Links-grüne Meinungsmacht: Die Spaltung unseres Landes. Von Julia Ruhs – Rezension

Gleichmal Butter bei die Fische. Wie man im Ruhrpott zu sagen pflegt. Nicht nur meiner Meinung nach ist der Journalismus in Deutschland schwer auf den Hund gekommen. Beziehungsweise gebracht worden. Beides spielt zusammen. Gründe dafür gibt es viele. Aber nichts ist darunter, was das entschuldigen könnte.  Positive Erscheinungen bestätigen die Regel.

Selbst – in der DDR geboren und aufgewachsen – interessierte ich mich von frühen Jahren für Journalismus. Ich „frass“ Zeitungen geradezu. Und freute mich, als unsere Staatsbürgerkundelehrerin seinerzeit eine Schulzeitung (sie hieß Schulkurier) ins Leben rief. Es ward eine Redaktion zusammengestellt, in welcher ich für Außerschulisches zuständig war. Interessante Einblicke boten sich mir, woraus Erkenntnisse erwuchsen. Später unterbrachen Lehre und Wehrdienst bei der NVA mein Faible fürs Schreiben eine Zeitlang. Wieder im Beruf des Elektromonteurs und dann meiner Arbeit an einem Theater als Beleuchter zog es mich wieder zum Reportieren und Schreiben hin. Als Volkskorrespondent (sozusagen Laienjournalist mit kleiner Honorierung für Artikel) berichtete und schrieb ich für die Bezirkszeitung in meiner Stadt. Das machte Spaß und brachte mich in Kontakt mit interessanten Menschen und Institutionen. Man konnte auch durchaus Kritisches aufgreifen. Und ließ dies dann geschickt zwischen den Zeilen durchscheinen. Allerdings war klar (die Zeitung war eine der Bezirkszeitungen der SED, der führenden Partei in der DDR), dass einem da verständlicherweise gewisse Grenzen gesetzt waren. Das war einem klar und man arrangierte sich – so manches Mal zähneknirschend – damit. Die Schere im Kopf arbeitete beim Schreiben immer mit.

Als ich eines Tages von dieser Zeitung das Angebot einer Delegierung an eine Fachhochschule zwecks Ausbildung zum Journalisten bekam, war ich begeistert – aber ad hoc auch hin- hergerissen. Schließlich wurde erwartet, dass ich Mitglied der SED und damit „Parteijournalist“ würde. Ein fester Klassenstandpunkt im Sozialismus und das entsprechende Klassenbewusstsein (heute wird Haltungsjournalismus verlangt – ich komme noch darauf). Schließlich schlug ich das Angebot nach tagelanger Überlegung schweren Herzens aus. Denn ich bekam ja seinerzeit nicht nur Lob für meine Artikel, sondern auch manche Beschimpfung seitens einiger Kollegen meiner Arbeitsstätte, der Art: „Was haste denn da wieder in die Zeitung geschmiert.“

Meine Absage gründete sich auch auf die Situation eines Kulturredakteurs der Zeitung, welcher mir anlässlich manchen Theaterbesuchs (er schrieb u.a. Premierenkritiken) zu später Stunde während der Premierenfeier, wo er sich meist mit diversen Alkoholika die Kante gab, sein Leid als mehr oder weniger unglücklicher Journalist klagte. Dabei war er ja immerhin schon froh, dass er nicht in der Politik-Redaktion arbeiten musste.

Würde mich nicht auch so ein Schicksal wie das des besagten Kulturjournalisten erwartet haben, würde ich als Journalist dieser Zeitung gearbeitet haben? Hätte ich bestimmte „Kröten“ lieber schlucken sollen? Tempi passati …

Vorbilder im Westen

In der DDR sahen wir ja (außer im Raum Dresden – spöttisch als ARD bezeichnet) regelmäßig Westfernsehen. Ich war begeistert von Journalisten, wie Peter Scholl-Latour, Gerd Ruge, Klaus Bednarz, Gabriele Krone-Schmalz und anderen. Um nur einige zu nennen.

Wobei mir klar war, dass auch in der BRD nicht alles Gold war, was glänzte. Entsprechende kritische Berichte in Politmagazinen wie MONITOR, Panorama etc. brachten ja Unzulänglichkeiten und Skandale alljährlich an den Tag.

Auch bei westdeutschen Zeitungen waren damals in den 1970er und 1980er Jahren nicht bei jeder Redaktion jeder kritische Artikel willkommen. Zeitungen sind ja sogenannte Tendenzbetriebe. Dort bestimmt sozusagen der Verleger die politische Ausrichtung und somit, was ins Blatt kommt und was nicht. Aber Journalisten hatten ja damals durchaus eine gewisse Auswahl und konnten zu anderen Zeitungen wechseln.

Der Journalismus in Westdeutschland war zudem aber lange Zeit auf jedem Fall viel pluralistischer, als das heute der Fall ist.

Heute geht es gleichgerichteter zu, um es vorsichtig zu formulieren. Und es kam von bestimmter Bürgerseite der Vorwurf „Lügenpresse“ auf. Der Journalist Ulrich Teusch sprach passender von „Lückenpresse“. Und das betrifft auch die Öffentlich-Rechtlichen. Immer mehr Leute üben heruzutage zu Recht Kritik daran.

Journalisten sind dumm“

Neulich hörte ich aus dem Mund einen gestandenen konservativ verorteten Journalisten in einer Radiosendung sagen: „Journalisten sind dumm.“ Nun, für manche dürfte das wirklich zutreffen, wenn man hört oder liest, was sie gerade jetzt in Zeiten hochgefahrener Kriegspropaganda von sich geben. Aber dieser Satz kann und soll wohl auch anders verstanden werden: Nämlich derart, dass eben auch Journalisten nicht alles wissen (und auch nicht wissen können). Das Schlimme ist jedoch: Bestimmte Journalisten tun im Brustton der Überzeugung und nicht selten auf überhebliche Weise (man muss sich nur mal an die Corona-Zeit erinnern! Ein Buch von Jens Wernicke und Marcus Klöckner haben ein Buch dazu veröffentlicht: hier) als hätten sie die Weisheit mit Riesenlöffeln gefressen.

Journalismus in den Orkus? Sagen, was ist!

Also, welches Fazit sollen wir angesichts des jämmerlichen Zustands des momentanen Journalismus ziehen: Fort mit ihm in den Orkus? Und dann? Klar, den auf den Hund gekommenen Journalismus wieder zu dem zu machen, wie er im Buche steht, braucht es Mut und jede Menge Kraft und Verstand. Denn so wie es ist, kann es schließlich nicht bleiben.

Und dieser dann „neue“ Journalismus musst unbedingt wieder das Credo eines Rudolph Augstein „Sagen, was ist“ beherzigen und mit Leben erfüllen. Dies tut ja selbst längst nicht mehr das einstige Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.

Einer jungen Journalistin wie Julia Ruhs, deren Buch hier zur Debatte steht, traue ich zu, dazu beizutragen. Schon deshalb nenne ich deren Veröffentlichung ein wichtiges Buch

Zu Julia Ruhs schrieb Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten:

«Der NDR hat sich von Moderatorin Julia Ruhs getrennt, wie Medien berichten. Künftig soll Ruhs nur noch in Folgen der Diskussionssendung „Klar“ zu sehen sein, die vom Bayerischen Rundfunk produziert werden. Laut einer Pressemitteilung des BR am Mittwoch sucht der NDR nun nach einer neuen Moderatorin. Die Sendung wird im Wechsel von den beiden Sendern produziert.

Eindruck der Intoleranz

Diese Entscheidung (weitere Hintergründe und Reaktionen finden sich etwa in diesem Artikel) hat eine große Diskussion ausgelöst. Der Schritt des NDR macht meiner Meinung nach einen schlechten Eindruck und ist abzulehnen: Auch wenn ich mit den Inhalten von Julia Ruhs persönlich nichts anfangen kann, so finde ich doch, dass auch eine solche Stimme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgehalten werden muss. Ruhs hat sich in dieser Nachricht auf X zu dem Vorgang geäußert. [ … ] Quelle: NachDenkSeiten«

Im Vorwort zu ihrem Buch schreibt Ruhs:

«In meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist Medienschelte

nicht ungewöhnlich. Viele von ihnen haben ein Unwohlsein

entwickelt mit der Berichterstattung. Sie finden, Journalisten

nähmen sich zu viel heraus, sagten einem mit ihrer

Berichterstattung schon, welche Route der Kopf nehmen

soll. „Einordnung“ würden wir das nennen, dabei sei das,

was wir tun, vielleicht nicht immer gleich „Meinungsmache“,

zumindest aber „Meinungslenkung“. Die Infos herauszusortieren,

die nicht ins Weltbild passen. So Kontext zu

verschweigen. Die Fakten hineinzupacken, die der eigenen

Weltsicht in die Karten spielen. Framing. Manipulation.«

Und auch:

«Wer das Gendern doof findet, die Frauenquote ebenso,

illegale Migration ablehnt – und all das tue auch ich –, der

wird schnell gemaßregelt und zurechtgewiesen. Der muss

ständig aufpassen, dass ihm nicht fragwürdiges Gedankengut

unterstellt wird. Wenn dann noch die Falschen applaudieren

und die Richtigen schweigen, kann es passieren,

dass das Etikett an einem kleben bleibt. Dann ist man raus

aus dem Diskurs. Verbannt hinter die unsichtbaren Stadtmauern

unserer modernen Welt.«

Zuzustimmen ist ihr unbedingt hier:

«Echte Toleranz zeigt sich erst, wenn wir etwas ertragen,

das wir ablehnen oder sogar gefährlich finden. Denn nur

allzu oft gehört auch das noch längst zum demokratischen

Meinungsspektrum dazu.

Diese ganze mediale Dynamik wirkt auf mich oft so, als

solle die öffentliche Debatte nicht breit, sondern innerhalb

politisch erwünschter Narrative gehalten werden. Innerhalb

bestimmter Meinungskorridore. Medien definieren so, was

eine „erlaubte“ Meinung ist und was als „unerlaubte“ Meinung

gilt. Sie scheinen außerdem zu oft ein Thema richtig

groß zu machen, ein anderes aber liegen zu lassen. Mal übertrieben zu problematisieren, dann mal unkritisch abzufeiern.«

Was man zum Buch wissen muss

«Julia Ruhs war stets überzeugt, ganz normale Meinungen zu vertreten – bis sie Journalistin wurde. Sie sprach sich als Volontärin in der ARD gegen das Gendern aus und warnte später in einem Kommentar der „Tagesthemen“ vor illegaler Einwanderung. Sie sprach sachlich und mit Bedacht Themen an, die viele Menschen im Lande bewegen. Aber plötzlich war sie eine Exotin im Metier. Die Reaktion war ein linker „Shitstorm“, leider Normalität heutzutage. Die Politikjournalistin Julia Ruhs ist Reporterin beim Bayerischen Rundfunk sowie Kolumnistin für Focus Online. Dieses Buch ist ihr Plädoyer für eine offene Debattenkultur, in der auch kritische und unbequeme Meinungen Gehör finden müssen. Sie hinterfragt, gerade als Journalistin, den herrschenden Zeitgeist, der offenbar nur eine Richtung zuzulassen scheint. Und sie verdeutlicht, warum manche Meinungen laut und andere leise sind, warum Konservative im Journalismus Mangelware sind, weshalb sich Journalisten für besonders mutig halten, um trotzdem lieber mit dem Strom zu schwimmen. Und sie dokumentiert, wie ein Berufsstand, der Neutralität predigt, immer stärker polarisiert.«

Julia Ruhs über sich:

«Ich hatte immer ganz normale Meinungen – bis ich Journalistin wurde. Plötzlich war ich die Exotin. In der ARD öffentlich gegen das Gendern sein? In den Tagesthemen vor zu viel Zuwanderung warnen? Zack, schon war der linke Shitstorm da. Weil ich angeblich so ‚rechts‘ bin. Dabei denke ich wie viele Menschen in diesem Land. Nur offenbar nicht wie die Journalistenwelt.«

Julia Ruhs praktiziert eine sachliche unaufgeregte Analyse und lässt widerstreitende Meinungen zu Wort kommen, die anderswo unter den Tisch fallen oder als AfD-Sprech verteufelt werden

Julia Ruhs analysiert den statt habenden Journalismus akribisch und sachlich. Sie beklagt den sich verengt habenden Meinungskorridor sowie das oft belehrend daherkommende im Journalismus. Passend hierzu eine in der DDR sozialisierte Dame, die mit Julia Ruhs telefonierte und ihr sagte: „Es wird uns aufgezwungen, was wir zu denken, zu reden, zu essen, zu tun haben.“

«Man werde dauerberieselt, von wegen „die AfD ist scheiße, das sind alles Nazis, ihr solltet alle gendern.“ Und sie fügte dann trotzig hinzu:

„Aber wir lassen uns nicht irgendein Gedankengut überstülpen! So tickt der Osten. Wir haben viel mehr diese

Antennen, was wirklich um uns herum passiert.“ (S.22)

Diese Antennen haben die Menschen im Osten der Republik in Jahrzehnten entwickelt. Sie sind fein abgestimmt auf das, was sie empfangen und regieren sensibel.

