe Zuckermann

Die Kunst ist frei?

Eine Streitschrift für die Kunstautonomie

Erscheinungstermin: 20.06.2022
Seitenzahl: 160
Ausstattung: HCoSU
Artikelnummer: 9783864893810

20,00 €

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Foto Verhüllter Reichstag im Gewitter: Claus Stille

„Hier gilt’s der Kunst“. Wieland Wagner 1941-1945. Von Anno Mungen – Rezension

Schon das Cover des hier zu besprechenden Buches triggert die Leser. Jedenfalls so diese, welche halbwegs im Bilde sind über die berühmte Familie Wagner. Da war doch was! Ja, die engen Beziehungen der Familie zu Adolf Hitler. Daran ist kein Vorbeikommen. Auf dem Cover abgebildet ist Wieland Wagner, der sich bei Adolf Hitler eingehakt hat. Zu diesem Titelmotiv heißt es: Adolf Hitler mit den Enkeln Richard Wagners in Bayreuth,1936. Links: Wieland Wagner und rechts Wolfgang Wagner. Aha, also doch keine Fotomontage! Wolfgang Wagner wurde offenbar abgeschnitten? Doch nein: schaut man genauer hin, bemerkt man die rechte Hand Wolfgang Wagners, welcher sich an Hitlers linken Arm einhakt hat. Zu sehen nur, wenn man das Buch aufschlägt und die Innenseite des Schutzumschlags genauer betrachtet. Dortselbst ist Wolfgang nur schemenhaft durch den weiß gehaltenen Text hindurch auf schwarzem Untergrund wahrzunehmen.

Klar: Es geht ja in Anno Mungens Buch „Hier gilt`s der Kunst“ ( Evchens Ausspruch im 2. Akt derMeistersinger von Nürnberg, welcher dem „Neubayreuth“ zum Motto diente)auch um „Wieland Wagner 1941 bis 1945“. Vor 70 Jahren, nämlich im Jahr 1951, fand die Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Als einer der wichtigsten Protagonisten von „Neubayreuth“ gilt Wieland Wagner. Damit gedachte der Wagner-Clan vermutlich in erster Linie daran, die Berührungen mit nationalsozialistischer Politik und den wichtigste Köpfen der Diktatur – vornweg Adolf Hitler – wennschon nicht ungeschehen, aber dennoch so gut es eben ging mit Motto „Hier gilt´s der Kunst“ davon abzulenken.

Über das Buch

Familiengeschichten

Im Oktober 1923, als Wieland Wagner sechs Jahre alt ist, erhalten die Wagners überraschenden Besuch in der Bayreuther Familienvilla. Adolf Hitler besucht die Eltern und den Onkel Houston Stewart Chamberlain, vor allem aber das Grab des Großvaters. Der aufstrebende Politiker pflegt eine ausgeprägte Leidenschaft für die Oper, Richard Wagner und die Idee des Gesamtkunstwerks. Mutter Winifred wird politisch aktiv und hält flammende Reden auf den Diktator in spe. Im Sommer 1925 erlebt Hitler am 28. Juli seine erste Bayreuther Götterdämmerung, er ist wie berauscht: Oper als Droge. Wolf, wie die Kinder Hitler nennen, ist jetzt Teil des Clans, ein väterlicher Onkel, der ab 1930, dem Todesjahr von Siegfried Wagner, zum Ersatzvater avanciert. 1945 liegt Bayreuth in Schutt und Asche. Wagner ist dennoch schon 1951 wieder als Regisseur und Bühnenbildner tätig und zusammen mit Bruder Wolfgang leitet er nun die Festspiele. „Neubayreuth“ findet mit dem Motto „Hier gilt’s der Kunst!“ eine Formel fürs Vergessen. 70 Jahre später wirft der Musik- und Theaterwissenschaftler Anno Mungen ein Licht auf die dunkelsten Jahre der Festspiele sowie der Opernhäuser in Nürnberg und Altenburg. Er beleuchtet das Zusammenspiel von Krieg und Kunst, von Politik und rücksichtslosem Streben nach Erfolg.

Quelle: Werbetext zum Buch (Westend Verlag)

Wie bereits bemerkt: Wenn es um die berühmte Wagner-Familie geht, ist kein Vorbeikommen an Hitler und dem Dritten Reich und die damit verbundenen Gräueltaten. So ist denn auch dem Buch vorangestellt ein Zitat von Peter Adam (aus „The Arts of the Third Reich“, London 1992, S. 9):

„One can only look at the art of the Third Reich through the lens of Auschwitz.“

Autor Mungen sieht Wieland Wagner so: „ein bis in unsere Tage gefeierter Theatermann und Regisseur“. Mungen: „Ohne ihn wäre die Kunstform Oper, so wie sie sich bis heute entwickelt hat, in Deutschland nicht denkbar.“

Nun, das könnte, müsste man auch von Walter Felsenstein (gründete die Komische Oper Berlin) behaupten. Für seine spezielle Art der Opernarbeit machte er den Begriff Musiktheater populär und setzte neue Maßstäbe in der Opernregie. Wobei er betreffs seiner Inszenierungen Anleihen beim Schauspiel nahm. Daher auch der von ihm benutzte Begriff Sängerdarsteller. Zuvor galt in der Regel, dass die Sängerinnen und Sänger kaum in Bewegung waren, sondern ihre Arien körperlich nahezu unbewegt sozusagen an der Rampe absangen.

Wieland Wagner gelte „zu Recht als der ‚Ahnherr‘ des so wirkmächtigen Regietheaters“. Mungen bezieht sich dabei auf dessen Tochter Nike Wagner, die das 2010 so formuliert habe. Richard Wagner selbst hatte für seine Opern genaue Regieanweisungen verfasst. Auf die Cosima Wagner (zweite Frau Richard Wagners), die nach Richard Wagners Tod ab 1883 bis 1908 die Bayreuther Festspiele geleitet hatte und ab 1886 selbst Regie führte und deren Wahrung streng überwachte. Sie hielt äußerst viel von Werktreue.

Wieland Wagner, der Enkel Richard Wagners wagte Modernisierungen. Er leitete zusammen mit seinem Bruder Wolfgang bis zu seinem Tod die Bayreuther Festspiele (1951 bis 1966). Ab 1951 galt Wieland Wagner bereits als prägender Regisseur.

Wieland Wagner hatte sich in jungen Jahren zunächst mit Malerei und Fotografie beschäftigt, bis er bald zur Arbeit als Bühnenbildner und Regisseur fand.

Tagebuchartige Chronik

Autor Mungen versteht sein in tagebuchartige Abschnitte gegliedertes Buch als Chronik, in welcher er „nur das“ berichte, „was die Quellen auch hergeben“. Welche er im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München im einsehbaren Nachlass Wieland Wagners und in Zeitungsberichten des Bayreuther Tagblatts und des Bayreuther Kurier (vormals Bayerische Ostmark) fand.

Mungen bedient sich auch der Tagebuchnotizen von Gertrud Strobel (Archivarin von Haus Wahnfried; welche der nationalsozialistischen Ideologie wohl ziemlich nahe stand). Diese seien, erklärt Mungen in „Quellen und Dank“ (S.152), bisher nicht herausgegeben. Mungen hat sie nach dem Original aus dem Nationalarchiv unter Angabe des Tages des jeweiligen Eintrags zitiert. Über Strobels Haltung zum Hause Wagner und Wieland Wagner im Speziellen erfahren die Leser nichts.

Erfunden: Ein uralter Hausmeister, der durch den Hinterbühnenbereich des Nürnberger Opernhauses geistert

Erfunden in seinem Buch, so Anno Mungen habe er lediglich eine kleine Nebenfigur, „um zu ermöglichen, dass man Sprüche über Philosophen und Arbeiter zu lesen bekommt“ (unter dem Eintrag „schwache Philosophen und starke Männer“ (S148). Gleich einem Geist, so Mungen, habe er einen alten Mann, einen uralten Hausmeister, durch den Hinterbühnenbereich des Nürnberger Opernhauses „durch die endlos anmutenden Gänge der Hinterbühne „schlurfen lassen, „um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist“ (…) „als vieles schon verloren scheint“. 1945. „Das Nürnberger Opernhaus liegt Ende April gespenstisch da. Der Spielbetrieb ist seit über sieben Monaten ausgesetzt.“ (S.148).

Da ist, am 14. April 1945, Bayreuth längst gefallen. Unter dem Eintrag „Kampf um weiße Fahnen“ (S.146) heißt es: „Die Amerikaner sind da, die Wagners, die Lafferentz‘ und die Strobels, alle weg. Im nahen Fichtelgebirge stellt Strobel fest: ‚Völlige Auflösung der der Wehrmacht.’“ Die Familien suchen das Weite. Zunächst geht es mit einem Volkswagen nach Überlingen. Dann soll es über den Bodensee in die Schweiz gehen. Doch schweizerische Grenzbeamte weisen sie zurück. Endzeitstimmung. Schlussgesang. Götterdämmerung.

Ob der Versuch des Theater- und Musikwissenschaftlers Mungen, der betreffs seines vorliegenden Buches als Theaterhistoriker ans Werk gegangen ist, die Person Wieland Wagner in einem vergleichsweise sehr kurzem Zeitraum (1941 bis 1945) ausreichend kenntlich zu machen, mögen manche Leserinnen und Leser eventuell infrage stellen. Andererseits ist nicht abzustreiten, dass eben gerade jene von Mungen beleuchteten Jahre prägend wie entscheidend für den Werdegang Wieland Wagners gewesen waren. Und ganz offenbar war er äußerst ehrgeizig, mit dem Ziel im Auge, die Leitung der Wagner-Festspiele zu erlangen. Als erheblichen Ansporn dürften ihm sicherlich die Bemühungen Adolf Hitlers um ihn und dessen hohes Interesse an seinem Fortkommen gedient haben. Angetrieben betreffs der enormen Förderung Wieland Wagners war Hitler selbst gewiss davon, dass er diesen ganz offenbar als Ersatz für einen Sohn betrachtete, welchen er nicht hatte.

