Pressemitteilung von Attac Dortmund und DGB Dortmund: Diskussion zum Ratsbeschluss gegen Antisemitismus. Referent: Andreas Zumach

Im Oktober d.J. hat der Rat der Stadt Dortmund eine „Grundsatzerklärung
zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ gefasst, obwohl schon im
Oktober vorher ein ähnlicher Beschluss abgestimmt worden war. Neu an
diesem Ratsbeschluss ist die Kennzeichnung einer konkreten Aktion,
nämlich der BDS-Bewegung, als „antisemitisch“. Die BDS-Bewegung tritt in
Anlehnung an die frühere Kampagne gegen den Apartheid-Staat Südafrika
für einen internationalen, gewaltfreien Boykott des Staates Israel ein,
bis die völkerrechts- und menschenrechtswidrige Besatzungs- und
Besiedlungspolitik der israelischen Regierung beendet ist.

Auf Grundlage dieses Beschlusses hat im September die Jury des
angesehenen Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund bekannt gegeben, den
diesjährigen Preis der pakistanisch-britischen Schriftstellerin Kamila
Shamsie doch nicht zuzuerkennen, weil sie sich als Unterstützerin dieser
Bewegung bekennt.

In der gemeinsamen Bildungsreihe von Attac, DGB , Nachdenktreff und der
„AG Globalisierung konkret in der Auslandsgesellschaft“ soll der
Ratsbeschluss und die sich daraus ergebenden Folgen diskutiert werden.
Wir haben deshalb den bekannten Journalisten Andreas Zumach eingeladen.
Er ist selber kein Unterstützer von BDS, wendet sich aber in seinem
Vortrag gegen die zahlreichen Versuche, legitime Kritik an der
völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik der israelischen
Regierung als antisemitisch oder antiisraelisch zu diffamieren und zu
unterbinden.

Andreas Zumach ist seit 1988 Schweiz- und UNO-Korrespondent der taz am
europ­äischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Als freier
Journalist arbeitet er auch für andere deutsch- und englisch­sprachige
Print- und Rundfunkmedien. Darüber hinaus hat er mehrere Bücher
veröffentlicht. 2009 wurde ihm für sein friedens- und
menschenrechtspolitisches Engagement der Göttinger Friedenspreis
verliehen. Er hat schon mehrfach in unserer monatlichen Bildungsreihe zu
unterschiedlichen Themen referiert.

Andreas Zumach (2.v.l.) während einer Podiumsdiskussion auf einer Medienkonferenz in Kassel.

Er wird am Mittwoch, 11. Dezember, um 19 Uhr in der Dortmunder Paulus-Kirche,
Schützenstr. 35 sprechen und sich den Fragen und der Diskussion stellen.

Artikel zum Thema finden Sie hier und hier.

Update (1) vom 5. Dezember 2019: Die übliche Maschinerie läuft an. Hanebüchene Kritik im Vorfeld der Veranstaltung. Kritik an israelischer Politk wird unter Antisemismus verortet. Ein Folge auch von in Bundestag und Kommunen gefassten fragwürdigen Beschlüssen

An viele Mailadressen von Dortmunder Organisationen und Vereinen, sowie der Kirche ging dieser Tage folgende Mail:

Stellungnahme der Jüdischen Gemeinde Dortmund zur DGB Veranstaltung „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“

Populistische Sprüche wie „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ kannten wir bisher nur von den Rechten („Israel ist unser Unglück“).
Nun hat also auch der DGB Dortmund das dringende Bedürfnis , die angebliche Tabuisierung von Kritik an der Politik Israels zu thematisieren.
Dabei sind „die Grenzen des Sagbaren“ längst überschritten.
Dies hat – ausgerechnet – ein  Gewerkschaftler  vor wenigen Tagen auf seiner Facebook Seite in erschreckend eindrucksvoller Weise belegt.
Wir zitieren:„Eine gute Entscheidung des EuGH für mehr Transparenz .Der zionistische Terrorstaat verwechselt Ursache und Wirkung: Diskriminierend ist alleine die völkerrechtswidrige Besetzung der palästinensischen Gebiete und die Vertreibung ihrer Bewohner, damit die „jüdischen Herrenmenschen“ dort ihren Anbau treiben können!!! P.S. Das ist nicht antisemitisch, sondern  völkerrechtswidrig und muss deshalb auch so gekennzeichnet werden, damit möglichst niemand diese Waren kauft.“ – Zitatende- Hier zeigt sich lehrbuchmäßig, was häufig hinter sog. „Israelkritik“ steckt, nämlich lupenreiner, israelbezogener Antisemitismus!

In der Veranstaltungsankündigung  des DGB heißt es, es handele sich um eine „Bildungsveranstaltung“ mit einer „differenzierten Diskussion“.
Aus den bisherigen Auftritten des alleinigen Referenten Andreas Zumach ist aber hinlänglich bekannt, dass es ihm allein darum geht, die antisemitische Boykottbewegung BDS vom Vorwurf des Antisemitismus rein zu waschen.
Wir Dortmunder Juden werden uns diese tendenziöse Veranstaltung nicht antun.
Gleichzeitig fragen wir uns , warum  der Deutsche Gewerkschaftsbund Dortmund nicht gesellschaftlich relevantere Themen aufgreift, wie beispielsweise:
„Die gesellschaftliche Entgrenzung des antisemitischen Ressentiments „.

Für alle linken Genossen, die sich über die Komplexität des Nahostkonflikts und die wahren Ziele von BDS informieren wollen, empfehlen wir ein Blick in die wohl unverdächtige „TAZ“, zum Beispiel hier oder hier .

Update (2) vom 9. Dezember 2019

Die junge GEW Dortmund stellt sich gegen jeden Antisemitismus Pressemitteilung


Der DGB Dortmund-Hellweg lädt gemeinsam mit Attac, Nachdenktreff und der AG Globalisierung in der Auslandsgesellschaft für den 11.12. 2019 in die Pauluskirche zu einer Veranstaltung mit dem Titel “Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren” mit dem Referenten Andreas Zumach ein. Andreas Zumach bezeichnet sich selbst nicht als Unterstützer des israelfeindlichen Bündnisses BDS (Boykott, Divestment and Sanctions) bestreitet jedoch, dass dieses Bündnis antisemitisch sei.
Die DGB Jugend hat schon 2017 auf ihrer Bundesjugendkonferenz einen Beschluss gegen die antisemitische BDS-Kampagne gefasst. Genauer begründet Jonas Holnburger von der EGB-Jugend diese Position noch einmal in einem Interview:https://jugend.dgb.de/dgb_jugend/material/magazin-soli/soli-archiv-2018/soli-aktuell-8-92018/++co++b813dfcc-90ad-11e8-a678525400d8729f?fbclid=IwAR1S8Mt6UYvh1gYdmXcd8YYcO2j37DrX5vUEdxdxpBu50q_S08vvyl4Z3rA
Die junge GEW Dortmund hat im Vorfeld der Veranstaltung versucht über interne Kontaktaufnahme zu DGB und GEW Stadtverband den DGB zum Rückzug aus dem Veranstalter*innenkreis zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Betrachtet man die medialen Reaktionen auf Auftritte von Andreas Zumach, wird aus unserer Perspektive ersichtlich, dass dieser Redner keine analytische Perspektive auf die Konfliktlinien wirft, sondern die Fronten befeuert. Er stellt seine Position einseitig da und versucht kritische Nachfragen zu umgehen. Beispielsweise hat er in einer Fragerunde einer kritischen Person vorgeworfen, sie habe den Holocaust nicht verstanden. Um tatsächlich eine „Bildungsveranstaltung“ mit einer „differenzierten
Diskussion“ durchzuführen ist dieser Referent wohl die absolut falsche Wahl. Leider war der DGB auch auf Bitten der Jüdischen Gemeinde nicht dazu bereit, das Podium zumindest um eine weitere Position zu erweitern, damit eine kritische Diskussion möglich ist. Wir zeigen uns solidarisch mit der Jüdischen Gemeinde Dortmund, die in einer Stellungnahme (https://www.ruhrbarone.de/stellungnahme-der-juedischen-gemeinde-dortmund-zurdgb-veranstaltung-israel-palaestina-und-die-grenzen-des-sagbaren/176133) bereits ebenfalls klar gegen diese Veranstaltung Position bezogen hat.
Wir als junge GEW Dortmund distanzieren uns deutlich von der Veranstaltung. Wir stellen uns gegen jede Form von Antisemitismus und verurteilen insbesondere die moderne Form des als “Israelkritik” getarnten Antisemitismus. Schon in der Veranstaltungsankündigung wird bewusst offengehalten, ob die Kampagne BDS als antisemitisch einzustufen sei. Jonas Holnburger der DGB Jugend begründet jedoch noch einmal deutlich warum dies falsch ist: “Die Organisationen fordern einen kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Boykott Israels, stellen dessen Existenzrecht in Frage, kooperieren mit antisemitischen Organisationen und tolerieren antisemitische Aktionen und Positionen in ihren eigenen Reihen.” Zudem plädieren wir auf eine enge Zusammenarbeit mit unserer Partnerorganisation, dem israelischen Dachverband Histadrut und der palästinensischen Gewerkschaft PGFTU, die beide eng zusammenarbeiten und die BDS Kampagne ablehnen. Wir bedauern sehr, dass uns dies in den Strukturen unserer eigenen Organisationen begegnet und werden weiterhin gegen diese Positionen ankämpfen.
Um unseren Widerspruch gegen die Veranstaltung, den BDS und gegen jeden Antisemitismus deutlich zu machen, rufen wir zu einer Kundgebung am 11.12.2019 ab 18.00 Uhr, auf dem Vorplatz der ev. Pauluskirche, Schützenstraße 35 in Dortmund auf.

Update (3) vom 9. Dezember 2019: Attac wehrt sich: Keine Nähe zu Antisemiten!

In der Stellungnahme der Jüdischen Gemeinde wird versucht, die
globalisierungskritische Bewegung Attac in die Nähe von
rechtspopulistischen oder sogar neonazistischen Antisemiten zu rücken.
Dies ist ebenso falsch wie bedauerlich. Mit einem angeblichen Zitat
(„das wird man ja wohl noch sagen dürfen“) und dem angeblichen Ausspruch
eines uns unbekannten angeblichen Gewerkschafters soll leider nur
Stimmung gemacht, aber gerade die sachliche Erörterung unterschiedlicher
Bewertungen unterbunden werden.


Mit dieser Methode soll eine bisher unterbliebene, öffentliche
Diskussion eines Ratsbeschlusses weiter verhindert werden, der eine
Einschränkung der Rede- und Gedankenfreiheit bedeutet, wie es in der
Rücknahme der Verleihung des diesjährigen Nelly-Sachs-Preises an die
Autorin Kamila Shamsi überdeutlich wird. Wir wenden uns gegen die
zahlreichen Versuche, legitime Kritik an der völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Politik der israelischen Regierung in den
besetzten Gebieten als antisemitisch zu diffamieren. Wir rufen die
Dortmunder auf, sich nicht durch Verleumdungen abhalten zu lassen, sich
durch den Besuch unserer Veranstaltung am Mittwoch in der Paulus-Kirche
eine eigene Meinung zu bilden.

