Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Rezension

Egon Krenz, einstiger Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Meine Rezension zum ersten Teil seiner Memoiren unter dem Titel „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg“ (»dass ein gutes Deutschland blühe«) leitete ich folgendermaßen ein:

„Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden.“

Biografien wie die seine waren durchaus so selten nicht. Sie sind freilich nicht ohne den Hintergrund des zu Ende gegangenen verheerenden Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Krenz` Schwester lebte in Westerland in der britischen Zone, als der zehnjährige Egon mit seiner Mutter illegal zu Besuch dorthin hinreiste. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit ihrem Sohn wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“ Der Westen war für Egon Krenz keine Alternative.

Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg (heute Kołobrzeg, Republik Polen) , fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Die DDR schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der erste Teil seiner Biografie hat mich als einstigen DDR-Bürger gefesselt. Wir waren ja jeden Tag mit ideologisch überladenen Sätzen und dementsprechend ausgewalzten Wortungetümen in unseren Zeitungen konfrontiert. Der darin mit der Zeit in Form immer langweiliger werdenden Bleiwüsten daherkommenden, Propaganda waren wir überdrüssig. Weder aber war ich persönlich ein Gegner der DDR noch unbedingt ein „Fan von Egon Krenz“.

Wir lesen im zweiten Teil seiner Biografie, dass Krenz gar nicht amüsiert darüber war, dass er bei einem Besuch von DDR-Brigaden, welche am Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion beteiligt waren, mit dem Ausspruch: „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ empfangen worden war. Hier ein Video vom Offenen Kanal Magdeburg über die „Trasse“.

Egon Krenz fühlte sich halt als einer von vielen SED-Funktionären (er stand ja zunächst der FDJ vor). Und wollte nicht hervorgehoben werden. Aber er nahm das ehrliche Bekenntnis der Trassenleute nicht übel.

Seine Biografie erster Teil bringt uns neben dem einstigen FDJ-Chef und SED-Funktionär den Menschen Egon Krenz und dessen Ansichten in sachlicher und ehrlicher Form nahe. Auch spart er nicht daran, eigene Fehler, Irrtümer und diejenigen der Partei- und Staatsführung offen zu benennen.

»Wir hatten es in der Hand!«

Dessen bleibt sich Egon Krenz nun auch im inzwischen herausgekommenen zweiten Teil seiner Biografie, welche unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ steht nichts schuldig. Das Buch befasst sich mit den Jahren 1973-1989: »Wir hatten es in der Hand!« Egon Krenz
— Teil II der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR —

Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«.

„Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt“, informiert der Verlag, „setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste.“

Zum jüngsten, zweiten Band der auf drei Bände angelegten Memoiren von Krenz schreibt edition ost:

„Der zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR führt direkt in den Inner Circle der Staatsführung und in jene Phase, die mittels Wandel durch Annäherung die friedliche Koexistenz sichern soll. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die neue Ostpolitik der SPD-Regierung in der BRD und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Inzwischen vom Westen als »Honeckers Kronprinz« aufmerksam beäugt, ist er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöst. Was angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet der Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste. Krenz berichtet faktenreich und selbstkritisch und reflektiert von heutigem Erkenntnisstand aus differenziert die Ereignisse, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren.“

Für uns Leser ist all das aus erster Hand berichtete abermals sehr interessant. Die DDR-Bürger erfuhren nicht was hinter den Kulissen sich in der Regierung, in Partei- und Staatsführung abspielte. Freilich machten sie sich ihre Gedanken. Und nebenan in der BRD wurde versucht alles Mögliche aus dem Tun und Lassen der DDR herauszulesen. Man betrieb im Prinzip Kaffeesatzleserei. Besonders die Springer-Medien, vornweg die Bild waren darin besonders engagiert. Zuweilen lag man sogar richtig bzw. fast richtig. Man hatte wohl auch Zuträger, die aus dem Nähkästchen plauderten. Und über Westradio und Westfernsehen drangen die Halbwahrheiten, Vermutungen sowie auch manches, was einen wahren Kern hatte, auch in die Wohnstuben der DDR-Bürger. Und dort versuchte man sich einen Reim darauf zu machen. Hoffnungen gab es ohnehin, neue wurden geweckt. Was freilich auch die Partei- und Staatsspitze beschäftigte. Und man sich dort wiederum Gedanken machte wie darauf zu reagieren sei. Was sollte in den DDR-Medien veröffentlicht oder lieber verschwiegen werden. Und dennoch drang manche Information – vor allem später als Gorbatschow in Moskau am Ruder war – an die DDR-Öffentlichkeit. Egon Krenz stellt dar, wie dazu auch innerhalb des Politbüros unterschiedlich gespielt wurde. Wie er selbst gezwungen war mit dergleichen umzugehen. Vor allem als er selbst ins Politbüro berufen worden war – wovon er selbst ziemlich überrascht gewesen sei.

Wem konnte man voll vertrauen, bei wem war in mancher Beziehung Vorsicht geboten. Gegenüber Honecker, schreibt Krenz, sei er stets loyal gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und und sich beschreibt er als vertrauensvoll und auch kollegial. Wenn auch Krenz schon mal einen Rüffel vom Chef wegstecken musste. Öfters musste er seinen Chef bei Terminen vertreten. Krenz erlebte Honecker zunächst als durchaus geistig wie körperlich fit und immer gut vorbereitet. Auch bei Begegnungen mit Westpolitikern, die Honecker durchaus schätzten. Was ebenso für wichtige Industrielle in Westdeutschland, wie beispielsweise etwa Berthold Beitz, aber auch andere galt. Wovon allerdings so mancher dieser BRD-Politiker nach dem Ende der DDR nichts mehr wissen wollten.

