Warum gegen den G20-Gipfel demonstrieren? Alexis Passadakis macht das heute in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund deutlich

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während eines früheren Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Der G20-Gipfel in Hamburg wirft seine Schatten voraus und gleichzeitig viele Fragen auf. Und daraus resultierende Kritik wird laut.

Attac Dortmund informiert:

„Am 7./8. Juli 2017 versammeln sich die Staatsoberhäupter und
Regierungschefs der G20 in Ham­burg zum  jährlichen Gipfeltreffen. Die
Gruppe der 20 ist ein in­formeller Club der 20 bedeutendsten Industrie-
und Schwellenländer“, schreibt Till Struckberg und fährt fort:
„Die G 20-Staaten unterscheiden sich zwar in ihren politischen Systemen, auch
ver­treten sie unterschiedliche Strategien bei der wirtschaftlichen
Regulierung und ih­rer Einbindung in den Weltmarkt. Wofür demonstrieren wir dann?

Es läuft etwas gehörig falsch auf der Welt:

*   Kriege und bewaffnete Konflikte scheinen kein Ende zu nehmen. 1,8
Billionen Euro werden jährlich für Rüstung und Krieg ausgegeben.
Gleichzeitig steigen die Rüstungsexporte.
*   Über 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Auf der
Suche nach Sicherheit ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer, das zur
tödlichsten Grenze der Welt geworden ist.
*   Rassismus und offener Hass nehmen in vielen Ländern der Welt zu –
auch in Deutschland. Die herrschende Politik gibt diesen Stimmungen nach
und befeuert sie noch. Inzwischen werden Geflüchtete sogar in
Kriegsgebiete wie nach Afghanistan abgeschoben.
*   Der menschengemachte Klimawandel ist eine bedrohliche Realität.
Seine Auswirkungen sind schon heute spürbar und treffen vor allem
diejenigen Men­schen und Länder, die ihn am wenigsten verursacht haben.
*  Die soziale Spaltung hat dramatische Ausmaße erreicht. Gerade
einmal 8 Männer haben mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der
Weltbevölkerung.

Am 7. und 8. Juli treffen sich die politisch Verantwortlichen für dieses
menschli­che und soziale Desaster. Sie reden über „Bekämpfung von
Fluchtursachen“, aber keines der großen Herkunftsländer sitzt am Tisch.
Sie reden über „Partner­schaft mit Afrika“, aber es fehlt fast der
gesamte Kontinent. Sie reden über den Klimawandel, vertreten aber die
Interessen der Erdöl-, Kohle- und Autoindustrie. Sie reden über Frieden,
sind aber selbst die größten kriegführenden und rüs­tungsproduzierenden
Staaten.

Die Welt ist aus den Fugen. Wer sie ändern will, braucht eine neue Politik.

Gemeinsam wollen wir zum G20-Gipfel den solidarisch-emanzipatori­schen
Pol der Gesellschaft sichtbar machen. Dem zynischen „Weiter so“ der G20
wollen wir unsere Entwürfe für eine sozial gerechte, friedliche und
ökologisch zukunfts­fähige Welt entgegenstellen. Dazu wird es in
Ham­burg einen Dreiklang von Ge­gengipfel, Aktionen zivilen Ungehorsams
und einer Großdemonstration am 8. Juli geben; vorbereitet von vielen
Initiati­ven und Organisationen in der G20-Platt­form.“

Am heutigen Montag referiert Alexis Passadakis zum Thema unter dem Titel

„Global gerecht statt G 20“ – Warum wir gegen Trump, Erdogan… und die
ungerechte Weltordnung am 8. Juli in Hamburg demonstrieren (müssen)!

Die Demonstranten, welche nach Hamburg reisen, um gegen den G20-Gipfel zu protestieren, werden ein festungsmäßig abgesperrtes Hamburg und gewiss auf Polizeibeamte mit martialisch wirkender Ausstattung treffen. Ein Polizist hat sich dazu mit einem Offenen Brief zu Wort gemeldet.

Logo via AGNRW

Heute Abend 19 Uhr in der Auslandsgesellschaft NRW Dortmund, Steinstr. 48 (Nordausgang Hauptbahnhof, neben
Cinestar)

TiSA ist für Alexis Passadakis „die böse Zwillingsschwester von TTIP“

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während seines Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Politikwissenschaftler Alexis Passadakis während seines Referats in Dortmund. Fotos: C. Stille

Die Proteste gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA haben in Deutschland hohe Wellen geschlagen. TTIP ist nicht ausverhandelt. CETA könnte nach EU-Recht vorläufig in Kraft gesetzt werden. Aber selbst wenn das Abkommen der EU mit Kanada – was ziemlich wahrscheinlich ist – im EU-Parlament durchkommt, kann es durchaus noch von mehreren nationalen Parlamenten zum Scheitern gebracht werden. TTIP und CETA dürfte inzwischen vielen Bürgerinnen und Bürgern bekannt sein. Beide Abkommen könnten auch negative Auswirkungen auf die Kommunen zeitigen.

Attac: Mit TiSA wollen Konzerne eine eine neue Deregulierungs- und Privatisierungswelle durchsetzen

Während TTIP schon ein „dicker Hund“ sei, ist TiSA „ein räudiger Hund“ (hier) – meinte Werner Rätz vom Attac-Koordinationsrat vor einiger Zeit in Dortmund. TiSA jedoch dürften die Wenigsten von uns kennen. Es läuft nämlich ein wenig unterm Radar der Öffentlichkeit.

Mit dem internationalen Dienstleistungsabkommen TiSA – informiert das globalisierungskritische Netzwerk Attac seit Langem – wollen Konzerne eine neue Deregulierungs- und Privatisierungswelle durchsetzen. Und den Datenschutz aushöhlen. Die Verhandlungen sind weit fortgeschritten. Das Perfide daran: die EU und 23 weitere Staaten verhandeln das Dienstleistungsabkommen TiSA geheim. Allerdings sind durch Leaks einige Inhalte aus den Verhandlungen bekannt geworden.

Am Montagabend war Alexis Passadakis in die Auslandsgesellschaft NRW Dortmund gekommen, um über den Stand der Verhandlungen und die möglichen Folgen des Vertrages zu informieren. Er ist Politikwissenschaftler, Publizist und Mitarbeiter bei verschiedenen NGOs. Seit 2002 ist er aktives Mitglied bei Attac und war lange Zeit Mitglied des Attac-Rates.