Die Junge GEW und die Antifaschisten haben selbstverständlich das Recht
auf Demonstration und freie Meinungsäußerung, das wir aber auch für uns
einfordern. Im Anschluss an den Vortrag können sie an erster Stelle in
der Reihe der Meinungsäußerungen zu Wort kommen.

Attac Regionalgruppe Dortmund

Darüber hinaus zur Kenntnis:

„An die eigene Vergangenheit gekettet – Deutschlands Einstellung zur Ungerechtigkeit gegenüber dem palästinensischen Volk

17. Oktober 2019 um 8:53 Ein Artikel von: Redaktion

Der Beschluss des Bundestages vom 17. Mai, mit dem die BDS-Kampagne als ein Beitrag zur zunehmenden Bedrohung durch den Antisemitismus in Europa verurteilt wird, ist ein schwerwiegender Anlass zur Sorge. Er markiert die BDS, eine gewaltfreie palästinensische Initiative, als antisemitisch und fordert die Bundesregierung auf, nicht nur der BDS selbst, sondern einer jeden sie fördernden Organisation jegliche Unterstützung zu verweigern. Der Beschluss verweist auf die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden, und zwar ohne Israels anhaltenden Missbrauch des grundlegendsten Menschenrechts, der Selbstbestimmung, bezüglich des palästinensischen Volkes auch nur zur Sprache zu bringen. Ebenso wenig verweist dieser Beschluss auf die bedeutende Rolle, die eine frühere BDS-Kampagne, nämlich die gegen den Rassismus Südafrikas, bei der Herbeiführung einer gewaltlosen Beendigung des dortigen Apartheid-Regimes gespielt hat; auch fehlt jeder Hinweis darauf, dass selbst diejenigen, die aus strategischen oder pragmatischen Gründen gegen diese BDS-Kampagne gewesen waren, nie versucht hatten, deren Vertreter zu dämonisieren. Von Richard Falk & Hans von Sponeck.

Was uns besonders verstört, ist der von der deutschen Legislative gewählte Ansatz, der BDS durch Rekurs auf Strafen beizukommen. Es sollte nicht vergessen werden, dass im Fall von Südafrika sich die dortigen Aktivisten trotz vieler Widerstände gegen die damalige BDS-Kampagne nie hatten sagen lassen müssen, dass es rechtlich und moralisch inakzeptabel sei, sich an dieser Kampagne zu beteiligen. Die Einwände basierten auf Problemen der Durchführbarkeit oder der Auswirkungen.

Um unsere Position auf den Punkt zu bringen: Wir glauben, dass diese Entschließung des Bundestags der falsche Weg ist, aus der deutschen Vergangenheit zu lernen. Anstatt sich für Gerechtigkeit, Recht und Menschenrechte zu entscheiden, wurden vom Bundestag das palästinensische Volk kein einziges Mal auch nur erwähnt; und so auch nicht die Torturen, denen dieses Volk ausgesetzt ist – und gegen die sich die BDS-Initiative schließlich wendet. Wer für eine israelische Unterdrückungs- und Expansionspolitik grünes Licht gibt, befürwortet damit implizit eine Politik der kollektiven Bestrafung und des Missbrauchs der Schwachen.

Wir schreiben als zwei Menschen mit sehr unterschiedlicher Vergangenheit; gleichwohl setzen wir uns beide für eine starke UNO ein sowie dafür, dass alle Länder, die großen wie die kleinen, zur Einhaltung des Völkerrechts und zur Förderung der globalen Gerechtigkeit verpflichtet sind.

Gemeinsam sind wir uns auch weiterhin des Holocausts als einer schrecklichen Tragödie für das jüdische Volk und für andere ohne Einschränkung voll bewusst, wie auch der Tatsache, dass dieser ein schreckliches Verbrechen des ehemaligen Deutschlands und anderer Länder in der Vergangenheit darstellt. Wir teilen eine vorrangige Bindung an eine globale Ordnung, der zufolge solche Tragödien und Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk wie auch gegenüber allen anderen Völkern (wo auch immer) ausgeschlossen sind. Und wir sind uns dessen bewusst, dass solche Tragödien und Verbrechen auch nach 1945 gegen Ethnien und andere Zielgruppen verübt worden sind, unter anderem in Kambodscha, Ruanda, Jugoslawien und in jüngerer Zeit gegen die Rohingya in Myanmar.

Auch unser Hintergrund ist ein verschiedener. Einer von uns ist Deutscher und Christ (von Sponeck), der andere (Falk) ist Amerikaner und Jude. (Zu unseren Biographien mehr am Ende dieses Beitrags.)

Wir haben das Versagen der internationalen Diplomatie analysiert, für den Konflikt zwischen Israel und Palästina eine Lösung zu finden. Wir glauben, dass für dieses Versagen Israel die Hauptverantwortung trägt, was dem palästinensischen Volk jahrzehntelang permanent großes Leid beschert hat. Wir glauben, dass die Wurzel dieses Scheiterns in dem zionistischen Projekt liegt, einer nichtjüdischen Gesellschaft einen jüdischen Staat aufzuzwingen. Dies hat unweigerlich zum palästinensischen Widerstand und zu einer zunehmend rassistisch geprägten Struktur geführt, die das gesamte palästinensische Volk in seinem eigenen Land unter Kontrolle halten soll. Wir glauben weiterhin, dass Frieden für beide nur dann eintreten kann, wenn diese Apartheidstrukturen abgebaut werden.

Vor diesem Hintergrund empfinden wir die Zurückhaltung, mit der Bundesregierungen und Teile der deutschen Öffentlichkeit auf diesen Zustand der Ungerechtigkeit reagieren, als inakzeptabel und die stillschweigende Billigung dieser Ungerechtigkeit gerade in Deutschland als besonders besorgniserregend und äußerst bedauerlich. Wir beide und unsere Familien sind in verschiedener Hinsicht selbst Opfer des Nationalsozialismus. Dies hindert uns jedoch nicht daran, darauf zu bestehen, dass das deutsche Zögern, den israelischen Ethnozentrismus zu kritisieren, ein gefährliches Missverständnis der Relevanz der nationalsozialistischen Vergangenheit darstellt. Der Holocaust sollte vor allem dazu dienen, die Welt vor Ungerechtigkeit, vor staatlichen Verbrechen und vor der Entwicklung, dass ein ganzes Volk aufgrund seiner rassischen und religiösen Identität zum Sündenbock gemacht wird, zu warnen. Er sollte Israel nicht von rechtlicher und moralischer Verantwortlichkeit befreien, nur weil seine Führung jüdisch ist und viele seiner jüdischen Bürger mit Opfern des Holocaust verwandt sind.

Durch die Annahme eines Grundgesetzes durch die Knesset im Jahr 2018, wonach Israel der National-Staat des jüdischen Volkes ist, beansprucht Israel nunmehr eine Identität, als wäre ihm damit ein Mandat der Straflosigkeit verliehen. Die Lehre des Holocaust hat mit Macht-Missbrauch, mit Verbrechen und mit der Zuschreibung der Sündenbockrolle zu tun und sollte nicht durch die subversive Folgerung pervertiert werden, dass Juden deshalb, weil sie in der Vergangenheit schreckliche Verbrechen zu erleiden hatten, von jeder Rechenschaftspflicht befreit sind, wenn sie heute selber in erheblicher Weise die Menschenrechte brechen. Wir erinnern an Albert Einsteins Brief an Chaim Weizmann von 1929, in dem er schrieb:

“Wenn es uns nicht gelingt einen Weg zu finden, auf dem wir mit den Arabern ehrlich kooperieren und uns mit ihnen einigen können, dann haben wir aus unseren zweitausendjährigen Leiden überhaupt nichts gelernt – und verdienen das Schicksal, das uns bevorsteht!”

Wir sind mit der Schlussfolgerung des ‚verdienten Schicksals‘ nicht einverstanden. Gleichzeitig meinen wir aber, dass die israelische Regierung sich der Tatsache stellen muss, dass ein Großteil des bedrohlichen Anstiegs der anti-jüdischen und anti-israelischen Stimmung in Europa und anderswo auch auf die von ihr selbst verfolgte Politik zurückzuführen ist.

Diese Stimmung ist freilich keineswegs ursächlich für die erbärmliche Niedertracht solch pathologischer Mordattacken wie die von Halle oder auch von Christchurch. Derartige Taten finden ihren Nährboden viel eher in den Hetzreden unbelehrbarer politischer ‚Rattenfänger‘ aus rechtsradikalen Kreisen.

Die fraglos vorhandene Bereitschaft der Bevölkerungsmehrheit, sich solidarisch gerade auch um die jüdischen Mitbürger in Deutschland und auf der ganzen Welt zu scharen, würde durch eine an Recht und Friedensbereitschaft orientierten Politik Israels vermutlich enorm zunehmen.

Wir erwarten, dass sich unser Plädoyer trotzdem starken Angriffen als antizionistisch und sogar als antisemitisch ausgesetzt sehen wird. Ein Teil der Funktion solcher Angriffe besteht darin, deutsche Reaktionen einfach kaltzustellen: zum einen durch Erinnerungen an den Holocaust, zum anderen durch die falsche Unterstellung, dass die Kritik an Israel und am Zionismus einen erneuten Angriff auf Juden und das Judentum darstellt. Wir bestehen darauf, dass dies absolut nicht der Fall ist. Richtig ist genau das Gegenteil. Die betreffende Kritik bekräftigt, dass die Grundwerte der jüdischen Religion und die humanistischen Werte im Allgemeinen an Gerechtigkeit gebunden sind und dass „Antisemitismus“-Verleumdungen antisemitische Verleumdungen eine völlig inakzeptable Taktik sind, um Israel vor berechtigter Kritik zu schützen. Solcherart Einschüchterung gilt es zu bekämpfen und zu überwinden.

Aus dieser Perspektive ist es unser Glaube und unsere Hoffnung, dass die Menschen in Deutschland stark genug sind, um sich von der durch schlechte Vergangenheits-Erinnerungen bewirkten moralischen Taubheit zu befreien und am Kampf gegen die Ungerechtigkeit teilnehmen zu können. Eine solche Dynamik der moralischen Kräftigung würde sich darin manifestieren, dass Deutschland für das palästinensische Leid Empathie zeigt und gewaltfreie Initiativen unterstützt, die darauf abzielen, Solidarität mit der palästinensischen Nationalbewegung zu bekunden und diese zu ermutigen, die Grundrechte aufrecht zu erhalten, insbesondere das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung.

Wir sind ermutigt, dass unser Handeln hier in Deutschland nicht im luftleeren Raum stattfindet. Wir nehmen die engagierten Bemühungen der Drei Humboldtianer (zwei Israelis und ein Palästinenser – siehe hier) zur Kenntnis, die gegen die israelische Apartheid protestierten; ebenso die Unterstützung, die die Aktionen dieser jungen Menschen durch die Bevölkerung erfahren haben. Ihre inspirierende Botschaft ist unserer eigenen ähnlich: Es ist an der Zeit, dass die deutsche Regierung und Bürger ihr Schweigen brechen und anerkennen, dass die NS-Vergangenheit am besten durch friedlichen Widerstand gegen die ungerechte Unterdrückung des palästinensischen Volkes überwunden werden kann. Verbunden fühlen wir uns auch mit dem offenen Brief, der von Intellektuellen aus der ganzen Welt, darunter auch vielen aus Israel, unterstützt wird, und fordern somit auf, alle Versuche zu beenden, Kritik an Israel mit Antisemitismus gleich zu setzen.