Durchaus anders zeichnet Krenz Honecker als die DDR-Normalbürger ihn für gewöhnlich erlebten bzw. sich selbst ein Bild machten. Beim Lesen von Krenz` Zeilen ist man als einstiger DDR-Bürger durchaus versucht manch eigenes damaliges Gemecker oder irgendeine gemachte Witzelei, die Person Honecker betreffend, im Nachhinein eher als unpassend zu empfinden. Nur was die spätere Zeit anbetrifft konstatiert Egon Krenz einen gewissen Altersstarrsinn bei Honecker. Er dachte ja bis zum bitteren Ende nicht daran seinen Sessel für einen Jüngeren freizumachen. Was auch nicht unwichtig ist: Erich Honeckers strikter Antifaschismus und sein Eintreten für den Sozialismus beruhte gewiss auch auf dessen Verfolgung durch das Naziregime. Honecker wurde damals für zehn Jahre ins Gefängnis geworfen. All das prägt schließlich.

Michail Gorbatschow

Was das Agierens von Michail Gorbatschow betraf war Honecker mit der Zeit immer skeptischer geworden, war mit Vielem was dessen Politik und Handeln betraf, so nicht einverstanden.

Krenz selber bekennt, von Anfang an Gorbatschows Politik eher positiv bewertet und von Herzen unterstützt zu haben. Da spricht er allerdings über die Zeit „vor dem Verrat Gorbatschows“, wie er im Vorwort „Wo ist denn Ihre Klingel, Herr Krenz?“ (S.9) schreibt.

Krenz kritisiert nicht nur Gorbatschows Alkoholverbot als mehr als fragwürdig, was den Nutzen anging. Sondern auch dessen Wirtschaftspolitik. Was dazu führte, dass in manchem sowjetischen Geschäft die Regale leer blieben. Und schließlich war auch der DDR-Führung nicht verborgen geblieben, wie die sowjetische Wirtschaft im Großen und Ganzen unter Gorbatschow quasi den Bach herunterging. Die UdSSR sah sich deshalb veranlasst den Ölpreis für den Bruderstaat DDR immer weiter zu erhöhen. Was in der DDR wiederum zu Schwierigkeiten führte.

Später – und erst recht nach dem Ende der DDR – hat Egon Krenz erleben müssen, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch nicht immer ganz ehrlich spielte. Sogar manches gar nicht so gesagt haben wollte. Was Egon Krenz bei einem Zusammentreffen in einem Berliner Hotel die Stirne runzeln ließ. Sogar Raissa Gorbatschowa bestätigt Egon Krenz damals. Ihr Mann bestritt das Gesagte auch seiner Frau gegenüber.

Mehrmals hält Krenz Gorbatschow im Buch vor, dass er den sozialistischen Bruderstaaten versprochen hatte, sie könnten von völlig souverän handeln. Davon habe er, so Krenz, jedoch nichts bemerkt.

Wobei wir bei einer Tatsache sind, die beide deutsche Staaten betraf (und die BRD aktuell wohl noch immer betrifft): Letztlich konnten sie wichtige Entscheidungen nicht selbst treffen ohne grünes Licht aus Washington oder Moskau dafür erhalten zu haben.

Rückmeldungen

In seinem Vorwort zum zweiten Teil seiner Biografie schreibt Egon Krenz, dass er viel Zuspruch für seinen ersten Band erhalte. Aus Ost wie aus West. Ein 90-jähriger Leser aus Gransee ließ ihn wissen: «Alles, was Sie beschreiben, habe ich so ähnlich erlebt.«

„Ein 22-Jähriger aus einem kleinen Dorf in Norden Baden-Württembergs bekundete sein Interesse für die DDR-Geschichte, die nach seiner Wahrnehmung im Westen entstellt werde. Und ein ehemaliger Schüler der Erweiterten Oberschule (EOS) äußerte, man habe in der DDR im Fach Staatsbürgerkunde gehört, «was Kapitalismus ist«. Damals hielt er es für übertrieben und wollte es nicht glauben. Seit 1990 wisse er, dass es eher untertrieben war.“ (S.10) Meine Wenigkeit sieht das nebenbei bemerkt übrigens ebenso.

Weiter notierte Krenz: „Professor Kurt Starke, ein international bekannter Soziologe, Sexualwissenschaftler und Jugendforscher, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin, schrieb mir vor einiger Zeit: «Je mehr ich über unser gewesenes Land nachdenke und je öfter ich in den vergangenen Jahren mit Ost-West-Unterschieden in meinen Untersuchungen zu tun hatte, desto mehr sehe ich mich in der Erkenntnis bestätigt, dass die DDR ein Unikat von bleibender historischer Bedeutung ist.«

Egon Krenz: „Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte“

Egon Krenz merkt weiter an: „Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und es militärischen Engagements der Bundesrepublik sollte ebenfalls daran erinnert werden: Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte. Kein NVA-Soldat setzte je seinen Fuß auf fremdes Territorium, um an Kampfeinsetzen teilzunehmen. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit Achtung und Respekt zu erinnern. Ein Drittel Deutschlands war hier dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen, und das mehr als vierzig Jahre lang. Das ist aus dessen Sicht die eigentliche Sünde der DDR, die ihr – und damit uns, die wir sie aufbauten und verteidigten – niemals vergeben werden wird. Nach 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. Nach 1945 wurden in Westdeutschland dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten in die Wüste. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Zukunft. Nicht zu reden von den vielen Werktätigen aus den über achttausend volkseigenen Betrieben, die die Treuhandanstalt übernahm und asozial abwickelte.“ (S.12)

Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt“, macht Krenz unumstößlich klar

Zusammenhänge von Politik, Kapital und wirtschaftlichen Interessen würden verschleiert. Sie und die Geschichte müsse man aber kennen, meint Egon Krenz. Um zu verstehen, „warum so viel Menschen im Osten beispielsweise gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind“.