Bezüglich des angeblichen Klimawandels, Geschlechterdebatte und bezüglich der Migration. Und Julia Ruhs belegt das mit zahlreichen Zuschriften aus dem Publikum. Sie bemerkte, dass in Ostdeutschland die Menschen oft sensibler und dementsprechend kritischer reagieren. Auch weil sie es lernten zwischen den Zeilen zu lesen. Kein Wunder: Denn sie haben jahrzehntelang unter vielfältiger Agitation eines Sozialismus, der m.E. keiner war, gelebt. Besonders über Zeitungen Rundfunk und Fernsehen. Weshalb DDR-Bürger nicht selten auf Westkanäle umschalteten. In der Realität jedoch sah vieles ganz anders, als DDR-Medien es verkündeten und trüber auf. Diesen Menschen kann auch der Westen kaum etwas vormachen. Und so wenden sie sich ab und immer öfter gehen sie auch nicht mehr wählen oder wählen AfD in der Hoffnung, so könnte sich etwas verändern. Den anderen Parteien vertrauen sie nicht mehr. Die Enttäuschung ist im Allgemeinen groß führt eben auch zu einem Vertrauensverlust betreffs der Medien und dazu, dass Journalisten zum Feindbild werden. (S.20) Viele Menschen wendete sich auch Russia Today (RT Deutsch) zu. Für die, wenn man so sagen will, so etwas wie früher das Westfernsehen: ein Korrektiv. Deutschland aber erdreistete sich RT zu verbieten. Allerdings ist es für findige Menschen – über Umwege – trotzdem noch zu erreichen.

Und in der Nachrichtensendungen „Tagesschau“ und „heute“ gibt es kaum noch wirkliche Nachrichten, die nämlich dazu da sind, dass sich anhand dessen die Zuschauer sich eine eigene Meinung bilden können. Stattdessen wird in die Ohren der Menschen hineingetrötet, wie sie gefälligst zu denken haben.

Julia Ruhs dürfte sich betreffs journalistischer Arbeit dem alten lateinischen Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars verpflichtet sehen, der wörtlich übersetzt bedeutet: „Es soll auch die andere Seite gehört werden.” 

Drei m.E. fragwürdige Zeitgenossen

Dass der ehemalig ZDF-Mann Claus Kleber in Sachen Meinungskorridor mal etwas Richtiges anmerkte, wenn er sagt, dieser sei mal größer gewesen, hätte ich an Julia Ruhs Stelle nicht so prominent erwähnt. Wie wir wissen, ist Claus Kleber Mitglied der Atlantikbrücke und tickt dementsprechend. Klar, ihm brauchte in der Tat niemand aus der Regierung sagen, was er wie aufs Tapet zu bringen hat. Es ist glaubhaft, was er einmal beteuerte. Als Atlantikbrücke-Mitglied hat er das eh verinnerlicht. (S.34)

Ruhs schreibt: «Selbst der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte bei einer Medienpreis-Verleihung in Hamburg schon im Herbst 2014 fest: „Vielfalt ist einer der Schlüssel für die Akzeptanz von Medien. Die Leser müssen das Gefühl haben, dass sie nicht einer einzelnen Meinung ausgesetzt sind.“ (S.34/35) Gut gebrüllt, Herr Steinmeier! Er ist einer größten Spalter hierzulande. Zur Erinnerung: Einer seiner Vorgänger (meines Einschätzung nach der letzte gute Bundespräsident), Johannes Rau, hatte folgendes Credo: „Versöhnen statt Spalten.“ Ebenso hätte ich Herrn Steinmeier nicht positiv hervorgehoben.

Selbst der stets eloquent wie pastoral daherredende Joachim Gauck (das SPD-Urgestein Albrecht Müller nannte ihn «Der falsche Präsident«) kommt bei Jula Ruhs zu Ehren:

«Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat es einmal wunderbar treffend ausgedrückt: In einer vielfältigen

Gesellschaft könne es nicht nur harmonisch zugehen, sagte er. Streit sei der Lebenshauch einer lebendigen Demokratie – die Suche nach einem Konsens sei das Einatmen, der Streit das Ausatmen. Ein schönes Bild, oder? Deutschland braucht dringend wieder dieses tiefe Ein- und Ausatmen. Denn wenn wir zu oft die Luft anhalten, wächst bei manch einem der Zweifel, ob wir überhaupt noch in einer echten Demokratie leben.« (S.37) Gab es die denn je, möchte ich ketzerisch fragen.

Da stockt mir doch der Atem! Leute, haltet öfters die Luft an!

Apropos Zweifel: Karl Marx postulierte: „An allem ist zu zweifeln“

Man sehe mir meine kleine Meckerei nach.

Links-grünen Meinungsmacht. Julia Ruhs arbeitet das gut heraus und begründet so die Wahl ihres Buchtitels

Dass wir es mit einer „Links-grünen Meinungsmacht“ zu tun haben dämmerte selbst mir erst relativ spät. Julia Ruhs arbeitet das gut heraus und macht das an Beispielen fest.

Journalisten kommen oft aus gut situierten Akademiker – Haushalten

Dass es so ist, ist gewiss auch damit erklärlich, wenn man sich einmal informiert, woher künftige Journalisten meist kommen. Nämlich nicht selten aus Akademiker-Haushalten. Die obendrein durchaus links-grün eingestellt sind. Und die in der Regel auch gut situiert sind. Denn Praktika und auch Journalistenschulen kosten schließlich und sind meist außerhalb der Heimatorte. Oft sind auch dort die Mieten für Studenten nicht von Pappe. Wenige Eltern können ihre Sprösslinge entsprechend finanziell unterstützen.

Bei einer anderen Rezension zu einem Buch des Journalisten Patrik Baab fiel mir der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow ein. Auch er ist Journalist geworden. Er stammt aus keinem Akademiker – Haushalt. Die Familie lebte in einem Dortmunder Problemviertel. Ich zitiere aus dieser Rezension betreffs Bülow: «Das ist auch eine Geschichte für sich. Sie stammen oft aus Akademiker- oder sonst wie gut situierten Haushalten. Sie wohnen in Stadtvierteln, in welchen Menschen mit gleichem Hintergrund bevorzugt leben. Sie besuchen die gleichen Szenekneipen. Die rezipieren die gleichen Medien. Übrigens sagt dies der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund, selbst gelernter Journalist auch von den über die Jahre frisch in den Bundestag gewählten Abgeordneten: „Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung.« (Link zur Rezension des Baab-Buches, welches ich allen Journalisten nur ans Herz legen kann.)

Und gelinge dann Journalisten aus Nichtakademikerfamilien der Sprung in eine Redaktion, fehle ihnen der nötige Stallgeruch, liest man.

Als ein großes Problem empfindet Julia Ruhs den Haltungsjournalismus. Fast alle Redaktionen in den Medien hat er durchdrungen. Kritik am Haltungsjournalismus soll freilich nicht heißen, man solle keine Haltung haben. Wie wir alle wissen, hat jeder Mensch eine bestimmte Haltung. Heutzutage heißt Haltungsjournalismus, dass man als Journalist fürs Gendern, den Klimaschutz und die hundertprozentige Akzeptanz der Klimawandel-Theorie einstehen muss. Fraglos auch in der LGBTQ- und Geschlechterdebatte die „richtige“ Meinung haben muss. Jula Ruhs zitiert jemanden, der sagt Links und Rechts gebe es nicht mehr, sondern nur noch Gut oder Böse.

Unter Journalisten ist es eh verbreitet, dass man für das Gute eintreten möchte. Was verständlich ist. Man muss nur aufpassen, sich nicht zu vertun.

Diesbezüglich zitiert Julia Ruhs den einstigen Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs zugeschriebenen Satz: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Julia Ruhs hat offenbar viel aus ihrer praktischen journalistischen Arbeit und obendrein aus den im Buch zitierten Mails, Zuschriften und Telefonaten mit Zuschauern mitgenommen und gelernt. Auch, wenn sie gesteht hin und wieder erzürnt über manches in der Medienwelt transportierte wütend sein kann, ist sie – was aus ihren Zeilen spricht – nicht pessimistisch. Nein, sie ist fest entschlossen, den Journalismus zusammen mit sich hoffentlich finden lassenden Mitstreitern wieder zu einem Journalismus zu machen, wie er eigentlich gedacht war. Was u.a. nur damit geht sich für mehr hohe Meinungsvielfalt einzusetzen und denn verengten Meinungskorridor wieder aufzustemmen, damit auch wieder Meinungen und Informationen sicht- und hörbar werden, die die Mächtigen allzu gerne verbergen möchte, weil sie ganz offenbar deren Kreise und Machenschaften stören. Dies muss auch für Meinungen und politische Ansichten gelten, denen man als Journalist nicht unbedingt zustimmt. Getreu dem lateinischen Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars.

Aus dem Nachwort zum Buch

Zu den Nachrichten, welche sie von Zuschauern und Lesern erhält, hält Julia Ruhs im Nachwort zu ihrem Buch fest:

«Diese Nachrichten haben mir immer

wieder gezeigt, wie aufmerksam die Menschen sind. Wie

gut sie Zusammenhänge erkennen. Und dass wir Journalisten

uns ja nicht anmaßen sollten, zu glauben, wir lebten

intellektuell in höheren Sphären.

Doch ihre Nachrichten zeigen mir auch etwas anderes:

Frust. Enttäuschung über die Berichterstattung. Das

Gefühl, nicht gehört oder gar bewusst missverstanden zu

werden. Viele wenden sich ab, suchen Zuflucht bei alternativen

Medien und Social Media Accounts – und blicken

dann oft noch feindseliger auf die „etablierten Medien“.

Und auf meinen Arbeitgeber, den öffentlich-rechtlichen

Rundfunk.

Ich bin überzeugt: Wenn klassische Medien wieder für alle da sind, alle Stimmen abbilden, Empathie auch für jene

zeigen, deren Meinung und Wahlentscheidung sie nicht

teilen, würde dies das gesellschaftliche Klima verändern.

Dann würde der Ton weniger unerbittlich, der Diskurs offener.

Wir brauchen wieder einen Debattenraum, in dem

niemand aus Angst vor Konsequenzen schweigt oder sich

in eine Nische zurückzieht.

Für alle da zu sein, kann auch bewirken, dass wir Vertrauen

in Medien zurückholen, gesellschaftliche Spaltung

überwinden. Und dieses Vertrauen brauchen wir dringend.