Wir glauben, dass der Frieden zwischen Juden und Arabern in Palästina davon abhängt, dass Schritte unternommen werden, um die Gleichheit der Beziehungen zwischen diesen beiden zu lange in gegenseitige Kämpfe verstrickten Völkern wiederherzustellen. Dies kann nur geschehen, wenn – als ein Auftakt zum Frieden – die derzeitigen Apartheidstrukturen abgebaut werden. Der südafrikanische Präzedenzfall zeigt uns, dass dies möglich ist – aber nur, wenn sich internationaler Druck mit nationalem Widerstand verbindet. In Südafrika schien das bis zu dem Moment unmöglich zu sein, bis dieser eingetreten ist. Auch in Bezug auf Israel scheint das derzeit unmöglich zu sein. Aber das Unmögliche geschieht, wenn die Forderungen der Gerechtigkeit in Kraft treten und so die Unterstützung durch Menschen guten Willens aus der ganzen Welt mobilisiert wird. In den großen antikolonialen Bewegungen der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der Lauf der Geschichte die schwächere Seite militärisch begünstigt, und so sollten wir trotz des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses, das die israelische Dominanz favorisiert, unsere Hoffnung auf ein gerechtes Ergebnis für die Israelis und die Palästinenser keineswegs aufgeben.

Es ist auch wichtig zu bedenken, dass es keinen Frieden geben kann, solange dem palästinensischen Volk dessen Grundrechte verweigert werden. Jede Vereinbarung, die unter den Bedingungen der Apartheid erzielt wird, ist nichts weiter als ein Waffenstillstand. Ein nachhaltiger Frieden hängt davon ab, dass die Gleichheit der beiden Völker auf der Grundlage beidseitiger Selbstbestimmung anerkannt und umgesetzt wird. Deutschland und die Deutschen haben die große Chance, eine solche Vision zu fördern und ihr Land damit von einer schweren Altlast zu befreien. Das ist es, was wir dem jüdischen und dem palästinensischen Volk letztlich schuldig sind, egal, ob wir nun Deutsche oder Amerikaner oder was auch immer sonst sind.


Richard Falk lehrte 40 Jahre an der Princeton University, zuletzt als Albert G.Milbank Professor für Internationales Recht. Seine Mitte des 19.ten Jahrhunderts in die USA ausgewanderten Großeltern väterlicherseits stammten aus Bayern. Von 2008 bis 2014 war Falk Sonderberichterstatter für das besetzte Palästina im Namen des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu internationalen Themen; jüngeren Datums: Power Shift: On the New Global Order (2016) und Palestine: The Legitimacy of Hope (2017).

Hans von Sponeck ist der Sohn eines Generals, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von den Nazis hingerichtet wurde. Er ging 1957 nach Israel und arbeitete dort in Moschawim und Kibbuzim. 32 Jahre diente er bei den Vereinten Nationen, zum Schluss im Rang eines beigeordneten UN Generalsekretärs. Seine UN-Karriere endete, als er als UN-Koordinator des Oel-für-Nahrungsmittelprogramms (1998-2000) aus Protest gegen die Irak Sanktionspolitik des UN-Sicherheitsrates zurücktrat. Seine neueste Publikation: The Politics of Sanctions on Irak and the UN Humanitarian Exception, U. of California Press (2017).“

Quell: NachDenkSeiten

Anmerkung:

Mag sich jeder selbst eine Meinung über diese Reaktionen bilden. Ich kann nur empfehlen – auch den Kritikern – unvoreingenommen diese Veranstaltung zu besuchen und nach dem Vortrag von Andreas Zumach an einer sachlichen Diskussion zu beteiligen.

(C.S.)

Zur Kenntnis gegeben sei meinen LeserInnen auch noch ein Brief (Quelle: Telepolis) von Rolf Verleger an die Hochschulrektorenkonferenz (HRK).

Hinweis: Hier geht es zur Eigendarstellung von BDS.

Nachdenktreff Dortmund – Jürgen Wagner geht morgen dieser Frage nach: „Wird Europa in Mali verteidigt?“

Einen wichtigen Termin in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund (gegenüber vom Nordausgang des Hauptbahnhofs Dortmund) sollten Interessierte am kommenden Montag nicht versäumen. Die erste Veranstaltung von Attac, DGB, Nachdenktreff und AG Globalisierung im neuen Jahr steht auf dem Programm.

Es wird folgender Frage nachgegangen, die sich gewiss manche Menschen bereits gestellt haben:
„Wird Europa in Mali verteidigt?“

Attac schreibt in seiner Einladung zur Veranstaltung:

„Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“,  betonte Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2002. Was bedeutet es nun, wenn Außenminister Gabriel fordert, Europa möge in der Außen- und Sicherheitspolitik „französischer“ werden.

Film „Schattenkrieg in der Sahara“

Der Dokumentarfilm „Schattenkrieg in der Sahara“ (Frankreich 2015) erforscht die wahren Hintergründe des Mali-Konflikts und legt dar, welche Interessen sich hinter der Militarisierung und Destabilisierung einer ganzen Region verbergen. Er analysiert die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Parteien in diesem Konflikt um Erdöl, Erdgas, Uran, seltene Erden und unter dem Wüstensand verborgene Wasserreservoirs. Die Spurensuche führt vom Einsatzgebiet der französischen Armee in die Salons der Londoner Bankiers, von den Flüchtlingslagern in Burkina Faso bis ins Pentagon.

Nach dem Film berichtet Jürgen Wagner, geschäftsführender Vorstand der
Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI), über die neuen
Aufrüstungsbeschlüsse der EU: Permanente strukturierte Kooperation und
Aufbau einer EU-Armee.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel nannte PESCO einen „Meilenstein
der europäischen Entwicklung“ und einen großen „Schritt in Richtung
Selbstständigkeit und Stärkung der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU“.

Geht es bei dieser neuen Strategie um Friedenssicherung und
Terrorbekämpfung oder eher um die Verteidigung unseres westlichen
Wohlstandsmodells durch die Sicherung des Zugriffs auf billige
Rohstoffe und die Sicherung von Transportwegen und Absatzmärkten?

Ort und Zeit

Logo via AGNRW

Steinstraße 48, 44147 Dortmund

Montag, 15. Januar 2018, 19 Uhr, Auslandsgesellschaft NRW Dortmund

Hinweis: Einen Bericht über die Veranstaltung lesen Sie, liebe LeserInnen, in den kommenden Tagen hier auf diesem Blog.

Ex-Wirtschaftsminister Ecuadors Pedro Paez zu Gast beim Nachdenktreff Dortmund über Globalisierung und Neoliberalismus. Dystopisch anmutende Aussichten, die an die Nieren gingen

Dr. Pedro Paez (rechts) mit Übersetzerin Kerstin Sack (links). Fotos: Claus Stille

Das internationale Handels- und Finanzsystem ist weiterhin in keinem guten Zustand. Experten rechnen fest mit einer neuen Finanzkrise. Die sozialen Errungenschaften der Bevölkerungen sind längst angegriffen und beschädigt. Fazit der hier beschriebenen Veranstaltung: Sie dürften künftig noch weiter abgebaut werden.

Pedro Paez: Steuerflucht und Steuervermeidung zu verhindern wird auch künftig eine Illusion bleiben

Gerade als Dr. Pedro Paez, der vormalige Wirtschaftsminister Ecuadors zu einem Vortrag bei der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) in Genf weilte, erhielt er Kenntnis von den Paradise Papers. Gestern referierte Paez bei der Veranstaltung „Nachdenktreff“ in der Reihe „Globalisierung konkret“.

Hoch angesehene Monarchien, Gruppe Unternehmen oder Oligarchen, welche durch die Paradise Papers bekannt geworden seien, hätten „am Rande der Legalität, aber auf jeden Fall außerhalb der Legitimität“ operiert. Steuervermeidung oder Steuerflucht zu verhindern werde auch in diesem Falle eine Illusion bleiben, war sich Pedro Paez sicher. Schließlich hätte sich auch nach dem Bekanntwerden der Panama Papers nichts verbessert. „Im Gegenteil. Es ist noch schlechter geworden“, konstatierte der Ex-Wirtschaftsminister Ecuadors gestern in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund.

Wir befinden uns in einer kriminellen Situation

Der Niedergang der Möglichkeiten der Regulierung bedeute gerade für die Länder des Südens geringere Möglichkeiten zur Entwicklung. Es gebe eine immer größere Konzentration von Reichtum und damit eine enorme Fülle von Macht auf globaler Ebene. Dazu käme noch die Rolle der Kommunikationsmedien und der Wissenschaft. Einer der wichtigsten Intellektuellen der USA, Noam Chomsky, habe nachgewiesen, dass die Herstellung eines Konsenses ein großes Problem ist. Die Korruption durchziehe eigentlich alles. Was mit den Finanzmärkten zu tun habe. Wir befänden uns eigentlich „in einer kriminellen Situation“. Es gehe nicht um Einzelfälle. Vielmehr sei das „ein systemischer Prozess“.

0,001 Prozent der Reichen agieren zum Nachteil des Rests der Menschheit

Die Mehrheit der Bevölkerung werde „disqualifiziert“. Es sei das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass diejenigen, welche die Gesetze anwenden und die Institutionen, die zur Kontrolle vorgesehen seien, gegen eben diese Gesetze verstießen. Was im einher gehe mit der „Degradierung der Zivilgesellschaft“. Vergleichsweise geringe 0,001 Prozent der Reichen agierten zum Nachteil des Rests der Menschheit.

Oxfam:  Acht Milliardäre besitzen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung

Und Paez zitierte die von der Nichtregierungsorganisation Oxfam veröffentlichten Berichten zur jährlich immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich. Unterdessen (2016) verfügten demnach acht Milliardäre genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Vor drei Jahren seien es noch 285 gewesen. Paez: „Ein Prozess, der in der Geschichte der Zivilisation noch nie dagewesen ist.“ Das bedeute eine Enteignung der Menschen, auch die Unmöglichkeit wichtige Entscheidungen zu treffen. Das betreffe auch wichtige Anteile der Unternehmen und der Nationalstaaten. Gerade in den Ländern des Südens sei dadurch ein wichtiger Part der öffentlichen Wirtschaft zerstört worden. Das sei ein Prozess, der uns unpersönlich erscheine. Anscheinend seien die „unsichtbaren Märkte“ dafür verantwortlich. Es erscheine uns wie „ein Naturereignis, das unabwendbar“ sei. Die Erzählung wäre, dass nur diese Märkte effizient seien. Alles was um das Geld herum passiere, erscheine uns als „ein unvermeidliches Phänomen“.