Um was es bei TiSA geht

Man stelle sich nur einmal vor, anstelle des Klinikums Dortmund etablierte sich ein privater Klinikkonzern in Dortmund. Oder es käme so weit, dass 20170116_185639es gute Bildung nur noch für die Reichen gibt. Oder über unsere Wasserversorgung bestimmte ein großer Konzern. Unmöglich? Nein, wenn TiSA durchkäme, durchaus mögliche Folgen dieses Abkommens. Es gehe, so erklärte der Referent aus Frankfurt am Main eingangs, nach TTIP und CETA, den Freihandelsverträgen mit den USA und Kanada, um einen weiteren, umfassenderen Vertrag von fast 50 Staaten über Dienstleistungen. Sie bestreiten in diesem Wirtschaftssektor 70 Prozent des Welthan­dels. Geheim verhandeln seit 2013 die EU, sowie 22 weitere Staaten. Passadakis merkte an: die TiSA vorantrieben, dass seien die „üblichen Verdächtigen“, die schon in den TTIP- und CETA-Verhandlungen das Zepter führten.

Wirklich gute Freunde der Dienstleistungen“ stießen die Verhandlungen an

Angestoßen wurden die Verhandlungen durch eine Gruppe: die selbsternannten „Really Good Friends of Services“ – wirklich gute Freunde der Dienstleistungen also. Nach großem Druck der Gewerkschaften ist Uruguay mittlerweile aus den Verhandlungen ausgestiegen. China wollte hinein, wurde jedoch abgewiesen. Alexis Passadakis: „Die großen Schwellenländer sind alle nicht dabei.“

Die Befürchtungen der Veranstalter konnte der Referent nicht entkräften

Alle Bereiche, selbst öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, auch die Energieversorgung sollen privaten Unternehmen überantwortet werden, fürchteten die Veranstalter des Abends in Dortmund im Vorfeld: DGB, Attac und Nachdenktreff. Weshalb der Abend auch mit dem Titel „TiSA – geheimer Angriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge“ überschrieben war.

Und der eingeladene, im Stoffe stehende, Referent, konnte diese Befürchtungen auch nicht entkräften. Im Gegenteil: er beleuchtete sie en détail.

Die Verhandlungen, die nicht einfach vom Himmel fielen, liegen erst mal auf Eis

Passadakis wies daraufhin, dass diese TiSA-Verhandlungen „nicht einfach so vom Himmel gefahren“, sondern „ein Ergebnis der stockenden, gescheiterten Verhandlungen der Welthandelsorganisation“ sind. Die letzte Verhandlungsrunde habe im November letzten Jahres stattgefunden. Passadakis: „Eigentlich sollte letzten Dezember der Sack zugemacht werden.“ Aber die Verhandlungen seien nun „erst einmal auf Eis“. Zwei Gründe sieht der Referent dafür: Einige Verhandlungsbrocken führten zu Konflikten zwischen den USA und der EU. Hinzu gekommen sei die Wahl Donald Trumps zum nächsten Präsidenten der USA. Der Politikwissenschaftler vermutet, dass die Verhandlungen im Sommer 2017 wieder aufgenommen werden.

Lobbyisten haben immensen Einfluss auf die Verhandlungen

Einen wichtigen Hintergrund zum bald scheidenden Verhandlungsführer in Sachen TiSA seitens der USA, Michael Froman, nannte Alexis Passadakis: Der aus dem Finanzsektor kommende Mann sei nämlich „derjenige, der das Obama-Kabinett zusammengestellt“ habe. Man wisse durch Wikileaks, dass sich das letztlich von Obama berufene Kabinett weitgehend mit den Vorschlägen von Froman deckte. Überhaupt hätten Lobbyisten – auch in der EU – immensen Einfluss auf die Verhandlungen.

Besonders aktiv soll ein US-amerikanischer Lobbyverband der Dienstleistungsindustrie betreffs der Beförderung des TiSA-Abkommens gewesen sein. Sie gelten gar als dessen Erfinder. Sie gingen wiederum auf ihr europäisches Pendant (ESF) zu. Wichtig sei zu wissen, so der Referent: die EU-Kommission sei es hier gewesen, die auf das ESF zugegangen ist und quasi gesagte habe, „wir brauchen einen neuen Lobbyverband, der uns sagt, was wir machen sollen“ und die Akteure bat, das European Services Forum (ESF) zu gründen.

Folgen von TiSA

Passadakis gab zu bedenken, TiSA zöge nicht nur eine weitere Privatisierungswelle nach sich, sondern dürfte auch einen gewaltigen Lohndruck ausüben. Und hätte gewiss eine Verdrängung, und die Vernichtung weiterer Arbeitsplätzen zur Folge. Das Schlimmste: einmal ins Werk gesetzte Privatisierungen wären nicht mehr zurückzudrehen (Stillstandsklausel). Sogar künftig zu Privatisierendes dürfte nicht mehr in öffentliches Eigentum zurückverwandelt werden (Sperrklinkenklausel). Um auf das Gefahrenpotential für die öffentliche Daseinsvorsorge zu verdeutlichen, nannte Alexis Passadakis von Wirtschaftsminister Gabriel geplante Privatisierung (über den Weg eines Investitionsfonds) der Bundesautobahnen. Private Schiedsgerichte wie bei TTIP oder CETA gebe es bei TiSA nicht, sondern Staat-Staat-Schiedsverfahren. De facto sei dies aber ebenso brutal wie eine privates.

Aushebelung demokratischer Mitbestimmung

TiSA, antwortete der Referent auf eine Frage eines Hörers, der gar nicht fassen konnte, was er da vernommen hatte, sei eben gerade ein weiteres Werkzeug der Konzerne zum Behufe, „die Ökonomie demokratischer Mitbestimmung zu entziehen“. So seien auf Dauer deren Investitionen gesichert. Die Regierungen – auch die unsrige – sähen sich obendrein „als Sachwalter dieses globalen Liberalisierungskonsenses. Gemäß der Annahme, wenn alle Unternehmen reicher werden, würde die Gesellschaft insgesamt reicher (Trickle-down-Theorie). Passadakis: „Was empirisch nicht bewiesen ist.“

Der Attac-Aktivist klärte darüber auf, dass diese autoritär-liberalisierte Entwicklung aus einer Mitte der Gesellschaft heraus betrieben wurde und wird, die politisch heute so begehrt sei. Der britische Sozialwissenschaftler Tariq Ali nenne diese Mitte „Extremes Zentrum“.

Gesellschaftlicher Rollback

Letztlich sei auch TiSA wie TTIP und CETA ein Hebel, das einem gesellschaftlichen Rollback diene. Bereits erreichte Verbesserungen auch der sozialer Standards der Menschen in Europa würden Stück für Stück beschädigt und letztlich zurückgedreht. Im Übrigen könne diese „der nächste Schritt sein, einen weiteren Finanzcrash vorzubereiten.

Passadakis: TTIP habe man einmal als „eine nordatlantische Verfassung für die Konzerne“ bezeichnet. TiSA wäre dann für ihn so etwas wie „eine globale Verfassung für Dienstleistungskonzerne“.