Denn mit einer Flut an Falschinformationen, Deepfakes also täuschend echten KI-generierten Bildern und Videos

– was bleibt uns dann in Zukunft noch, außer dem

Vertrauen der Menschen?« […]

Und schließt sie ab:

[…] «Aber dabei sollten alle Seiten fair bleiben. Journalisten

haben sich nicht verschworen, um zu lügen. Ich habe noch

keinen getroffen, der bewusst Lügen oder Regierungspropaganda

verbreitet. Genauso wenig sollten wir anderen unterstellen,

sie seien dumm, nur weil sie zu anderen Schlüssen

kommen. Jede politische Meinung, die auf dem Boden

des Grundgesetzes steht, hat ihre Berechtigung. Wer ausgrenzt,

treibt Menschen erst recht in die Radikalität.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Streit nicht

als Bedrohung sieht. Sondern als etwas Notwendiges. Als

Fortschritt. Denn offene, kontroverse Debatten sind kein

Risiko für die Demokratie – sie sind ihr Motor.«

Gern und mit großem Interesse gelesen. Ein wichtiges Buch in schwierigen Zeiten. Höchst informativ und verständlich zu rezipieren. Julia Ruhs ist zu danken, dass sie es geschrieben hat. Mögen es viele Menschen zur Kenntnis nehmen. Unbedingt auch die Kolleginnen und Kollegen der Journalistenzunft! Lassen wir nicht zu, dass der Journalismus kaputt bleibt. Haben wir Mut, ihm wieder aufzuhelfen. Im Interesse von uns allen. Denn bedenkt: Der Hut brennt! Die Spaltung der Gesellschaft ist jetzt schon bedenklich.

Das Buch

Julia Ruhs

„Links-grüne Meinungsmacht“

Herausgeber ‏ : ‎ Langen-Müller
    Erscheinungstermin ‏ : ‎ 18. August 2025
    Auflage ‏ : ‎ 1.
    Sprache ‏ : ‎ Deutsch
    Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 208 Seiten
    ISBN-10 ‏ : ‎ 3784437494
    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3784437491
    Abmessungen ‏ : ‎ 13.7 x 1.8 x 21.5 cm
    20 Euro

Anbei:

Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Rezension

Egon Krenz, einstiger Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Meine Rezension zum ersten Teil seiner Memoiren unter dem Titel „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg“ (»dass ein gutes Deutschland blühe«) leitete ich folgendermaßen ein:

„Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden.“

Biografien wie die seine waren durchaus so selten nicht. Sie sind freilich nicht ohne den Hintergrund des zu Ende gegangenen verheerenden Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Krenz` Schwester lebte in Westerland in der britischen Zone, als der zehnjährige Egon mit seiner Mutter illegal zu Besuch dorthin hinreiste. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit ihrem Sohn wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“ Der Westen war für Egon Krenz keine Alternative.

Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg (heute Kołobrzeg, Republik Polen) , fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Die DDR schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der erste Teil seiner Biografie hat mich als einstigen DDR-Bürger gefesselt. Wir waren ja jeden Tag mit ideologisch überladenen Sätzen und dementsprechend ausgewalzten Wortungetümen in unseren Zeitungen konfrontiert. Der darin mit der Zeit in Form immer langweiliger werdenden Bleiwüsten daherkommenden, Propaganda waren wir überdrüssig. Weder aber war ich persönlich ein Gegner der DDR noch unbedingt ein „Fan von Egon Krenz“.

Wir lesen im zweiten Teil seiner Biografie, dass Krenz gar nicht amüsiert darüber war, dass er bei einem Besuch von DDR-Brigaden, welche am Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion beteiligt waren, mit dem Ausspruch: „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ empfangen worden war. Hier ein Video vom Offenen Kanal Magdeburg über die „Trasse“.

Egon Krenz fühlte sich halt als einer von vielen SED-Funktionären (er stand ja zunächst der FDJ vor). Und wollte nicht hervorgehoben werden. Aber er nahm das ehrliche Bekenntnis der Trassenleute nicht übel.

Seine Biografie erster Teil bringt uns neben dem einstigen FDJ-Chef und SED-Funktionär den Menschen Egon Krenz und dessen Ansichten in sachlicher und ehrlicher Form nahe. Auch spart er nicht daran, eigene Fehler, Irrtümer und diejenigen der Partei- und Staatsführung offen zu benennen.

»Wir hatten es in der Hand!«

Dessen bleibt sich Egon Krenz nun auch im inzwischen herausgekommenen zweiten Teil seiner Biografie, welche unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ steht nichts schuldig. Das Buch befasst sich mit den Jahren 1973-1989: »Wir hatten es in der Hand!« Egon Krenz
— Teil II der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR —

Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«.

„Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt“, informiert der Verlag, „setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste.“

Zum jüngsten, zweiten Band der auf drei Bände angelegten Memoiren von Krenz schreibt edition ost:

„Der zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR führt direkt in den Inner Circle der Staatsführung und in jene Phase, die mittels Wandel durch Annäherung die friedliche Koexistenz sichern soll. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die neue Ostpolitik der SPD-Regierung in der BRD und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Inzwischen vom Westen als »Honeckers Kronprinz« aufmerksam beäugt, ist er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöst. Was angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet der Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste. Krenz berichtet faktenreich und selbstkritisch und reflektiert von heutigem Erkenntnisstand aus differenziert die Ereignisse, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren.“

Für uns Leser ist all das aus erster Hand berichtete abermals sehr interessant. Die DDR-Bürger erfuhren nicht was hinter den Kulissen sich in der Regierung, in Partei- und Staatsführung abspielte. Freilich machten sie sich ihre Gedanken. Und nebenan in der BRD wurde versucht alles Mögliche aus dem Tun und Lassen der DDR herauszulesen. Man betrieb im Prinzip Kaffeesatzleserei. Besonders die Springer-Medien, vornweg die Bild waren darin besonders engagiert. Zuweilen lag man sogar richtig bzw. fast richtig. Man hatte wohl auch Zuträger, die aus dem Nähkästchen plauderten. Und über Westradio und Westfernsehen drangen die Halbwahrheiten, Vermutungen sowie auch manches, was einen wahren Kern hatte, auch in die Wohnstuben der DDR-Bürger. Und dort versuchte man sich einen Reim darauf zu machen. Hoffnungen gab es ohnehin, neue wurden geweckt. Was freilich auch die Partei- und Staatsspitze beschäftigte. Und man sich dort wiederum Gedanken machte wie darauf zu reagieren sei. Was sollte in den DDR-Medien veröffentlicht oder lieber verschwiegen werden. Und dennoch drang manche Information – vor allem später als Gorbatschow in Moskau am Ruder war – an die DDR-Öffentlichkeit. Egon Krenz stellt dar, wie dazu auch innerhalb des Politbüros unterschiedlich gespielt wurde. Wie er selbst gezwungen war mit dergleichen umzugehen. Vor allem als er selbst ins Politbüro berufen worden war – wovon er selbst ziemlich überrascht gewesen sei.

Wem konnte man voll vertrauen, bei wem war in mancher Beziehung Vorsicht geboten. Gegenüber Honecker, schreibt Krenz, sei er stets loyal gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und und sich beschreibt er als vertrauensvoll und auch kollegial. Wenn auch Krenz schon mal einen Rüffel vom Chef wegstecken musste. Öfters musste er seinen Chef bei Terminen vertreten. Krenz erlebte Honecker zunächst als durchaus geistig wie körperlich fit und immer gut vorbereitet. Auch bei Begegnungen mit Westpolitikern, die Honecker durchaus schätzten. Was ebenso für wichtige Industrielle in Westdeutschland, wie beispielsweise etwa Berthold Beitz, aber auch andere galt. Wovon allerdings so mancher dieser BRD-Politiker nach dem Ende der DDR nichts mehr wissen wollten.

Durchaus anders zeichnet Krenz Honecker als die DDR-Normalbürger ihn für gewöhnlich erlebten bzw. sich selbst ein Bild machten. Beim Lesen von Krenz` Zeilen ist man als einstiger DDR-Bürger durchaus versucht manch eigenes damaliges Gemecker oder irgendeine gemachte Witzelei, die Person Honecker betreffend, im Nachhinein eher als unpassend zu empfinden. Nur was die spätere Zeit anbetrifft konstatiert Egon Krenz einen gewissen Altersstarrsinn bei Honecker. Er dachte ja bis zum bitteren Ende nicht daran seinen Sessel für einen Jüngeren freizumachen. Was auch nicht unwichtig ist: Erich Honeckers strikter Antifaschismus und sein Eintreten für den Sozialismus beruhte gewiss auch auf dessen Verfolgung durch das Naziregime. Honecker wurde damals für zehn Jahre ins Gefängnis geworfen. All das prägt schließlich.

Michail Gorbatschow

Was das Agierens von Michail Gorbatschow betraf war Honecker mit der Zeit immer skeptischer geworden, war mit Vielem was dessen Politik und Handeln betraf, so nicht einverstanden.

Krenz selber bekennt, von Anfang an Gorbatschows Politik eher positiv bewertet und von Herzen unterstützt zu haben. Da spricht er allerdings über die Zeit „vor dem Verrat Gorbatschows“, wie er im Vorwort „Wo ist denn Ihre Klingel, Herr Krenz?“ (S.9) schreibt.

Krenz kritisiert nicht nur Gorbatschows Alkoholverbot als mehr als fragwürdig, was den Nutzen anging. Sondern auch dessen Wirtschaftspolitik. Was dazu führte, dass in manchem sowjetischen Geschäft die Regale leer blieben. Und schließlich war auch der DDR-Führung nicht verborgen geblieben, wie die sowjetische Wirtschaft im Großen und Ganzen unter Gorbatschow quasi den Bach herunterging. Die UdSSR sah sich deshalb veranlasst den Ölpreis für den Bruderstaat DDR immer weiter zu erhöhen. Was in der DDR wiederum zu Schwierigkeiten führte.

Später – und erst recht nach dem Ende der DDR – hat Egon Krenz erleben müssen, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch nicht immer ganz ehrlich spielte. Sogar manches gar nicht so gesagt haben wollte. Was Egon Krenz bei einem Zusammentreffen in einem Berliner Hotel die Stirne runzeln ließ. Sogar Raissa Gorbatschowa bestätigt Egon Krenz damals. Ihr Mann bestritt das Gesagte auch seiner Frau gegenüber.

Mehrmals hält Krenz Gorbatschow im Buch vor, dass er den sozialistischen Bruderstaaten versprochen hatte, sie könnten von völlig souverän handeln. Davon habe er, so Krenz, jedoch nichts bemerkt.

Wobei wir bei einer Tatsache sind, die beide deutsche Staaten betraf (und die BRD aktuell wohl noch immer betrifft): Letztlich konnten sie wichtige Entscheidungen nicht selbst treffen ohne grünes Licht aus Washington oder Moskau dafür erhalten zu haben.

Rückmeldungen

In seinem Vorwort zum zweiten Teil seiner Biografie schreibt Egon Krenz, dass er viel Zuspruch für seinen ersten Band erhalte. Aus Ost wie aus West. Ein 90-jähriger Leser aus Gransee ließ ihn wissen: «Alles, was Sie beschreiben, habe ich so ähnlich erlebt.«

„Ein 22-Jähriger aus einem kleinen Dorf in Norden Baden-Württembergs bekundete sein Interesse für die DDR-Geschichte, die nach seiner Wahrnehmung im Westen entstellt werde. Und ein ehemaliger Schüler der Erweiterten Oberschule (EOS) äußerte, man habe in der DDR im Fach Staatsbürgerkunde gehört, «was Kapitalismus ist«. Damals hielt er es für übertrieben und wollte es nicht glauben. Seit 1990 wisse er, dass es eher untertrieben war.“ (S.10) Meine Wenigkeit sieht das nebenbei bemerkt übrigens ebenso.

Weiter notierte Krenz: „Professor Kurt Starke, ein international bekannter Soziologe, Sexualwissenschaftler und Jugendforscher, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin, schrieb mir vor einiger Zeit: «Je mehr ich über unser gewesenes Land nachdenke und je öfter ich in den vergangenen Jahren mit Ost-West-Unterschieden in meinen Untersuchungen zu tun hatte, desto mehr sehe ich mich in der Erkenntnis bestätigt, dass die DDR ein Unikat von bleibender historischer Bedeutung ist.«

Egon Krenz: „Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte“

Egon Krenz merkt weiter an: „Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und es militärischen Engagements der Bundesrepublik sollte ebenfalls daran erinnert werden: Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte. Kein NVA-Soldat setzte je seinen Fuß auf fremdes Territorium, um an Kampfeinsetzen teilzunehmen. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit Achtung und Respekt zu erinnern. Ein Drittel Deutschlands war hier dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen, und das mehr als vierzig Jahre lang. Das ist aus dessen Sicht die eigentliche Sünde der DDR, die ihr – und damit uns, die wir sie aufbauten und verteidigten – niemals vergeben werden wird. Nach 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. Nach 1945 wurden in Westdeutschland dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten in die Wüste. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Zukunft. Nicht zu reden von den vielen Werktätigen aus den über achttausend volkseigenen Betrieben, die die Treuhandanstalt übernahm und asozial abwickelte.“ (S.12)

Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt“, macht Krenz unumstößlich klar

Zusammenhänge von Politik, Kapital und wirtschaftlichen Interessen würden verschleiert. Sie und die Geschichte müsse man aber kennen, meint Egon Krenz. Um zu verstehen, „warum so viel Menschen im Osten beispielsweise gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind“.