Soziale Verhaltensweisen wurden durch antisoziale Verhaltensweisen ersetzt

Einst habe der britischer Minister Gresham den Goldgehalt des Geldes verringern lassen. Es gab dann sozusagen gutes und schlechtes Geld. Dasselbe passiere bei uns heute mit der Ethik. Es gibt gutes Verhalten und schlechtes. Soziale Verhaltensweisen wären durch antisoziale Verhaltensweisen ersetzt worden. Diese negativen Verhaltensweisen verbrauchten immer mehr Ressourcen. Letzterer – in den letzten Jahrzehnten rasend schnell verstärkt – hätten eine unglaubliche Konzentration von Macht zur Folge gehabt. Die Globalisierung sei eine neue Form des Kapitalismus. Verbunden mit der Durchlässigkeit der Grenzen und der Zerstörung des Nationalstaates. Was vorher die Voraussetzung zu dessen Entwicklung gewesen sei, verkehre sich ins Gegenteil. Alles Versprechungen, die den Menschen gemacht worden betreffs einer Verbesserung ihrer Verhältnisse seien nicht eingetreten. Höchstens für einen geringen Prozentsatz von ihnen von Nutzen gewesen. Dr. Paez: „Das Paradoxe daran, dass sich all dies entwickelt hat in einer der besten Phasen des meisten Wachstums.“ Im Grunde sei ab den 1970ern damit begonnen worden, alles Soziale – angefangen vom New Deal in den USA – und größeren Umverteilung in Zeiten einer starken Sozialdemokratie einem Zurückdrehen zu unterziehen.

Schlimmer Mechanismus: Sich Verschulden, um Schulden zu bezahlen

Die Überproduktion habe Krisen entstehen lassen. Produktion und Konsum seien auseinander gefallen. Man verlegte sich auf die Spekulation. In der ersten Phase wurden Offshore-Center vergrößert und Steueroasen geschaffen. Die zweite Phase wäre die Steigerung der Zinsraten seitens der FED. „Die Diktatur der Weltbank, der WTO und des IWF“, die auf der Grundlage der Verschuldung von Staaten agierte, führte auch zu einem Druck auf selbige, um ihre Politik zu ändern. Die Derregulierung der Finanzen, bezeichnete Pedro Paez als „unverantwortlich“. Die Situation der Menschen in den einzelnen Ländern verschlechterte sich. Der Mechanismus dahinter: „Sich verschulden, um Schulden zu bezahlen.“ Paez warnte ausdrücklich davor, dass uns dasselbe jetzt nochmal bevorstehe. Die dritte Phase zeige die zerstörerische Kraft dieser Politik. Paez sieht eine weltweite Instabilität des Finanzsystems. Von der ersten bis zur dritten Phase habe sich der Prozess umgekehrt. Ein zwangsläufiger Prozess meint Paez, der sich selbst verstärke.

Angebliche Krisenlösungen beruhen auf Nicht-Nachhaltigkeit

Alle angeblichen Krisenlösungen seien Scheinlösungen, meint Paez. Weil es Instrumente sind, welche Krisen weiter verschärften. In Zeiten einer bevorstehenden, nie zuvor gesehenen technischen Revolution, sehe es zwar zunächst nach einer ständigen Verbesserung des Lebens aus. In Wirklichkeit aber hätten wir es mit einer systemischen Krise zu tun, die auf einer Nicht-Nachhaltigkeit beruhe.

Dr. Paez: Die etzte Finanzkrise war nur die Spitze des Eisberges

Die Modernisierung unserer Gesellschaft lasse das Materielle hinter uns. Wir träten in eine „post-industrielle Phase“ ein. Die unsicheren Beziehungen in der Finanzwelt führe zur Anwendung von Praktiken (etwa Schattenbanken, Derregulierung), welche früher verboten gewesen seien. „Vormoderne Instrumente“, sagte Paez, „die man uns als ganz tolle Instrumente“ verkaufe, die jedoch nur zum Bankrott „und zu noch größeren Problemen unserer Zivilisation“ führten. Die letzte Finanzkrise sei nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Pedro Paez: „Wir werden erleben, dass wir wieder in genau so eine Phase eintreten. Das wird zu einer noch größeren Enteignung führen. Sowie eine noch geringere Einflussnahme der Politik hervorrufen.

Schlimme Folge: „Weniger Instrumente und weniger Macht für die ganze Menschheit“

Es werde zu einer noch größeren Konzentration von Geld und Macht kommen. „Das ist dann die neue Nachkrisenwelt“. Die Spekulanten würden noch mehr Instrumente in die Hand bekommen, um ihre Macht auszuüben. Das hieße: „Weniger Instrumente und weniger Macht für die ganze Menschheit.“

Wir stünden, ist sich Pedro Paez sicher, vor einer Epoche großer Gefahren. Das werde nicht nur den Süden, sondern auch den Norden betreffen. Mit verheerenden Folgen für die Ethik, die Gesetzgebung, den Umweltschutz und vielen anderen mehr.

Im Vergleich zu Trump erscheine uns Bush jr. moderat, dessen Vater noch moderater und im Vergleich zu diesem Reagan wiederum als moderater und im Vergleich zu diesen Nixon moderater. „Eisenhower“, schmunzelte Paez, „war im Vergleich zu alldem fast Kommunist.“

Die Bevölkerung werde sukzessive um ihre sozialen Errungenschaften gebracht, meint Pedro Paez

Die dazu ergriffenen Maßnahmen erinnerten an das frühere Agieren der extremen Rechten. Pedro Paez: „Manche angebliche Krisenlösungen kommen gefährlicher Weise sehr einfach daher.“ Manche dieser „Lösungen“ habe man vor 50 oder 60 Jahren in Europa erlebt. Durch die neuen Technologien seien diese Lösungen viel einfacher ins Werk zu setzen. Leider litten wir unter dem Druck der größten Mächte unserer Welt. Dr. Paez: „Während wir hier sitzen erhöht sich die finanzielle Intensität gigantisch“. Allein durch verschiedene Instrumente, etwa der Kryptowährung Bitcoin verringerten sich die Kontrollmöglichkeiten des Staates bzw. verunmögliche sich eine Übernahme von Verantwortung. Eigentlich sollten alle Gewinne aus produktiven Handlungen hervorgehen. Alle produktiven Aktivitäten seien ein Teil der Realökonomie.

Durch „den Staatsstreich von Monica Lewinski“, lächtelte Paez süffisant, kamen die Finanzderivate samt Derregulierung auf. „Es scheint, als sei Präsident Clinton nicht ganz bei Bewusstsein gewesen, als er die entsprechende Gesetzesänderung unterschrieben hat.“

Reise nach Jerusalem – Die vorhandenen Schulden können realwirtschaftlich niemals beglichen werden

Allein die traditionellen Schulden würden zu einer Insolvenz führen. „Mit dem was auf der Welt erwirtschaftet wird“, gab Pedro Paez zu bedenken, „können die Schulden niemals erwirtschaftet werden“. Wenn man den „Wert“ der Derivate hinzuzähle erst recht nicht. Allein die Deutsche Bank habe 57 Billionen Dollar an Derivaten gehabt. Bei JP Morgan Chase war es noch schlimmer. Eine einzige Bank hatte so viel an Schulden wie die ganze Welt (63 Billionen) erwirtschaftet hat. Peaz warf zur Veranschaulichung das Spiel „Reise nach Jerusalem“ ein. Man habe nur sechs Stühle, aber 21 Tänzer. Aber dann kommen auf einmal noch 150 dazu. Pedro Paez: „Könnt ihr euch vorstellen, was passiert, wenn die Musik auf einmal aufhört?“ Die Politik der Zentralbank habe anstatt mehr Stühle zur Verfügung zu stellen, gemacht, dass die Musik einfach nicht aufhört. „Jede Sekunde kommt ein neuer Tänzer hinzu! Das ist eine explosive Situation.“

Aber wie kann von Überproduktion gesprochen werden, wenn auf der anderen Seite Menschen Hunger leiden?“, gab Dr. Paez zu bedenken

Die Ergebnisse für die Bevölkerung seien gravierend. Für die Gesundheit heißt es, ist kein Geld da. Für Flüchtlinge gibt es kein Geld. Für Umweltprojekte gibt es auch kein Geld. Auch nicht für die Entwicklung von Wissenschaft und die Kultur. Unter dem Tisch ist jedoch Geld für die Rettung von Banken da. Paez: Zur Verantwortung würden sie für Verfehlungen jedoch nicht gezogen – „too big to fail. Too big to jail“. Die Politik erzähle es gehe um Freiheit und um Demokratie, wenn irgendwo militärisch interveniert wird. Dafür sei Geld da. Diese ganze fehlgeleiteten Finanzwelt überdecke schon lange die Realwirtschaft. Es werde dafür gesorgt, dass die vorhandene Torte nicht wächst. Das koste Arbeitsplätze. Nicht nur die Kriegsindustrie töte. Millionen Menschen hungerten. Allein etwa u.a. dadurch, weil Brennstoffe aus Pflanzen gemacht würden – subventioniert durch die stärksten Länder der Welt. „Ich weiß, dass euch die Dinge, die ich hier sage ans Herz, den Kopf schwer machen und vielleicht an die Nieren gehen. Aber wie kann von Überproduktion gesprochen werden, wenn auf der anderen Seite Menschen Hunger leiden?“ Dabei sei es noch nie zuvor möglich gewesen so viel Produktivkraft zu entwickeln wie jetzt. Das vorhandene System mache es indes unmöglich dies zum Vorteil aller Menschen zu nutzen.

Der Neoliberalismus hat nie das Ziel gehabt, die Bedingungen für die Mehrheit der Menschen zu verbessern

Aus der ganzen Misere heraus könne auch der Westen nur durch die weitere Senkung wichtiger Standards kommen. Die Differenzen lägen zwischen den Oligarchien, der Bourgeoisie und der Bevölkerung der Welt. Der Neoliberalismus bedeutete die Verbesserung der Einkommen der Oligarchien und führte zugunsten des Konsums. Die Torte werde immer kleiner.

Das habe zur Folge, dass der Kalte Krieg sich wieder erhitze. Was auch bedeute, einen Finanz-, Handels und Wirtschaftskrieg erleben zu müssen.

Rechte Kräfte in Lateinamerika führen Restauration herbei

Für Lateinamerika sei zu verzeichnen, dass in einigen Ländern, wo progressive Regierungen wirken konnten und Investitionen anstießen negative Auswirkungen – sogar eine Verbesserung auf das Bruttoinlandsprodukt wurde möglich – auf die Bevölkerungen gemindert werden konnten. Nun verschlechtert sich das wieder. Leider greife nun wieder eine konservative Restauration rechter Kräfte in Lateinamerika um sich. In Argentinien und Brasilien sind erneut konserva­tive Kräfte an der Macht. Auch in Peru und Paraguay sind die Linksregie­rungen abgewählt.

Der Neoliberalismus habe nicht zum Ziel gehabt, die Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerungen zu verbessern.

Dystopisch anmutenden Aussichten, die an die Nieren gingen. Das Schreckensszenario ist längst in Anwendung

Links im Bild Moderator Till Strucksberg.

Ein spannender, sachlich fundierter Vortrag des Ex-Wirtschaftsministers von Ecuador Pedro Paez in Dortmund. Mit dystopisch anmutenden Aussichten, die an die Nieren gingen. Eine ehrliche Sicht auf die Dinge. Das gruselige daran: die Schreckensszenario ist längst in Anwendung .Den Veranstaltern des Nachdenktreffs, DGB Dortmund Hellweg und Attac Dortmund ist dafür zu danken. Moderator der gut besuchten Veranstaltung war Till Strucksberg (Attac), die Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche hatte Kerstin Sack (Attac-Koordinierungskreis) übernommen.

 

 

 

Hier geht es zum Vorbericht.