Unter „Freundschaftsversprechen“ (S.23) erfahren wir: „Hitler ist Wagners Mentor. Der Diktator verfolgt einen barock anmutenden Hang, das Denkbare in Architektur, Theater, Malerei und Städtebau mit sich selbst im Mittelpunkt zu inszenieren, es ist Teil seiner Politik. Wagner kennt Hitler als den Freund der Eltern von klein an und erbietet ihm Respekt. Der engagiert sich für ihn, und es ist nicht wenig, was Hitler für Wagner tut. Er schanzt ihm Aufträge zu, stellt ihn vom Militär frei und lässt sich von ihm fotografieren. Letzteres ist deshalb nicht gering einzuschätzen, weil Hitler die Bildrechte an seinem Konterfei sonst nur Heinrich Hoffmann einräumt. Wagner aber darf seine Hitlerfotos vermarkten.“

Ein damals anscheinend gutes Geschäft: „Sie bringen dem Siebzehnjährigen im Mai 1934 einen Verdienst von 952,30 Mark, im Juni sind es 900,60 Mark und im August 681,68 Mark. Der Wert der Reichsmark damals entspricht heute dem von vier bis fünf Euro“, weiß Anno Mungen (S.23) zu berichten.

Ein durchaus interessantes Buch, das Einblicke in Familiengeschichten, Theaterarbeit (auch über Bayreuth hinaus: auch die Opernhäuser von Altenburg und Nürnberg betreffend) und natürlich ebenfalls über politische Umstände jener vom Autor in den Fokus genommenen Zeit vermittelt. Es kommt m. E. aufgrund der vom Autor verwendeten tagebuchartigen Gliederung des Buches zwar mit komprimiert verpackten Fakten daher, was ein Ausschweifen vermeidet, dennoch aber detailreich ist. Andererseits aber hat man dem Lesefluss so seine Schwierigkeiten. So kann man als Leser das Gefühl bekommen, etwas Ab- oder Zerhacktes zusammensetzen zu müssen, es irgendwie zu verbinden. Was schon auch gelingt, aber ein gewisses Holpern dennoch nicht ganz zu vermeiden vermag.

Wer mehr über die Wagners im Speziellen erfahren will, muss selbstredend zu anderer, zusätzlicher Literatur greifen, um sein Bild über die gewiss interessante Familie zu vervollkommnen. Auch über Wieland Wagner selbst möchte man sicherlich (noch) mehr wissen. Besonders über sein Wirken nach 1945 wären umfassendere Informationen durchaus wünschenswert.

Auch könnte Mungens Buch nebenbei dazu anregen, sich mit dem hier auf dem Schutzumschlag seines Buches blass unter weißer Schrift kaum sichtbaren Wolfgang Wagner, dem Bruder Wielands, genauer zu befassen. Ich sehe ihn noch immer vor mir, wie er mit seinem weißem Haar zur Bühnentür des Dortmunder Opernhauses kurz vor Vorstellungsbeginn hereinkommt, freundlich die Anwesenden Bühnentechniker und Beleuchter grüßt und den Inspizienten an seinem Platz auf der rechten Bühnenseite mit Handschlag begrüßt, um dann mit seiner Begleitung in Richtung Zuschauerraum zu entschwinden. Er ließ es sich damals nicht nehmen, Wagner-Inszenierungen im Rahmen des „Rings“, wenn sie in Dortmund auf die Bühne kamen, anzuschauen.

Hinweis: Ich empfehle Interessenten das ebenfalls im Westend Verlag erschienene Buch „Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis“ von Moshe Zuckermann.

Anno Mungen

Hier gilt’s der Kunst

Wieland Wagner 1941-1945

Erscheinungstermin:05.07.2021
Seitenzahl:160
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864893292
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Dr. Shir Hever referierte bei Attac: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Inzwischen gibt es im Nahen Osten einen Waffenstillstand. Tote, Verletzte auf beiden Seiten – der palästinensischen und der israelischen – sowie schlimme Verwüstungen der Infrastruktur und viele zerstörte Wohnquartiere in Gaza bleiben zurück. Der immer wieder aufflammende und in nahezu regelmäßigen Abständen in Gewalt umschlagende Nahost-Konflikt ruht wieder. Aus den Nachrichten ist er ebenso wieder verschwunden.

Die Attac-Gruppe Dortmund hatte für den 31.Mai 2021 zu einer Sonderveranstaltung eingeladen. Unter den Corona-Bedingungen finden die Attac-Veranstaltungen online statt. So auch die gestrige.

Als Referent eingeladen war Dr. Shir Hever. Er ist Geschäftsführer des „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ und Vorstandsmitglied der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Zudem ist Dr. Hever unabhängiger Wirtschaftsforscher und Journalist.

Dr. Shir Hever, hat die jüngsten Ereignisse in Nahost intensiv verfolgt und darüber mehrere Artikel veröffentlicht.

Der Titel der Veranstaltung: „Hamas siegt, aber Tausende verlieren – Der Nahe Osten nach dem Waffenstillstand“

Hamas bezeichnet sich als Sieger nach elf Tagen Bombardement. Verlierer sind die Menschen: 248 Palästinenser*innen wurden getötet; in Israel starben 13 Menschen. Tausende wurden verletzt und obdachlos. Die Ursachen der Eskalation werden und wurden von den meisten Medien in Deutschland wie gewohnt einseitig dargestellt.

Was zweifellos mit unserer unrühmlichen nationalsozialistischen Vergangenheit und zuvörderst mit dem von Hitlerdeutschland verursachtem Holocaust im Zusammenhang steht. Und beim ersten Gedanken anscheinend richtig zu sein scheint und einleuchten mag. Aber letztlich – zu Ende gedacht – auch Fragen aufwerfen muss. Erst recht die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson sei. Wenn er das liest oder hört runzelt selbst Professor Moshe Zuckermann (hier mehr zu ihm) regelmäßig die Stirn und meint, er habe bisher immer gedacht, die Sicherheit Israels sei Staatsräson Israels. Um die jüngste Eskalation zu verstehen, muss man die Situation in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas kennen, muss die Interessen analysieren, die das Pulverfass Jerusalem, vor allem den Stadtteil Scheich Dscharrach, zum Explodieren brachten, und die auslösenden Momente für die Kriegshandlungen erforschen. Das hat Dr. Shir Hever getan und in seinem interessanten Vortrag zum Ausdruck gebracht. Hever lebt seit elf Jahren in Deutschland.

Dr. Shir Hever: Es ist kein Religionskonflikt

Hever machte gleich eingangs seines Referats klar, dass er die Definition, wonach es sich in Nahost um ein Religionskonflikt handele nicht teilt. Sehr wohl aber gebe es von Seiten der israelischen Regierung – namentlich von Premier Benjamin Netanjahu – einen Versuch, diese Angriffe und die Gewalt als Religionskonflikt darzustellen. Ohne Umschweife spricht Hever betreffs der Situation in Israel/Palästina von Apartheid. Dazu möchte ich anmerken: Erst kürzlich stellte Human Rights Watch fest: Israelische Behörden begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Verfolgung. Das sagt die Menschenrechtsorganisation in einem am 27. April 2021 veröffentlichten Bericht. Auch die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem stellte einen Bericht vor, der beweise, das Israel ein Apartheidregime „vom Fluss bis zum Meer“ aufrecht erhalte. Unterdessen hat der Internationale Strafgerichtshof (ISGH) in DIen Haag die Zuständigkeit für Palästina anerkannt und eine Untersuchung über israelische Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Das trifft auch auf die Verbrechen der Hamas und andere Gruppen im Gazastreifen. Im Unterschied allerdings zu Israel haben die Hamas sowie die Regierung (Palästinensische Autonomiebehörde) in Ramallah im Westjordanland die Zuständigkeit des Den Haager Gerichtshofs akzeptiert. Tel Aviv ignoriere das. Dr. Shir Hever: „Aber die Israelis wissen, dass dies keine effektive Strategie ist.“

Israelische Provokationen in Scheich Dscharrach sowie an und in der al-Aqsa-Moschee

Betreffs der Ursachen des neuen Konflikts im Mai sprach Hever über die israelischen Provokationen im Ramadan-Monat im hier bereits erwähnten Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrach, nördlich der Altstadt von Jerusalem. Dem Koran nach war Scheich Dscharrach der Leibarzt des Propheten Mohammed. Scheich Dscharrach, so Dr. Hever, sei nur eines von vielen Gebieten in Palästina, wo israelische Behörden versuchen, diese von Palästinenser*innen ethnisch zu säubern. Die auf diese Weise freigewordenen Häuser sollen dann Juden bekommen. Scheich Dscharrach sei allerdings der einzige Ort, wo jüdischen Kolonisten vor einem Gericht geklagt haben, weil die Häuser vor dem Krieg 1948 Jüd*innen gehört hätten. Was tatsächlich stimmt. Und es ein Gesetz gibt, was den Vorbesitzern das Recht zuspricht, die Häuser zurückzuerhalten.

Shir Hever berichtete, dass vor 12 Jahren selbst Zionisten gegen diese Kolonisierung des Viertels protestiert hätten. Weil sie warnten, dass hier ein gefährlicher Präzendenzfall geschaffen werden könnte. Millionen palästinensischer Flüchtlinge die im Krieg von 1948 ihre Häuser verloren haben, könnten ebenfalls fordern, ihre Häuser zurückzubekommen. Allerdings entschied ein israelisches Gericht, nur Juden hätten das Recht ihre Gebiete von vor 1948 zu beanspruchen.

Premier Netanjahu hat Probleme mit der Regierungsbildung. Der Mann, der in Israel „der Zauberer“ genannt wird, weil er sozusagen immer wieder einen Hasen aus dem Hut zaubert, habe eine rechtsextreme, aus der Knesset ausgeschlossen gewesene Partei wieder zugelassen. Ausgerechnet wurde ein Büro dieser Partei in der Nachbarschaft von Scheich Dscharrach eingerichtet. Provokativ stellte die Partei Tische mit Essen und Getränken mitten im Ramadan auf die Straße, um die fastenden Muslime zu verspotten.