Und einen wahren, unumstößlichen Satz schreibt Krenz da: „Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt. Die Berliner Mauer sei „von Osten verschoben (worden) – sie steht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland“

„Sie ist dort, wo die Frontlinie im Prinzip an jedem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Diese «Grenzziehung« ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde.“

In Briefen äußern die Menschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg

In Briefen an Krenz äußerten Menschen: „Angst. Angst vor einem Dritten Weltkrieg, in den uns die deutsche Regierung durch ihre pro-amerikanische Politik führen könnte. Dass die Bundesregierung das Streben der USA, einzige Weltmacht zu bleiben höher stellt als deutsche Interessen, hat ebenfalls zum sinkenden Ansehen der gegenwärtigen Ampel-Koalition beigetragen.“

Verantwortungslos und folgenlos habe die deutsche Außenministerin davon gesprochen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, dessen Ziel darin bestünde, «Russland zu ruinieren«. Krenz ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sprache ist bekanntlich Ausdruck des Denkens.“

Die Tatsache, dass in Deutschland Nazijargon öffentlich verbreitet wird, mache ihm Angst.

Er bezieht sich dabei auf die von einer Boulevardzeitung gewählte Schlagzeile: «Deutsche Panzer stoßen gegen russischen Stellungen vor«

Und Krenz beklagt die hierzulande herrschende Russophobie. Sie erinnere ihn an seine Kindheit, „als die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs große Plakate klebten, auf denen Russen als Untermenschen dargestellt wurden“.

Die Russophobie und Hetze gegen Russland mit Sorge zur Kenntnis nehmend fragt sich Krenz: „Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führenden Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.“

Wenn Westdeutsche einstigen DDR-Bürgern erklären, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen

Aus dem Herzen spricht mir Egon Krenz, wenn man von altbundesrepublikanischer Seite einstigen DDR-Bürgern erkläre wie man in der DDR gelebt habe. Ich selbst kann ab September 1989 ein Lied davon singen. Denn diese Erklärungen kamen in der Regel aus den Mündern von Westdeutschen, die die DDR nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus der Westpresse kannten. Mir selbst platzte irgendwann 2019 der Kragen als mir ein Kollege wieder einmal sagte, wie ich in der DDR gelebt haben sollte: „Bei euch war das doch so …“ Ich wurde kurz laut. Seither hat mich dieser Kollege nie wieder dazu angesprochen.

Krenz betrachtet sich selbst als eine Biografie von 17 Millionen Biografien in der DDR besteht darauf: „Wir müssen uns wegen unseres Lebens nicht entschuldigen.“

Dass es in Politik und Medien noch immer Versuche gibt, DDR-Bürgern erklären zu wollen, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen, beweist, dass die deutsche Einheit mental noch lange nicht vollzogen ist.“ (S.15)

Egon Krenz: „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin“

Egon Krenz malt nicht rosarot, sondern gesteht so manchen Fehler der DDR ein. „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin. Allzu oft ließen wir uns etwa bei der Auswahl von Kadern blenden von Worten der Ergebenheit. Das förderte Heuchelei, die nicht zu einer Partei wie der unseren passte. Die Quittung dafür erhielten wir 1989.“ (S.38/39)

Mit der Biermann-Sache legte sich die DDR ein Ei

Auch die Biermann-Geschichte bringt Krenz zur Sprache. Der Dichter Wolf Biermann war nach einem Auftritt in der BRD, die in der DDR Kritik hervorgerufen hatte, die Wiedereinreise in die DDR versagt worden. Der Westen tönte, er sei aus ausgebürgert worden. Als der Fall im Politbüro erörtert und abgehakt wurde, habe sich nur Kurt Hager kritisch geäußert, der gegenüber Erich Honecker eingewendet hatte: „Erich, war denn das notwendig?“ Krenz erinnert sich: Es habe geknistert. Niemand habe geantwortet, so sprach Hager weiter: „Biermann ist es nicht wert, dass wir uns deshalb mit den Künstlern anlegen und unsere Kulturpolitik ändern. Wir machen in erst groß, wenn wir ihm solche Aufmerksamkeit widmen. Wir sollten ihn ignorieren. Das trifft diesen Gernegroß mehr als alles andere.“

Werner Lamberz, der als Politikerpersönlichkeit eine große Hoffnung nicht nur für die SED gewesen war (der tragischerweise später und viel zu früh bei einem Hubschrauberabsturz in Libyen sterben sollte) habe zustimmend genickt. Hager muss Recht gegeben werden. Mit diesem Schritt, Biermann nicht wieder in die DDR einreisen zu lassen, hatte sich das Land sozusagen ein Ei gelegt. Zumal Wolf Biermann den meisten DDR-Bürgern bis dato unbekannt war. Zuweilen sah man ihn vielleicht mal in der Tagesschau, wie der einstige Jungkommunist mit einem Korrespondenten des westdeutschen Fernsehens in seiner Berliner Wohnung am Kachelofen saß und auf Opposition machte. Diesen Herrn, dem eine enge Beziehung zu Margot Honecker nachgesagt wird, hätte die DDR aushalten können – und auch müssen. Der Filmregisseur Konrad Wolf habe einmal zu Egon Krenz gesagt: «Egon, Dir mag der Begriff des Ausbürgerns weniger sagen als mir. Du hast den Faschismus nicht mehr erlebt. Aber die Menschen, die von Nazis aus Deutschland vertrieben wurden wie wir -, hätten nicht zulassen dürfen, dass jemand aus der DDR «ausgebürgert« wird. Sag Erich, er möge sich seiner eigenen Vergangenheit erinnern.“

Weiter erinnert sich Egon Krenz: „Der Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant (1926-2014), übte Kritik, zurückhaltend zwar, aber öffentlich im Neuen Deutschland: «Ich will nicht verhehlen, dass ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich braucht niemand vor ihm zu schützen.«

Honecker habe wohl dann nachgedacht (jedoch viel zu lange) wie man wieder aus der unangenehmen Biermann-Sache herauskäme. Aber der Schaden war gemacht. Dann erfuhr Honecker von der Protestresolution von 12 DDR-Schriftstellern und -Künstlern die sich gegen das Einreiseverbot von Biermann richtete. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte sie entworfen und auch westlichen Agenturen übergeben. Krenz: „Dass er sie zuvor der Zeitung Neues Deutschland angeboten hatte, wo sie lediglich der Pförtner entgegennehmen wollte, erfuhr Honecker erst viel später.“ Ja, auch hier trifft der Satz »Wir hatten es in der Hand!« zu. Manches jedoch entglitt leider dieser Hand.

*Staatssicherheitsminister Erich Mielke berichtete, „dass der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“

Eines Tages hatte Honecker Krenz einen Packen Briefe von Bürgern aus Rostock übergeben, in denen Bürger sich vom dort stattfindenden Kirchentag belästigt fühlten. Seinetwegen war ein Fußballspiel der DDR-Oberliga verlegt worden. Und auf öffentlichen Plätzen wehten anstelle die Staatsflaggge oder rote Fahnen wehten Kirchentagsfahnen. Man sei, wurde beklagt vom Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat abgewichen. Krenz schickte Mitarbeiter nach Rostock, die Gespräche mit den Briefeschreibern führten. Sie teilten Krenz mit, alles sei durch zentrale Entscheidungen geregelt gewesen. Zentrale Entscheidungen seien in der Regel Festlegungen des Ministers für Staatssicherheit gewesen. Krenz rief Mielke an. Der berichtete ihm unter anderem, „dass Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“

*Bärbel Bohley lag mit ihrer damaligen Befürchtung nicht falsch

In einem andereren, an Erich Honecker gerichteten, Brief ging es um die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und des Bürgerrechtlers Werner Fischer. Beiden war im Februar 1988 „bei Vermeidung von Strafverfahren ein befristeter Auslandsaufenthalt vermittelt worden war.“ Geschrieben worden war er von Bischof Dr. Gottfried Forck. Postbote sei Manfred Stolpe gewesen. Krenz informierte den im Urlaub befindlichen Honecker. Der stimmte der Wiedereinreise zu. Bohley und Fischer hätten versprochen, die Gesetze der DDR nicht zu verletzen. Krenz: „Eine Ausbürgerung wäre nicht nur juristisch, sondern auch politisch ein großer Fehler gewesen. Es ist schon interessant, dass die – um es freundlich zu sagen – von der DDR nicht gerade freundlich behandelte Bärbel Bohley schon 1991 kurz nach der staatlichen Vereinigung über die Zeit sagte: <<Die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständigen Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“<< Ein Zitat nebenbei bemerkt, dass man dieser Tage öfters in sozialen Medien lesen kann. Und wenn man den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft in Augenschein nimmt, beschleicht einem das Gefühl, dass Bärbel Bohley mit ihrer Befürchtung nicht falsch lag.

Wichtige Themen wurden beackert

Alle wichtigen Themen hat Egon Krenz beackert. Und das dürfte wohl nicht nur für gewesene DDR-Bürger sondern auch Bundesbürger als den alten Bundesländern von Interesse und spannend sein. Ob das nun die Zeiten der Entspannungspolitik der Brandt- und Schmidt-Regierungen betreffs der Sowjetunion und Polen sind, oder die Bemühungen zwischen BRD und DDR gute Beziehungen in der Sache und auch für die jeweilige Bürger zu erzielen. Da gab es einige Kontakte und Besuche von Westpolitikern in der DDR, die wir in der DDR mit hohem Interesse verfolgten. Auch die damaligen Gespräche von SPD und SED bargen Hoffnungsschimmer.

Natürlich ging es uns in der DDR auch darum Reisen in die BRD oder das andere westlichen Ausland machen zu können. Es tat sich was. Aber doch viel zu wenig. Was nicht nur mit politischen sondern auch mit Fragen von Devisen zu tun hatte, die die Menschen ja dann im kapitalistischen Ausland benötigten. Nachdem BRD-Politiker zu Besuch gewesen waren war Erich Honecker auch zum Gegenbesuch eingeladen worden. Der Einladung wäre Erich Honecker gern nachgekomme. Er empfand das nach Anerkennung der DDR in vielen anderen Ländern auch als eine Ehre für die DDR. Es war ja ein offizieller Empfang ins Auge gefasst. Es brauchte letztlich mehrere Anläufe dahin, bis Erich Honecker in die BRD reisen und auch seine alte Heimat im Saarland besuchen konnte. Immer wieder war Moskau dagegen. Honecker ließ sich allerdings immer weniger hereinreden. Und es kristallisierte sich heraus, dass Honecker eben auch Deutschland als Heimat in seinem Herzen trug.

Krenz schreibt, in der DDR träumte man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten

Erich Honecker sei immer wieder auch am Weltfrieden und dem Frieden auf deutschem Bode interessiert gewesen, so Krenz. Im Buch macht das Egon Krenz auch an der Frage der Raketenstationierung auf BRD-Boden deutlich. Die Pershing II -Raketen sollten nach dem Willen des Westens gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion abschrecken. Stichwort Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte für die Stationierung in Westdeutschland votiert. Der sowjetischen Seite war nichts weiter übrig geblieben als nachzuziehen. In der DDR wurden dann neue sowjetische Raketensysteme aufgestellt. (S.215: „Atomraketen in der DDR)

Krenz schreibt, in der DDR träumten man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten. „Honecker hat dafür mit hohem Einsatz gespielt. […] Wir wollten unsere Maxime, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, ohne dieses Teufelszeug erfüllen. Spätestens 1983/84 hatten wir die politische Schlacht um die Aufstellung der Raketen verloren.“

»Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt

Egon Krenz sagt in einem Interview, am 16.12.2023 von junge Welt veröffentlicht: „Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.“ Und Honecker tat das. Honecker forderte, dass alle Raketen, diese Teufelszeug, von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen. Alles zu diesem Thema finde Sie ausführlich im Teil 2 der Biografie von Egon Krenz veröffentlicht.