Gast beim heutigen Nachdenktreff in Dortmund ist der ehemalige Wirtschaftsminister Ecuadors Dr. Pedro Paez. Titel der Veranstaltung: Alternativen zum Neoliberalismus – In der Reihe „Globalisierung konkret“

Eine gewiss interessante Veranstaltung mit einem spannendem Thema, zu welchem überdies ein kompetenter Referent geladen ist, erwartet die ZuhörerInnen des heutigen Nachdenktreffs in der Auslandsgesellschaft Dortmund. Titel der Veranstaltung: Alternativen zum Neoliberalismus – In der Reihe „Globalisierung konkret“.

Der Hintergrund

Das internationale Handels- und Finanzsystem ist weiterhin in keinem guten Zustand. Experten rechnen fest mit einer neuen Finanzkrise. Schlimmeren Ausmaßes als die vorangegangene. Wann die eintritt vermag allerdings keiner von ihnen vorherzusagen. Umso wichtiger wurden Ansätze eines alternativen Währungs- und Finanzsystems, die in Lateinamerika erprobt wurden: Durch eine gemeinsame Währung („Sucre“) und die neue internationale Banco del sur (Bank des Südens) sollte die Dominanz des US-Dollars gebrochen werden. Die Manipulationen an Öl- und Goldmärkten, die Rohstoffländer wie Russland und Venezuela destabilisieren, sollten un­terlaufen werden.

Referent ist Dr. Pedro Paez, einer der einflussreichsten Ökonomen Südamerikas

Als Gegenprojekt zum US-dominierten Freihandelsplan für Gesamt­amerika sollte ALBA, die „Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas“ aufgebaut werden. Die Linksregierungen in Lateinamerika wollten damit eine Abkehr von der weltweit herrschenden neoliberalen Politik eröffnen und sich mit alternati­ven Modellen und Strukturen aus der Abhängigkeit von den westlichen In­dustrieländern befreien. Einer der federführend dabei war, ist Pedro Paez.

Erneut werden in Lateinamerka alternative Politikansätze von konserva­tiven Kräften bedroht

Inzwischen ist Er­nüchterung eingetreten. In Argentinien und Brasilien sind erneut konserva­tive Kräfte an der Macht. Auch in Peru und Paraguay sind die Linksregie­rungen abgewählt. In Venezuela steht Präsident Nicolás Maduro unter star­kem Druck der Oberschicht und der USA. Auch in Ecuador gibt es erhebli­che Unruhe innerhalb der gemäßigt linken Regierung Morenos.

Wie bewertet Pedro Paez, einer der einflussreichsten Ökonomen Südamerikas, die bisherigen Erfolge und die Chancen für Al­ternativen des Neoliberalismus in Lateinamerika? Fragen, die ja auch die Linken in den Ländern des Nordens bewegen und deren Beantwortung Hilfestellung bei der Entwicklung von weltweiten Alternativen sind.

Nachdenktreff in Kooperation mit: Attac Dortmund / DGB Dortmund

Zum Referenten

Dr. Pedro Paez, ist ehemaliger Wirtschaftsminister Ecuadors und Beauftragter Ecuadors zur Entwicklung einer neuen Finanzmarktarchitektur für Lateinamerika. Der Vordenker aus Ecuador zählt zu den einflussreichsten Ökonomen Südamerikas. Mit Nobelpreisträger Joseph Stiglitz entwickelte er Vorschläge für die Reform des globalen Finanzsystems. Er ist Mitglied der UNO-Expertenkommission über die Reformierung des internationalen Währungs- und Finanzsystems und war fünf Jahre Leiter der Marktaufsichtsbehörde Ecuadors.

Ort

Logo via AGNRW

Ort: Auslandsgesellschaft NRW e.V., Steinstr. 48, 44147 Dortmund

Zeit: 19 Uhr

Eintritt frei!

(Informationen mit Leipziger Internet Zeitung und Attac Dortmund)

Beitragsfoto: Thorben Wengert via Pixelio.de

Nächsten Montag in Dortmund: Jonny Bruhn-Tripp und Wiebke Claussen zeichnen unter dem Titel „Ein deutscher Traum: die Renten-‚Reformen‘ von Beginn bis heute“ in einem musikalisch untermalten Vortrag die Geschichte der Rente in Deutschland nach

Die interessante Veranstaltung findet kommenden Montag in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund statt; Logo via AGNRW

Wie Attac Dortmund mitteilt, laden die Organisatoren DGB, Attac, Nachdenktreff und AG Globalisierung am kommenden Montag „zu einer ungewöhnlichen Veranstaltung ein“.

Aus der Pressemitteilung:

Unter dem Titel „Ein deutscher Traum: die Renten-‚Reformen‘ von Beginn bis heute“ zeichnen Jonny Bruhn-Tripp und Wiebke Claussen in einem
musikalisch untermalten Vortrag die Geschichte der Rente in Deutschland nach.

Von der Rentenreform 1957, mit Rückbezügen zu den Anfängen der Bismarckschen Sozialreformen im 19. Jahrhundert bis hin zur „Rente mit
67“ reichen die Texte um die jeweiligen politischen Hintergründe und die zentralen Reformbausteine. Und es wird dargestellt, wie sie sich in der
individuellen Lebenssituation von Senioren und Seniorinnen auswirken und zu mehr (und künftig weniger) materieller Absicherung und Unabhängigkeit führen.
Wiebke Claussen begleitet das Publikum und den Vortragenden auf dem Akkordeon als emotionales Sprungbrett, Kommentierung und Atempause. Das Zusammenspiel von Sach- und Lyriktexten und musikalischer Untermalung eröffnet dabei einen neuen Blick auf die Sachthemen und die Rententhematik und berührt in besonderer Weise. Im Anschluss an die Lesung ist eine Diskussion vorgesehen, in der wir uns über das Gehörte
austauschen und gemeinsam mögliche Handlungsansätze suchen können.

Jonny Bruhn-Tripp ist seit vielen Jahren in der Erwachsenenbildung und Sozialberatung in der Evangelischen Kirche, Gewerkschaftskreisen und
Vereinen tätig. Darüber hinaus hat er immer wieder lyrische und Prosatexte zu verschiedenen sozialen Fragestellungen erarbeitet und sie
mit der Lyrikgruppe Querköpfe vorgetragen.

Wiebke Claussen ist Stadtplanerin, Moderatorin von
Beteiligungsprozessen, Mediatorin, Musikerin und sichert die
musikalische Begleitung der Querköpfe und wirkt in dem Netzwerk
Freifrauen mit.

Wann und wo?

Grafik via Auslandsgesellschaft NRW.

Nächsten Montag, den 15. Mai 2017, 19:00 Uhr, im großen Saal der
Auslandsgesellschaft, Steinstr. 48 (neben Cinestar. Der Eintritt ist frei.

Werner Rügemer zur Situation nach der Wahl von US-Präsident Trump

Werner Rügemer verfolgt seit langem die Entwicklung der us-amerikani­schen Gesellschaft: Sein Buch „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet… Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Kultur und Religi­on“ ist gerade in der 2. Auflage im Papyrossa Verlag Februar 2017 erschie­nen.  Seine aus drei Jahrzehnten aufgedeckten und wieder verdrängten Er­fahrungen aus den USA, aus Deutschland, der Europäischen Union und aus Köln lassen diese Vorgeschichten der Gegenwart wunde Punkte einer Herr­schaft erkennen, der die Zukunft nicht gehören darf. In Dortmund sprach er zur Situation nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.

Clinton und Obama die Guten und Trump der ganz böse Präsident?

Seit der Wahl von Donald Trump schauen so manche Europäer erschrocken aus der Wäsche: Was tut eigentlich genau unsere Supermacht USA? Trump, tönte es, will eine Mauer zu Mexiko bauen, Migranten abschieben. Schlimm. Doch wer denke daran, dass während der acht Regierungsjahre von Barack Obama, dass pro Jahr im Durchschnitt 400 000 Migranten nach Mexiko abgeschoben wurden? Durch die rosarote Obama-Brille sahen der  höhere NATO-Beitrag, die Drohnenmorde, die Geheimdienstüberwachung, der erstarkende Rassismus sowie die von William Clinton begonnene Errichtung eines Hochsicherheitsgrenzzauns zu Mexiko gar nicht so schlimm aus. Sogar Migranten seien von der Grenzpolizei erschossen worden. Niemand sei je dafür verurteilt worden. Mit dem ungehobelten Klotz Trump jedoch ist anscheinend eine Gefahr heraufgezogen. Wenn der nun etwas sage, macht Werner Rügemer deutlich, „dann ist das ganz böse“. Mit einem Male hagele es nun Kritik aus Deutschland. Mit Angela Merkel habe sich erstmals ein deutschen Bundeskanzler „erfrecht“ nach der Wahl von Trump, die Bedingungen für die weitere Zusammenarbeit zu stellen“. Bei Adenauer, Willy Brandt – undenkbar. Bei Merkels Antrittsbesuch in Washington blieb von deren Kritik im Grunde indes nichts übrig. Weshalb Rügemer Merkel „als wichtigste Duckmäuserin der Europäischen Union“ zu bezeichnen pflegt.

Werner Rügemer: Trump kommt aus dem „Lumpenproletariat des amerikanischen Kapitalismus“

Werner Rügemer während seines Referats in Dortmund. Fotos: Stille

Mit Trump habe sich ein anderes kapitalistisches Milieu durchgesetzt. Rügemer bezeichnet Trump und seine ursprüngliche Milliardärsumgebung als das „Lumpenproletariat des amerikanischen Kapitalismus, der amerikanischen Highsociety“. Im Wahlkampf hätte es keine Berater von der Wallstreet, von der New York Times – sondern nur „Aufsteigermilliardäre“ gehabt. Nach der Wahl habe sich das geändert. Von manchem musste Trump nach der Wahl die Finger lassen. Was einmal erkennen ließ, so Werner Rügemer, dass amerikanische Präsidenten eigentlich nicht unbedingt auch die mächtigsten Entscheider sind. Sondern zum einen „Wahlstimmenfänger“ und zum anderen „sind sie noch ’ne Art Frühstücksdirektor“. Erst nach der Wahl bekäme ein amerikanischer Präsident „so richtig zu fühlen, wer in dem Land eigentlich das Sagen hat“. Nun sehe auch das Ministerteam ganz anders aus als Trumpfs Wahlkampfteam. Und die Konzerne und Banken diesseits und jenseits des Atlantiks scheinen sehr mit Trump zufrieden. Wall Street stellt den Finanz­minister und Goldman Sachs andere Minister, Exxon den Außenminister. Trump habe sich als sehr anpassungsfähig herausgestellt. Auf der transatlantischen Kapitalebene wird sich mit Trump nicht viel ändern, ist sich Rügemer sicher. Der Einfluss amerikanischer Investoren bei uns werde gewiss viel mehr zunehmen. Nach Widerstand dagegen sähe es nicht aus. Die Medien behandelt das Thema nicht.