Später habe Netanjahu mit der Partei abgesprochen, dass sie Scheich Dscharrach verlässt. Dafür schickte er starke Polizeikräfte nach Scheich Dscharrach sowie zur al Aqsa-Moschee. Die Polizei sei nachts in die Moschee eingedrungen und habe die Muslime mitten im Gebet angegriffen. 330 Gläubige seien verletzt worden. Israel provozierte auch am Jerusalem-Tor.

Die Reaktion der Hamas folgte auf dem Fuß

Neben dieser empörenden und aggressiven Provokation brachten auch die bevorstehenden Delogierungen von Palästinser*innen in Scheich Dscharrach das Fass zu überlaufen. Die Hamas habe verlangt, dass die israelische Polizei al-Aqsa verlasse. Die aber sei geblieben. So habe die Hamas von Gaza aus ihre Raketen nach Israel gefeuert. Die israelische Armee antwortete auf den gewiss völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas elf Tage lang mit massiven Luftschlägen. Die israelische Bomben seien absichtlich auf große Wohnhäuser abgeworfen worden und hätten gezielt ein Hochhaus, in welchem internationale Medien ihre Büros hatten, in Schutt und Asche gelegt.

Im Vorfeld sei in Ostjerusalem ein Progrom organisiert und versucht worden. Hunderte jüdische jugendliche Männer hätten nach Arabern gesucht, um sie zu töten. Davon sei hier in Deutschland nicht berichtet worden, meinte Dr. Hever. Auch nicht darüber, dass die Hamas 2017 ihre Politik geändert hat. Und von ihrer ursprünglichen Charta abgerückt sei. In der späteren Fragerunde führte Hever das genauer aus: In einem politischen Manifest, das 42 Punkte umfasse. Es sage etwa: Wir haben keinen Streit mit Juden, sondern nur mit der Besatzung. Und sie seien bereit für ein unbefristeten Waffenstillstand und eine effektive Anerkennung der anderen Seite. Und sie stimmte darin zu, in Friedensverhandlungen von der PLO vertreten zu werden. Die deutsche Regierung aber ignorierte das Dokument der Hamas. (Hier finden Sie die Erklärung. Leider nur auf Englisch.)

Über die Anstrengungen Netanjahus, einen Keil zwischen die israelischen Palästinenser zu treiben und sie so zu spalten sei hierzulande ebenso nichts bekannt.

Massaker in der Stadt Lod

Des Weiteren sprach Dr. Hever über die von Juden und Palästinensern bewohnte Stadt Lod. Wie wurde sie aber zu einer gemischten Stadt? Hevers Großvater sei ein Kämpfer in der Palmach, einer Eliteabteilung der Hagana, gewesen. Einer zionistischen Miliz, die im Krieg von 1948 kämpfte. Erst nach dem Tode seines Großvaters habe Shir Hever erfahren, dass dieser an einem Massaker beteiligt war. Dabei seien etwa 8000 Bewohner*innen der Stadt vertrieben worden, die dann zu Fuß nach Jordanien gehen mussten. Alte, Kranke und Junge, die zu schwach für den Fußmarsch waren, hätten Zuflucht in einer großen Moschee gefunden. Neben bei bemerkt: Ich empfehle Ilhan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“.

Die Palmach brannten die Moschee mit den Menschen darin nieder. Juden, meist Auswanderer aus arabischen Ländern wurden in der Stadt angesiedelt. So sei die Stadt zu einer gemischten Stadt gemacht worden. Heute sei sie eine der ärmsten Städte Israels mit Problemen wie Drogensucht, Kriminalität und Gewalt.

Die Situation in Israel

Dr. Shir informierte darüber, dass Premier Netanjahu (nach mehreren Wahlen gibt es noch immer keine stabile israelische Regierung) weiter alles daran setze, um an der Macht zu bleiben. Nur so bleibt er vor einem Gerichtsverfahren wegen Korruption verschont, an dessen Ende er höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde.

Obwohl Israel inzwischen politisch weit nach rechts gerutscht sei, gebe es dennoch – auch in wenigen Medien – noch versöhnliche Stimmen. Wer sich allerdings gegen Apartheid und die Gewalt der israelischen Armee kritisch aus dem Fenster lehne werde bedroht. Einige Journalisten müssten sich von Leibwächtern schützen lassen.

Die Israelis beschleiche, so Dr. Shir,allmählich das Gefühl, dass das Ende des israelischen Staates sehr nahe ist.

Erstmals seit den 1930er Jahren zeigten Palästinenser*innen im Gazastreifen, in Israel und dem Westjordanland große Einigkeit

Im kürzlich beendeten Konflikt haben nach Ansicht von Dr. Hever die Palästinenser*innen sowohl im Gazastreifen, als auch in Israel und dem Westjordanland mehr Einigkeit gezeigt als je zuvor in den 1930er Jahren. Am zurückliegenden 18. Mai sei der erste Generalstreik der Palästinenser*innen ausgerufen. Er umfasste Gaza, das Westjordanland und Israel – „im gesamten historischen Palästina“, so merkte Dr. Hever an. Die israelischen Palästinenser*innen wurden wegen ihrer Teilnahme am Generalstreik entlassen.

Die israelische Seite hat verloren. Die Hamas machte klar, dass sie Zugeständnisse erzwingen kann. Allerdings zu einem hohen Preis

Nach der jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzung und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens hätten sich, sagte Shir Hever, „meldeten sich viele israelische Generäle und Politiker und gaben zu, dass die israelische Seite verloren hat“.

Hever: „Aus strategischer sich hat die Hamas bewiesen, dass sie israelische Zugeständnisse in Jerusalem und besonders bei der al-Aqsa-Moschee erzwingen kann. Und dass sie entscheiden kann, wann die Gewalt beginnt und wann sie endet.“

In Gaza habe man den Waffenstillstand gefeiert, als wäre er ein militärischer Sieg. Ein Sieg zu einem hohen Preis.

Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen

Inwiefern das für uns hier in Deutschland relevant ist, erklärte der Referent so: „ Die deutschen Medien verstehen die Hamas nicht und wollen es auch nicht lernen.“ In der Tagesschau wiederhole man stets die lange Phrase „radikal-islamische Terrorgruppe Hamas“. Sie sprächen aber nicht über die „radikal-jüdische Terrorgruppe Likud“. „Denn, wenn sie das sagen würden, würde das als antisemitisch oder rassistisch gegenüber Juden angesehen werden“, so Hever. Und weiter: „Aber hat der Likud nicht mehr Hass und Gewalt gegenüber Zivilist*innen verbreitet als Hamas je getan hat?“ Die Hamas-Partei sei sehr konsequent mit ihrer Botschaft an das palästinensische Volk gewesen. Sie sagten: Wir Palästinenser sind allein auf der Welt. Die internationale Gemeinschaft wird uns nicht helfen. Sie wird nur Israel helfen. Wir müssen mit Waffen für unsere Freiheit kämpfen. Ein anderer Weg ist nicht möglich.

Shir Hever: Ich habe eine persönliche Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen

Hever ist in Jerusalem aufgewachsen. In seiner Schule wurden in den 1990er Jahren zwei Schüler durch von der Hamas angeordnete Selbstmordattentate getötet. Hever: „Für mich ist es keine Frage, ob die Palästinenser irgendwann die Besatzung besiegen und frei wird. Natürlich wird es geschehen. Aber die Frage ist wie. Ich habe eine persönliche, moralische Verpflichtung, eine Alternative zu Gewalt zu schaffen. Um zu beweisen, dass die Palästenser*innen ohne Bomben und ohne Raketen frei werden können. Die Alternative, die die Menschen in Europa anbieten können, ist die BDS-Bewegung, Boykott, Desinvesitionen und Sanktionen, eine Bewegung die von zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wird, die 2005 gegründet wurde und Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt mitreißt.“ Sie basiere auf den Menschenrecht und dem Völkerrecht. Vielen Palästinensern gebe BDS viel Hoffnung.

Hamas allerdings stelle sich konsequent gegen BDS.

Die Verleumdung des BDS in Deutschland

Dr. Hever stellte klar, dass das „BIP – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.“, deren Geschäftsführer er ist, keine Pro-BDS-Position habe. Obwohl BIP die Position vertritt, dass Menschen ein Recht haben, BDS zu unterstützen.

Der Referent erinnerte daran, „dass in Deutschland die Versuche, BDS zu verleumden, zu zensieren und zu unterdrücken besonders ekelhaft“ sind. Der Bundestag habe entschieden, dass BDS antisemitisch sei und hat öffentliche Einrichtungen in Deutschland aufgefordert, Räume für Veranstaltungen zu verbieten, in denen BDS diskutiert wird. Politiker wie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein und der Uwe Becker, Bürgermeister von Frankfurt am Main und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft haben behauptet, merkte Shir Hever an, ihre Kampagne gegen BDS zum Wohle der deutschen Juden gedacht ist. Obwohl BDS nicht zum Boykott von Juden aufrufe, schon gar nicht von deutschen Juden. „Es ist einfach eine zynische Manipulation, um die Juden in Deutschland zu Geiseln der Politik des Staates Israel zu machen“, meinte Hever.

Traurigerweise seien ähnliche Versuche, BDS zum Schweigen zu bringen, um der rechtsgerichteten Regierung Israels beizuspringen, von der Trump-Administration in den USA unternommen worden. Und in geringerem Maße auch in anderen Ländern wie Frankreich und Ungarn.

Als Freunde von Hever deutschen Beamten sagten, dass sie der Hamas in die Hände spielen, wenn sie BDS ablehnen, hätten die nicht zugehört. „Ihre blinde Unterstützung“, so Dr. Hever weiter, „für die israelische Regierung, ungeachtet der Verbrechen, die sie begeht, hat die Hamas-Unterstützer in Palästina davon überzeugt, dass sie keine andere Wahl haben als sich zu bewaffnen uns mir Gewalt zu kämpfen, um ihre Recht zu erlangen.“

In diesem Monat habe man das Ergebnis gesehen.

Es bleibe die Frage, beschloss Dr. Hever sein Referat, ob wir den Palästinenser*innen beweisen können, dass „unsere Solidarität effektiver ist als Raketen, um Gerechtigkeit zu erreichen“.