Passadakis sieht die Lage düster, will jedoch die Flinte nicht ins Korn werfen

Alexis Passadakis räumte ein, dass es ziemlich düster aussieht. Nichtsdestotrotz gab er sich weit davon entfernt, betreffs einer Verhinderung von TiSA die Flinte ins Korn zu werfen. Mut hätten ihm besonders die mächtigen Demonstrationen gegen die TTIP und CETA (mit 250.000 in Berlin) und letztens die Proteste in mehreren deutschen Städten letzten September gemacht. Das Besondere: diese Proteste würden von einem breitem Bündnis von Menschen quer durch die ganze Gesellschaft getragen. Dass die Gegner dieser Freihandels- und Dienstleistungsabkommen letztlich obsiegen könnten, hält Alexis Passadakis für realistisch.

Dies sei, so der Referent auch dringend geboten. Zumal gerade an diesem Montag die neue Oxfam-Studie öffentlich geworden sei, wonach die acht der Superreichsten der Welt mehr als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitze.

Kommende Proteste gegen TiSA und ein Alarmruf an die Kommunen

Die nächsten Proteste stünden an: am 21. Januar europaweiter Aktionstag gegen CETA, am 1. Juli ein dezentraler Aktionstag in Deutschland und ganz prominent der Protest am 8. Juli anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg (wo erstmals der neue US-Präsident Donald Trump in Deutschland weilen wird). Und überdies könne Protest auch im Rahmen der Bundestagswahlen 2017 artikuliert werden.

Alexis Passadakis rief unbedingt auch dazu auf, die Kommunen für die TiSA-Problematik zu sensibilisieren. Schließlich wären gerade dort die Auswirkungen gravierend. Etwa könne unter TiSA ein ausländischer Investor, welcher beispielsweise ein Musical in einer Kommune betreiben wolle, die gleichen Subventionen einklagen, die etwa hier in Dortmund das Theater von der Stadt erhalten.

Ein informativer Abend mit düsteren Prognosen. Aber durchaus auch mit der hoffnungsvollen Aussicht zu verhindern, dass sie eintreffen.

Sehr deutlich wurde an diesem Abend in Dortmund, dass TiSA vielleicht noch einen Tick gefährlicher ist als TTIP. Auch deshalb, weil TiSA unterm Radar der Öffentlichkeit geheim vorantrieben wird. Die Wenigsten von uns dürften es also auf dem Radar haben. Alexis Passadakis charakterisierte TiSA „als böse Zwillingsschwester von TTIP“.

Links:

http://www.attac.de/kampagnen/freihandelsfalle-ttip/hintergrund/tisa/

https://lobbypedia.de/wiki/European_Services_Forum

https://www.campact.de/tisa/appell/teilnehmen/?gclid=CNeCxKXoyNECFQQz0wodVU0HUA

In Dortmund diskutiert: „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa – gegen die Europäische Union durchsetzen!“

Bekommen wir ein soziale und demokratischere EU hin, oder fliegt und das Ding um die Ohren?; Foto: lupo via pixelio.de

Bekommen wir ein soziale und demokratischere EU hin, oder fliegt und das Ding um die Ohren?; Foto: lupo via pixelio.de

Europa, genauer: die Europäische Union, ist nach der Finanzmarktkrise und erst richtig betreffs der Reaktionen auf die große Zahl der Geflüchteten und dem unterschiedlichen Umgang mit ihnen in schwerer Krise befindlich. Zornig über den erpresserischen Umgang der „Institutionen“ mit der im letzten Jahr gewählten griechischen Regierung unter Führung von Alexis Tsipras – erst recht, nachdem die Griechen in einem Referendum „Oxi“, nein, zu den europäischen „Reformen“ gesagt hatten und darob noch schlimmer gedemütigt worden waren, schrieb ich: Europa ist gestorben. Tot. Aber eigentlich begann der Sterbeprozess des oft als das großes Europäische Projekt, gar als Garant eines immer währenden Friedens in Europa bezeichnet ward, bereits vor längerer Zeit. Was natürlich auch mit der Fehlkonstruktion des Euros sowie mit den konkreten Auswirkungen dessen in Zusammenhang steht. Tot oder nicht tot oder nur weiter dahinsiechend – wie also weiter mit der EU?

Diskussion in Dortmund: Wie zu einem sozialen und demokratischen Europa kommen?

Die Partei DIE LINKE Dortmund hatte am vergangenen Freitag zu einer Diskussionsveranstaltung ins Dietrich-Keuning-Haus eingeladen, wobei es genau um dieses Thema gehen sollte. Die Veranstaltung trug den Titel „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa – gegen die Europäische Union durchsetzen!“

Hierzu trugen ihre Standpunkte vor und diskutierten Andrej Hunko (MdB DIE LINKE),
Michael Aggelidis, Alexis Passadakis (Attac) sowie Anja Böttcher (Hellas-Solidarität). Katharina Schwabedissen (Blockupy), Martin Nees (ver.di Landesbezirk NRW) und Christian Leye (Mitglied des Landesvorstandes DIE LINKE NRW) hatten leider absagen müssen.

Input 1: Fragen also über Fragen

Dr. Bernd Tenbensel (Mitglied des Kreisvorstandes DIE LINKE, Dortmund) eröffnete den Reigen mit dem ersten Inputreferat. „Für viele“, so hub er an, „sei die EU ja zum Synonym geworden für Beschneidung von sozialen und demokratischen Rechten, für viele auch für Verelendung.“ Womit er auf die Situation der Menschen in Griechenland anspielte. Welche Alternative stelle sich? Die zwischen rechtspopulistischer Abschottung und autoritären Neoliberalismus? „Brauchen wir gegen diese Tendenzen nicht ganz offensichtlich eine transnationale Antwort? Muss die gesellschaftliche Linke nicht internationalistischer handeln als bisher?“ Alternativen gebe es, doch es fehle an einer gesellschaftlichen Dynamik für eine Linkswende, so Dr. Tenbensel. Die Bedingungen seien „von starken nationalen Ungleichzeitigkeiten geprägt“. Unterschiedliche Initiativen versuchten eine europäischen Demokratiebewegung anzustoßen. Tenbensel nannte die bekanntesten DiEM25 (Gallionsfigur ist Yanis Varoufakis), Alter Summit und Blockupy. Die Frage: Wie können sie sich verknüpfen? Wie könnte eine Massenbewegung daraus werden.

Also: „Was tun?“ Keinesfalls, stellte Tenbensel klar, könne es um einen „nationalistischen Rückfall“ gehen.

Könnten Dezentralisierung und Europäisierung in Einklang gebracht werden? Wie könnte es gelingen, demokratischen Gegeninstitutionen aufzubauen? Wäre eine Organisation in räteähnlichen Versammlungen vom Vierteln bis hin zur europäischen Ebene aufzubauen?

Fragen also über Fragen.