Und einen wahren, unumstößlichen Satz schreibt Krenz da: „Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt. Die Berliner Mauer sei „von Osten verschoben (worden) – sie steht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland“

„Sie ist dort, wo die Frontlinie im Prinzip an jedem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Diese «Grenzziehung« ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde.“

In Briefen äußern die Menschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg

In Briefen an Krenz äußerten Menschen: „Angst. Angst vor einem Dritten Weltkrieg, in den uns die deutsche Regierung durch ihre pro-amerikanische Politik führen könnte. Dass die Bundesregierung das Streben der USA, einzige Weltmacht zu bleiben höher stellt als deutsche Interessen, hat ebenfalls zum sinkenden Ansehen der gegenwärtigen Ampel-Koalition beigetragen.“

Verantwortungslos und folgenlos habe die deutsche Außenministerin davon gesprochen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, dessen Ziel darin bestünde, «Russland zu ruinieren«. Krenz ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sprache ist bekanntlich Ausdruck des Denkens.“

Die Tatsache, dass in Deutschland Nazijargon öffentlich verbreitet wird, mache ihm Angst.

Er bezieht sich dabei auf die von einer Boulevardzeitung gewählte Schlagzeile: «Deutsche Panzer stoßen gegen russischen Stellungen vor«

Und Krenz beklagt die hierzulande herrschende Russophobie. Sie erinnere ihn an seine Kindheit, „als die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs große Plakate klebten, auf denen Russen als Untermenschen dargestellt wurden“.

Die Russophobie und Hetze gegen Russland mit Sorge zur Kenntnis nehmend fragt sich Krenz: „Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führenden Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.“

Wenn Westdeutsche einstigen DDR-Bürgern erklären, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen

Aus dem Herzen spricht mir Egon Krenz, wenn man von altbundesrepublikanischer Seite einstigen DDR-Bürgern erkläre wie man in der DDR gelebt habe. Ich selbst kann ab September 1989 ein Lied davon singen. Denn diese Erklärungen kamen in der Regel aus den Mündern von Westdeutschen, die die DDR nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus der Westpresse kannten. Mir selbst platzte irgendwann 2019 der Kragen als mir ein Kollege wieder einmal sagte, wie ich in der DDR gelebt haben sollte: „Bei euch war das doch so …“ Ich wurde kurz laut. Seither hat mich dieser Kollege nie wieder dazu angesprochen.

Krenz betrachtet sich selbst als eine Biografie von 17 Millionen Biografien in der DDR besteht darauf: „Wir müssen uns wegen unseres Lebens nicht entschuldigen.“

Dass es in Politik und Medien noch immer Versuche gibt, DDR-Bürgern erklären zu wollen, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen, beweist, dass die deutsche Einheit mental noch lange nicht vollzogen ist.“ (S.15)

Egon Krenz: „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin“

Egon Krenz malt nicht rosarot, sondern gesteht so manchen Fehler der DDR ein. „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin. Allzu oft ließen wir uns etwa bei der Auswahl von Kadern blenden von Worten der Ergebenheit. Das förderte Heuchelei, die nicht zu einer Partei wie der unseren passte. Die Quittung dafür erhielten wir 1989.“ (S.38/39)

Mit der Biermann-Sache legte sich die DDR ein Ei

Auch die Biermann-Geschichte bringt Krenz zur Sprache. Der Dichter Wolf Biermann war nach einem Auftritt in der BRD, die in der DDR Kritik hervorgerufen hatte, die Wiedereinreise in die DDR versagt worden. Der Westen tönte, er sei aus ausgebürgert worden. Als der Fall im Politbüro erörtert und abgehakt wurde, habe sich nur Kurt Hager kritisch geäußert, der gegenüber Erich Honecker eingewendet hatte: „Erich, war denn das notwendig?“ Krenz erinnert sich: Es habe geknistert. Niemand habe geantwortet, so sprach Hager weiter: „Biermann ist es nicht wert, dass wir uns deshalb mit den Künstlern anlegen und unsere Kulturpolitik ändern. Wir machen in erst groß, wenn wir ihm solche Aufmerksamkeit widmen. Wir sollten ihn ignorieren. Das trifft diesen Gernegroß mehr als alles andere.“

Werner Lamberz, der als Politikerpersönlichkeit eine große Hoffnung nicht nur für die SED gewesen war (der tragischerweise später und viel zu früh bei einem Hubschrauberabsturz in Libyen sterben sollte) habe zustimmend genickt. Hager muss Recht gegeben werden. Mit diesem Schritt, Biermann nicht wieder in die DDR einreisen zu lassen, hatte sich das Land sozusagen ein Ei gelegt. Zumal Wolf Biermann den meisten DDR-Bürgern bis dato unbekannt war. Zuweilen sah man ihn vielleicht mal in der Tagesschau, wie der einstige Jungkommunist mit einem Korrespondenten des westdeutschen Fernsehens in seiner Berliner Wohnung am Kachelofen saß und auf Opposition machte. Diesen Herrn, dem eine enge Beziehung zu Margot Honecker nachgesagt wird, hätte die DDR aushalten können – und auch müssen. Der Filmregisseur Konrad Wolf habe einmal zu Egon Krenz gesagt: «Egon, Dir mag der Begriff des Ausbürgerns weniger sagen als mir. Du hast den Faschismus nicht mehr erlebt. Aber die Menschen, die von Nazis aus Deutschland vertrieben wurden wie wir -, hätten nicht zulassen dürfen, dass jemand aus der DDR «ausgebürgert« wird. Sag Erich, er möge sich seiner eigenen Vergangenheit erinnern.“