Interessante Frage- und Antwortrunde

An das Referat von Dr. Shir Hever schloss sich eine Interessante Frage- und Antwortrunde an. Till Struckberg von Attac Dortmund eröffnete sie. Er bekannte, Bauchschmerzen wegen des Titels des Referats „Hamas siegt, aber Tausende verlieren …“ zu haben.

Dazu erklärte Hever, dass jeder israelische Offizier eine Reihe von Büchern lesen müsse, die von Militärdenkern wie beispielsweise von Heeresreformer Carl von Clausewitz geschrieben worden sind.

Betreff eines Sieges sei bei Clausewitz definiert, ein Sieger zu sein sei keine Frage, welche Seite mehr Menschen verloren habe. In den meisten Kriegen der Welt verliere der Sieger mehr als der Verlierer.

Stattdessen müsse jede Seite ihre strategischen Ziele definieren. Und sehen, ob diese Ziele am Ende des Kampfes erreicht wurden oder nicht. Ziel der israelische Armee sei es gewesen die Hamas abzuschrecken. Was, so Hever, nicht erreicht worden sei. Interessant: die Hamas-Kämpfer läsen im Übrigen die gleichen Bücher der Militärdenker wie die israelischen Offiziere! Ziel sei es, auch ein Spieler zu werden in Jerusalem betreffs al-Aqsa. Dies hätte die Hamas erreicht. Zudem sei ihnen eine Demütigung Israels gelungen. Allerdings hätte es dabei tausende Verlierer gegeben. Wenn nicht Millionen. Schließlich seien die Ziele der Hamas nicht gleichzeitig die Ziele aller Palästinenser. Wiewohl die Ziele der israelischen Regierung nicht automatisch die Ziele aller Israelis seien.

Natürlich kam auch die Frage nach der Zweistaatenlösung. Shir Hevers Antwort: Sie ist möglich. Allerdings wären die Kosten dafür hoch. Und für die jüdischen Siedler selbstredend sehr schwierig. Ob das die beste Lösung ist wäre wiederum eine andere Frage, so der Referent.

So gebe es Palästinenser, die sagten eine Demokratie – eine Person/eine Stimme -, etwa wie in Südafrika, wäre die bessere Lösung.

Ob das realistisch ist, fragte jemand. Schließlich wären ja dann die Juden in der Minderheit. Shir Hever darauf: „Das Konzept von einem jüdischen Staat ist ein rassistisches Konzept. Das darf sowieso nicht existieren.“

Es gebe ein Unterschied zwischen Staat für Juden und einem jüdischen Staat. Hannah Arendt habe das ausführlich beleuchtet. Jüdischer Staat sage, der Staat selbst ist jüdisch. Die Menschen müssten diesem Staat in dieser Hinsicht dienen. Was eine sehr undemokratische Idee sei. Ein Konzept eines Staates für Juden bedeute, ein Staat, wo Juden gleiche Rechte haben, wie jeder andere. Ein Staat für Juden sei im Beginn des 20. Jahrhunderts kaum zu finden. Heute sei ein solcher Staat beispielsweise Deutschland. Warum also sollte ein künftiger Staat Israel oder Palästina – je nachdem wie dieser dann hieße – nicht so ein Staat für Juden sein?

Wer dann in diesem Staat die Mehrheit hat, sei ja dann den jeweiligen Staatsbürgern – Juden und Palästinensern – überlassen und deren Kinderplanung.

Ursprünglich habe es ja einst, erklärte Hever, auch kein Frauenwahlrecht gegeben. Davor hätten die Männer Befürchtungen gehabt, weil es mehr Frauen gebe.

Inzwischen habe sich das eingespielt und wohl kaum noch in Frage gestellt.

Dr. Hever wurde gefragt, ob man dann nicht befürchten müsse, dass Juden im Einheitsstaat getötet würden. Aus Rache. Darauf entgegnete Dr. Hever wieder mit einem Verweis auf Südafrika. Dort hätten ja die Weißen – einst mit Apartheid herrschende Minderheit – befürchtet, dass die Schwarzen sie dann ermorden würden. Dass sei aber dann nicht passiert.

Dr. Shir Hever hält durchaus – auf Nachfrage antwortend – auch eine Versöhnungskommission abermals mit Verweis auf Südafrika für angebracht. Auch Palästinenser*innen könnten sich das gut vorstellen. Sie verwiesen aber zu recht darauf: Das diese Versöhnungskommission in Südafrika erst möglich wurde nach dem Ende der Apartheid.

Die Frage nach den Möglichkeiten der EU den Nahostkonflikt einer Lösung zuzuführen, beantwortete Shir Hever so zunächst mit einem Hinweis auf das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel, das bereits existiere. Den Bedingungen, der Menschenrechtsklausel nach, dürfe diesbezüglich kein Land eine solche Möglichkeit bekommen, das Menschenrechte systematisch verletzt.





Hever: Wenn die EU ihre eigenen Gesetze ernst nähme und sage, solange es keine Demokratie mit gleichen Rechten für alle in Israel/Palästina gibt, können wir das

Assoziierungsabkommen mit Israel nicht weiter verlängern. Das wäre für israelische Wirtschaft ein Desaster. Shir Hever: „Dann sehen wir in einer Woche – ich bin fest überzeugt – werde die israelische Regierung sagen, unter diesen Bedingungen haben wir keine Wahl. Wir müssen entweder die Besatzung zu Ende bringen oder ein Nationalwahl im Israel-Palästina-Gebiet haben, um eine demokratische Regierung zu bilden.“

Eine interessante Veranstaltung war das mit Dr. Shir Hever. Die wahrscheinlich, wäre sie öffentlich in einer städtischen Einrichtung geplant gewesen, keinen Raum gefunden hätte. Und die üblichen Verdächtigen hätten behauptet die Veranstaltung wäre antisemitisch. Allein, weil kurz über BDS gesprochen worden wäre. Darüber einmal nachzudenken ist angebracht.

Beitragsbild: via Weltnetz.TV

Anbei gegeben via Activismmunich

Abschließend noch einige Beiträge mit Links zu meinen Beiträgen, welche zur Thematik passen, sowie ein Link zu Videos, in denen Dr. Shir Hever spricht:

https://clausstille.blog/2019/11/22/pressemitteilung-von-attac-dortmund-und-dgb-dortmund-diskussion-zum-ratsbeschluss-gegen-antisemitismus-referent-andreas-zumach/




https://clausstille.blog/2018/09/18/der-allgegenwaertige-antisemit-oder-die-angst-der-deutschen-vor-der-vergangenheit-ein-neues-wichtiges-buch-von-moshe-zuckermann/


https://clausstille.blog/2021/04/07/jerusalemer-erklarung-200-holocaust-forscher-wenden-sich-dagegen-kritik-an-israel-als-antisemitismus-zu-diffamieren/


https://clausstille.blog/2017/10/04/die-antisemitenmacher-wie-neue-rechte-kritik-an-der-politik-israels-verhindert-ein-ungemein-wichtiges-buch-von-abraham-melzer/


https://clausstille.blog/2019/12/13/wider-den-antisemitenmachern-der-vortrag-des-journalisten-andreas-zumach-in-dortmund-fand-statt-israel-palastina-und-die-grenzen-des-sagbaren/


https://clausstille.blog/2014/03/25/dr-khouloud-daibes-botschafterin-palastinas-das-andere-gesicht-des-palastinensischen-widerstands/

https://weltnetz.tv/personen/shir-hever


„Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird“. Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder (Hg.) – Rezension

Karl Marx wusste schon: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Gleichermaßen dürfte sich nichts daran geändert haben, dass Vielen das kaum oder eher gar nicht bewusst wird. Sonst würde es wohl viel öfters rappeln im Karton. Dies zu verhindern wissen die Herrschenden. Indem diese von Marx erkannte Tatsache bemäntelt und von ihr abgelenkt wird.

Diese Aufgabe fällt neben Politikern der Regierungsfraktionen – und manchmal sogar Teilen der Opposition – sowie u.a. den Medien zu. Wobei man wissen muss, dass auch die zu einem nicht unerheblichen Teil den Herrschenden, den Wohlhabenden in der Gesellschaft gehören. Und welches Interesse werden sie demzufolge vertreten? Paul Sethe in einem Leserbrief vom 5. Mai 1965 im Spiegel: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. …“

Heute, muss man wissen, sind es viel, viel weniger als diese zweihundert reichen damals.

Wer die Macht hat, muss die Köpfe beherrschen“

Im Vorwort (S.7) zum hier zu besprechenden Buch „Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird“ führen deren Herausgeber Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder eingangs ebenfalls – in verkürzter Form – das Marxsche Zitat an.

Und setzen hintan: „Wer die Macht hat, muss auch die Köpfe beherrschen. Es stellt sich immer die Frage, ob und wie das gelingt. Eine wirkliche Meinungsvielfalt ist daher möglichst auszuschalten, vor allem in aufregenden Zeiten, in denen etwas für die Bevölkerungen durchzusetzen gilt.“

Als Leser hat man sofort etwas vor Augen. Nicht wahr? Die Herausgeber merken jedoch an, das Buch sei noch vor der Coronazeit geplant und konzipiert worden.

Das Buch habe also einen anderen Blickwinkel gehabt. Allerdings hätten „aber die Belastungen und Irritationen von uns allen“ das Projekt verzögert. Nichtsdestotrotz fände man „in verschiedenen Beiträgen Spuren dieser Thematik“.

Wobei das Buch aber kein „Corona-Buch“ sei.