Die US-Amerikaner kaufen sich hier verstärkt ein und regieren sogar mit bei uns

Der us-amerikanische Einfluss in Deutschland ist in den letzten Jahren größer geworden, stellt der Referent fest. Beispielsweise ist der größte amerikanische Investor Blackrock in allen 30 deutschen Dax-Unternehmen als Miteigentümer vertreten. In 28 dieser Unternehmen ist Blackrock der Hauptaktionär. Niemand habe so viel Insiderwissen über die Topetagen der deutschen Wirtschaft wie Blackrock. Der „normale von unseren Medien verbildete Deutsche“ hat kaum Kenntnis davon. Amerikanische Beratungsfirmen wie Mc Kinsey regieren quasi in Deutschland mit. Die Jobcenter werden beraten, wie Flüchtlinge schneller abgeschoben werden können. Das Verteidigungsministerium hat sogar eine von deren Mitarbeiterinnen eingestellt, um die Beschaffung zu verbessern. Diese Leute sind als US-Amerikaner dem Patriot Act unterworfen. Die US-Regierung hat dadurch Informanten in der deutschen Regierung. Die Bankenrettungspläne hat die US-Kanzlei Freshfields erarbeitet. Verschiedene deutschen Großkonzerne haben amerikanische Aufpasserteams. Etwa Daimler. Das Unternehmen war wegen Bestechung angeklagt. In Stuttgart sitzt seit drei Jahren ein ehemaliger FBI-Direktor mit seinem Team auf Kosten von Daimler und überwacht Finanzströme und 280 000 Mitarbeiter von Daimler weltweit, ob deren Gehaltszahlungen irgendwie zur Terrorismusfinanzierung verwendet werden. Auch die Commerzbank hat so ein Aufpasserteam. Weil sie ein Konto für eine iranische Firma führten. Über VW in Wolfsburg wacht seit dem Abgasskandal ein ehemaliger US-Justizminister mit einem zehnköpfigen Team.

Werner Rügemer: Zustimmung zu den Regierungen, Unternehmen, regierenden Parteien und deren „Hilfstruppen“, den Medien ist im Sinken begriffen

Werner Rügemer stellt fest: Mit der Wahl von Trump habe sich etwas verändert. Und zwar gleichzeitig in der „gesamten westlichen Wertegemeinschaft“.

Während der „gesamte westliche Kapitalismus, so wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und die Mehrheit der Menschen vor allem der abhängig Beschäftigten verarmt hat, ist im gleichen Maße in Deutschland auch – in der EU – die Zustimmung zu den Regierungen und zu den regierenden Parteien, zu den Unternehmen, wie auch zu den Hilfstruppen wie den Medien geschwunden“. Nur noch eine Minderheit von zehn Prozent – rechnet Rügemer – ist es vielleicht, die für dieses System noch aktiv eintreten würde. Die Wehrpflicht sei in vielen Ländern abgeschafft worden. Privatarmeen übernähmen zunehmend diese Aufgabe. Trump sei gewissermaßen ein Beschleuniger dieser Entwicklung. Gerade „weil er vieles deutlicher“ ausspreche, „was eigentlich vorher schon klar war“.

Das Instrumentarium der US-Weltherrschaft. Einzig China könnte Paroli bieten

Auf Fragen aus dem Publikum ergaben sich dann noch einige interessante Aspekte. Auch wenn die USA das meist verschuldete Land auf der Erde sei, stütze sich deren Macht auf einen größeren Instrumentenkasten. Das Eigentum an produktivem Kapital. Etwa ist Blackrock Miteigentümer an 380 der größten Unternehmen auf der Welt. Zum anderen dominieren die USA die wichtigsten internationalen Institutionen: UNO, Weltbank, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, den IWF, dazu kommen noch informelle Organisationen und die Ratingagenturen. Amerikanische Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers oder Ernst & Young prüften alle westlichen Konzerne. Rügemer: Das hieß auch „alle Schweinereien decken“. Gleichzeitig seien sie auch Steuerberater der großen Konzerne somit auch eine Art „Steuerhinterziehungsindustrie“. Dazu käme noch das militärische Potential der USA durch deren ca. 1000 Militärstützpunkte auf der ganzen Welt. Durch all das werde die Abhängigkeit der USA auf der Schuldenebene kompensiert. Werner Rügemer schätzt ein, dass sich dadurch das Imperium noch hält. Allerdings gebe es eine Macht, die das infrage stellen könnte, das wäre China mit seinem „kommunistisch gelenkten Kapitalismus“. China sei die einzige Volkswirtschaft die mächtig ist und gleichzeitig wächst. Und zwar wüchsen dort alle Einkommen kontinuierlich. Auch die unteren.

Fazit des Rezensenten

Nach Ansicht von Werner Rügemer stehen wir vor einer Entscheidungssituation, wo die Kräfte der Demokratie gegenwärtig noch schwächer sind. Und da es nur noch eine Minderheit der Bevölkerung ist – obwohl sie wahrscheinlich demokratisch gestimmt sei -, die ihren Willen zu einem Wechsel über demokratische Publikationen sowie in den demokratischen Parteien auszudrücken in der Lage ist. Und vor dem Hintergrund des Ausgangs der ersten Runde zu den französischen Präsidentschaftswahlen sagte Rügemer: Einer der deren Vertreter ist beispielsweise Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei La France insoumise (das aufsässige Frankreich). Leider aber käme der höchstens auf 20 Prozent. Die anderen Parteien hätten sich verkauft. Keine guten Aussichten. „Beängstigend“, schätzt Rügemer ein.

Veranstaltet wurde der Vortrag von DGB Dortmund, Attac Dortmund, Nachdenktreff und AG Globalisierung konkret in der Auslandsgesellschaft.

Zum Schluss legte Dr. Werner Rügemer den Zuhörerinnen und Zuhörern die neue Publikation Rubikon ans Herz. Er arbeitet nun ebenfalls dafür.

Werner Rügemer in Dortmund – Trump: Rebell gegen Globalisierung, Freihandel und die politische Klasse? Werner Rügemer über die Kontinuitäten der us-amerikanischen Politik und Gesellschaft

Pressemitteilung von Attac Dortmund

Erst mit der Wahl von Donald Trump schauen so manche Europäer erschrocken genauer hin: Was tut eigentlich so genau unsere Supermacht USA? Durch die rosarote Obama-Brille sahen der  höhere NATO-Beitrag, die Drohnenmorde, die Geheimdienstüberwachung, der erstarkende Rassismus und der unter William Clinton begonnene Zaun gegen Mexiko garnicht so schlimm aus.
Und die Konzerne und Banken diesseits und jenseits des Atlantiks scheinen sehr zufrieden. Wall Street stellt den Finanz­minister, Exxon den Außenminister.
Der kritische Autor Werner Rügemer stellt in Frage, ob es eine wirkliche Neuausrichtung der us-amerikanischen Politik unter Trump gibt oder geben wird. Er fragt: „Was ist wirklich neu an der Politik von Trump?“ und ver­gleicht die bisherige Politik von Obama / Clinton mit dem, was von Trump und seinen Beratern zu erwarten ist – abgesehen von der aggressiven Selbstinszenierung des „Führers der freien Welt“. Ist der Slogan „America first“ (gemeint ist: „USA first“) wirklich neu? Wieso scheinen uns sein pri­mitiver Rassismus und Sexismus so anders als die bisherigen Strukturen der us-amerikansichen Gesellschaft? Ist sein aggressiver Militarismus wirklich eine neue Stufe der us-amerikanischen Militärdoktrin? Wie verhält sich ei­gentlich die US-Finanzindustrie? Und wie reagieren die EU-Konzerne? Angewidert schauen wir auf seinen polternden Populismus, der die Konti­nuitäten der US-Innen- und Außenpolitik überdeckt. Und Deutschland und die EU? Wenn es ernst wird, dann ist die Kritik aus der EU und aus Deutschland an Trump wie weggewischt: keine Kritik an der us-Bombardierung in Syrien! Keine Kritik am „unberechenbaren“ Trump! Ungebremste Übernahme aller US-Begründungen! Eilfertige Erfüllung aller Trump-Wünsche nach Aufrüstung in der EU!

Werner Rügemer verfolgt seit langem die Entwicklung der us-amerikani­schen Gesellschaft: Sein Buch „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet… Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Kultur und Religi­on“ ist gerade in der 2. Auflage im Papyrossa Verlag Februar 2017 erschie­nen.  Seine aus drei Jahrzehnten aufgedeckten und wieder verdrängten Er­fahrungen aus den USA, aus Deutschland, der Europäischen Union und aus Köln lassen diese Vorgeschichten der Gegenwart wunde Punkte einer Herr­schaft erkennen, der die Zukunft nicht gehören darf.

Grafik via Auslandsgesellschaft NRW.

Am 24. April 2017 um 19 Uhr  in der Auslandsgesellschaft Dortmund (gegenüber Nordausgang Hauptbahnhof Dortmund). Der Eintritt ist frei.

Veranstalter.: DGB Dortmund, Attac Dortmund, Nachdenktreff und AG Globalisierung konkret in der Auslandsgesellschaft

 

TiSA ist für Alexis Passadakis „die böse Zwillingsschwester von TTIP“

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während seines Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während seines Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Die Proteste gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA haben in Deutschland hohe Wellen geschlagen. TTIP ist nicht ausverhandelt. CETA könnte nach EU-Recht vorläufig in Kraft gesetzt werden. Aber selbst wenn das Abkommen der EU mit Kanada – was ziemlich wahrscheinlich ist – im EU-Parlament durchkommt, kann es durchaus noch von mehreren nationalen Parlamenten zum Scheitern gebracht werden. TTIP und CETA dürfte inzwischen vielen Bürgerinnen und Bürgern bekannt sein. Beide Abkommen könnten auch negative Auswirkungen auf die Kommunen zeitigen.

Attac: Mit TiSA wollen Konzerne eine eine neue Deregulierungs- und Privatisierungswelle durchsetzen

Während TTIP schon ein „dicker Hund“ sei, ist TiSA „ein räudiger Hund“ (hier) – meinte Werner Rätz vom Attac-Koordinationsrat vor einiger Zeit in Dortmund. TiSA jedoch dürften die Wenigsten von uns kennen. Es läuft nämlich ein wenig unterm Radar der Öffentlichkeit.

Mit dem internationalen Dienstleistungsabkommen TiSA – informiert das globalisierungskritische Netzwerk Attac seit Langem – wollen Konzerne eine neue Deregulierungs- und Privatisierungswelle durchsetzen. Und den Datenschutz aushöhlen. Die Verhandlungen sind weit fortgeschritten. Das Perfide daran: die EU und 23 weitere Staaten verhandeln das Dienstleistungsabkommen TiSA geheim. Allerdings sind durch Leaks einige Inhalte aus den Verhandlungen bekannt geworden.

Am Montagabend war Alexis Passadakis in die Auslandsgesellschaft NRW Dortmund gekommen, um über den Stand der Verhandlungen und die möglichen Folgen des Vertrages zu informieren. Er ist Politikwissenschaftler, Publizist und Mitarbeiter bei verschiedenen NGOs. Seit 2002 ist er aktives Mitglied bei Attac und war lange Zeit Mitglied des Attac-Rates.

Um was es bei TiSA geht

Man stelle sich nur einmal vor, anstelle des Klinikums Dortmund etablierte sich ein privater Klinikkonzern in Dortmund. Oder es käme so weit, dass 20170116_185639es gute Bildung nur noch für die Reichen gibt. Oder über unsere Wasserversorgung bestimmte ein großer Konzern. Unmöglich? Nein, wenn TiSA durchkäme, durchaus mögliche Folgen dieses Abkommens. Es gehe, so erklärte der Referent aus Frankfurt am Main eingangs, nach TTIP und CETA, den Freihandelsverträgen mit den USA und Kanada, um einen weiteren, umfassenderen Vertrag von fast 50 Staaten über Dienstleistungen. Sie bestreiten in diesem Wirtschaftssektor 70 Prozent des Welthan­dels. Geheim verhandeln seit 2013 die EU, sowie 22 weitere Staaten. Passadakis merkte an: die TiSA vorantrieben, dass seien die „üblichen Verdächtigen“, die schon in den TTIP- und CETA-Verhandlungen das Zepter führten.