Weiter erinnert sich Egon Krenz: „Der Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant (1926-2014), übte Kritik, zurückhaltend zwar, aber öffentlich im Neuen Deutschland: «Ich will nicht verhehlen, dass ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich braucht niemand vor ihm zu schützen.«

Honecker habe wohl dann nachgedacht (jedoch viel zu lange) wie man wieder aus der unangenehmen Biermann-Sache herauskäme. Aber der Schaden war gemacht. Dann erfuhr Honecker von der Protestresolution von 12 DDR-Schriftstellern und -Künstlern die sich gegen das Einreiseverbot von Biermann richtete. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte sie entworfen und auch westlichen Agenturen übergeben. Krenz: „Dass er sie zuvor der Zeitung Neues Deutschland angeboten hatte, wo sie lediglich der Pförtner entgegennehmen wollte, erfuhr Honecker erst viel später.“ Ja, auch hier trifft der Satz »Wir hatten es in der Hand!« zu. Manches jedoch entglitt leider dieser Hand.

*Staatssicherheitsminister Erich Mielke berichtete, „dass der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“

Eines Tages hatte Honecker Krenz einen Packen Briefe von Bürgern aus Rostock übergeben, in denen Bürger sich vom dort stattfindenden Kirchentag belästigt fühlten. Seinetwegen war ein Fußballspiel der DDR-Oberliga verlegt worden. Und auf öffentlichen Plätzen wehten anstelle die Staatsflaggge oder rote Fahnen wehten Kirchentagsfahnen. Man sei, wurde beklagt vom Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat abgewichen. Krenz schickte Mitarbeiter nach Rostock, die Gespräche mit den Briefeschreibern führten. Sie teilten Krenz mit, alles sei durch zentrale Entscheidungen geregelt gewesen. Zentrale Entscheidungen seien in der Regel Festlegungen des Ministers für Staatssicherheit gewesen. Krenz rief Mielke an. Der berichtete ihm unter anderem, „dass Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“

*Bärbel Bohley lag mit ihrer damaligen Befürchtung nicht falsch

In einem andereren, an Erich Honecker gerichteten, Brief ging es um die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und des Bürgerrechtlers Werner Fischer. Beiden war im Februar 1988 „bei Vermeidung von Strafverfahren ein befristeter Auslandsaufenthalt vermittelt worden war.“ Geschrieben worden war er von Bischof Dr. Gottfried Forck. Postbote sei Manfred Stolpe gewesen. Krenz informierte den im Urlaub befindlichen Honecker. Der stimmte der Wiedereinreise zu. Bohley und Fischer hätten versprochen, die Gesetze der DDR nicht zu verletzen. Krenz: „Eine Ausbürgerung wäre nicht nur juristisch, sondern auch politisch ein großer Fehler gewesen. Es ist schon interessant, dass die – um es freundlich zu sagen – von der DDR nicht gerade freundlich behandelte Bärbel Bohley schon 1991 kurz nach der staatlichen Vereinigung über die Zeit sagte: <<Die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständigen Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“<< Ein Zitat nebenbei bemerkt, dass man dieser Tage öfters in sozialen Medien lesen kann. Und wenn man den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft in Augenschein nimmt, beschleicht einem das Gefühl, dass Bärbel Bohley mit ihrer Befürchtung nicht falsch lag.

Wichtige Themen wurden beackert

Alle wichtigen Themen hat Egon Krenz beackert. Und das dürfte wohl nicht nur für gewesene DDR-Bürger sondern auch Bundesbürger als den alten Bundesländern von Interesse und spannend sein. Ob das nun die Zeiten der Entspannungspolitik der Brandt- und Schmidt-Regierungen betreffs der Sowjetunion und Polen sind, oder die Bemühungen zwischen BRD und DDR gute Beziehungen in der Sache und auch für die jeweilige Bürger zu erzielen. Da gab es einige Kontakte und Besuche von Westpolitikern in der DDR, die wir in der DDR mit hohem Interesse verfolgten. Auch die damaligen Gespräche von SPD und SED bargen Hoffnungsschimmer.

Natürlich ging es uns in der DDR auch darum Reisen in die BRD oder das andere westlichen Ausland machen zu können. Es tat sich was. Aber doch viel zu wenig. Was nicht nur mit politischen sondern auch mit Fragen von Devisen zu tun hatte, die die Menschen ja dann im kapitalistischen Ausland benötigten. Nachdem BRD-Politiker zu Besuch gewesen waren war Erich Honecker auch zum Gegenbesuch eingeladen worden. Der Einladung wäre Erich Honecker gern nachgekomme. Er empfand das nach Anerkennung der DDR in vielen anderen Ländern auch als eine Ehre für die DDR. Es war ja ein offizieller Empfang ins Auge gefasst. Es brauchte letztlich mehrere Anläufe dahin, bis Erich Honecker in die BRD reisen und auch seine alte Heimat im Saarland besuchen konnte. Immer wieder war Moskau dagegen. Honecker ließ sich allerdings immer weniger hereinreden. Und es kristallisierte sich heraus, dass Honecker eben auch Deutschland als Heimat in seinem Herzen trug.

Krenz schreibt, in der DDR träumte man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten

Erich Honecker sei immer wieder auch am Weltfrieden und dem Frieden auf deutschem Bode interessiert gewesen, so Krenz. Im Buch macht das Egon Krenz auch an der Frage der Raketenstationierung auf BRD-Boden deutlich. Die Pershing II -Raketen sollten nach dem Willen des Westens gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion abschrecken. Stichwort Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte für die Stationierung in Westdeutschland votiert. Der sowjetischen Seite war nichts weiter übrig geblieben als nachzuziehen. In der DDR wurden dann neue sowjetische Raketensysteme aufgestellt. (S.215: „Atomraketen in der DDR)

Krenz schreibt, in der DDR träumten man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten. „Honecker hat dafür mit hohem Einsatz gespielt. […] Wir wollten unsere Maxime, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, ohne dieses Teufelszeug erfüllen. Spätestens 1983/84 hatten wir die politische Schlacht um die Aufstellung der Raketen verloren.“

»Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt

Egon Krenz sagt in einem Interview, am 16.12.2023 von junge Welt veröffentlicht: „Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.“ Und Honecker tat das. Honecker forderte, dass alle Raketen, diese Teufelszeug, von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen. Alles zu diesem Thema finde Sie ausführlich im Teil 2 der Biografie von Egon Krenz veröffentlicht.