Corona als Brennglas

Allerdings ist es nicht verwunderlich, dass „Corona“ – sozusagen als Brennglas – bei dem beiden Herausgebern – wie gewiss auch bei den Leserinnen und Lesern ihres Buches, welche ihren Hausverstand noch nicht auf der Müllhalde entsorgt haben, einiges kenntlich gemacht hat:

„Zu keinem Zeitpunkt aber konnten wir besser sehen als heute, dass die Macht durch die ‚Meinung‘ herrscht, in überwältigendem Ausmaß nur eine offizielle, veröffentlichte Meinung, vorgetragen mit dem Anspruch des wissenschaftlichen Expertentums, unter Drohung hoher Gefahr für Leib und Leben.“

Die Bruders stellen fest: „In der Regel wirkt sie durch Überredung, Überzeugung, Verführung – durch die Register des Redens, der Behauptung, Belehrung, des Zeigens-, und des Versteckens, Verschweigens, kurz: des Diskurses, einfach dadurch, dass man in den Diskurs einsteigt und sich gemäß seiner Regeln in diesem Diskurs bewegt (s.Foucault 1982/1987, S.255). Foucault meinte damals, nur im Grenzfall braucht sie Gewalt, Befehl oder Vorschrift.“ Und die Herausgeber fragen: „Haben wir nun diesen ‚Grenzfall‘?

Und sie geben an, wie verblüffend es für sei zu sehen war, „wie schnell und offenbar weitgehend die Bevölkerungen fast aller Staaten (190 von 193) weltweit sich den Zumutungen der Corona-Pandemie-Politik gebeugt und sie akzeptiert haben.“

Bereitschaft zum Gehorsam bzw. „Mentalität der Angepasstheit“

Sie schreiben (S.8) von „einer entsprechenden Bereitschaft in der Bevölkerung zum Gehorsam: ein Autoritarismus, der nicht mehr der der klassischen ‚autoritären Persönlichkeit‘ zu sein sein scheint, sondern eine Haltung, die denn Versuchspersonen des Milgram-Experiments näher kommt, eine Haltung, die hinnimmt und damit regierungsaffirmative Orientierungen und Argumente unterstützt. Wir könnten hier eher, sinnvollerweise den Begriff der ‚Mentalität der Angepasstheit‘ einsetzen.“

Almuth Bruder-Bezzel beschäftigt im einleitenden Kapitel „Propaganda und Macht“ (S.14) mit der Geschichte der Herausbildung des modernen „Meinungsmanagements“. Sie arbeitet heraus, „welche psychologischen Prozesse und Dynamiken bei den einzelnen Individuen eine Rolle spielen“. Um zu beschreiben, welche Rolle die Entdeckung der Massenseele für die Propaganda spielt (S.19) nimmt sie Bezug auf die Elitendemokratie des antiken Griechenland und unsere Zeit betreffend auf die berühmte Schrift „Psychologie der Massen“ von 1895 Gustav Le Bons.

Des Weiteren verweist sie u.a. auf die Erkenntnisse aus der Massenkommunikationsforschung von Walter Lippmann („The Public Opinion“) von 1922 und Edward Bernays („Propaganda“). Was hochinteressant ist und obendrein dazu animiert, die erwähnten Schriften selbst zu lesen. Lesen Sie, so Sie mögen, meine Rezension zu „Die öffentliche Meinung“ von Walter Lippmann.

Warum die Gedanken der Herrschenden als die eigenen ausgegeben werden

Klaus-Jürgen Bruder beschäftigt sich in seinem Beitrag damit, was für die Übernahme der Gedanken und Idee der Herrschenden durch die Beherrschten entscheidend ist und warum diese dann als die eigenen ausgegeben werden, um ihnen folgen zu können. Wir täten dann so, als ob wir einem Befehl folgten. Bruder: „Dann realisiert sich das Subjekt als Herr seines eigenen Sprechens und Handelns.“

Und weiter: „Die Herstellung dieser Loyalität läuft nicht nur über die Medien, die ‚Meinungsmacher‘ (Albrecht Müller), die ‚Manufakturen des Konsens‘ (Noam Chomsky).“ In Puncto „Loyalität den ‚Oberen‘ gegenüber, dass es schon ’seine Richtigkeit habe, was sie von uns verlangen, spielt zumindest am Anfang eine Rolle, dass die Bevölkerung überhaupt die ‚Angst‘ übernehmen und entwickeln konnte, die Herrschaft braucht, um ‚unliebsame‘ Forderungen durchzusetzen. Wir können nach Milgram (1974) mit der Bereitschaft rechnen, Gehorsam gegenüber autoritären Anweisungen zu zeigen, auch dann, wenn diese im Widerspruch zu den Forderungen des eigenen Gewissens stehen.“

Schule als „Normalisierungs- und Selektionsanstalt“

Neben den Bruders versammelt die interessante Veröffentlichung dreizehn weitere Autor*innen, die das Thema „Macht“ analysieren und auf Spezialgebiete herunterbrechen. So etwa Bildungsexpertin Magda von Garrell, welche die Schule als „Normalisierungs- und Selektionsanstalt charakterisiert“, wo die „mitgebrachten Ungleichheiten durch Gleichschaltung reproduziert und zugleich Grundlagen und Sekundärtugenden geformt“ und „die Kinder auf ihre Rolle von ’stummen Werkzeugen‘ vorbereitet“ werden. (S.10/S.75: „Meinungslernen in der Schule“)

Fremdbestimmte Arbeitnehmer

Was sich in die Arbeitswelt fortsetzt. Um „Stumme Werkzeuge“ geht es nämlich auch bei Werner Rügemer: „Das organisierte, erpresste Schweigen der abhängig Beschäftigten – und ein beispielhafter Ausbruch“ (S.95). Des Weiteren geht der sich als „interventionistische Philosoph“ verstehende Publizist auf den „fremdbestimmten Arbeitnehmer“, der per definitionem des Bürgerlichen Gesetzbuches 2020 zu „weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“ ist (S.96). Was zur Folge hat (S.96): „Das ArbeitsUnrecht besteht nicht nur in verarmender Niedriglöhnerei und im EU-weit und global organisierten Lohndumping. Working poor – du hast Arbeit, bleibst aber arm.“

Die Herausgeber machen klar (S.11): „Die mit Verschweigen und Lügen manipulativ hergestellte öffentliche Meinung führt dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung aus der Teilhabe ausgeschlossen bleibt, sodass die Machtelite ihre Deutungshoheit und damit ihre Politik gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen und legitimieren kann.“

Moshe Zuckermann analysiert die Orwellsche Umkehrung der Bedeutung von Begriffen am Beispiel des Holocaust-Diskurses, sowohl in der BRD wie auch Israel

Ein wichtigen Beitrag steuerte auch Moshe Zuckermann bei: „Holocaust und „Holocaust“ – eine Meinungsfrage“ (S.153) bei. Dazu schreiben die Herausgeber: „Moshe Zuckermann analysiert die Orwellsche Umkehrung der Bedeutung von Begriffen am Beispiel des Holocaust-Diskurses, sowohl in Deutschland auch Israel, als Möglichkeit, dass das nahende Unglück sich unauffällig heranschleicht, statt mit heftigen Paukenschlag zu beginnen, sodass es den Schein von Routine und Normalität wahrt, und man es ignorant hinnehmen kann.“

Dabei, schreibt Zuckermann, habe „man stets Struktur, Ideologie, Rhetorik und Soziologie des Faschismus im Blick gehabt und sich immer wieder gewundert – wie konnte das nur möglich sein, wie konnte man das sich anbahnende Unheil bloß so ignorant hinnehmen?“ „[S]o, genau wie im eigenen Land zur Zeit entfaltet sich, der Faschismus.“

Betreffs Israel befindet Zuckermann weiter: „Man sieht allenthalben autoritär-diktatorische Tendenzen um sich greifen; man registriert, wie die letzten Reste dessen, was sich einst (verlogenerweise) rühmte, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, zuschanden kommen; man gewahrt, wie das bisschen an vermeintlicher Zivilgesellschaft, die man in Israel zu haben wähnte, rapide verrottet und verkommt.“

Wie der Begriff „Verschwörungstheorie“ von der CIA eingeführt wurde und seit 9/11 abermals inflationär angewendet wird

Ein Autorenbeitrag auf seine Weise interessanter wie der vorangegangene! Mathias Bröckers befasst sich (S.166) als sozusagen ausgewiesener Experte für den vom CIA im Zusammenhang mit dem Mord an John F. Kennedy 1963 eingeführten Begriff „Verschwörungstheorie“, der gegen Kritiker der offiziellen Version des des Geschehens angewandt wurde und nun seit 9/11 abermals inflationär benutzt werde.

Bröckers geht in seinem Beitrag ebenfalls auf die Fälle von Julian Assange und Edward Snowden, gegen die – wie die Herausgeber anmerken: „eine gnadenlose Inquisition eingesetzt wird, wie Hannes Sies (S.237) am Beispiel des Umgangs der Mainstream-Medien mit der skandalösen Verleumdung, Verfolgung und Gefangennahme von Julian Assange zeigt; also einer der berühmtesten Journalisten ausgeschaltet werden kann und welche Rolle die Medien dabei spielen.“

Als durch die Beteiligung am ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 die BRD die Unschuld verlor

Ausdrücklich sei hier auch auf den wichtigen Beitrag zum ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 (gegen Jugoslawien) 1999 von Kurt Gritsch (S.191) verwiesen, wo Gerhard Schröder und Joseph Fischer sozusagen dafür sorgten, dass die BRD ihre Unschuld verlor. Nebenbei bemerkt: Kurt Gritsch hat seine Doktorarbeit unter dem Titel „Die Inszenierung eines gerechten Krieges?“ verfasst. Dazu mehr in meinem Bericht über einen Vortrag von Kurz Gritsch vor einigen Jahren in Kassel.

Was, wenn sich Enttäuschungen in den kommenden Bundestagswahlen Luft machen?

Unbedingt möchte ich hier ebenfalls unbedingt auf den Beitrag von Wolf Wetzel „Der Mord an Walter Lübke und die Auferstehung der Untoten“ (S.220) hinweisen. Im Nachgang zu seinen Ausführungen gibt Wetzel zu bedenken: „Aber die Verhältnisse sind mehr als prekär. Die bis heute nachwirkende Finanzwirtschaftskrise 2007, die Wirtschaftskrise 2019 und die Kosten der Corona-Maßnahmen addieren sich zu unglaublichen Summen auf, die sehr bald dort eingetrieben werden, wo eh nicht viel ist. Das Vertrauen in Deutschland ist mehr als geliehen.“

Und er fragt sich (S.234): „Was passiert, wenn sich“ Enttäuschungen in den kommenden Bundestagswahlen „Luft macht und alle abstraft, die dem Wahlvolk nur noch AHA-Regeln erklären wollten?“

„Das Internet als Meinungsbildner“

Verdienstvoll, dass im Buch im Beitrag von Wolfgang Romey „Das Internet als Meinungsbildner“ (S.122) auch auf das Schein-Internetlexikon Wikipeda, welches häufig zur Denunziation von unliebsamen Personen oder Diffamierung von Meinungen benutzt wird. „Der Fall Wikipedia“ (S.127).