Input 2: Mit basisdemokratischen Gegenstrukturen zur EU arbeiten

Ein zweiter Input kam von Wolf Stammnitz (DIE LINKE Dortmund, Sachkundiger Bürger im Dortmunder Stadtrat und europapolitischer Sprecher). Stammnitz: wie die Verursacher der Eurokrise sie überwinden wollen oder können, sei derzeit nicht absehbar – eine Illusion darüber müsse man sich aber nicht machen. Da die „europäischen Eliten die Folgen der Krise nicht selber auslöffeln wollten, sei also nur mit einer weiteren Flucht nach vorne „in noch autoritäreres Durchregieren von Brüssel aus in die Nationalstaaten – wie das z. B. die es im Fünf-Präsidenten-Bericht skizziert ist und die Verschärfung des Standortwettbewerbs – zu rechnen. Der Zerfall der EU in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten (Schäuble-Lamers-Papier) sei quasi schon länger miteinkalkuliert. Das bedeutet ein Kerneuropa unter Führung von Deutschland. Keine erfreulichen Aussichten also, befürchtet Stammnitz, für ein „sozialeres und demokratischeres Europa“.

Es hieße für die Völker Europas entweder „diese reaktionäre Krisenlösung passiv zu erdulden oder aber die Krise auszunutzen, um an allen möglichen Ecken und Fronten um unsere Rechte und Lebensbedingungen zu kämpfen“.

„ Um zur möglichst breiten Mobilisierung für das Europa der Menschen und nicht der Banken zu kommen, wollen wir LINKE in Dortmund und der Region und wohl auch im Land die bestehenden Initiativen und Bewegungen für ein Europa von unten unterstützen und stärken, sowie soweit möglich auf eine Vernetzung zu arbeiten.“ Erstrebenswert wäre seiner Meinung auch der Ausbau der Genossenschaftsbewegung. Es gehe „politisch um basisdemokratischen Gegenstrukturen“ zur EU. Auch um „zivilen Ungehorsam gegen staatliche Überwachung“. Sowie gegen Privatisierung der Stadträume (Stichwort: PPP). Und u.a. gegen Sozialabbau und Rentenkürzungen.

Hellas-Solidarität

Anja Böttcher berichtete über die Arbeit der Hellas-Solidarität Bochum. Inzwischen, konstatierte sie, regiere die Tsipras-Regierung eigentlich gar nicht mehr. Sie setzte sozusagen nur durch, was die Troika und die Bundesregierung Athen „reindiktiert“. Man mache zusammen mit vielen Menschen aus Griechenland Öffentlichkeitsarbeit, um die deutsche Bevölkerung darüber ins Bild zu setzen, was eigentlich in Griechenland los sei. Griechenland stecke tief in einem Prozess in welchen „wir noch nicht ganz so weit sind“. Eine Abwicklung „sozialer Demokratie“ finde statt.

Andrej Hunko: Selbst die EU-Eliten haben große Sorge, der Laden könnte auseinander fliegen

Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE, schärfte den Blick auf Europa. Zunächst einmal müsse man definieren, was das sei, die EU. „Die EU ist ein Zusammenschluss von 28 Staaten mit einem bestimmten Institutionengefüge (Europäische Kommission, Europäischer Rat, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof, Europäische Zentralbank) basierend auf bestimmten Grundlagenverträgen.“

All das sei weder die europäische Integration noch Europa. So wie EU sich neoliberal entwickelt habe es immer Kritik gegeben. Die LINKE (vorher die PDS) „hatte immer recht gehabt“ (in ihrer Breite). Die Kritik Maastricher Verträge, an der Einführung des Euro (Gregor Gysi hatte seinerzeit im Bundestag dargelegt, warum der Euro nicht funktionieren werde können) habe sachlich gestimmt. Die Volksabstimmungen über einen europäischen Verfassungsvertrag mit Ablehnungen in Frankreich und den Niederlanden wegen dessen neoliberalen Charakters. Die Linken (die PDS, Attac) hätten dieses Nein damals unterstützt. Die EU-Eliten hätten das ignoriert und den gleichen Vertrag textgleich nur ohne Verfassungssymbolik (unter maßgeblichen Druck der BRD) umgewandelt in den Lissabon-Vertrag.

Jetzt sei man an in der EU einer Stelle, wo die inneren Widersprüche zu ganz großen Problemen führen. Auch herrschenden Eliten in der EU hätten mittlerweile große Sorge, ob das Projekt überhaupt noch „sozusagen zusammenhaltbar ist“. Hunko erwähnte, vor zwei Monaten mit Jean-Claude Juncker gesprochen zu haben, der ihm gesagt habe, wenn wir nicht endlich eine soziale Säule aufbauen, dann fliegt uns der Laden auseinander.

Andrej Hunko schätzt das freilich zwar auch „zum Teil als Rhetorik“ ein. Dennoch sei mit Händen zu greifen, dass es in der EU Kräfte gibt, die eine soziale Dimension für geboten halten. Ansonsten würde die EU in Südeuropa und auch im Osten eher zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Die Meinungsverschiedenheiten der EU-Länder in der Flüchtlingskrise, die mangelnde Solidarität untereinander sind für Hunko eher ein Symptom als die Ursache der gegenwärtigen Krise. Und Ausdruck dafür, dass es schon lange keine Kooperation mehr gebe. Auch der EU-Türkei-Deal sei kein Projekt der europäischen Staatschefs gewesen, sondern ein Merkel-Erdogan-Deal.

Hunkos Fazit: Die emanzipatorischen Kräfte und die Linken in Europa sollten an den konkreten Widersprüchen ansetzen, die offen zutage liegen.

Konkrete Druckpunkte ermöglichen Mobilisierung. Die EU neu begründen – aber wie?

Alexis Passadakis erinnerte aus Sicht von Attac daran, dass die Begriffe, wenn z.B. wenn von Europa gesprochen , aber die EU gemeint werde, „unscharf sind“. Für Attac, von Gründung an global engagiert, gebe es „keine eindeutige, festgelegte Positionierung betreffs der Zukunft des europäischen Integrationsprozesses. Allerdings hält Passadakis „eine Flexibilisierung und Dezentralisierung, verbunden mit einer Demokratisierung“ für sinnvoll. Wenn man sich anschaue, welche Druckpunkte es gegen diesen Institutionenapparat gibt, dann ist der Druckpunkt eigentlich die Handelspolitik: TTIP, CETA und TiSA. Die europäisch organisierte Kampagne dagegen sei beispiellos.