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler und Entscheidungen, die zu Unmut führten. Ich erinnere mit noch gut daran, als es in der DDR hieß, die sowjetische Zeitschrift Sputnik sei verboten worden. Sie war kurzerhand von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Nach Rücksprache mit dem Postminister erfuhr Egon Krenz, dass Honecker diese Verfügung diktiert hatte. „Die Zeitschrift, so hieß es, bringe keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen würden darin verzerrende Beiträge zur Geschichte veröffentlicht. Konkreter Anlass waren Beiträge zum sogenannten «Hitler-Stalin-Pakt«. Krenz’ Ehefrau, in der Lehrerbildung tätig, fragte sich mit ihren Kollegen, „kopfschüttelnd, ob die alten Herrschaften im Politbüro überhaupt noch wüssten, was im Lande los sei. Wie könne man noch Öl ins Feuer gießen.“ Selbst die „FDJ-Führung hatte auf acht Seiten aufgeschrieben wie empört junge Leute über die Bevormundung durch die Partei- und Staatsführung waren.“

Honecker zeigte sich ungerührt.

An der Basis brodelte es

Auf der letzten Seite berichtet Egon Krenz von der sich vergrößernden Misere im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Viel Vertrauen war in diesem Jahr verloren gegangen. An der Basis brodelte es. Das Politbüro aber tat, als sei alles in bester Ordnung.“

Und Krenz schließt so: „Es brodelte an der Basis. Die Zeichen standen auf Sturm.“

Ich weiß: Vergleiche hinken. Ich will auch nichts vergleichen. Dennoch: Die derzeitige von der Politik der Ampel – aber auch von Vorgängerregierungen – herbeigeführte in vielen Hinsichten prekäre Lage unseres Landes lässt auch hier und da – wir haben gerade die Bauernproteste – ein Wind in meine Nase wehen, der etwas nach 1989 riecht. Erste Rufe „Wir sind das Volk“ und Forderungen nach Veränderung sind zu vernehmen …

Lest dieses Buch in Ost und West

Ich empfehle, dass möglichst viele Menschen in West und Ost dieses Buch zu lesen. Es ist wichtig. Egon Krenz gebührt das Lob, aufgeschrieben zu haben, was ansonsten wohl der Vergessenheit anheim fallen könnte. Die Leser werden vieles nicht wissen, von dem Krenz hier geschrieben hat. Die Leser mögen sich ein eigenes Bild machen. Ich fürchte, die üblichen Verdächtigen in den Mainstream-Medien werden, auch diesen zweiten Band von Krenz’ Biografie wieder als Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei auf Honecker und die DDR missverstehen (wollen). Das bleibt ihnen unbenommen. Ich sehe das anders. Auch dieser Band ist wieder sachlich verfasst und es fehlt auch nicht an der Aufführung von gemachten Fehlern. Ein Verdammen des Staates DDR in Grund und Boden wird man jedoch darin nicht finden. Was aus der Biografie des Autors heraus verständlich ist und dem Ganzen absolut kein Abbruch tun. Auch ich als gewesener DDR-Bürger werde das nie tun. Manche versteinerten Ewiggestrigen oder Woke mit Gutmensch-Ideologie werden das nicht verknusen können. Andere wiederum, die mit objektiverer Brille auf die Sache blicken, werden – wenn sie vielleicht auch nicht alles teilen können – einiges verstehen. Lassen wir die von mir hochverehrte Gabriele Krone-Schmalz betreffs zu Worte kommen: „Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann“.

Ich freue mich jedenfalls bereits auf den dritten Band der Erinnerungen von Egon Krenz, der bis in die Gegenwart führt.

*Eingefügt am 19.01.2024

Egon Krenz

Gestaltung und Veränderung

Erinnerungen

472 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen

sofort lieferbar

Buch 26,– €

ISBN 978-3-360-02811-2

Egon Krenz (Autor, Hrsg.)

Egon Krenz (links). Foto: C. Stille

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Wir und die Russen« (2019) und »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (mit Friedrich Wolff, 2021).

Stellungnahme der IALANA zur Lieferung von Streumunition an die Ukraine

Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, hat am 8. Juli 2023 der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass US-Präsident Joe Biden trotz Bedenken und nach langem Zögern entschieden habe, die Ukraine durch Lieferung von Streumunition zu unterstützen. Die US-Regierung sei sich des Risikos bewusst, dass Zivilisten durch nicht explodierende Munition zu Schaden kommen. Es bestehe jedoch auch ein großes Risiko, wenn russisches Militär weiteres ukrainisches Staatsgebiet erobere und ukrainische Zivilisten unterwerfe. Zur Verteidigung brauche die Ukraine dringend weitere Artilleriemunition. Biden selbst betonte, der Schritt sei mit dem US-Kongress und den Verbündeten abgesprochen.