Es wird darauf hingewiesen, wie das von Markus Fiedler in seinem Dokumentarfilm „Die dunkle Seite der Wikipeda“ am Wikipedia-Eintrag des Schweizer Publizisten, Historikers und Friedensforscher Daniele Ganser und im Blog „Geschichten aus Wikihausen“ analysiert und nachgewiesen wird. (Anbei mein Beitrag zu Fiedlers Dokumentarfilm.)

Macht macht Meinung

„Mit welchen Mitteln und Techniken werden kurzfristige Meinungen sowie längerfristige Wertmaßstäbe und Weltbilder hergestellt? Klaus-Jürgen Bruder und Almuth Bruder-Bezzel liefern eine Analyse, die die gegenwärtige Situation von Verleumdung, Fake News und Verschwörungstheorien vor Augen hat, dabei aber die grundlegenden Prinzipien und Mechanismen der Beeinflussung und Manipulation an ausgewählten Beispielen untersucht.“

Quelle: Westend Verlag

Unbedingt Leseempfehlung im Sinne von Kants Sapere aude!

Klaus-Jürgen Bruder, Almuth Bruder-Bezzel

Macht

Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird

Seitenzahl:256
Ausstattung:Klappenbroschur
Artikelnummer:9783864891106

22,00 €

Klaus-Jürgen Bruder





Klaus-Jürgen Bruder ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie, sowie unter anderem Herausgeber der Schriftenreihe „Subjektivität und Postmoderne“ im Gießener Psychosozial-Verlag.

Almuth Bruder-Bezzel

Almuth Bruder-Bezzel ist Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin mit eigener Praxis, sowie Mitbegründerin des Alfred Adler Instituts Berlin. Sie hat unter Arbeiten zur Geschichte und Theorie A. Adlers und zu psychologisch-gesellschaftskritischen Themen wie etwa Arbeitslosigkeit, Rechtspopulismus, neoliberales Subjekt und Feminismus geschrieben.

„Gegen Entfremdung“ Moshe Zuckermann, Susann Witt-Stahl: Gespräche über Erich Fried – Rezension

Die Schar der Lyrik-Begeisterten dürfte sich im Vergleich mit anderen literarischen Genres in Grenzen halten. Was nichts Neues ist. Das ist schade zu nennen. Und richtig Geld verdienen damit ist Verfassern von Lyrik auch kaum gegeben. Gedichte zu lesen, ist halt offenbar nicht für jeden Menschen spannend. Liegt das an der Schulzeit,wo man sie auswendig lernen oder interpretieren musste? Auch ich muss zugeben, dass ich immer erst ein gewissen Schubser brauche, um Lyrik zu lesen. Aber, wenn ich es dann mal tue, stellen sich bei mir durchaus positive Effekte und öfter als gedacht auch Begeisterung ein.

Erst recht wird die Anhängerschaft von politischer Lyrik überschaubar sein. Dass der Österreicher Erich Fried (* 6. Mai 1921 in Wien; † 22. November 1988 in Baden-Baden)

eine Ikone der politischen Lyrik der Bundesrepublik ab den Sechzigerjahren bis zu seinem Tod 1988 gewesen ist, werden sicher ebenfalls nicht allzu Viele wissen.

Obwohl Fried seinerzeit mit der DDR auch seine Probleme hatte oder es die DDR mit ihm (weil Fried sich „moralisch meist gerechtfertigter Kritik der Sowjetunion, der DDR und am Realsozialismus“ nicht enthielt; S.150)) vielleicht ebenfalls nicht leicht hatte, hielt er auch dort Lesungen ab. Es ist nun schon sehr lange her – es dürfte in den 1980er Jahren gewesen sein -, da er auch in meiner Heimatstadt Halle an der Saale zu einer Lesung im Volkspark gekommen war. Ich finde leider keinen Hinweis mehr darauf. Ich meine heute, das sei so gewesen (wenn ich mich irre, verzeihe man es mir bitte). Ich sehe ihn noch genau dort mit seiner schwarzen Brille auf der Nase vor dem Buch sitzen. Jedenfalls kaufte ich mir in dieser Zeit ein Buch, dass auch Gedichte von Fried enthielt. Und war von ihnen tief beeindruckt.

Moshe Zuckermann und Susann Witt-Stahl beleuchten Erich Frieds dichterisches Werk und dessen Wirken als Marxist, Friedenskämpfer und Antifaschist

Zu seinem 100. Geburtstag beleuchten Moshe Zuckermann und Susann Witt-Stahl das dichterische Werk des herausragenden Literaten und sein engagiertes Wirken als Marxist, Friedenskämpfer und Antifaschist. Das ist höchst interessant und mit Gewinn zu lesen. Wir erfahren viel über Erich Fried und die jeweiligen Zeiten, in denen er wirkte. Moshe Zuckermann (MZ) und Susann Witt-Stahl begannen von Mitte Oktober 2020 einen Gedankenaustausch, zu dessen Behufe sie ein Reihe von Gesprächen über den bedeutenden Lyriker und Intellektuellen führten, welchen sie Anfang Februar 2021 abschlossen. Der Gedankenaustausch umfasst Analysen und Ansichten zu Frieds dichterischen Werk, seinem Wirken als marxistischer Denker und Aktivist sowie zur zeitgenössischen und gegenwärtigen Rezeption des ebenso hochbewunderten wie auch oftmals verhassten und verleumdeten Schriftstellers.

SWS schreibt (S.139) etwa über bestimmte, sich als Linke sehende (wohl Antideutsche), die den Antifaschismus pervertierten, in dem sie „mit dem Finger auf jüdische Linke, lebende wie tote“, zeigen „und krakeelen ‚Nie wieder Auschwitz’“. Und: „Was da an Verdrängtem wieder hochkommt, wenn der in Wien ansässige ‚unabhängige Nahost-Thinktank‘ Mena Watch, an dem viele linke Autoren mitwirken, über Erich Fried Schmähungen wie ‚Kentucky Fried Chicken“ Wider den antizionistischen Gesinnungskitsch. Fried war Antisemit“ verbreitet (…)

Dass die Erträge des durchgeistigten Dialogs von Zuckermann und Witt-Stahl nun uns Leser*innen vorliegen, ist dem Westend Verlag zu danken. Der Band, in welchen sie versammelt sind, trägt den Titel „Gegen Entfremdung“.

Womöglich bleibt dieser Band die gehaltvollste Veröffentlichung dieses Jahres zum 100. Geburtstag von Erich Fried

Durchaus möglich, dass dieser anlässlich des 100. Geburtstags von Erich Fried die gehaltvollste Veröffentlichung dieses Jahres bleiben wird. SWS weist darauf hin: „Dass zum Auftakt dieses Geburtstagsjubiläumsjahres ein Buch erschienen ist, das ausgerechnet Erich Frieds Beziehung zu dem Neonazi Michael Kühnen – die nur aus insgesamt sechzehn Briefen, einer Begegnung und einem Gedicht bestand – zu einem großen Thema macht, lässt jedenfalls nichts Gutes ahnen: Abgesehen davon, dass der Autor den Begriff der Entfremdung, der für Frieds Schaffen zentral ist, seines marxistischen Ursprungs entschlagen, somit ideologisiert und den den Dichter fürs ZDF-Morgenmagazin konsumierbar gemacht hat: Im Untertitel ist sogar von einer ‚deutschen Freundschaft‘ zwischen Fried und Kühnen die Rede.“ Allerdings, schreibt SWS, sei eine „Freundschaft“ nicht belegt. Der Autor des Buches konnte das jedenfalls nicht belegen. Und SWS fragt darüber hinaus, was daran „deutsch“ gewesen sei sollte. „Und zwar weniger, weil Fried Österreicher war, der bis zu seinem Tod im britischen Exil lebte, sondern vor allem weil Fried nationale Gefühle, erst recht Nationalismus, allemal deutschen, der sich zum massenmörderischen Faschismus radikalisiert hatte, zutiefst verabscheut und kaum eine Gelegenheit versäumt hat, das laut zu sagen.“

Der Hintergrund zu dieser Erwähnung ist das bereits im Januar erschienene Buch „Der Dichter und der Neonazi: Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft“ von Thomas Wagner. Warum dieser Autor gerade den Tenor auf diese Begegnung legte, steht infrage. Zum Buch lesen wir auf Amazon:

„21. Januar 1983: Eine unwahrscheinliche Begegnung bahnt sich an. Michael Kühnen – Wortführer der Neonazi-Szene – und Erich Fried – jüdischer Dichter und glühender Antifaschist – sollten sich in einer Fernsehtalkshow begegnen. Doch kurzfristig wurde Kühnen ausgeladen. Die Überraschung war groß, als gerade Fried erklärte, dies sei ein Fehler gewesen.“ (…)

Schauspieler Rolf Becker hat zum Buch ein hervorragendes Vorwort verfasst

Ein hervorragendes Vorwort zum Buch hat der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker verfasst. Eingangs schreibt Becker: „Erich Fried würde sich freuen, könnte er das nachstehende Gespräch lesen. Er würde vermutlich wie zu seinem Lebzeiten kritische und selbstkritische Anmerkungen einbringen – vor allem zu der für ihn kaum voraussehbaren, allenfalls zu erahnenden Entwicklung, die mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Jahr nach seinem Tod begann und sich seitdem in Unheilvolles steigert. Was vor 1989 als Systemauseinandersetzung wahrgenommen wurde, enttarnt sich mit fortschreitender Krise als Versuch imperialistischer Staaten, sich schrittweise die Welt gefügig, wenn nicht untertan zu machen:“ Becker fügt an dieser Stelle Frieds Gedicht „Dann wieder“ an:

Was keiner/geglaubt haben wird/was keiner gewusst haben konnte/ was keiner geahnt haben durfte/das wird dann wieder/das gewesen sein/was keiner gewollt haben wollte/

Rolf Becker schreibt auch über persönliche Begegnungen mit Erich Fried in Bremen und einmal während eines gemeinsamen Fluges.