Wirklich gute Freunde der Dienstleistungen“ stießen die Verhandlungen an

Angestoßen wurden die Verhandlungen durch eine Gruppe: die selbsternannten „Really Good Friends of Services“ – wirklich gute Freunde der Dienstleistungen also. Nach großem Druck der Gewerkschaften ist Uruguay mittlerweile aus den Verhandlungen ausgestiegen. China wollte hinein, wurde jedoch abgewiesen. Alexis Passadakis: „Die großen Schwellenländer sind alle nicht dabei.“

Die Befürchtungen der Veranstalter konnte der Referent nicht entkräften

Alle Bereiche, selbst öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, auch die Energieversorgung sollen privaten Unternehmen überantwortet werden, fürchteten die Veranstalter des Abends in Dortmund im Vorfeld: DGB, Attac und Nachdenktreff. Weshalb der Abend auch mit dem Titel „TiSA – geheimer Angriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge“ überschrieben war.

Und der eingeladene, im Stoffe stehende, Referent, konnte diese Befürchtungen auch nicht entkräften. Im Gegenteil: er beleuchtete sie en détail.

Die Verhandlungen, die nicht einfach vom Himmel fielen, liegen erst mal auf Eis

Passadakis wies daraufhin, dass diese TiSA-Verhandlungen „nicht einfach so vom Himmel gefahren“, sondern „ein Ergebnis der stockenden, gescheiterten Verhandlungen der Welthandelsorganisation“ sind. Die letzte Verhandlungsrunde habe im November letzten Jahres stattgefunden. Passadakis: „Eigentlich sollte letzten Dezember der Sack zugemacht werden.“ Aber die Verhandlungen seien nun „erst einmal auf Eis“. Zwei Gründe sieht der Referent dafür: Einige Verhandlungsbrocken führten zu Konflikten zwischen den USA und der EU. Hinzu gekommen sei die Wahl Donald Trumps zum nächsten Präsidenten der USA. Der Politikwissenschaftler vermutet, dass die Verhandlungen im Sommer 2017 wieder aufgenommen werden.

Lobbyisten haben immensen Einfluss auf die Verhandlungen

Einen wichtigen Hintergrund zum bald scheidenden Verhandlungsführer in Sachen TiSA seitens der USA, Michael Froman, nannte Alexis Passadakis: Der aus dem Finanzsektor kommende Mann sei nämlich „derjenige, der das Obama-Kabinett zusammengestellt“ habe. Man wisse durch Wikileaks, dass sich das letztlich von Obama berufene Kabinett weitgehend mit den Vorschlägen von Froman deckte. Überhaupt hätten Lobbyisten – auch in der EU – immensen Einfluss auf die Verhandlungen.

Besonders aktiv soll ein US-amerikanischer Lobbyverband der Dienstleistungsindustrie betreffs der Beförderung des TiSA-Abkommens gewesen sein. Sie gelten gar als dessen Erfinder. Sie gingen wiederum auf ihr europäisches Pendant (ESF) zu. Wichtig sei zu wissen, so der Referent: die EU-Kommission sei es hier gewesen, die auf das ESF zugegangen ist und quasi gesagte habe, „wir brauchen einen neuen Lobbyverband, der uns sagt, was wir machen sollen“ und die Akteure bat, das European Services Forum (ESF) zu gründen.

Folgen von TiSA

Passadakis gab zu bedenken, TiSA zöge nicht nur eine weitere Privatisierungswelle nach sich, sondern dürfte auch einen gewaltigen Lohndruck ausüben. Und hätte gewiss eine Verdrängung, und die Vernichtung weiterer Arbeitsplätzen zur Folge. Das Schlimmste: einmal ins Werk gesetzte Privatisierungen wären nicht mehr zurückzudrehen (Stillstandsklausel). Sogar künftig zu Privatisierendes dürfte nicht mehr in öffentliches Eigentum zurückverwandelt werden (Sperrklinkenklausel). Um auf das Gefahrenpotential für die öffentliche Daseinsvorsorge zu verdeutlichen, nannte Alexis Passadakis von Wirtschaftsminister Gabriel geplante Privatisierung (über den Weg eines Investitionsfonds) der Bundesautobahnen. Private Schiedsgerichte wie bei TTIP oder CETA gebe es bei TiSA nicht, sondern Staat-Staat-Schiedsverfahren. De facto sei dies aber ebenso brutal wie eine privates.

Aushebelung demokratischer Mitbestimmung

TiSA, antwortete der Referent auf eine Frage eines Hörers, der gar nicht fassen konnte, was er da vernommen hatte, sei eben gerade ein weiteres Werkzeug der Konzerne zum Behufe, „die Ökonomie demokratischer Mitbestimmung zu entziehen“. So seien auf Dauer deren Investitionen gesichert. Die Regierungen – auch die unsrige – sähen sich obendrein „als Sachwalter dieses globalen Liberalisierungskonsenses. Gemäß der Annahme, wenn alle Unternehmen reicher werden, würde die Gesellschaft insgesamt reicher (Trickle-down-Theorie). Passadakis: „Was empirisch nicht bewiesen ist.“

Der Attac-Aktivist klärte darüber auf, dass diese autoritär-liberalisierte Entwicklung aus einer Mitte der Gesellschaft heraus betrieben wurde und wird, die politisch heute so begehrt sei. Der britische Sozialwissenschaftler Tariq Ali nenne diese Mitte „Extremes Zentrum“.

Gesellschaftlicher Rollback

Letztlich sei auch TiSA wie TTIP und CETA ein Hebel, das einem gesellschaftlichen Rollback diene. Bereits erreichte Verbesserungen auch der sozialer Standards der Menschen in Europa würden Stück für Stück beschädigt und letztlich zurückgedreht. Im Übrigen könne diese „der nächste Schritt sein, einen weiteren Finanzcrash vorzubereiten.

Passadakis: TTIP habe man einmal als „eine nordatlantische Verfassung für die Konzerne“ bezeichnet. TiSA wäre dann für ihn so etwas wie „eine globale Verfassung für Dienstleistungskonzerne“.

Passadakis sieht die Lage düster, will jedoch die Flinte nicht ins Korn werfen

Alexis Passadakis räumte ein, dass es ziemlich düster aussieht. Nichtsdestotrotz gab er sich weit davon entfernt, betreffs einer Verhinderung von TiSA die Flinte ins Korn zu werfen. Mut hätten ihm besonders die mächtigen Demonstrationen gegen die TTIP und CETA (mit 250.000 in Berlin) und letztens die Proteste in mehreren deutschen Städten letzten September gemacht. Das Besondere: diese Proteste würden von einem breitem Bündnis von Menschen quer durch die ganze Gesellschaft getragen. Dass die Gegner dieser Freihandels- und Dienstleistungsabkommen letztlich obsiegen könnten, hält Alexis Passadakis für realistisch.

Dies sei, so der Referent auch dringend geboten. Zumal gerade an diesem Montag die neue Oxfam-Studie öffentlich geworden sei, wonach die acht der Superreichsten der Welt mehr als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitze.

Kommende Proteste gegen TiSA und ein Alarmruf an die Kommunen

Die nächsten Proteste stünden an: am 21. Januar europaweiter Aktionstag gegen CETA, am 1. Juli ein dezentraler Aktionstag in Deutschland und ganz prominent der Protest am 8. Juli anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg (wo erstmals der neue US-Präsident Donald Trump in Deutschland weilen wird). Und überdies könne Protest auch im Rahmen der Bundestagswahlen 2017 artikuliert werden.

Alexis Passadakis rief unbedingt auch dazu auf, die Kommunen für die TiSA-Problematik zu sensibilisieren. Schließlich wären gerade dort die Auswirkungen gravierend. Etwa könne unter TiSA ein ausländischer Investor, welcher beispielsweise ein Musical in einer Kommune betreiben wolle, die gleichen Subventionen einklagen, die etwa hier in Dortmund das Theater von der Stadt erhalten.

Ein informativer Abend mit düsteren Prognosen. Aber durchaus auch mit der hoffnungsvollen Aussicht zu verhindern, dass sie eintreffen.

Sehr deutlich wurde an diesem Abend in Dortmund, dass TiSA vielleicht noch einen Tick gefährlicher ist als TTIP. Auch deshalb, weil TiSA unterm Radar der Öffentlichkeit geheim vorantrieben wird. Die Wenigsten von uns dürften es also auf dem Radar haben. Alexis Passadakis charakterisierte TiSA „als böse Zwillingsschwester von TTIP“.

Links:

http://www.attac.de/kampagnen/freihandelsfalle-ttip/hintergrund/tisa/

https://lobbypedia.de/wiki/European_Services_Forum

https://www.campact.de/tisa/appell/teilnehmen/?gclid=CNeCxKXoyNECFQQz0wodVU0HUA

Dortmund: „Raus aus dem Euro?“ – Ein Streitgespräch mit den Professoren Heinz-J. Bontrup und Martin Höpner

In Dortmund wird heute um den Euro gestritten. Foto: C.-D. Stille

In Dortmund wird heute um den Euro gestritten. Foto: C.-D. Stille

Die EU steckt in einer schweren Krise. Ein Scheitern des Europäischen Projektes ist durchaus denkbar. Und scheitert die EU, mahnte des Öfteren u.a. der Ökonom Heiner Flassbeck, könnte einige Zeit später auch der Euro folgen und sozusagen den Bach hinunter gehen. Zur Euro-Debatte findet heute in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund unter dem Titel „Raus aus dem Euro?“ ein Streitgespräch mit Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup und Prof. Dr. Martin Höpner statt.

Die Veranstalter es Streitgesprächs, DGB, Attac und Nachdenktreff, verlautbarten dazu (weitere Informationen auch auf dortmund initiativ):

„Die EU hat sich gerne als Friedensprojekt der europäischen Völker dargestellt. Die Hoffnungen in die EU und den Euro waren groß. Wurden in der Nachkriegszeit in den Nationalstaaten Demokratie und Sozialstaat auf- und ausgebaut, so baut das Euro-System diese Schritt für Schritt ab. Immer deutlicher entwickeln sich in der EU zwei Pole, die unübersehbare Zeichen einer Desintegration zwischen Zentrum und Peripherie sind. Die EU ist zu einem Synonym für Zwietracht und Verfall geworden.

Professor Heinz-J. Bontrup während eines früheren Vortrags an der Auslandsgesellschaft in Dortmund; Foto: Claus-D. Stille

Professor Heinz-J. Bontrup während eines früheren Vortrags an der Auslandsgesellschaft in Dortmund; Foto: Claus-D. Stille

Auf dem Hintergrund der Griechenland-Krise wurde die Frage eines „Grexit“ aufgeworfen und die Frage gestellt, ob „ein linke Euro“ möglich ist. Inzwischen sind Initiativen wie Plan-B (Lafontaine/Mélenchon) und DiEM 25 (Yanis Varoufakis) oder „Euroexit“ gegen Sozialabbau entstanden. Die vor allem von Gewerkschaftern getragene Initiative „Europa neu begründen“ plant in diesem Jahr eine größere Konferenz.