Einige Ansichten von Netzwerken findet Passadakis allerdings etwas naiv. Manche meinten, die EU müsse demokratisch nur so aufgestellt werden wie in den Nationalstaaten üblich. Dies nannte Passadakis, anspielend auf Texte des Philosophen Jürgen Habermas, „habermasianisch“. Alexis Passadakis hält das nicht für möglich. Was in den europäischen Nationalstaaten in zirka 200 Jahren entstanden ist, dürfte seines Erachtens nicht einfach Richtung Brüssel und einen Raum von 500 Millionen Menschen „hochskalierbar“ sein. Es brauche ganz andere, neue Modelle. „Deshalb“, so der Attacie weiter, „die EU neu begründen!“ Was natürlich sehr, sehr schwierig sei: „Und wer soll das tun und wie?“

Protest gegen TTIP und auch gegen TiSA gibt es. Wie aber kann man die Proteste zusammenführen? Foto: C.-D.Stille

Protest gegen TTIP und auch gegen TiSA gibt es. Wie aber kann man die Proteste zusammenführen? Foto: C.-D.Stille

Kein Ansatzpunkt sei allerdings „darauf zu warten“. Das Phänomen der Ungleichzeitigkeit, so glaubt Passadakis, werde immer da sein. „Es wird kein Moment geben in einem Raum von 500 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten, wo alle, die sozial bewegt sind, aufstehen und sagen wir wollen jetzt etwas anderes.“ Die Mitgliedsstaaten blieben halt weiter das Terrain, wo sich die Leute organisieren. Es habe die Bewegungen Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland gegeben und jetzt gebe es eben jetzt die grandiose Bewegung „Nuit debout“ in Frankreich. Auf eine Gleichzeitigkeit dürfe nicht gewartet werden. Man müsse seine Strategien angesichts der Ungleichzeitigkeit auswählen, dennoch aber versuchen, Dinge zu koordinieren. Wie bei TTIP. „Wir sind momentan in einer Phase der autoritären Transformation.“ Wie weit die gehen kann sei noch nicht absehbar. Positiv stimmt ihn in Bezug auf die BRD, dass in den letzten Jahren sehr viele Menschen auf der Straße waren – so viele nicht wie in den letzten 25 Jahren. Es könne davon ausgehen werden, dass letztlich eine Million Leute in Deutschland irgendwie in diese Protestbewegungen involviert sind. Zuletzt hätten immerhin 5000 Menschen gegen den Drohnenkrieg in Ramstein protestiert. Andere gingen gegen Nazis und „komische Vereine wie PEGIDA und HOGESA“ auf die Straße.

Das Problem sei, dass all das sich bislang nicht zusammenfüge zu einem gemeinsamen antineoliberalen – oder überhaupt einem politischen – Projekt. „Dennoch“, machte der Aktivist Mut, „lassen sich gesellschaftliche Koordinaten verschieben.“

Und gab er bedenken: „Die deutsche Frage ist wieder aufgeworfen“. Nicht etwa wie 1914 oder 1933. Die deutschen Eliten wollten in Europa die dominierende Rolle spielen.

Fazit: Konkrete Druckpunkte gebe es. Dann könne auch mobilisiert werden. Eigentlich gehe es darum die Leute zu mobilisieren, die eigentlich schon zusammen sind. Verstünde man es diese konkreten Druckkampagnen zu einem antineoliberalen Projekt zu verbinden, dann wäre man schon sehr weit. Allerdings fehle es der gesellschaftliche Linken EU-weit an Kraft und Möglichkeiten, um auch in „subalterne Schichten“ vorzudringen, um eben auch ein solidarische Ökonomie auf die Beine zu stellen.

Demokratische Souveränität und nach dem Prinzip zwei Schritte vor, einen zurück

Michael Aggelidis hatte kürzlich die letzte große Demonstration mit etwa einer Million beteiligten Menschen in Paris gegen die Arbeitsmarkt“reformen“ besucht und berichtete davon. Das Medienecho in Deutschland darauf kritisierte Aggelidis scharf. So hatte etwa die Tagesschau von gerade einmal 75.000 Demonstrationsteilnehmerin gesprochen. Aus welchen Gründen auch immer, die deutschen Medien berichteten nicht korrekt. Die Stimmung dort sei unbeschreiblich gewesen.

Betreffs Griechenlands kritisierte Aggelidis die (erpresste) Umschwenkpolitik der Regierung Tsipras. Längst unterstütze die NRW-LINKE die Linksabspaltung von Syriza. Giorgos Chondros, für welchen Aggelidis kurz arbeitete, hält er für einen anständigen Genossen. Doch momentan schicke ihn Athen verstärkt nach Deutschland um die jetzige Politik „gutzuerklären“. Aber wie könnte man das – wo sogar der Präsidentenpalast auf der Privatisierungsliste der Institutionen stehen?!

Auch Michael Aggelidis erkenne diese Ungleichzeitigkeit in der EU. Allerdings könnten diese Institutionen mit Spanien (wo es bald Wahlen gibt) und die linke Podemos gute Chancen habe und in Portugal, wo bereits linke Kräfte in der Regierung sind, nicht so umspringen wie mit Griechenland. Die Leisetreterei dieser Institutionen gegenüber den beiden Ländern habe mit der schweren Krise der EU zu tun und sei deshalb einfach Kalkül. „Die müssen einfach befürchten, dass ihnen der Laden auseinander fliegt.“

Aggelidis sieht Deutschland als der Hegemon, ein Begriff mit dem zuvor Alexis Passadakis noch gehadert hatte, in Europa. Allein schon durch die deutsche exzessive Exportpolitik und die dabei entstehenden Ungleichgewichte zum Schaden anderer Länder. Problematisch sei es, dass es da „ein Amalgam“ mit Gewerkschaften wie etwa der IG Metall gebe, die ja sich ja nicht zu Unrecht von dieser Exportpolitik den Erhalt der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder versprechen. Wie solle man die in Proteste einbeziehen, wo die die verwandt und verschwägert mit dieser Exportindustrie sind? Von ihnen sei keine Solidarität mit Kollegen in Portugal und Spanien zu erwarten. Ein Dilemma.

In Italien gebe es Investmentbanker, die sagten: ihr müsst den Euro verlassen, sonst habt ihr in zehn Jahren keine verarbeitenden Industrie mehr und seid die verlängerte Werkbank der Deutschen. Aggelidis empfiehlt Griechenland den Austritt aus Euro und EU. Das führe nicht zum Weltuntergang. Hier in Deutschland müsse die Debatte aber anders geführt werden.

Er sprach von einer „demokratischen Souveränität“. Da sei kein reaktionärer Vorgang, beschwor Aggelidis. Als Linke wolle man nicht zurück zum Nationalstaat. In Deutschland sei das anders. In Spanien oder Portugal jedoch sei es aber nicht schlimm, demokratische Legitimationen wieder zurück auf den Nationalstaat zu bekommen. Aggelidis beharrte darauf, kein Antieuropäer zu sein. Gegen die EU in ihrer jetzigen Verfasstheit, wo die europäischen „Völker versklavt“ werden und gegen die Fehlkonstruktion Euro aber ist er. Es müsse werde nach dem Prinzip zwei Schritte vor, einen zurück gearbeitet werden müssen. „Wie müssen wieder zurück zum Nationalstaat. Das ist keine reaktionäre Diskussion die wir führen. Das müssen wir klarmachen.“

Diese letzte Formulierung stieß allerdings bei den Mitdiskutanten auf Kritik.