Der Band ist für Jung und Alt von Wert

Der Band ist m.E. für Ältere wie für Jüngere von Wert. Erstere erfahren aus den sozusagen im Pingpong aufeinander sich abwechselnden Textbeiträge des Autors und der Autorin des Buches im Rückblick, welcher auch Geschichte und geschichtlich markante Ereignisse – etwa die Vorgeschichte und das Entstehen sowie das terroristische Wirken der RAF, aber auch andere Geschehnisse – aufscheinen lassen. Was freilich auch für die Jüngeren einen (Er-)Kenntnisstand eröffnen kann.

Ebenfalls kann im besten Fall der Lyrik ein wenig zu mehr Aufmerksamkeit verholfen werden. Nicht nur der Erich Frieds, nebenbei bemerkt. Fried hat nicht nur bemerkenswerte politische Lyrik verfasst, sondern auch Liebesgedichte, in denen durchaus auch ein erotischer Hauch wabert und Funken sprüht.

Moshe Zuckermann findet, dass Susann Witt-Stahls letzter Textabschnitt (S.154, in welchem sie Fried als einen der „bedeutendsten Ideologiekritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die deutsche (Literatur-)Geschichte eingehen“ sieht, „ein schönes Schlusswort“ sei, dass sie da formuliert habe. Witt-Stahl schließt: „Und nun gilt es, sein Schaffen lebendig zu halten, gegen seine Feinde und auch so manche ‚Freunde‘ zu verteidigen, zu aktualisieren und gegen die Verwerfungen des 21. Jahrhunderts scharf zu machen.“

Möge es so geschehen!

Zuckermann wiederum notiert (S.155) nach dem Zitat eines Gedichts, welches „Erich Fried 1983 anlässlich hundertsten Todestags von Karl Marx als sein eigenes Bekenntnis zum Marxismus beziehungsweise zur Emanzipation des Menschen im Marx’schen Sinne geschrieben hat und das so beginnt: Wenn ich zweifle/an dem/der gesagt hat/sein Lieblingsspruch sei/“Man muss an allem zweifeln“/dann folge ich: Es ist diese feste Gesinnung, die sich bei allem möglicherweise aufkommenden Zweifel angesichts des immerfort schlecht Bestehenden nicht abschrecken lässt und der historischen Mission des Ringens zum die Emanzipation unerbittlich die Treue wahrt. Sie lässt zwar Erich Fried als unzeitgemäß erscheinen. Aber dieser vermeintliche Anachronismus erweist ihn eben auch als unermüdlichen Träger der Wahrheit dessen, was redlichen Linken in der Geschichte immer schon als Auftrag galt: der Kampf gegen Entfremdung, der Kampf um die Freiheit des Menschen.“

Was noch bleibt? Kaufen! Lesen! Weitersagen!

Moshe Zuckermann, Susann Witt-Stahl

Gegen Entfremdung

Lyriker der Emanzipation und streitbarer Intellektueller. Gespräche über Erich Fried

Erscheinungstermin:12.04.2021
Seitenzahl:160
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864893216

Über Moshe Zuckermann

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. 2018 wurde er emeritiert. Im Westend Verlag erschien „Der allgegenwärtige Antisemit“ (2018) und „Wagner. Ein ewig deutsches Ärgernis“ (2020).

Moshe Zuckermann. Foto: C. Stille

Über Susann Witt-Stahl

Die Autorin lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. Seit 2014 ist sie Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Meldodie & Rhythmus. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Ideologiekritik des Neoliberalismus, der modernen Kriege, der Kulturindustrie sowie regressiver Tendenzen in der Linken. Dazu hat sich Bücher und Essays veröffentlicht.

Susann Witt-Stahl. Foto: C. Stille

„Jerusalemer Erklärung“: 200 Holocaust-Forscher wenden sich dagegen, Kritik an Israel als „Antisemitismus“ zu diffamieren

Nach über einem Jahr intensiver Diskussion einigten sich Holocaust-Fachleute und -Forscher auf eine neue Definition für „Antisemitismus“. In ihrer „Jerusalemer Erklärung“ wenden sich

200 Holocaust-Forscher dagegen, Kritik an Israel als „Antisemitismus“ zu diffamieren.

Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“

Wir, die Unterzeichnenden, legen die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vor. Sie ist das Ergebnis einer Initiative, die ihren Ursprung in Jerusalem hat. Zu den Unterzeichner:innen zählen internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, darunter Jüdische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien. Die Erklärung profitierte auch von der Einbindung von Rechtswissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.

Im Geiste der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1969, der Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000 und des Beschlusses der Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust aus dem Jahr 2005 vertreten wir die Auffassung, dass Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.Im Wissen um die Verfolgung von Jüd:innen im Laufe der Geschichte und die universellen Lehren aus dem Holocaust und angesichts des besorgniserregenden Wiedererstarkens von Antisemitismus durch Gruppierungen, die Hass und Gewalt in Politik, Gesellschaft und im Internet mobilisieren, legen wir eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus mit einer Reihe von Leitlinien für die Benutzung vor.

Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus reagiert auf die „IHRA-Definition“, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde. Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kon-troversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als „Arbeitsdefinition“ bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen. Wir hoffen, dass dies sowohl für das Monitoring und die Bekämpfung von Antisemitismus als auch für Bildungszwecke hilfreich sein wird. Wir empfehlen unsere nicht rechtsverbindliche Erklärung als Alternative zur IHRA-Definition. Institutionen, die die IHRA-Definition bereits übernommen haben, können unseren Text als Hilfsmittel zu ihrer Interpretation nutzen.Die IHRA-Definition enthält elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies legt zwar legt einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz; allerdings besteht wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina.

Wir verfolgen ein doppeltes Ziel: (1) den Kampf gegen Antisemitis-mus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren. Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme. Die Feststellung, dass eine kontroverse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen.

Die Leitlinien, die sich auf Israel-Palästina beziehen (Nr. 6 bis 15), sollten als Ganzes betrachtet werden. Generell sollte bei der Anwendung der Leitlinien jede im Lichte der anderen und immer mit Blick auf den jeweiligen Kontext gelesen werden. Zum Kontext kann die Intention hinter einer Äußerung, ein Sprachmuster im Wandel der Zeit oder sogar die Identität des Sprechers oder der Sprecherin gehören, besonders wenn es um Israel oder den Zionismus geht. So könnte etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein, aber auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet.

Kurz: Bei der Anwendung dieser Leitlinien auf konkrete Situationen sind Urteilsvermögen und Sensibilität gefordert.JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS26. März 2021

Vorbemerkung1

A.Allgemein1.

Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als angeboren zu behandeln) oder pauschale negative Verallgemeinerungen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.

2.Das Spezifikum des klassischen Antisemitismus ist die Vorstellung, Jüd:innen seien mit den Mächten des Bösen verbunden. Dies steht im Zentrum vieler antijüdischer Fantasien, wie etwa der Vorstellung ei-ner jüdischen Verschwörung, in der „die Juden“ eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen. Diese Verknüpfung zwischen Jüd:innen und dem Bösen setzt sich bis heute fort: in der Fantasie, dass „die Juden“ Regierungen mit einer „verborgenen Hand“ kontrollieren, dass sie die Banken besitzen, die Medien kontrollieren, als „Staat im Staat“ agieren und für die Verbreitung von Krankheiten (wie etwa Covid-19) verantwortlich sind.

All diese Merkmale können für unterschiedliche (und sogar gegensätzliche) politische Ziele ins-trumentalisiert werden.

3.Antisemitismus kann sich in Worten, Bildern und Handlungen mani-festieren. Beispiele für antisemitische Formulierungen sind Aussa-gen, dass alle Jüd:innen wohlhabend, von Natur aus geizig oder un-patriotisch seien. In antisemitischen Karikaturen werden Jüd:innen oft grotesk, mit großen Nasen und in Verbindung mit Reichtum dar-gestellt. Beispiele für antisemitische Taten sind: jemanden angreifen, weil sie oder er jüdisch ist, eine Synagoge angreifen, Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmieren oder Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht einzustellen oder nicht zu befördern.

4.Antisemitismus kann direkt oder indirekt, eindeutig oder verschlüsselt(‚kodiert‘) sein. Zum Beispiel ist „die Rothschilds kontrollieren die Welt“ eine kodierte Behauptung über die angebliche Macht „der Juden“ über Banken und die internationale Finanzwelt. In ähnlicher Weise kann die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine kodierte Ausdrucksweise sein, Jüd:innen zu rassifizieren und zu stigmatisieren. In vielen Fällen ist die Identifizierung von kodierter Sprache eine Frage des jeweiligen Kontextes und der Abwägung, bei der diese Leitlinien zu berücksichtigen sind.

5.Es ist antisemitisch, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen,indem man behauptet, der vorsätzliche Völkermord der Nazis an den Jüd:innen habe nicht stattgefunden, es habe keine Vernichtungsla-ger oder Gaskammern gegeben oder die Zahl der Opfer bestehe nur in einem Bruchteil der tatsächlichen Anzahl.B.Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind.

6.Die Symbole, Bilder und negativen Stereotypen des klassischen Anti-semitismus (siehe Leitlinien 2 und 3) auf den Staat Israel anzuwenden.

7. Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln.

8.Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionis-mus öffentlich zu verurteilen (z.B. bei einer politischen Versammlung).

9.Anzunehmen, dass nicht-israelische Jüd:innen, bloß weil sie jüdisch sind, zwangsläufig loyaler zu Israel stehen als zu ihren eigenen Ländern.

10. Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.C.Israel und Palästina: Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind(unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht).

11.Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.

12.Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.

13.Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. Dazu gehören seine Institutionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst. Es ist nicht per se antisemitisch, auf systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen. Im Allgemeinen gelten im Falle Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten. Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedler-kolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.

14.Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.