Streumunition ist durch das am 1. 8. 2010 in Kraft getretene Übereinkommen zum Verbot von Streumunition von zahlreichen Staaten völkerrechtlich geächtet. Dieser völkerrechtliche Vertrag hat inzwischen 111 Mitgliedsstaaten. Weitere 13 haben unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Die hauptsächlichen Erzeuger- und Verwender-Nationen USA, Russland, China und Israel gehören dem Vertragswerk nicht an. Die Ukraine zählt ebenfalls zu der Gruppe der Staaten, die diesem Übereinkommen nicht beigetreten ist. Weil eine einheitliche Staatenpraxis und auch die übereinstimmende Rechtsüberzeugung der Staaten fehlen, ist derzeit ausgeschlossen, dass das Übereinkommen zum Verbot von Streubomben zum Völkergewohnheitsrecht und damit für alle Staaten verbindlich geworden ist. Die Lieferung der Streumunition durch die USA in die Ukraine verstößt daher nicht gegen das Übereinkommen zum Verbot von Streumunition.

Trotzdem bleibt der Einsatz von Streumunition weiterhin sehr problematisch. In dem Gutachten vom 8. 7. 1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) unter Ziffer 95 festgestellt, dass nach den Prinzipien und Regeln des für den bewaffneten Konflikt verbindlichen humanitären Völkerrechts Methoden und Mittel der Kriegsführung verboten sind, die jede Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen ausschließen. Unter Ziffer 78 beschreibt der IGH dieses Prinzip als eins der „kardinalen Prinzipien“ des humanitären Völkerrechts, wonach Staaten „niemals Waffen einsetzen dürfen, die nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden können.“ Das ist aber bei der Streumunition der Fall, weil sie einerseits beim Einsatz streut – also nicht präzise eingesetzt werden kann – und andererseits ein Teil der Submunition nicht explodiert, und somit zu Landminen wird, die nach Ende der Kampfhandlungen jahrelang eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen. Diese Eigenschaften von Streumunition machen deren Einsatz in der Regel unverhältnismäßig.

Wenn die Bundesregierung – wie die Erklärung von US-Präsident Biden vermuten lässt – der Lieferung der Streumunition ausdrücklich zugestimmt hat, hätte Deutschland als Mitgliedsstaat gegen seine Staatenverpflichtung aus dem Übereinkommen zum Verbot von Streumunition verstoßen. Denn mit Art. 1 Abs. 1c des Übereinkommens hat sich Deutschland verpflichtet niemanden beim Transport oder Einsatz von Streubomben zu unterstützen. In der Zustimmung könnte nicht nur eine verbotene Unterstützung der USA, sondern auch die innerstaatlich strafbare Förderung der Lieferung nach §§ 18a, 20a des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KWKG) liegen.

Schwerwiegender ist, wenn der Transport der Streumunition aus den USA über deutsches Staatsgebiet erfolgt. Das ist höchstwahrscheinlich der Fall, weil es sowohl beim Seetransport als auch auf dem Luftweg der kürzeste Weg wäre. In diesen Fällen könnten die USA die Streumunition nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der Bundesregierung transportieren. Für ihre Transport-Flugzeuge benötigte sie Überfluggenehmigungen Deutschlands, für Zwischenlandungen auf US-Stützpunkten in Deutschland Lande- und Starterlaubnis. Diese Erlaubnis darf die Bundesregierung nicht erteilen, weil Deutschland sonst gegen seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zum Verbot der Streumunition verstoßen würde. Werden die Genehmigungen erteilt, sind die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, weil nach §§ 18a, 20a KWKG die Durchführung der Streumunition durch das Bundesgebiet strafrechtlich verboten ist.

Die Verbote nach dem humanitären Völkerrecht, nach dem Übereinkommen zum Verbot der Streumunition und nach §§ 18a, 20a KWKG verlieren ihre rechtliche Verbindlichkeit nicht durch den Verteidigungsstatus der Ukraine als völkerrechtwidrig angegriffener Staat. Der IGH hat in seinem Gutachten festgestellt, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden“. Verteidigen dürfen sich Staaten nur mit Waffen, welche die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts erfüllen (Ziff. 42). Die Verteidigung mit unterschiedslos auch gegen Zivilisten wirkende Waffen ist wegen Verstoßes gegen das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem humanitären Völkerrecht rechtswidrig. Somit verstoßen sowohl das angreifende Russland als auch die sich verteidigende Ukraine durch den Einsatz von Streumunition gegen das Völkerrecht.

Deutschland ist durch Art. 21 Abs. 2 des Übereinkommens zum Verbot von Streumunition verpflichtet, die Normen, die darin niedergelegt sind, zu fördern und sich nach besten Kräften zu bemühen, „Staaten, die nicht Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind, vom Einsatz von Streumunition abzubringen.“ Das bedeutet, dass die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet ist, den USA bei der Lieferung und der Ukraine beim Einsatz von Streumunition „in den Arm zu fallen“.

Download der Stellungnahme als pdf

Warum nicht einfach das Grundgesetz nach Artikel 146 GG zur Verfassung erheben? Ralph Boes erklärt bei KAISER TV wie das gehen soll

Meine Vorbemerkung:

Viele Länder dürften uns um unser Grundgesetz beneiden. Es ist von deren Müttern und Vätern mit Bedacht gründlich ausformuliert worden. Den Hintergrund dafür kennen wir: Das Dritte Reich, faschistische Hitlerdeutschland, das mit dem Zweiten Weltkrieg eine unfassbare Katastrophe angerichtet hat. Eine nicht unberechtigte Kritik wird zuweilen am Grundgesetz geübt: Es sei keine Verfassung. Das ist richtig.

Im Grundgesetz, Artikel 146 ist festgelegt:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Genau dies jedoch ist mit der sogenannten Wiedervereinigung 1990 aber verabsäumt worden. Der Artikel 146 GG konnte nicht durchgesetzt werden. Stattdessen geschah ein Anschluss der DDR an die BRD: Die DDR trat der BRD nach Artikel 23 GG bei. Es gibt Kreise, die das heute noch kritisieren und nach einer verfassungsgebenden Verfassung – einer neu zu schreibenden Verfassung – rufen. Das mag verständlich klingen, ist aber auch ein schwieriges, bis kritisch zu sehendes Unterfangen.