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler und Entscheidungen, die zu Unmut führten. Ich erinnere mit noch gut daran, als es in der DDR hieß, die sowjetische Zeitschrift Sputnik sei verboten worden. Sie war kurzerhand von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Nach Rücksprache mit dem Postminister erfuhr Egon Krenz, dass Honecker diese Verfügung diktiert hatte. „Die Zeitschrift, so hieß es, bringe keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen würden darin verzerrende Beiträge zur Geschichte veröffentlicht. Konkreter Anlass waren Beiträge zum sogenannten «Hitler-Stalin-Pakt«. Krenz’ Ehefrau, in der Lehrerbildung tätig, fragte sich mit ihren Kollegen, „kopfschüttelnd, ob die alten Herrschaften im Politbüro überhaupt noch wüssten, was im Lande los sei. Wie könne man noch Öl ins Feuer gießen.“ Selbst die „FDJ-Führung hatte auf acht Seiten aufgeschrieben wie empört junge Leute über die Bevormundung durch die Partei- und Staatsführung waren.“

Honecker zeigte sich ungerührt.

An der Basis brodelte es

Auf der letzten Seite berichtet Egon Krenz von der sich vergrößernden Misere im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Viel Vertrauen war in diesem Jahr verloren gegangen. An der Basis brodelte es. Das Politbüro aber tat, als sei alles in bester Ordnung.“

Und Krenz schließt so: „Es brodelte an der Basis. Die Zeichen standen auf Sturm.“

Ich weiß: Vergleiche hinken. Ich will auch nichts vergleichen. Dennoch: Die derzeitige von der Politik der Ampel – aber auch von Vorgängerregierungen – herbeigeführte in vielen Hinsichten prekäre Lage unseres Landes lässt auch hier und da – wir haben gerade die Bauernproteste – ein Wind in meine Nase wehen, der etwas nach 1989 riecht. Erste Rufe „Wir sind das Volk“ und Forderungen nach Veränderung sind zu vernehmen …

Lest dieses Buch in Ost und West

Ich empfehle, dass möglichst viele Menschen in West und Ost dieses Buch zu lesen. Es ist wichtig. Egon Krenz gebührt das Lob, aufgeschrieben zu haben, was ansonsten wohl der Vergessenheit anheim fallen könnte. Die Leser werden vieles nicht wissen, von dem Krenz hier geschrieben hat. Die Leser mögen sich ein eigenes Bild machen. Ich fürchte, die üblichen Verdächtigen in den Mainstream-Medien werden, auch diesen zweiten Band von Krenz’ Biografie wieder als Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei auf Honecker und die DDR missverstehen (wollen). Das bleibt ihnen unbenommen. Ich sehe das anders. Auch dieser Band ist wieder sachlich verfasst und es fehlt auch nicht an der Aufführung von gemachten Fehlern. Ein Verdammen des Staates DDR in Grund und Boden wird man jedoch darin nicht finden. Was aus der Biografie des Autors heraus verständlich ist und dem Ganzen absolut kein Abbruch tun. Auch ich als gewesener DDR-Bürger werde das nie tun. Manche versteinerten Ewiggestrigen oder Woke mit Gutmensch-Ideologie werden das nicht verknusen können. Andere wiederum, die mit objektiverer Brille auf die Sache blicken, werden – wenn sie vielleicht auch nicht alles teilen können – einiges verstehen. Lassen wir die von mir hochverehrte Gabriele Krone-Schmalz betreffs zu Worte kommen: „Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann“.

Ich freue mich jedenfalls bereits auf den dritten Band der Erinnerungen von Egon Krenz, der bis in die Gegenwart führt.

*Eingefügt am 19.01.2024

Egon Krenz

Gestaltung und Veränderung

Erinnerungen

472 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen

sofort lieferbar

Buch 26,– €

ISBN 978-3-360-02811-2

Egon Krenz (Autor, Hrsg.)

Egon Krenz (links). Foto: C. Stille

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Wir und die Russen« (2019) und »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (mit Friedrich Wolff, 2021).

„Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet“ von Ulrich Teusch. Rezension

Kriegsbegeistert sind Menschen grundsätzlich nicht. Um das zu werden, müssen sie in der Regel propagandistisch sturmreif geschossen werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hieß es: Nie wieder Krieg! Man hatte die Gräuel noch vor Augen. Doch bald schon wurde der Kalte Krieg entfacht. Es herrschte die Systemkonfrontation. Doch selbst in dieser Zeit wurde mit dem vermeintlichen Feind, der Sowjetunion, gesprochen. Willy Brandt und Egon Bahr leisteten mittels ihrer Politik „Wandel durch Annäherung“ Großes. Dass lange nach dem Ende der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung nicht Gorbatschows Traum vom gemeinsamen Haus Europa wahr wurde, sondern inzwischen schon wieder ein Kalter Krieg in Europa im Gange ist, kann zwar erklärt werden. Indem man fragt: cui bono? Es muss aber die Alarmglocken schrillen lassen. Ja, es gibt unterdessen wieder „kriegsvorbereitende Propaganda“ und um die geht es „im weitesten Sinn“ im neuen Buch von Ulrich Teusch (u.a. „Lückenpresse“), das gerade bei Westend erschienen ist. So lesen wir es in dessen Vorwort.

Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts)“

Von Medien, die den Krieg herbeireden- oder schreiben“ handelt dieses Buch, „von Medien die den äußeren und inneren Frieden aufs Spiel setzen“.
Weiter liest man: „Die historische Erfahrung lehrt: Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts).“
Bitter wahr! Erinnern wir uns doch noch an den völkerrechtswidrigen Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, an dessen 20. Jahrestag wir erst kürzlich erinnert worden sind. Da konnten wir das genau und schmerzlich erfahren. Die dank Gerhard Schröder und Josef Fischer jugoslawischen Städte mit bombardierende BRD verlor damals ihre Unschuld.

Ulrich Teusch: „Im Kampf gegen den Krieg, im Kampf für den Frieden ist auf die Medien der Herrschenden kein Verlass. Und weiß: „Verlassen können wir uns nur auf uns selbst.“

Ulrich Teusch stellt folgende Frage: „Wann je haben Medien einen Krieg verhindert oder dies auch nur erkennbar versucht, indem sie die herrschenden Kriegsvorwände oder -begründungen einer rigorosen Prüfung unterzogen?
Und umgekehrt: Wie oft haben Medien durch tendenzielle, emotionalisierende Berichterstattung ‚für den Krieg gesorgt‘ (William Randolph Hearst)? Wie oft haben Medien jene gesellschaftliche Sportpalast-Atmosphäre erzeugt, die ihn erst möglich machte?“
Teusch konzediert: „Sicher, es gibt ein paar Ausnahmen. Sie sind rühmlich, keine Frage. Aber sie sind bloß Ausnahmen von der Regel.“ Dann aber schränkt er ein: „Im Kampf gegen den Krieg, im Kampf für den Frieden ist auf die Medien der Herrschenden kein Verlass. Und weiß: „Verlassen können wir uns nur auf uns selbst.“

Selbst sinkende Auflagen brachten etablierte Medien nicht von ihrem selbstzerstörerischen (Dis-) Kurs ab

Hier sollte Ulrich Teusch (leider) recht behalten: „Die etablierten Medien, so hatte ich vor drei Jahren prognostiziert, werden weder durch Liebesentzug (sinkende Auflagen und Quoten) noch durch gediegene Medienkritik von ihrem manipulativen Tun und ihrem selbstzerstörerischen (Dis-) Kurs abzubringen sein. Sie werden weiterhin wichtige Nachrichten absichtsvoll unterdrücken, Informationen einseitig gewichten oder mit einem Spin versehen, mit zweierlei Maß messen, interessengeleitete Narrative konstruieren, gelegentlich Kampagnen fahren oder sich für handfeste Propaganda hergeben.“
Teusch räumt ein: „Klammheimlich hatte ich gehofft, Unrecht zu haben und eines Besseren belehrt zu werden.“
Seine Begründung: „Der sich seit 2013/14 aufbauende medienkritische Druck, der ‚Aufstand es Publikums‘, konnte doch nicht einfach verpuffen, sagte ich mir, er musste doch irgendeine positive Wirkung erzielen.“
Dass dem eben (leider) nicht so ist, führen uns nicht nur die unermüdlich eingebrachten Programmbeschwerden des früheren Tagesschau-Redakteurs Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, Ex-Vorsitzender des ver.di-Betriebsverbandes NDR ständig vor Augen. Sondern auch Ulrich Gellermann mit seinen regelmäßigen Zu-Wort-Meldungen unter „Die Macht um Acht“ (mittlerweile die 22. Ausgabe) auf dem You Tube – Kanal von KenFM.

Wie propagandistische Exzesse den eigentlichen Krieg ersetzen

Wie müssen wir etwa „die gegenwärtigen propagandistischen Exzesse“ betreffs Russland verstehen? Teusch (S.30).: „Die Antwort lautet: Sie sollen den eigentlichen Krieg ersetzen – natürlich im Verein mit weiteren aggressiven Maßnahmen wie Sanktionen. Oder anders: Im Fall Russlands ist ‚der Krieg vor dem Krieg‘ der eigentliche Krieg. Die Kriegsziele lauten: eine aufstrebende Macht schwächen oder in ihre Schranken weisen; sie destabilisieren, delegitimieren, isolieren; ihre politische Grundorientierung revidieren, ihr politisches Führungspersonal dämonisieren. Die antirussische Propaganda ist letztlich Regime-Change-Propaganda.“

Kriegspropaganda wie sie einst schon Arthur Ponsonby beschrieb

Ulrich Teusch erinnert (S. 31) an die Feststellung des britischen Politikers und Friedensaktivisten Arthur Ponsonby (1871-1946) zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, wonach sich in diesem der Journalismus nie stärker diskreditiert habe. Und im Februar 2017 habe der Nahostkorrespondent Patrick Cockburn bemerkt, „dass im Syrienkrieg (seit 2011) die einseitige, verzerrende Berichterstattung und die Verbreitung fingierter, fabrizierter Nachrichten ein Ausmaß angenommen habe, das nur mit der gewaltigen Desinformation im Ersten Weltkrieg vergleichbar sei.“
Ulrich Teusch zitiert die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda, welche Arthur Ponsonby formulierte.Wer sich diese zum Gemüt führt (hier) wird verblüfft sein oder eher erschrocken aufmerken: Sie finden heute noch munter Anwendung!
Entsprechende Beispiele aus unserer Zeit werden von Teusch aufgeführt.

Von „Massentäuschungswaffen und Massenzerstreuungswaffen“

Sehr Augen öffnend ist das Kapitel „Massentäuschungswaffen und Massenzerstreuungswaffen“ (S. 31) sowie deren Unterkapitel (S.43) „Massentäuschung: wie sich die Vorzeichen von heute auf morgen ändern“. Worin der Autor auf in Orwells Roman „1984“ beschriebene Ereignisse Bezug nimmt. Wo der einstige Feind Eurasien auf einmal während einer Rede gegen Ostasien ausgetauscht wird. Und ein weiteres Unterkapitel (S.45) steht unter der Überschrift „Massenzerstreuung: wie Wichtiges unwichtig wird“.
Teusch erwähnt darin deen früheren US-Verteidigungsminister William Perry, „der Jahrzehnte auf beiden Seiten des US-amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes gearbeitet hat“.
Perry sei überzeugt, dass „die Gefahr eines Nuklearkrieges heute deutliche größer ist als zu Zeiten des ersten Kalten Krieges.“
Die größte Gefahr erwachse heute aus dem zerrütteten Verhältnis zwischen USA und Russland. Teusch auf Seite 45 unten: „In seiner Ursachenanalyse gibt er dem Westen die Hauptschuld an dieser gefährlichen Zuspitzung.“
Perry missbillige den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa.