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Die interessante Podiumsdiskussion in Dortmund und die Fragen der Anwesenden Gäste legte die momentane Krise in welcher sich die EU befindet schmerzlich offen. Problemen wurden benannt. Lösungsansätze versucht zu skizzieren. Konkrete Lösungen hatte gewiss niemand aus der Diskussion erwartet. Aber eines wurde klar: Es steht schlecht um Europa und die EU. Wenngleich beides freilich nicht das Gleiche ist. Wir brauchen mehr Trennschärfe. Sowie Mut, etwas anzustoßen. Und es müssen die Menschen, die sich jetzt schon vielfältig, kritisch geworden, engagieren, zusammenbracht werden. Nichts anderes im Prinzip riet kürzlich in Dortmund wenige Gehminuten vom Dietrich-Keuning-Haus entfernt in der Auslandsgesellschaft NRW Fabian Scheidler („Das Ende der Megamaschine“): Es gelte die ausgebeuteten Menschen dieser Welt zusammenzubringen. Beispielsweise die Arbeiter in den Koltanminen des Kongo und die prekär bezahlten und was den Arbeitsaufwand angeht, die gestressten Menschen in unseren Krankenhäusern. Das im Grunde Einfache, das schwer zu machen ist.

Wie hieß gleich noch der Titel der Diskussionsveranstaltung: „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa- gegen die Europäische Union durchsetzen!“ Diese Wege sind zum Teil und auf vielen Blättern skizziert. Sie müssen jedoch gegangen werden. Denn, dass die Krise sich noch zuspitzen wird – niemand weiß zwar genau wie – steht zu befürchten. Mit jedem Tag des Zuwartens wird ein Eingreifen schwieriger bis es eines Tages vielleicht fast unmöglich sein wird. Ein Eric Hobsbawm konnte einmal im Stern sagen: „Es wird Blut fließen, viel Blut“.

Alexis Passadakis in Dortmund: Syriza will moderate sozialdemokratische Politik machen

Alexis Passadakis während seines Referats in der Auslandsgesellschaft Dortmund; Foto: Stille

Alexis Passadakis während seines Referats in der Auslandsgesellschaft Dortmund; Foto: Stille

In Griechenland ist eine humanitäre Krise zu konstatieren. Die sogenannte Griechenland-Rettungspolitik hat zu Elend, Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Rezession geführt. Die vor sechs Wochen ins Amt gewählte von Syriza geführten Regierung hat der wesentlich auf der von der Troika oktroyierten Austeritätspolitik eine radikale Absage erteilt. Gerettet wurden bislang nämlich nicht die Griechen, sondern hauptsächlich französische und deutsche Banken. Die französischen Geldhäuser hatten in Griechenland 20 Milliarden, die deutschen 17 Milliarden Euro im Feuer. Die Regierung mit Alexis Tsipras als Ministerpräsidenten an der Spitze ist mit konkreten Alternativen zur neoliberalen Verarmungspolitik im Gepäck angetreten. Indes: Die Europäische Union, nicht nur verbal angeführt von Berlin, lässt Athen bislang auflaufen.

Die neue Syriza-Regierung in Athen will die von der Troika (inzwischen als „die Institutionen“ bezeichnet) aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission erzwungenen „Reformen“ der letzten Jahre rückgängig machen, die im Kern auf Entlassungen, Lohn- und Rentensenkungen, Steuererhöhungen für die breite Bevölkerung und Privatisierungen hinausliefen. Erst diese zynisch „Rettungspolitik“ genannte Austeritätspolitik  der Troika hat Griechenland tief in die Rezession geführt – und seine Schulden in astronomische Höhen getrieben! Niemand der klar im Kopf ist denkt, dass diese Schulden je zurückgezahlt werden können. Ulrike Herrmann (taz) erwähnte diese unumstößliche Tatsache erst jüngst in Günther Jauchs „Stinkefinger“-Talkshow vom  letzten Sonntag. Dies im Hinterkopf nimmt es nicht wunder, dass Syriza einen Schuldenaudit und Verhandlungen mit dem Ziel einer Schuldenstreichung anstrebt und die massive Steuerflucht und Steuervermeidung im Land bekämpfen will. Dazu: Das Regierungsprogramm der Syriza-Regierung.

Zur Person

Alexis Passadakis, Politikwissenschaftler, Publizist und Mitarbeiter bei verschiedenen NGOs ist seit 2002 aktives Mitglied bei Attac und war lange Zeit Mitglied des Attac-Rates. An diesem Montag referierte er in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund über die mit Griechenland und der Eurozonenkrise (die leider immer schnell zu einer reinen Griechenland-Krise gemacht wird) und damit im Zusammenhang stehenden Problemen. Speziell im Hinblick auf die Vorhaben der neuen griechischen Regierung.

Alexis Passadakis‘ Großvater war als Zwangsarbeiter nach Hitlerdeutschland verbracht worden. In Köln-Hürth lernte er die Tochter seines Vorarbeiters kennen und lieben. Enkel Alexis hat deutsche und französische Familienhintergründe, so erklärte der Attac-Aktivist. Er trage zwar einen griechischen Namen, ist aber des Griechischen in Wort und Schrift nicht mächtig, sodass er z.B. keine griechischen Zeitungen im Original lesen kann.

Die Situation in Griechenland

Den Wahlerfolg von Syriza erklärt Passadakis zu einem späteren Erfolg früherer intensiver  Protest in Griechenland (2011) in zeitlicher Nähe zur Arabellion (die 2010 in Tunesien ihren Ausgang nahm) und den Protesten (15-M-Bewegung) auf der Puerta del Sol in Spanien. Damals wurde der Syntagma-Platz in Athen und Plätze anderer griechischer Städte besetzt. Es habe die große Hoffnung gegeben, dass diese Rebellion bewirke, dass der Troika eine andere Politik gegenüber Athen aufgezwungen werden könne. Oder man gar imstande sei, diese eaus dem Land zu vertreiben. Das blieb Illusion. Enttäuschung machte sich breit. In diesem Zusammenhang ist auch die „Entstehung von Syriza als Partei wie sie jetzt existiert zu sehen“. Vorher war Syriza ein kleines Wahlbündnis, das um die 4,5 Prozent bei nationalen Wahlen holte. Zum Vergleich: bei den diesjährigen Wahlen fuhr Syriza beachtliche 36,4 Prozent ein. Allerdings relativiere sich, so Alexis Passadakis, dieser Wahlerfolg substantiell, denn die Wahlbeteiligung war gering. Trotz der griechischen Besonderheit, dass der Wahlsieger noch 50 Parlamentssitze aufgeschlagen bekommt, um eine Regierung bilden zu können, musste Syriza ein Koalition bilden.

Erfolg und Niederlage zugleich

Alexis Passadakis sieht im  Erfolg der Syriza gleichzeitig auch eine Niederlage. Im Land herrsche „politische Depression“ und es funktioniere „die Erzählung der anderen Seite, wonach die Schuld an der Misere in der griechischen Gesellschaft zu suchen sei. Überdies sei der Druck der Institutionen, der Eurogruppe  enorm. Der Attac-Aktivist befürchtet, dass die Eurogruppe diesen Wahlsieg, diese Regierungsbildung „zunichte zu machen“ könnte. „Entweder dadurch, dass die momentane Regierung „voll auf Linie der Troika gebracht“ werde oder man hoffe, dass die Tsipras-Regierung scheitere und es „rasch zu Neuwahlen“ komme.