15.Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkommen geschützt zu sein. Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck „doppelter Standards“ betrachtet wird, ist nicht per se antisemitisch. Im Allgemeinen ist die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.

Definition Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).

Leitlinien2

JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS

Fragen und Antworten

Was ist die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA)?

Die JDA ist eine Ressource zur Stärkung des Kampfes gegen Antisemitismus. Sie umfasst eine Präambel, eine Definition und 15 Leitlinien.

Wer hat sie verfasst?

Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen mit Schwerpunkten in der Antisemitismusforschung und verwandten Bereichen. Die JDA wird von einem breiten Spektrum renommierter Wissenschaftler:innen und Institutsleiter:innen in Europa, den USA und Israel unterstützt.

Warum „Jerusalem“?

Die JDA geht ursprünglich auf eine Konferenz am Van Leer Institut in Jerusalem zurück.

Warum jetzt?

Die JDA reagiert auf die Arbeitsdefinition Antisemitis-mus, die die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) 2016 vorgelegt hat. Die „IHRA-Definition“ (einschließlich ihrer „Beispiele“) ist weder klar noch kohärent. Was auch immer die Absichten ihrer Befürworter sein mögen, sie verwischt den Unterschied zwischen anti-semitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und am Zionismus. Dies führt zu Irritationen und delegitimiert gleichzeitig die Stimmen von Palästinenser:innen und anderen, einschließlich Jüd:innen, die sehr kritische Ansichten über Israel und den Zionismus haben. Nichts davon trägt zur Bekämpfung von Antisemitismus bei. Die JDA reagiert auf diese Situation.

Ist die JDA also als Alternative zur Arbeitsdefinition der IHRA gedacht?

Ja, das ist sie. Menschen, die guten Willens sind, suchen nach Orientierung in der Schlüsselfrage: Wann überschreitet die politische Rede über Israel oder Zionismus die Grenze zum Antisemitismus und wann sollte sie geschützt wer-den? Die JDA soll diese Orientierungshilfe bieten und sollte daher als Ersatz für die IHRA-Definition angesehen werden. Wenn eine Organisation jedoch die IHRA-Definition formell übernommen hat, kann sie die JDA nutzen, um die Unzulänglichkeiten der IHRA-Definition zu korrigieren.

Für wen gilt die Definition?

Die Definition gilt unabhängig davon, ob jüdische Identität ethnisch, biologisch, religiös, kulturell usw. verstanden wird. Sie ist auch in Fällen anwendbar, in denen eine nichtjüdische Person oder Institution entweder fälschlicherweise für jüdisch gehalten wird („Diskriminierung aufgrund der Wahrnehmung“) oder wegen einer Verbindung zu Jüd:innen angegriffen wird („Diskriminierung aufgrund von Assoziation“).

Sollte die JDA offiziell z.B. von Regierungen, politischen Parteien oder Universitäten übernommen werden?

Die JDA kann als Ressource für unterschiedliche Zwecken genutzt werden. Dazu gehören die Aufklärung darüber und die Schaffung eines Bewusstseins dafür, wann Sprache oder Verhalten antisemitisch sind (und wann nicht), die Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus usw. Sie kann genutzt werden, um im vorgege-benen Rahmen von Gesetzen und Normen zum Schutz der Meinungsfreiheit bei der Umsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen zu helfen.

Sollte die JDA als Teil von Gesetzen gegen Hassrede genutzt werden?

Nein, das sollte sie nicht. Sie ist keinesfalls als rechtliches oder quasi-rechtliches Instrument gedacht. Noch sollte sie rechtlich kodifiziert oder dazu genutzt werden, um die legitime Ausübung der Freiheit von Forschung und Lehre zu beschränken oder um freie und offene Debatten innerhalb der durch die Gesetze zur Hasskriminalität vorgegebenen Grenzen zu unterdrücken.

Wird die JDA alle aktuellen Auseinandersetzungen darüber, was antisemitisch ist und was nicht, beilegen?

Die JDA spiegelt klar die fachliche Autorität wissenschaftlicher Expert:innen aus den relevanten Feldern wider, doch kann sie nicht alle Streitpunkte beseitigen. Kein Dokument über Antisemitismus kann erschöpfend sein oder alle Formen vorwegnehmen, in denen sich Antisemitismus in der Zukunft manifestieren wird. Einige Leitlinien (z.B. Nr. 5) geben nur wenige Beispiele, um einen allgemeinen Aspekt zu verdeutlichen. Die JDA ist als Nachdenk- und Diskussionshilfe gedacht. Als solche ist sie eine wertvolle Ressource für

4Layout – Valerie AssmannBeratungen unter Stakeholder:innen/Interessensgruppen darüber, wie Antisemitismus zu identifizieren und wie ihm möglichst effektiv zu begegnen ist.

Warum geht es in 10 der 15 Leitlinien um Israel und Palästina?

Das spiegelt die Gewichtung in der IHRA-Definition wider, in der 7 von 11 „Beispielen“ sich auf die Debatte über Israel konzentrieren. Es reagiert zudem auf eine öffentliche Debatte, sowohl unter Jüd:innen als auch in der breiteren Bevölkerung, die ein Bedürfnis nach Orientierung in Bezug auf Meinungsäußerungen über Israel oder den Zionismus aufzeigt: Wann sollten sie geschützt sein und wann überschreiten sie die Grenze zum Antisemitismus? Was ist mit anderen Kontexten außer Israel und Palästina? Die allgemeinen Leitlinien (1-5) sind auf alle Kontexte anwendbar, einschließlich des rechtsextremen, in dem Antisemitismus zunimmt. Sie sind zum Beispiel auf Verschwörungstheorien anwendbar, dass „die Juden“ hinter der Covid-19-Pandemie steckten oder dass George Soros die Black-Lives-Matter- und Antifa-Proteste finanziere, um „verborgene jüdische Absichten“ zu verfolgen.

Unterscheidet die JDA zwischen Antizionismus und Antisemitismus?

Diese beiden Konzepte unterscheiden sich grundsätzlich. Nationalismus, jüdischer oder sonstiger, tritt in vielen For-men auf, steht aber immer zur Diskussion. Intoleranz und Diskriminierung, ob gegen Jüd:innen oder irgendjemand anderes, sind nie akzeptabel. Das ist ein Axiom der JDA.

Geht also aus der JDA hervor, dass Antizionismus nie antisemitisch ist?

Nein. Die JDA versucht zu klären, wann Kritik an (oder Feindseligkeit gegenüber) Israel oder dem Zionismus die Grenze zum Antisemitismus überschreitet und wann nicht. In diesem Zusammenhang ist es ein wichtiges Merkmal der JDA, dass sie (anders als die IHRA-Definition) auch angibt, was nicht per se antisemitisch ist.

Welche politischen Absichten liegen der JDA in Bezug auf Israel und Palästina zugrunde?

Keine. Genau darum geht es. Die Unterzeichnenden ha-ben vielfältige Ansichten zum Zionismus und zum israelisch-palästinensischen Konflikt, einschließlich möglicher politischer Lösungen, zum Beispiel Ein-Staaten- oder Zwei-Staaten-Lösung. Gemeinsam ist ihnen der Einsatz für zwei Dinge: den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz der Meinungsfreiheit auf der Grundlage universeller Prinzipien.

Aber unterstützt die Leitlinie 14 nicht BDS als gegen Israel gerichtete Strategie oder Taktik?

Nein. Die Unterzeichnenden haben unterschiedliche An-sichten zu BDS. Leitlinie 14 besagt nur, dass gegen Israel ge-richtete Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen, wenn-gleich umstritten, nicht per se antisemitisch sind.

Wie kann man dann entscheiden, wann BDS (oder irgendeine andere Maßnahme) antisemitisch ist?

Dafür gibt es die allgemeinen Leitlinien 1 bis 5. In manchen Fällen ist offensichtlich, wie sie anzuwenden sind, in an-deren nicht. Wie immer kann der Kontext bei der Einschätzung des Charakters jeglicher Form von Intoleranz oder Diskriminierung einen erheblichen Unterschied machen. Zudem sollte jede Leitlinie im Lichte der anderen gelesen werden. Manchmal ist eine Ermessensentscheidung zu treffen. Die 15 Leitlinien sollen dabei helfen.

Laut Leitlinie 10 ist es antisemitisch, „Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell als Jüd:innen zu leben“? Widerspricht das nicht den Leitlinien 12 und 13?

Es besteht kein Widerspruch. Die in Leitlinie 10 erwähnten Rechte haben jüdische Einwohner:innen des Staates, un-abhängig von seiner Verfassung oder seinem Namen. Leitlinien 12 und 13 stellen nur klar, dass es nicht per se antisemitisch ist, andere politische oder verfassungsrechtliche Regelungen vorzuschlagen.

Was sind, kurz zusammengefasst, die Vorteile der JDA gegenüber der IHRA-Definition?

Es gibt mehrere, darunter:

•Die JDA profitiert von mehreren Jahren der Reflexion und kritischen Bewertung der IHRA-Definition. Im Ergebnis ist sie klarer, kohärenter und nuancierter.

•Die JDA führt nicht nur aus, was antisemitisch ist, sondern auch, im Kontext von Israel und Palästina, was nicht per se antisemitisch ist. Dies ist eine Orientierungshilfe, für die es großen Bedarf gibt.

•Die JDA beruft sich auf universelle Prinzipien und verbindet den Kampf gegen Antisemitismus, anders als die IH-RA-Definition, klar mit dem Kampf gegen andere Formen der Intoleranz und Diskriminierung.

•Die JDA trägt dazu bei, einen Raum für die offene und respektvolle Diskussion schwieriger Themen zu schaffen, einschließlich der umstrittenen Frage der politischen Zukunft für alle Bewohner:innen Israels und Palästinas.

•Aus all diesen Gründen ist die JDA stichhaltiger. Anstatt zu spalten zielt sie darauf ab, alle Kräfte im Kampf gegen Antisemitismus breitestmöglich zu vereinen.

Quelle: Diakblog, Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus vom 26. März 2021 (PDF)

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Video: Interview Sabine Kebir mit Moshe Zuckermann via Weltnetz.TV