Warum“, fragt Ulrich Teusch völlig zu recht, „fristet ein überragender Sachkenner wie er mit seinen eminent bedeutsamen, lebens- und überlebenswichtigen Anliegen eine mediale Randexistenz?“ Und weiter: „Warum kennen wir alle Dieter Bohlen, Heidi Klum und Dr. Eckart von Hirschhausen? Warum nicht William Perry? Warum fragen wir die Maus – aber nicht ihn?“
Teusch liefert die Antwort auf diese eigentlich brennend sein müssenden Fragen gleich mit: „Weil es sich bei unseren Medien um Massenzerstreuungswaffen handelt, die uns nicht das präsentieren, was wirklich relevant ist und uns angeht. Stattdessen führen sie uns Tag für Tag – und im Wortsinn – auf Nebenkriegsschauplätze aller Art.“
Noch einmal zurück auf Seite 41: Teusch zeigt sich da überzeugt, dass sich die Wahrnehmungen Aldous Huxleys und George Orwell ergänzen.

Erstens werden wir durch propagandistische Techniken getäuscht (Orwell): also desinformiert, belogen, mit Halbwahrheiten abgespeist oder durch Unterdrückung von Nachrichten im Unklaren gelassen.
Zweitens werden wir durch propagandistische Techniken zerstreut (Huxley): also vom Wesentlichen abgelenkt, mit Belanglosigkeiten beschäftigt, mit Unterhaltungsangeboten aller Art bei Laune gehalten.“

Wer die Macht über die Geschichte hat …

Besonders ans Herz gelegt sei den LeserInnen des hier besprochenen Buches von Ulrich Teusch das Kapitel „Wer die Macht hat über die Geschichte hat, Teil 1: Deutschland“ (S. 48).
Es hebt an mit dem Untertitel „Der hässliche Deutsche: Gauck auf der Westerplatte“
Darin geht es um die Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, die gewiss nicht nur mich peinlich berührte und wütend machte. Gauck hatte des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs gedacht. Teusch erinnert: „Wobei die Tatsache, dass Deutschland diesen Weltkrieg ausgelöst hatte, in Gaucks Ansprache merkwürdig unterbelichtet blieb. Gauck hingegen das Gedenken nutzte (missbrauchte) , um gegen das heutige Russland eine Spitze abzufeuern. Teusch einige Zeilen weiter auf S.49: „Man hätte es unbedarften Zuhörern nicht verübeln können, wenn sie aufgrund seiner Rede zu dem Schluss gekommen wären, nicht Deutschland, sondern Russland der große Aggressor des Zweiten Weltkriegs gewesen sei.“

Der andere Holocaust

Ulrich Teusch: „Die slawischen Völker, insbesondere die Russen (allein 27 Millionen Sowjetbürger starben; C. Stille) , sind im Zweiten Weltkrieg Opfer dessen geworden, was der Historiker Rolf-Dieter Müller als den ‚anderen Holocaust‘ bezeichnet.“
Zu Bedenken gibt Teusch: „Im Unterschied zum eigentlichen Holocaust, also der Vernichtung der europäischen Juden, hat der andere Holocaust keinen Platz im kollektiven historische Gedächtnis der Deutschen gefunden. Hätte er dies getan, wären manche antirussischen Töne, die gegenwärtig im neuen kalten Krieg angeschlagen werden, kaum vorstellbar.“
Zum Schluss des Kapitels noch einmal Gauck kaum verhohlenes Russen-Bashing zitierend urteilt Ulrich Teusch: „So klingt es, wenn sich Geschichtsvergessenheit und Geschichtsklitterung ein Stelldichein geben. Propaganda pur.“
Anmerkung C. Stille: Wer mag und es ihm nicht übel dabei wird, kann hier die damalige Rede Gaucks auf der Westerplatte nachlesen.

Zweierlei Maß

Das nächste Kapitel ist – denken wir an aktuelle Geschehnisse – ebenso wichtig: „Zweierlei Maß: Israel und Russland“ ab Seite 59.
Teusch findet es selbstredend richtig, den Antisemitismus zu kämpfen. Er hält jedoch „für verfehlt, wenn deutsche Politiker sagen, die Freundschaft und Solidarität mit Israel sei Teil der deutschen Staatsräson“. Und „hielte es – analog gesprochen – für verfehlt, wenn dergleichen über das deutsche Verhältnis zu Russland gesagt würde“.
Teusch: „Ich glaube allerdings sehr wohl, dass in unserem Verhältnis zu Russland die gleiche Sensibilität, Empathie, Vorsicht angebracht wäre, die unser Verhältnis zu Israel bestimmt. Ein tief verwurzeltes Schuldgefühl müsste in eine keineswegs kritikfreie, aber doch reflektierte Form der Solidarität münden.“
Der Autor zeigt sich ausdrücklich davon überzeugt, dass der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion der „andere Holocaust“ (nach Rolf-Dieter Müller) war: „Diese Tatsache ist nie ins kollektive historische Bewusstsein der Deutschen eingedrungen. Das ist fatal – war aber sicherlich so beabsichtigt.“
Teusch weiter: „Ich bin mir bewusst, dass meine Paralellesierung des Holocaust mit dem anderen Holocaust, also dem rassenideologischen Vernichtungskrieg im Osten, Widerspruch provozieren wird. Zieht man denn damit nicht die Singularisierung der Judenvernichtung in Zweifel? Nein, das tut man keineswegs. Man kann Menschheitsverbrechen weder gegeneinander aufrechnen noch gegeneinander ausspielen.“

Der Schlüssel liegt in Washington

Nicht weniger erkenntnisreich nimmt sich das Kapitel „Wer die Macht über die Geschichte hat, Teil 2: USA“, beginnend mit dem Unterkapitel „Empire im Niedergang“ ab Seite 76 aus.
Auf Seite 94 resümiert Ulrich Teusch, dass „fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und im Zeichen eines neu beginnenden kalten Krieges, gilt (…): Der Schlüssel liegt in Washington.“

Wahrscheinlich müssen sich sogar die USA als solche grundlegend ändern (wie es seinerzeit die Sowjetunion getan hat).“
Solange sich die USA querstellen und im im internationalen System eine anmaßende, selbstsüchtige und destruktive Rolle spielen, sind keinerlei Fortschritte zu erwarten, und das Land wird weiterhin ein schwer berechenbarer Störfaktor und Unruheherd bleiben.“
Schon während seines Studiums, schreibt Teusch, sei er auf einige Bücher von William Appleman, e Williams (1921-1990), einen Vertreter der Neuen Linken, einen „Radical“, gestoßen.
Williams habe schon in den 1980er Jahren geschrieben, so Teusch auf S. 94, „einfach nur eine Umorientierung der US-Außenpolitik zu verlangen“ genüge nicht; vonnöten sei vielmehr eine grundlegende, revolutionäre Umkehr des ganzen Landes.“
Zum Verständnis dessen muss im Kapitel vorher über eine Rede Wladimir Putins kurz vom dem Eingreifen Russlands in den Syrienkrieg (2015 gelesen werden. Worin der russische Präsident an die verheerenden Folgen der westlichen Interventions- und Kriegspolitik im Nahen Osten und in Nordafrika erinnerte: „Versteht ihr wenigstens jetzt, was ihr angerichtet habt?“

United States of Amnesia“

Eine auffrischende Geschichtsstunde ist das Kapitel „United States of Amnesia“ ab Seite 94. kriegerischen Aktivitäten der USA über viele Jahrzehnte in vielen Ländern dieser Welt – schlechthin: die US-Kriegsgeschichte – hinweg. Sowie die Militärpräsenz des Landes in vielen Ländern der Erde und den enormen, aktuellen Rüstungshaushalt Washingtons von 700 Milliarden Dollar für 2019.
Und der militärisch-industrielle Komplex (MIK) giert, braucht stets regelrecht, Aufträge für Rüstungsgüter. Vor dieser Gefahr warnte bereits ein früherer US-Präsident.

Der 5-Sterne-General, Stabschef der US-Armee, Alliierte Oberbefehlshaber im Zweiten Weltkrieg und Präsident der USA Dwight D. Eisenhower warnte die amerikanische Bevölkerung bei seiner Abschiedsrede als Präsident am 17.01.1961 vor dem Einfluss des Militärisch-industriellen-Komplexes, obwohl er selbst in seiner Amtszeit massiv zu dessen Wachstum im Kalten Krieg beigetragen hatte. Dwight D. Eisenhower: „Wir in den Regierungsräten müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den Militär-Industrie-Komplex schützen.“ (Quelle: Free21)
Der MIK braucht dazu immer wieder Kriege. Ergo auch „Die Kriegsverkäufer“. Dazu lesen wir Erhellendes ab Seite 104 des Buches von Ulrich Teusch. Und um Kriege anzuheizen sind „Die Propagandamacher“ vonnöten. Seit US-Präsident George W. Bush gibt es gar einen „Permanent War Complex“ (S. 128).

Gerade in heutiger Zeit“, schreibt Teusch, „da der militärisch-industrielle Komplex beziehungsweise der Permanent War Complex eine so unverkennbare Eigendynamik gewonnen hat, da er ganz unabhängig von der realen Bedrohungslage seine stets expansiven Bahnene zieht, muss man noch weit stärker in der Vergangenheit davon ausgehen, dass viele der Bedrohungen, mit denen uns tagtäglich das Fürchten gelehrt wird, nichts anderes sind als interessengeleitete Übertreibungen, Verzerrungen, Täuschungen oder Lügen – Kriegspropaganda ohne Grundierung in der realen Welt.“

Teusch: „Wer den Respekt vor Tatsachenwahrheiten verliert und untergräbt, der spielt mit dem inneren und äußeren Frieden, der setzt ihn aufs Spiel – und wird ihn am Ende verspielen.“

Teusch macht uns klar, dass es „Krieg, Zensur, Repression – damals und heute“ gab und gibt.“ (S. 139)
Dankenswerterweise hat der Autor auch „Erkundungen am medialen Abgrund“ (S. 157) vorgenommen. Gegen Ende des Kapitels weist Teusch in Anlehnung an eine Zitat von Hanna Arendt, auf den Kern des Problems hin: „Der Verlust des menschlichen Orientierungssinns, der Sturz ins Bodenlose – das wäre gleichbedeutend mit dem Ende der Demokratie.“ Arendt über Meinungsfreiheit: „ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.“ Teusch dazu: „Wer den Respekt vor Tatsachenwahrheiten verliert und untergräbt, der spielt mit dem inneren und äußeren Frieden, der setzt ihn aufs Spiel – und wird ihn am Ende verspielen.“

Die dräuende Gefahr eines umgekehrten Totalitarismus

Gegen Ende des in möglichst viele Hände gehörenden Buches erinnert Ulrich Teusch an den Politikwissenschaftler Sheldon Wolin. Der hatte am Ende seines 93-jährigen Lebens eine Mahnung ausgesprochen, die Teusch als Vermächtnis begreifen möchte. „Sollte“, schreibt Teusch, „ der umgekehrte Totalitarismus irgendwann an Grenzen stoßen, sollte die Bevölkerung ungehalten, widerspenstig und ungehorsam werden, sollte die Systemfrage auf die Tagesordnung kommen, dann werden die Masken der Eliten fallen. Sie werden in ihrem Abwehrkampf zu genau jenen Mittel greifen, die wir aus dem klassischen Totalitarismus kennen: Gewalt und Repression. Die Aggressivität, die das Außenverhalten des Staates schon seit langem kennzeichnet, wird sich nach Innen kehren.“
Hand aufs Herz: Gibt es nicht schon Anzeichen dafür? Etwa betreffs des brutalen Vorgehens französischer Sicherheitskräfte gegen die Gelbwesten?
Priorität müsse haben, diese „katastrophische Entwicklung“ zu verhindern, mahnt Ulrich Teusch an.
Und, hofft er: „Es wäre schön, wenn sich an diesem Kampf auch ein paar vernunftbegabte Politiker oder redliche Journalisten beteiligten.“

Es ist so einfach

Zum Schluss zitiert Teusch aus Tolstois „Krieg und Frieden“: „Alle Gedanken, die Großes im Gefolge haben, sind immer einfach.“ Und: „Mein ganzes Denken geht dahin: Wenn sich die verderbten und schlechten Menschen zusammentun und zu einer Macht werden, so müssen die ehrlichen Menschen das Gleiche tun. So einfach ist.“
Möge es geschehen, rufe ich den ehrlichen Menschen voller Hoffnung zu. Lest dieses Buch und empfehlt es weiter!