Es gehe eigentlich gar nicht darum, „wann welcher Kredit zurückgezahlt werde und auch nicht um die Frage wann wird welche Reform gemacht und in welchem Tempo“, sondern vielmehr darum: „Ist in der Europäischen Union eine moderate sozialdemokratische Politik möglich? Oder ist sie nicht möglich?“ Syriza vertrete die These, „eine moderate sozialdemokratische Politik sei möglich.“ Als Lösung der Eurozonenkrise insgesamt. Passadakis glaubt genau diese Politik wolle die Troika, die Eurogruppe verhindern. Unter diesem Streit leide die griechische Bevölkerung. Die Lage vieler Menschen im Land ist katastrophal.

Katastrophale Lage durch Austeritätspoliti

Viele Menschen hätten das Land unterdessen verlassen oder haben vor es zu verlassen. Deren Zahl geht in die Hunderttausende. Verbunden damit ein auf Generationen unmöglich zu kompensierender Braindrain. Hohe Arbeitslosigkeit, ein zerstörtes Gesundheitssystem (allein 40 Polikliniken wurden geschlossen), es wurden auf Betreiben der Troika  Lohnsenkungen in Höhe von vierzig Prozent ins Werk gesetzt und die Selbstmordrate stieg gewaltig an –  um nur einige Folgen der „Rettungspolitik“ zu nennen. Die Lebenserwartung sinkt. Der IWF kenne das aus anderen Ländern nur zu gut, die unter Kuratel gestellt worden waren.

Es ist alles viel schlimmer, als das hier möglich ist aufzulisten. Passadakis: Aber in der deutschen Öffentlichkeit werde das kaum widergespiegelt noch verstanden. Was insofern verwunderlich sei, da Deutschland Ähnliches aufgrund der Austeritätspolitik unter Reichskanzler Heinrich Brüning erlebt habe. „Die Weltwirtschaftskrise hat dadurch nochmal an Fahrt aufgenommen“. Das Ergebnis dessen sei ja bekannt. Sowohl sozioökonomisch wie politisch habe das fürchterliche Folgen gezeitigt, indem der Nationalsozialismus daraus hervorging.

Die drei Hauptziele der Syriza

1. Die humanitäre Katastrophe überwinden. 2. Die Demokratie wiederherstellen und unter Einführung von direkter Demokratie  vertiefen. 3. Europa neu begründen. (Weiteres hier im „Thessaloniki-Programm“)

Wer zahlt das Ganze, der „hart arbeitende deutsche Steuerzahler“?

Alexis Passadakis griff das deutsche Narrativ auf, wonach „der deutsche Steuerzahler“ für all die angeblichen Wundertaten der neuen griechischen Regierung, wie BILD schmiert: „gierigen Griechen“, werde aufkommen müssen. Erließe man Griechenland tatsächlich alle Schulden, so der Referent, „dann wäre Deutschland mit 60 Milliarden Euro“ exponiert.

Wen trifft es? Wer hat da eigentlich Geld hingeschickt? Passadakis macht es am deutschen Brötchenkauf klar: Wer wirklich glaube, dass die dabei anfallende Mehrwertsteuer ins Staatssäckel fließt. Und das Geld dann genommen würde um es nach Griechenland transferieren, der glaube auch, dass der Klapperstorch in die Kinder bringe. Vielmehr habe die staatliche KfW-Bank 2010 günstige Kredite aufgenommen, Anleihen platziert und damit damit gewonnene Geld an Griechenland gegeben. Freilich, schränkt Passadakis ein: „in letzter Instanz“ bürge irgendwann der deutsche Fiskus. Die Europäische Zentralbank (EZB) halte einen großen Anteil der Schuldtitel. Passadakis machte deutlich, dass die EZB ja kein privates Bankunternehmen sei, sondern jederzeit selbst Geld schöpfen könne.

(Zur „Geldschöpfung“ mehr in einem Videopodcast von Jens Berger, NachDenkSeiten.)

Also sei ein Schuldenerlass für Griechenland kein Problem. Die EZB müsse dann nicht ins Minus rutschen.

Alexis Passadakis: „Der deutsche Steuerzahler wird zunächst unmittelbar überhaupt nicht belastet.“

Im Gegenteil: Durch das Drücken der Zinsen hat Deutschland in der Krise profitiert.

CDU und SPD erzählen uns sozusagen einen vom Pferd, wenn sie bei jeder Gelegenheit von den hart arbeitenden Deutschen sprechen, dessen mit Schweiß erzielte „Groschen nach Griechenland abfließen“. Der Referent: „Das sieht in der Realität viel komplizierter aus.“

Die angeblich „gierigen Griechen“, die Syriza-Regierung, will überhaupt gar keine Kredite mehr, um das Geld  nur wieder in das riesige schwarze, bodenloses Loch zu werfen.

Um was geht es der Eurogruppe?

Der Eurogruppe sei es erst um Bankenrettungen (französische und deutsche Geldhäuser) gegangen . Das habe geklappt. Der Troika ging es darum, die Machtverhältnisse in den einzelnen Euroländern zu „restrukturieren“. Im Grunde ging es um eine Umverteilung von Unten nach Oben. Um das Diktum von der „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ durchzudrücken. Es gälte wohl um jeden Preis Alternativen zum Neoliberalismus zu verhindern.

All das u.a. mit Institutionen wie Troika (ohne Vertragsrundlage!) , ESM, Fiskalpakt, EFSM, das Sixpack und das „Europäische Semester“ (alle EU-Mitgliedsstaaten haben dort ihren nationalen Haushalt zur Begutachtung einzureichen!) hintersetzt, die keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegen. Ja, im Einzelfall nicht einmal in den europäischen Verträgen stehen. Passadakis und „viele andere“ sehen das als „Baustein zu einer autoritären europäischen Transformation“.

Kurz, so könnte man nach alledem meinen, soll ein Europa nach dem Vorbild China installiert werden. Damit die Wirtschaft allzeit Vorfahrt hat und nicht länger durch als eine wohl als leidig empfundene Demokratie eingehegt werde.

Die Syriza-Regierung, so bemerkte Alexis Passadakis, sei nun seit den 1980er Jahren die erste Regierung innerhalb der EU, die sich kein „neoliberalen Konsens auf die Fahnen geschrieben hat und versuche diesen zu brechen“. Womit sich wohl die widerständig errichtete Mauer erklärt, gegen die Eurogruppe mit Schäuble vornweg die neue Athener Regierung augenscheinlich laufen zu lassen gedenkt. Koste es was es wolle?