Mit einem Streitgespräch zwischen Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup (Sprecher der Memorandum-Gruppe) und Prof. Dr. Martin Höpner wollen wir Sachinformationen und Orientierungshilfen in der aktuellen Debatte um die Zukunft des Euro geben.“

Das dürfte ein sehr interessanter Abend in Dortmund werden, an dem sicher auch kontrovers diskutiert werden wird. Interessenten erreichen den Veranstaltungsort verkehrsgünstig mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch mit dem Auto

Die Veranstaltung soll von 19:00 bis 21:30 Uhr dauern. Ort: Auslandsgesellschaft NRW Dortmund, Steinstr. 48 (Nordausgang Hauptbahnhof, neben Cinestar, dort auch Parkplätze im Parkhaus). Eintritt frei!

Flassbeck_-_66_starke_Thesen_zum_Euro__zur_Wirtschaftspolitik_und_zum_deutschen_WesenHat sich auch Gedanken um den Euro gemacht: Heiner Flassbeck.

Prof. Albrecht Goeschel: „Gesundheitsfonds, Krankenkassen und die europäische Klassengesellschaft der billigen Arbeit“

Bittere Pillen für das Gesundheitssystem; Fotot: segovax via Pixelio.de

Bittere Pillen für das Gesundheitssystem; Fotot: segovax via Pixelio.de

Die Ökonomisierung von nahezu allem und jedem kennt in Zeiten ausuferndem Neoliberalismus längst keine Grenzen mehr. Auch das Gesundheitssystem steht permanent unter Beschuss. Freilich nur zum Wohle unserer immer älter werdenden Menschen. Es müsse effizienter werden, tönt es seit Jahrzehnten, damit auch morgen noch wichtige Leistungen am Patienten vollbracht werden könnten. Und Missbrauch müsse bekämpft werden. Überkapazitäten (etwa bei Krankenhausbetten) gehörten abgebaut. Wer könnte etwas dagegen haben? Allerdings erleben wir in praxi, dass bei den ein übers andere Mal von der Politik zu diesem Zwecken eingeleiteten Maßnahmen und verabschiedeten Gesetzen meist nur der Patient Opfer bringen musste. Aber auch Krankenhäuser und deren Personal kommen immer mehr unter (Kosten-)Druck. In Teilen des Landes sind Fachärzte knapp.

Nordrhein-Westfalen als „Gesundheitsinsel“ bald perdu?

In Nordrhein-Westfalen (NRW) ist die Situation diesbezüglich noch nicht so sehr brisant. Attac Dortmund meint, das Bundesland sei bislang noch eine Art „Gesundheitsinsel“. Und speziell im Ruhrgebiet die Ausstattung mit Krankenhäusern und Arztpraxen (noch) besser als in anderen Großregionen oder Bundesländern. Ein Erbe – so wird das erklärt – aus der Zeit, da das Ruhrgebiet das „Wirtschaftsherz Westdeutschlands“ war.

Doch ist nun NRW als „Gesundheitsinsel“ der Seligen nun in Gefahr? Wenn Prof. Albrecht Goeschel mit seiner Analyse richtig liegt, steht dies zumindest zu befürchten. Goeschel jedenfalls rät deshalb: „Attac täte gut daran, den neuen Krankenhausplan für Nordrhein-Westfalen sehr genau unter die Lupe zu nehmen.“
Kürzungs- und Sparangriffe von GroKo und EU, hat der Professor analysiert, richteten sich gezielt auf einen Abbau der Gesundheitsversorgung gerade in NRW.

Zur Person

Prof. Albrecht Goeschel ist ein ausgewiesener internationaler Experte für Wirtschaftspolitik, Raumordnung, Sozialsicherung und Gesundheitsversorgung. Beauftragter des Botschafters der Republik Angola a.D. Präsident der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona. Gast-Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Staatlichen Universität Rostow; Lehrtätigkeit an Universitäten und Hochschulen Gießen-Friedberg, Lüneburg, München, Rostow und Vechta. Wissenschaftlicher Direktor der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. München.

Albrecht Goeschel: Die sogenannten „Eliten“ in Europa konnten „einheitlich-europäische Klassengesellschaft“ durchsetzen

Sieben Jahre nach Finanzkrise zieht Professor Goeschel eine „Zwischenbilanz dieser schwersten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren“. Demnach ist es „den sogenannten ‚Eliten‘ in Europa gelungen, angeführt vom deutschen Machtkartell, eine neue, nun eine einheitlich-europäische Klassengesellschaft durchzusetzen:

1. Der europäische Fiskalpakt und seine „Strukturreformen“ sind an die Stelle der nationalen Sozialordnungen getreten: Zwar Mindestlöhne in fast allen EU-Ländern, aber dafür auch Alters-Lohnkürzungen, d.h. Rentenkürzungen in fast allen EU-Ländern.

2. Der europäische Juncker-Investitionsplan ist nichts anderes als eine großangelegte Kampagne zur Umwandlung der nationalen Infrastrukturen in privaten Kapitalbesitz: Autobahnen, Breitbandnetze, Universitäten und Krankenhäuser zukünftig im Eigentum von Versicherungskonzernen.

3. Klassengesellschaften brauchen zum Funktionieren Soziale Korruption, schön geredet als „Sozialer Frieden“ einerseits und militärisch-politische Spannungen andererseits. Schon einmal und jetzt wieder: „Kalten Krieg“. Europäische Klassengesellschaft und Europäischer Imperialismus – das ist also die (Zwischen-)Bilanz von sieben Jahren ökonomisch-politischer Krise.“

Auch im Gesundheitssektor zu Geld machen, was sich zu Geld machen lässt

Der neoliberal gesteuerte Raubtierkapitalismus bewirkt im Gesundheitssektor nichts anderes wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch: Alles was sich zu Geld machen lässt wird auch zu Geld gemacht. Koste es was es wolle. Zulasten der Gesamtgesellschaft. Und zum Schaden vieler Einzelner. Die herrschende Politik leistet willfährig Schützenhilfe, indem sie die nötigen Gesetze dafür macht. Kürzungen wurden eingestielt und Privatisierungen von Krankenhäusern bei gleichzeitiger Druck auf die Löhne der Belegschaften möglich gemacht.

Eine gigantische Umverteilung von unten nach oben ist seit mindestens 20 Jahren in vielen gesellschaftlichen Bereichen im Gange. Von den schwächsten (bzw. zu deren Lasten) hin zu den stärksten Mitgliedern der Gesellschaft. Das gilt nicht zuletzt auch für den Gesundheitssektor. Schwächere Bundesländern werden gegen finanziell stärkere Bundesländer ausgespielt. Willy Brandts Diktum, wonach starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, wird nicht nur in diesem Falle ad absurdum geführt. Man muss hinzufügen, seit der Ära Schröder leider auch von der SPD selbst.

Um das Wohl und Wehe des einzelnen (Kassen-)Patienten geht bei der Gesundheitspolitik höchstens am Rande. Allenfalls wird wird ein Feigenblatt bewahrt. Das machen auch regierungsamtliche Äußerungen vom immer noch anderen Systemen in anderen Ländern überlegenem deutschen Gesundheitssystem nicht besser.

Die 200 Milliarden Euro im Gesundheitsfond wecken Begehrlichkeiten

Schließlich geht es um viel Geld. Professor Albrecht Goeschel gibt zu bedenken: „Der Zentrale Gesundheitsfonds verteilt mittlerweile fast 200 Milliarden Euro jährlich zwischen den schwächeren und den stärkeren Regionen um – leider nimmt die Öffentlichkeit davon so gut wie keine Notiz. Heftig diskutiert wird dagegen der Föderale Finanzausgleich zwischen den Bundesländern mit seinen geradezu läppischen 8 Milliarden Euro Umverteilungsvolumen.

Die regionalen Umverteilungswirkungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, auch ganz unabhängig vom Zentralen Gesundheitsfonds, sind seit beinahe drei Jahrzehnten eine Art ‚finanzpolitisches Geheimthema‘ unter Experten – das Politische System hat aus gutem Grund stets dafür Sorge getragen, dass es ein ‚Geheimthema‘ bleibt.“ Die 200 Milliarden Euro, die der Zentrale Gesundheitsfond jährlich zu verteilen hat, weckt Begehrlichkeiten.

Deshalb oder vielleicht auch weil man nach der  von Jean-Claude Juncker freimütig offenbarten Methode verfährt, „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“, bleibt Protest oder gar heftiger Widerstand im Volke aus.

Das Geschäftsmodell Deutschland“ als fragwürdiges Vorbild

„Das Geschäftsmodell Deutschland“, so Goeschel, sei ein Vorbild dafür, „wie man unter Instrumentalisierung eines expandierenden, keineswegs eines stagnierenden „Sozialstaats“, eines wachsenden, keineswegs eines schrumpfenden „Sozialbudgets“ als Manipulationsmasse den Anteil der Lohneinkommen am Volkseinkommen senkt und den Anteil der Gewinneinkommen am Volkseinkommen erhöht.“ Das wirkt in andere europäische Länder hinein. Ein fragwürdiges Vorbild.

In diesem Zusammenhang warnt der Soziologe vor einem „gefährlicheren Trugschluss“: „Es ist zwar richtig und es ist zwar merklich, dass die einzelnen Sozialleistungen in Geld oder in Diensten gekürzt oder verschlechtert werden – aber der Sozialstaat selbst, das Sozialbudget als solches wird dabei gerade nicht verringert oder verkleinert, sondern sogar noch ausgebaut und erhöht.“

Goeschels Feststellung „Der (kapitalistische) Sozialstaat ist keineswegs in Gefahr – der (kapitalistische) Sozialstaat selbst ist die Gefahr“, klingt zunächst einmal paradox. Es lohnt sich aber einmal genau darüber nachzudenken. Und: zu verstehen!

Ein schleichender Prozess

All das geschieht seit Jahren mehr oder weniger vor unser aller Augen. Zwar schleichend – das ist das Perfide – aber es geschieht. Der gesellschaftliche Schaden – auch der für die Demokratie – wird jährlich größer.

Professor Albrecht Goeschel hat am 19. Januar an der Auslandsgesellschaft Dortmund bei einem von der Regionalgruppe Attac organisierten „Nachdenktreff“ unter dem Titel „Gesundheitsfonds, Krankenkassen und die europäische Klassengesellschaft der billigen Arbeit“ gehalten.

Hinweis: Leider konnte ich bei diesem Termin am vergangenen Montag nicht zugegen sein. Peter Rath-Sangkhakorn (pad-Verlag) stellte mir jedoch den Vortragstext  dankenswerterweise zur Verfügung. Der Vortrag  ist inzwischen auch auf der Seite von LabourNet Germany als PDF-Dokument abrufbar. Ich empfehle ihn sehr zu Lektüre. Schließlich geht die Thematik Viele an.

Ende Januar 2015 erscheint eine Publikation zum hier besprochenen Thema von Prof. Albrecht Goeschel sowie eine weitere des Soziologen zu einer anderen Problematik. Bericht darüber an dieser Stelle. Beide werden Veröffentlichungen vom pad-Verlag herausgegeben.

Weitere im Zusammenhang mit dem pad-Verlag stehende Beiträge hier.