Ulrich Teusch

Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet
  • Group 10 Buch
  • Preis: 18 Euro

Steinmeier wäre nach Gauck der zweite falsche Präsident. Ein Kommentar

Die Entscheidung kam gestern über eine Eilmeldung der Tagesschau über uns: Die Nominierung Frank-Walter Steinmeier ist der Kandidat der Groko für das Amt des Bundespräsidenten. Die Union hat sich darüber mit der SPD geeinigt. Nun ist es müßig, sich darüber auszulassen, ob dieses Amt – nicht selten despektierlich als „Grüßaugust“ verhohnepiepelt – nicht eigentlich abgeschafft gehört. Oder ob der Bundespräsident nicht besser – wie bei unserem Nachbarn Österreich – direkt gewählt werden sollte.

Steinmeier wäre nach Gauck der zweite falsche Präsident

Meine Meinung zur ausgekungelten Einigung auf die Person Steinmeier: Er wäre der falsche Präsident. Wie übrigens – am Rande bemerkt – auch schon Pastor Gauck der falsche Präsident war und augenblicklich noch ist (hier, hier und hier). Nichtsdestotrotz dürfte die Entscheidung bei vielen Deutschen auf Zustimmung stoßen. Denn nicht wenige Menschen entscheiden aus dem Bauch heraus und nach persönlicher Sympathie. Womöglich weil sie nur oberflächlich auf politisches Personal und nicht auf dessen spezielles Tun schauen. Oder darauf, was die „Qualitätsmedien“ ihnen so auftischen. Dann trotten ihnen Etliche, Schlafschafen gleich, in der gleichen Spur hinterher. Freilich kann einen Frank-Walter Steinmeier auch sympathisch sein. Etwa, weil er seiner Frau eine Niere gespendet hat. Und weil er in Zeiten stetigen Russen- und Putinbashings vor einem „Säbelrasseln“ warnte.

Die Causa Murat Kurnaz

Indes der Herr – von seinen Mitarbeitern seinerzeit im Bundeskanzleramt „graue Effizienz“ geheißen“ – an etwas am Schuh, wovon dereinst Fußballer Andreas Brehme zu sprechen pflegte. Und hat mich damals aufgeregt und die Erregung blieb. Und was er da am Schuh hat ist nicht so ohne weiteres abzuwischen. Es handelt sich nämlich um das Schicksal eines Menschen. Und dieser Mensch trägt den Namen Murat Kurnaz. Der Bremer Bürger war – man lese es nach – in Pakistan in die Fänge des dortigen Geheimdienstes geraten. Der ihn für 3000 Dollar an die US-Amerikaner verkaufte. Unter dem Verdacht Terrorist zu sein, landete er im US-Folterknast auf Guantánamo. Die deutsche Presse machte ihn zum „Bremer Taliban“. Fünf Jahre seines Lebens verbrachte Murat Kurnaz unter Folter auf Guantánamo. Darüber hat Murat Kurnaz in einem Buch Bericht erstattet. Es wurde überdies verfilmt.

Die „graue Effizienz“ hat Kurnaz in Guantánamo schmoren lassen

Was hat all das nun mit Frank-Walter Steinmeier zu tun? Einiges. Hätte nämlich der damalige Kanzleramtsminister Steinmeier seine Hand gerührt, wäre Murat Kurnaz nämlich früher frei und zurück in seine Heimat nach Bremen gekommen. Die US-Behörden hatten der Bundesregierung nämlich signalisiert, dass Kurnaz unschuldig ist und sie ihn freilassen würden, gesetzt dem Fall, Deutschland nähme ihn auf. Freilich lag der Fall nicht ganz einfach: Kurnaz war türkischer Staatsbürger. Aber er war Bremer Bürger. Wäre da nicht eine menschliche Entscheidung der Bundesregierung im Rahmen des Möglichen gelegen?

In einem Beitrag für die Istanbul Post schrieb ich damals:

„Dass der Türke aus Bremen indes nun dennoch nicht frei ist und immer noch in Guantánamo statt in Bremen weilt, ist nicht nur sehr bedauerlich und unverständlich, sondern letztlich ein Skandal.
Nämlich deshalb, weil Kurnaz bereits im Oktober 2002 (!!!) hätte ein freier Mann und in Bremen sein können!“

Doch Steinmeier blieb hart. In meinem Artikel fuhr ich fort:

„Die US-Seite muss damals ziemlich verwundert über Berlin gewesen sein: nun wollte man schon mal als einen der ersten Gefangenen von Guantánamo überhaupt einen aus Deutschland entlassen und die Krauts zeigten gar kein Interesse an dem Mann!“

Bis heute zeigte Steinmeier keine Reue für sein damaliges Nicht-Handeln. Im Gegenteil! Dem SPIEGEL konnte er einmal sagen:

„Ich würde mich heute nicht anders entscheiden.“

Angesichts der Nominierung Steinmeiers fordert nun der Bremer Kurnaz eine Entschuldigung von Steinmeier (dazu auch hier). Doch still ruht bislang der See, aus welchem abermals das Unrecht zu lugen beginnt. Haste das Bewusste am Schuh … So ist das eben. (Zum Fall auch ein Gespräch von Tilo Jung mit Murat Kurnaz)

Noch mehr Bauchschmerzen

Nicht nur die Causa Kurnaz wirft ein Schatten auf Steinmeier. Sollte sich Frank-Walter Steinmeier bei Murat Kurnaz entschuldigen, was überfällig und ein nötiger Akt der Anständigkeit wäre – der Mann wäre dennoch der falsche Bundespräsident für mich. Schließlich spielte Steinmeier eher eine verdeckende als aufklärende Rolle betreffs der Geheimdienstaffäre rund um das Wirken der NSA hierzulande. Als Kanzleramtsminister dürfte er mehr darüber gewusst haben.

Es tut mir leid die vielen Menschen enttäuschen zu müssen, welche Sympathie für den nun ins Spiel gebrachten Bundespräsidentenkandidaten empfinden: Steinmeier hat für mich die weiße Weste, die er für dieses Amt unbedingt benötigte. Schon deshalb weil er einer der Architekten der unsäglichen Agenda 2010 ist. Der Sozialdemokrat und Herausgeber der NachDenkSeiten, Albrecht Müller hat sich ebenfalls Gedanken über die Personalie Steinmeier gemacht.

Es bleibt dabei: Ich habe Bauchschmerzen betreffs des Kandidaten Steinmeier. Nicht mein Präsident.

Ukraine: Lassen wir uns in ein europäisches Schlachtfeld hinein schlafwandeln? (Kommentar)

Willy Wimmer: "Es wird gezündelt, dass es nur so kracht.", Foto: birgitH via Pixelio.de

Willy Wimmer: „Es wird gezündelt, dass es nur so kracht.“, Foto: birgitH via Pixelio.de

„Trotz der diplomatischen Krise wegen des Krieges in der Ostukraine verlegen die USA 3000 Soldaten für ein Manöver ins Baltikum. Fast 750 Fahrzeuge sowie militärische Ausrüstung sind nach Angaben des Pentagon bereits per Schiff in der lettischen Hauptstadt Riga eingetroffen.

Der Kreml wird es wohl als Provokation werten“, schätzt n-tv ein. Als was sonst, frage ich?

Willy Wimmer (CDU): Es „wird gezündelt, dass es nur so kracht“

Folgender Text erreichte die KenFM-Redaktion vor ein paar Tagen: „Die USA werden Waffen liefern und wissen, dass sie damit Krieg auslösen.“ Absender dieser privaten Kurznachricht an Ken Jebsen war Willy Wimmer (CDU), Abgeordneter des Deutschen Bundestages von 1976 bis 2009 und ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium unter Helmut Kohl. Darüber hinaus war Wimmer in der Zeit des Jugoslawienkriegs als Vizepräsident der OSZE tätig. Nun also wissen wir: Nicht nur Waffen und militärische Ausrüstung wurden geliefert, sondern auch 3000 Soldaten ins Baltikum. Eine Entwicklung, die einen Vorlauf hat und im Rahmen geostrategischer Interessen voranschreitet. Es „wird gezündelt, dass es nur so kracht“, so Willy Wimmer dazu. Siebzig Jahre nach Ende des Zeiten Weltkrieges herrsche offenbar „Kriegsbereitschaft“ auf Seiten der USA und Großbritanniens, gegenüber dem einstigen Alliierten im Kampf gegen Hitlerdeutschland, dem aus der Sowjetunion hervorgegangenem Russland. Das Zündeln jener westlichen Mächte richte sich diametral gegen „unsere Interessen“, so Wimmer. Er spricht auch die Sanktionen gegen Russland an und bemerkt, dass Handel und Wandel mit Russland und zu uns kommende russische Skifahrer entgegen dem Frieden dienen. Zweifellos schaden die gegen Russland verhängten Sanktionen und die das bewusste Abreißenlassen von immer mehr Gesprächsfäden zu Moskau in erster Linie Europa, nicht Washington. Willy Wimmer: „Europa fliegt uns um die Ohren.“ Jahrelang habe man eine gute Erfahrung mit demselben Putin gehabt, der jetzt vor allem seitens der „Nato-Presse“ (O-Ton Wimmer) tagtäglich dämonisiert und als Monster dargestellt wird.

Als Möglichkeit die Lage zu entspannen sieht Wimmer betrachtet die Fortsetzung der Minsk-II-Bemühungen. Man müsse den Rest europäischen Gedankenguts bewahren. Im Telefongespräch mit Willy Wimmer spricht Ken Jebsen an, was uns wirklich bestürzen muss: nämlich die nicht genug zu beklagenden Tatsache, dass binnen weniger Monate die Früchte jahrelanger hoch engagierter Ostpolitik der Regierung Willy Brandts vernichtet werden.

TTIP ein „transatlantisches Freibeuterabkommen“

Besorgt äußert sich Wimmer im Verlaufe des Telefonats auch betreffs des Falls, dass das „transatlantische Freibeuterabkommen“ zustande käme. Gemeint ist TTIP. Dem sogenannten „Freihandelsabkommen“ dass ein qua Parteibuch unter „Sozialdemokrat“ firmierender Sigmar Gabriel seinen Genossinnen und Genossen und nicht zuletzt uns Bürgern schön zu lügen versucht. (dazu Jens Berger „Will Sigmar Gabriel uns für dumm verkaufen?“; Quelle: NachDenkSeiten). Was auf immer mehr Kritik stößt. Unlängst verpasste man dem SPD-Wirtschaftsminister einen Namenszusatz: Sigmar „TTIP“ Gabriel. Zu befürchten stehe, dass wir von der „parlamentarischen Demokratie abgekoppelt werden“, um zu einer „Anwaltsherrschaft“ umgemodelt würden. Es ginge darum, „dass wir nicht zu einem europäischen Schlachtfeld“ und auch keinem „Kolonialgebiet“ würden.

Ein „deutsches Verhängnis“

Wimmers Kritik richtet sich gegen gewisse Reden und das Handeln des Bundespräsidenten Joachim Gauck und der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Tenor: Gerade Personen, die aus DDR kämen und persönlich am meisten von der Wiedervereinigung profitierten, verantworteten nun eine Politik, die gewiss nicht nur Wimmer nicht für unverantwortlich halten.

Darf in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden: Haben bestimmte Organe in Washington etwa belastende Akten aus DDR-Zeiten, respektive des Ministeriums für Staatssicherheit, mit deren Hilfe Merkel oder Gauck bei der transatlantischen Stange gehalten werden können? Ich erinnere mich an Leute wie Joschka Fischer, der einst vollmundig kritisch zum Antrittsbesuch nach Washington reiste und „entschärft“ wieder nach Berlin zurückkehrte. Oder Rudolf Scharping. Den ließ das Pentacon samt Wagen hart auflaufen. Man wird ja noch fragen dürfen.