Geführt wird „ein darwinistischer Kampf“

Interessante Fragen aus dem Publikum an diesem Abend gab es zuhauf. Alexis Passadakis beantwortet sie geduldig. Sie alle hier wiederzugeben ist nicht möglich. Alexis Passadakis führte aus, was in Augen der Europa-Mächtigen wohl Ökonomie bedeutet: „Eine Art von Krieg und Kampf. Es kann nur einen einzigen Sieger geben.“ Also „ein darwinistischer Kampf“, wonach der Stärkere im Recht ist und die anderen die Verlierer sind  und sich  „deshalb auch im Unrecht im moralischen Sinne“ befinden. Die „propagandistische Hetze“ müsse dann – obwohl explizit gegen Griechenland gerichtet – auch als Signal an die Adresse anderer womöglich künftig aus der neoliberalen  Linie auszubrechen gedenkende weitere Länder gerichtet. Auch wenn Syriza eigentlich moderate sozialdemokratische Politik macht, wird gesagt: Radikale linke Politik darf nicht gemacht werden. „Ökonomie wird eine moralische Frage“, formulierte Passadakis, „das soll allmählich in die Köpfe hinein sickern“.

Ist das nicht eine Art Hartz-IV-Politik nur gegen Länder? Musste ich an dieser Stelle denken.

„Die Eurozone“ sagte der Referent, „ist eine fatale Konstruktion“. Es habe das französische und das deutsche Interesse am Euro gegeben. Paris habe schon früher „diese virulente deutsche Ökonomie einhegen“ wollen (Rheinland-Besetzung). Nach dem Zweiten Weltkrieg haben man gleiches mit der Kohle- und Stahlunion versucht. Mit der gemeinsamen Währung Euro wurde dann auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gesetzt. Den Deutschen dagegen als stark exportorientierte Nation seien die Wechselkurse ein Dorn im Auge gewesen. Man „wurde immer wieder rausgekegelt durch eine Währungsabwertung“ in anderen europäischen Ländern. Der Euro beendete diese Möglichkeit. Damit sprach Passadakis „eines der Grundprobleme der Konstruktion der Eurozone“ an. Den Exportüberschüssen  Deutschlands kann nicht mehr durch Währungsabwertung begegnet werden. Fatal. Denn Deutschlands Überschüsse sind der anderen Länder Defizite. Unsere Exporte müssen jedoch von anderen gekauft werden, gab der Attac-Aktivist zu bedenken. „Das funktioniere etwa so, dass Deutschland nicht nur den Mercedes nach Spanien liefert, sondern auch den nötigen Kredit dafür, dass er dort auch gekauft werden kann.“ Genau dies sei 2007/2008 gecrasht. Deutschland trieb die Spaltung aufgrund dieser fatalen Politik immer weiter fort und andere damit ins Defizit.

„Perspektivisch“ eine „geordnete Abwicklung der Eurozone sinnvoll“

Der Euro hätte so also niemals  kommen dürfen. Aber nun ist er einmal da. Soll Griechenland also raus aus dem Euro? Das, so der Referent sei nicht einfach zu beantworten. Er selbst hält es aber „in der jetzigen Situation für fatal“. Weil ein Ausstieg nicht über Nacht geschehen könne. Und viele Vermögenswerte aus Griechenland gewiss in den Euroraum transferiert werden würden. „Perspektivisch“ hält Alexis Passadakis „eine geordnete Abwicklung der Eurozone“ jedoch  für sinnvoll.

Der Redner sprach  über die Tatsache der Wahl von Syriza sowie betreffs deren Regierungsprogramms von „einem aufgestoßenen Fenster“, dass eine „anti-neoliberale Option denkbar erscheinen lässt“. Dieses Jahr sind Wahlen in Spanien. Wird Podemos („Wir können es“) eine Chance als Regierungspartei erhalten? Allein ihr fehlt (noch) ein Koalitionspartner.

Gefahr eines neuen Faschismus?

Besorgt wurde aus dem Publikum die Frage gestellt, ob – wenn Syriza scheitere – nicht ein neuer Faschismus aufzukommen drohe. Immerhin sitzt mit Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung) eine nationalsozialistischen Partei mit 8 Prozent im griechischen Parlament. Diese berufe sich im Wesentlichen, so Passdakis, auf Joseph Goebbels und Adolf Hitler. Passadakis denkt trotz einer von den Eliten durchgesetzten „autoritären Transformation“, dass das „keine zentrale Perspektive der Eliten in der Europäischen Union“ ist. Allerdings seien feudalistische Züge erkennbar. Die Demokratie wurde und wird weiter ausgehöhlt. Was wohl eine Perspektive dieser Eliten sei. Züge der „chinesischen Struktur“ würden offenbar von manchen Leuten zumindest angedacht. Alexis Passadakis sprach von postdemokratischen Konzepten. Damit meint er offenbar, Ähnliches, wie es schon Colin Crouch beschrieben hat. Auch technokratischen Regierungen wie die einst von Mario Monti in Italien hält künftig für möglich, wenn Syriza scheitere.

Revolutionäre Situation nicht in Sicht

Gibt es eine revolutionäre Situation, um den Kapitalismus zu überwinden? Momentan wohl kaum. Dies sieht auch der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis realistisch. Weshalb er – fast wie der französische Ökonom Piketty – den Kapitalismus erst mal zu retten gedenke. Akut, indem Europa neugegründet wird. Dazu sein nun auch im Freitag abgedruckter Text „Der Freidenker“. Sein Schlusswort darin:

„Die Kunst besteht darin, revolutionäre Maximalforderungen zu vermeiden, die am Ende nur den Neoliberalen helfen. Und zugleich die immanenten Fehler des Kapitalismus im Auge zu behalten, während wir – aus strategischen Gründen – versuchen, ihn vor sich selbst zu retten.“ (Quelle: Yanis Varoufakis in  der Freitag)

Fazit

Ein hochinteressanter Vortrag von Alexis Passadakis, der von Attac Dortmund organisiert wurde. Es wäre noch viel mehr davon zu berichten. Doch das würde einfach den Raum hier sprengen. Der Referent hat es m.E. richtig eingeschätzt: Die Wahl von Syriza in die griechische Regierung ist Erfolg und Niederlage zugleich. Ob die Regierung Bestand haben wird hängt von mehreren Faktoren ab. Das moderat sozialdemokratische Regierungsprogramm für die erste Legislaturperiode hat in der Tat ein Fenster aufgestoßen. Europa – das nehme ich aus diesem Abend mit – sollte nicht nur grimmig wie ein verbiesterter Wolfgang Schäuble auf dieses geöffnete  Fenster hinein schauen, sondern die Chance Europa neu zu gründen wahrnehmen. Wie lange noch wird dieses Fenster geöffnet bleiben? Im Umgang mit Griechenland entscheidet sich die Zukunft des europäischen Projektes. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Von Alexis Passadakis empfohlene Literatur

„Was steckt hinter der Wettbewerbsfähigkeit?“

„Sparprogramme töten

„Griechenland auf den Weg in den Maßnahmestaat“