Wobei man ja im Falle Merkels differenzieren muss: Sie sucht ja immerhin eine gewissen Verständigung mit Moskau. Doch, dass die derzeitige Bundesregierung so gefährlich von der auf Entspannung mit dem Osten orientierten Politik von Brandt, Schmidt und Kohl abgewichen sind, nannte Willy Wimmer „ein deutsches Verhängnis“.

Wir müssen uns einmischen

Wie also dem neuen Kalten Krieg als einem Vorläufer eines möglichen heißen, gar Atomkrieges, begegnen. Wimmer rät : Die Deutschen sollen sich Gedanken machen, was in den letzten hundert Jahren in Deutschland und Mitteleuropa an Verhängnis passiert ist. Und uns fragen: Was veranlasst uns nach 25 Jahren einer Politik des gegenseitigen Auskommens uns so gegen die Russen in Stellung bringen zu lassen? Des Weiteren regt der Christdemokrat an, die vielen Möglichkeiten des Internets zu nutzen. Warum also nur auf die „Nato-Presse“ setzen?

Da liegt der Mann richtig, meine ich! Wir können heute nicht nur Empfänger, sondern auch Sender sein. Uns einmischen. Selbst recherchieren. Eigene Artikel verfassen. Mir fällt da spontan auch Tommy Hansens bereits gestartetes Projekt, das Magazin free21 ein. Aber es gibt unterdessen viele alternative Medien. Diese zu finden und zu nutzen ist gewiss eine gewisser zeitlichen Aufwand nötig und setzt den unbedingten Antrieb voraus, die Veröffentlichungen der Mainstream- und „Nato-Presse“ gründlich zu hinterfragen. Nicht zuletzt bedarf es dazu eines gesunden Menschenverstandes wie des Zweifels am Wahrheitsgehalt alles Gedruckten und Versendeten. Auch um von Fall zu Fall zum Differenzieren in der Lage zu sein. Willy Wimmer beklagt, dass es bei der Berichterstattung der Mainstreammedien, respektive in der „Nato-Presse“ eine große Linie gebe. Die Rezipienten müssten sich doch fragen, warum das so ist. Wimmer: „Auch den Zweifel zulassen“, müsse man. (Hören Sie das Telefongespräch von Ken Jebsen mit Willy Wimmer unbedingt auf Youtube nach!)

Dazu: „Es ist Talent nötig zum Zweifeln, aber es ist schlechterdings kein Talent nötig zum Verzweifeln.“, Søren Aabye Kierkegaard. Oder: „Der Zweifel ist wichtiger als die Überzeugung.“ (Sir Peter Ustinov)

Für Verständigung oder zum Schlachtfeld werden

http://www.youtube.com/watch?v=CJDPc8fyxR8

Für mich stellt sich schlicht die Frage: „Wollen wir uns für uns für Verständigung, Frieden und Handel und Wandel auch im Falle Russland, eines unverzichtbaren Partners für Deutschland (übrigens seit 150 Jahren und selbst in Sowjetzeit verlässlichen Partner) einsetzen, oder hier in Europa wirklich wieder einmal zum Schlachtfeld werden?

Dazu hören Sie sich bitte auch Holger Strohm „Wollt ihr den totalen Krieg?“ via Youtube an.

Es geht hier nicht darum einen Alarmismus das Wort zu reden. Machen wir uns nichts vor: Die Lage ist sehr ernst. Dass die USA nun 3000 Soldaten für ein Manöver und militärisches Material ins Baltikum schickt ist nun wahrlich kein Schritt, der die Lage entspannt. Rundheraus: Das nichts anderes als eine US-amerikanische Provokation erster Güte. Möge Russland besonnen bleiben.

Was reitet uns, den Westen – erst recht Deutschland! – eigentlich diese verhängnisvolle Politik der Konfrontation mitzutragen? Verhängnisvoll ist zudem und wirkliches nur als einzigesTrauerspiel zu bezeichnen, dass uns momentan in Europa Politiker vom Schlage eines Olof Palme, Bruno Kreisky, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und nicht zuletzt auch Helmut Kohls schmerzlich abgehen. Ihnen folgte u.a. ein Joseph Fischer, der einen Krieg mit deutscher Beteiligung wieder ermöglichte. Der derzeitige europäische Regierungspersonal lässt jedenfalls bei mir große Befürchtungen derart aufkommen, wir könnten uns wieder einmal in einen europäischen Krieg hinein schlafwandeln lassen. Hineinziehen lassen vielmehr, von unserem „Partner“ USA und deren Pudel in London.

Sind wir wirklich so blöd, dass uns die Schweine beißen?

Vor einem Jahr stellte Dirk Müller fest „Wir sind so blöd daß uns die Schweine beissen.“ (Quelle: Youtube) Wirklich?

Wie weit will es der Westen, vieler seiner ständig lauthals postulierter hehren Werte längst entkleidet, denn eigentlich noch treiben? Und wer wird dem Treiben ein Ende setzen?

Nicht zuletzt Washington will letztlich Putin Kopf. Und dann weiter gegen Peking? In der deutschen Presse kommen wenige Stimmen der Vernunft zu Worte. Das wurde mal wieder am Sonntag bei Günther Jauch deutlich. Matthias Platzek einmal ausgenommen. Sich das mit dem Sturz Putins aus dem Kopf zu Schlagen rät Ulrich Jörges vom Stern und spricht Klartext: „Holt Putin zurück!“. Denn wer weiß schon, was nach ihm kommt.

Obsiegt bald die Vernunft? Es sieht nicht danach aus. Es rollen US-Panzer. Es marschieren Soldaten. Vorerst ins Baltikum …

Washington sagt No zu No-Spy-Abkommen – Wundert’s wen?

BildPflege ich die Hose mit der Kneifzange anzuziehen? Glaube ich noch an den Weihnachtsmann? Zweimal Nein! An was die deutsche Bundesregierung glaubt entzieht sich meiner näheren Kenntnis. Hätte die Merkel-Administration – und zwar die alte wie die neue – wirklich ernsthaft daran geglaubt die USA schlössen jemals ein „No-Spy-Abkommen“ mit Deutschland, müsste ich stark annehmen, sie wäre mit großer Naivität geschlagen. Oder wollte man das Volk einfach für dumm verkaufen? Beides wäre schlimm. Und die Regierung ein ziemliches Risiko.

Angela Merkel sprach ja immerhin bei ihrem Amtsantritt abermals: „Die Eidesformel des deutschen Bundespräsidenten, Bundeskanzlers und der Bundesminister nach Art. 56 (und Art. 64) GG lautet: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (So wahr mir Gott helfe.)“ (via Wikipedia)

Wie schaut es nun in der Wirklichkeit aus? Wendet die Bundeskanzlerin respektive die Bundesregierung Schaden vom deutschen Volke ab? Beziehungsweise: Ist aber Angela Merkel – gesetzt den Fall, sie würde es ehrlich wollen – den Umständen entsprechend überhaupt in der Lage dazu dies zu tun?

USA werden weiter lauschen

Auf tagesschau.de ist heute zu lesen, das geplante No-Spy-Abkommen drohe zu scheitern. Die USA lehnten die Kernforderungen Deutschlands ab und dächte gar nicht daran, die Zusage zu geben, „künftig keine deutschen Regierungsmitglieder und politische Amtsträger mehr abzuhören.“ Washington, so hört man, sei überhaupt verwundert darüber, dass die BRD ein solches Abkommen angestrebt habe. „Auch würden die USA weiterhin nicht erklären, seit wann das Mobiltelefon von Kanzlerin Angela Merkel abgehört wurde oder ob auch andere deutsche Spitzenpolitiker belauscht wurden oder werden.“ Batsch, was für’ne Klatsche für Germany! Wahrscheinlich hat man Washington sowieso schallend über die Forderungen der „Freunde“ in Berlin gelacht.

Oder ist vielleicht die deutsche Bundesregierung gar nicht so naiv, wie wir meinen? Und alles war nur ein beruhigende Blabla-Pille für’s deutsche Volk. Das, mit Verlaub – frei nach Brecht – wie die dümmsten Kälber dahin trottet und seine Metzger auch noch selber wählt?

Thomas Oppermann (SPD) spuckte in der Opposition noch große Töne

Der Bundestagsabgeordnete Niema Movassat (DIE LINKE) schreibt heute auf Facebook: „Die USA wollen kein ‚No-Spy-Abkommen‘ mit Deutschland abschließen, sondern weiter spionieren. Überrascht das irgendjemanden? Interessant ist allenfalls, wie bspw. nun ein Herr Oppermann (SPD) reagiert, der VOR der GroKo noch große Töne gespuckt hat. Mehr als verbale Empörung – wenn überhaupt – wird es nicht geben.“

Das fürchte ich auch. Jetzt in die GroKo eingebunden, dürfte Thomas Oppermann wieder zurückgestutzt sein. Einem fragwürdigen „Staatswohl“ verpflichtet. Und somit ruhiggestellt? Kuschend gegenüber dem „Partner“ USA. Ein braver Vasall sein? Movassat setzt hinzu: „Weiterhin können die Menschen in diesem Land jederzeit ausspioniert werden. Auch weil die Bundesregierung klare Worte und Handlungen in Richtung Washington seit dem 1.Tag der NSA-Affäre konsequent unterlässt und damit ihren Amtseid bricht!“ Und damit eben nicht tut, möchte ich hier ergänzen, was damit verlangt ist: Nämlich Schaden vom deutschen Volke abzuwenden.

Josef Foschepoth: Alle Bundesregierungen haben sich Ansprüchen der Amerikaner gebeugt

Geht die Bundesregierung also tatsächlich davon aus, dass wir unsere Hosen mit der Kneifzange anziehen? „Die Amerikaner hätten also Grund zu behaupten, dass sie spionieren dürfen?“, so die Frage der Stuttgarter Zeitung an den Historiker Josef Foschepoth. Und dieser antwortete dem Blatt: „Ja, sicher. Die sechzigjährige Geschichte der Überwachung der Bundesrepublik zeigt, dass sich alle Bundesregierungen den Ansprüchen der Amerikaner gebeugt haben. Das hat natürlich zum Teil erhebliche Konsequenzen für die Souveränität und Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik gehabt. Ein Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hat 1970 im Urteil zum G-10-Gesetz gesagt, dass geheimdienstliche Überwachungen, die sich im Nachhinein als überflüssig erwiesen haben, den Betroffenen mitgeteilt werden müssen. Die Amerikaner haben da aber nur müde gelächelt. Es gibt in den Akten des Bundesinnenministeriums Unterlagen darüber, wie intensiv und erfolglos zugleich die deutschen Beamten die US-Behörden zur Kooperation bewegen wollten. Die US-Geheimdienste waren dazu einfach nicht bereit.“

Mehr über und von Josef Foschepoth (hier). Zum Thema passt auch ein älterer Beitrag von mir (hier).

Ja, vollständig souverän müsste Deutschland sein! Die Bildzeitung könnte titeln „WIR sind souverän“. Doch darüber wie es um die Souveränität unseres Staates bestellt ist lassen uns Merkel sowieso, als auch der sich nicht mehr in der Opposition – laut Müntefering ohnehin Mist – befindliche Sozialdemokrat Oppermann, nun brav wieder Staatsräson und „Staatswohl“ verpflichtet, im Ungefähren. Und macht uns mit Blabla ein X für ein U vor. Selbst schuld, wenn wir uns das bieten lassen. Wenn das der Preis für’s Mit-Regieren unter Merkel ist, dann ist Regieren auch Mist. Aber vielleicht kommt es auch ganz anders und Herr Oppermann macht bald den Lauten gegenüber den US-amerikanischen „Freunden“? Doch wer glaubt denn schon noch an den Weihnachtsmann?

Empfehlung zum Thema Bespitzelung ein Beitrag von 3sat-Kulturzeit vom 9. Januar 2014 (gleich am Anfang der Sendung), u.a. auch mit Josef Foschepoth. Interesannt darin auch das Agieren des Joachim Gauck mit an die USA gegebenen Geheimdienstmaterial aus dem Osten.

Artikelfoto: #StopwatchingUS-Aktion am 27. Juli 2013 – Die „NSA“ sammelt in der Innenstadt von Dortmund Daten; Claus-D. Stille