Der Verein „Unsere Verfassung“ hat dies bedacht und sich zu Folgendem entschlossen: Warum eigentlich nicht das Grundgesetz einfach zu Verfassung erheben?

Hierzu führt der Verein aus:

„Wir leben in einem Staat, in dem sich die Politiker zwar ständig auf das „Grundgesetz“ berufen, in dem die wesentlichsten Grundsätze und Fragen der Demokratie und des Grundgesetzes aber immer mehr außer Acht gelassen werden.

Entfesselte Geld- und Wirtschaftsmächte haben unsere Politik „von oben her“ im Griff. Der Schutz der Grundrechte, soziale Innovation und alles was „von unten“ kommt, wird „von oben her“ blockiert.

Wie schaffen wir es, die heillose Übermacht der Wirtschafts- und der Geldmarktmächte zu brechen? Wie schaffen wir es, wirklich demokratische Strukturen herzustellen und Deutschland endlich so einzurichten, wie es dem Grundgesetz entspricht? Eine Diskussion darüber wäre schon lohnenswert, finde ich.

Unser Grundgesetz ist keine Verfassung! Weil es nicht vom Volk entschieden worden ist. Entsprechend heißt es im letzten Artikel des Grundgesetzes:
„Dieses Grundgesetz … verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ (Grundgesetz, Artikel 146)
  Wie wäre es, das Grundgesetz zur Verfassung zu erheben? Die Volksabstimmung über das Grundgesetz endlich nachzuholen – dass wir es ganz besitzen und man es nicht mehr ignorieren kann?
 
Wie wäre es, dabei mit abzustimmen, dass ab sofort WIR der Souverän über alle politischen Entscheidungen – über die Entscheidungen auf Landes- und auf Bundesebene und über die Verfassung – sind?

Den Regierenden wird das zunächst missfallen. Zu viele Gründe sprechen aus ihrer Sicht zunächst dagegen. Doch einer Verfassungsbewegung durch das Volk können sie sich am Ende nicht erwehren. 

Wir schlagen deshalb vor,

eine Volksabstimmung mit folgendem Inhalt durchzuführen:

– Ich stimme zu, unser Grundgesetz nach Artikel 146 GG zur Verfassung
  der BRD zu erheben.

– Ich stimme zu, das Recht auf Volksabstimmung vollumfänglich in der
  Verfassung zu verankern.

– Ich stimme zu, dass über die Inhalte der Verfassung nur per Volksab-
  stimmung entschieden werden kann.

Dies selbst-organisiert und außerhalb der „Politik“.

Da wir das Grundgesetz selbst zur Verfassung erheben, zerstören wir so nicht die staatliche Ordnung, übernehmen aber endlich die von Beginn an zugesicherte Rolle des Souveräns im Staat („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) – 

und können DANACH der Politik die Richtung weisen,
die sie DURCH UNS
erhalten soll.“

Quelle: Verein „Unsere Verfassung“

Kürzlich sprach Gunnar Kaiser (KAISER TV) über dieses Projekt mit Ralph Boes:

„Mit dem Philosophen und Menschenrechtler Ralph Boes habe ich über das Ansinnen des Vereins „Unsere Verfassung e. V.“ gesprochen. – Ist das Grundgesetz eine Verfassung? –

Worin bestand die Absicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes? – Ist das Grundgesetz überholt? – Wo missachten Politiker unser Grundgesetz? – Was bringt es, das Grundgesetz zur Verfassung zu erheben? – Verfassungsgebende vs. verfassungsklärende Versammlung – Ist die Fokussierung auf die Verfassung ein nationalstaatliches Projekt? Was ist mit Europa? – Wie kann eine Abstimmung über das Grundgesetz technisch und organisatorisch ablaufen? – Sollen Volksabstimmungen Bestandteil einer neuen Verfassung sein?“

Quelle: Text zum Video von KAISER TV/You Tube

Hier und hier noch zwei ältere Artikel aus meinem Blog zu bisherigen Aktionen von Ralph Boes

„Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung“ von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld – Rezension

Dreißig Jahre Wiedervereinigung. Mag feiern wer will. Das bleibt allen unbenommen. Doch weil – zumindest bei mir – bei dem dem Gedanken feiern zu sollen, ein bitterer Beigeschmack aus meinem Inneren aufsteigt, neige ich mehr die Betrachtung des Journalisten Ralph T. Niemeyer für diesen Tag als passend zu erachten. Nämlich von einer „Niedervereinigung“ zu sprechen und so eine differenzierende Sicht kundzutun. Niemeyer, der bei der historischen Pressekonferenz von Schabowski dabei gewesen war, als die Grenzöffnung bekanntgegeben wurde, postete sie am 3. Oktober 2020:

Die DDR war so, daß ich der erste gewesen wäre, der in ihr sie kritisiert hätte. Sie war aber auch von der Art, daß ich der erste sein will, der sie nun, 30 Jahre nach ihrem Ende, verteidigt. Verteidigt gegen all diejenigen Westdeutschen, welche in der DDR die letzten gewesen wären, die sie kritisiert hätten. Niedervereinigung oder Einverstanden mit Ruinen….das war die Frage. Die Wiedervereinigung war der Umtausch guter Realitäten in bessere Möglichkeiten. Die Wiedervereinigung war für nicht wenige der Umtausch real existierender Unmöglichkeiten gegen nicht existierende Möglichkeiten. Die Ostdeutschen haben Freiheit gewollt und Freizeit bekommen. Manche zuviel. Der Traum von der unerreichbaren Geliebten Freiheit hätte, wie alle Träume von Geliebten, auch für die Ostdeutschen vielleicht besser nicht wahr werden sollen. Als die DDRler ihre Traumfrau Marktwirtschaft zur Frau bekamen, mussten sie dafür auch die Schwiegermutter Kapitalismus in Kauf nehmen. Als die Ostler ihre Mutti DDR gegen ihre Geliebte BRD eintauschten, mussten sie die übliche Erfahrung machen, daß die Geliebte als Mutti meist nicht so gut ist. Nach dem Fall der Mauer wurde aus dem Rechtsstaat Bundesrepublik ein Staat der immer recht hat. Die DDR, sagen ihre Kritiker, sei ein Unrechtsstaat gewesen. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik kam dann ein Rechtsruck. Die Wiedervereinigung war der Umtausch zahlloser Rechte, die man nicht einklagen konnte, gegen zahllose Rechte, die man einklagen muß. Unter den vielen Rechten, die die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung bekamen ist besonders das Recht des Stärkeren hervorzuheben. Zu den vielen neuen Rechten, die die Ostdeutschen bekamen, kamen dann noch die neuen Rechten hinzu. Ein Grund, weshalb die DDR untergegangen ist : weil sie ausgerechnet bei der Zahl der Fernsehapparate mit der Bundesrepublik mithalten wollte und es auch geschafft hat. Nach der sanften östlichen Revolution, die zum Untergang der DDR führte, kam die brutale westliche Revolution die die Fortsetzung der ersteren mit anderen Mitteln war. Die Fernsehsendungen über die DDR gleichen seit Ende der DDR auf überraschende Weise denen der DDR über die BRD. Als die DDR zu existieren aufhörte, wurde die BRD für die DDRler erstmals zu einer real-existierenden. Der Untergang der DDR hat bewiesen, daß die Macht des Fernsehapparates der des Unterdrückungsapparates überlegen ist. Wenn ich Ostdeutscher wäre, würde mich das am meisten ankotzen, was „verständnisvolle“ Westler bisweilen vorbringen : zB das Bedauern über die 40 Jahre verschenktes Leben. Vielleicht besser als 40 Jahre verkauftes Leben. Das Geschwätz von der Mauer im Kopf wird von denen im Westen gepflegt, die genau wissen, daß das, was sie an denen im Osten am meisten stört, das ist, was ganz tief ihr eigenes Wesen ausmacht. So wie man sich mit seinen Kindern am meisten in den Zusammenhängen streitet, in denen man einander ähnelt. Den berufstätigen Frauen im Osten wurde im Laufe der Wiedervereinigung gezeigt, was eine Harke ist oder auch ein Kochlöffel. Die ostdeutschen Frauen, die sich für emanzipiert gehalten haben, haben von den westdeutschen Feministinnen lernen müssen, daß Emanzipation nicht darin besteht, Lehrer oder Ingenieur zu sein, sondern darin, ob man Lehrer oder Lehrerin ist. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist auch ein Beleg für die Überlegenheit der grünen Tische über die runden Tische. Es hätte mich nicht gewundert, wenn irgendwann von westdeutscher Seite Unterlagen präsentiert worden wären, die bewiesen hätten, daß die meisten östlichen Antifaschisten gedopt worden waren. Und dann die so genannte Treuhand: welch eine surreale Systemkonstellation: eine zentralistische Planwirtschaft wird von einer zentralistisch – planwirtschaftlichen Organisation nach frühkapitalistischen Prinzipien verhökert, an denen das marktwirtschaftliche die Betrügereien sind. Leider waren die Verkäufer der Treuhand viel schlechtere Kapitalisten als die Käufer. Das System der Treuhand war bestechend einfach. Oder umgekehrt. In nicht wenigen Fällen funktionierte es so: Der Käufer wurde durch die Zusage staatlicher Unterstützungen bestochen, eine Firma zu kaufen, wobei ihm die Grundstücke dazu geschenkt wurden. Der Käufer nahm einen Kredit auf die Immobilie auf, ließ die Firma pleite gehen und gründete im Westen eine neue Firma. Die Bestechungsgelder, die dabei nicht geflossen waren, nahmen dann einige Mitarbeiter, um sich dafür zu belohnen, daß sie sich nicht bestechen haben lassen. In 50 Jahren wird das so treuherzig klingende Wort „Treuhand“ einmal denselben höhnischen Klang haben, wie das Wort vom guten Tod, Euthanasie. In 20 Jahren wird man im Osten von Erich Honecker und Walter Ulbricht so sprechen, wie bei uns früher die alten Leute vom Kaiser. Die Wende : vom historischen zum real-existierenden Materialismus, von der Postmoderne zum modernen Postwesen….Also dann, heben wir unser Glas und trinken auf die deutsche Niedervereingung.“

Passend zu diesem, gefeierten oder nicht gefeierten, in jedem Falle aber historischen Tag legte der Westend Verlag das Buch „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung“ von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld vor. Darin zwei großartige Autoren. Ein besseres Gespann hätte – jedenfalls ich – mir nicht wünschen können, um dieses Thema entsprechend zu analysieren bzw. zu würdigen.

Die inzwischen renommierte Essayistin und Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR ist sich immer treu geblieben, indem sie kritisierte was zu kritisieren ist. Und zwar sowohl in der DDR wie später dann auch im zusammengefügten Deutschland. Schon früh – 1981 nämlich – spürte die einstige Redakteurin des DDR-Fernsehens, dass sie als Journalistin diesen Spagat zwischen SED-Ideologie und dem Ist-Zustand der Gesellschaft mit kritikwürdigen Erscheinungen, die aber hinsichtlich einer journalistischen Bearbeitung nur irgendwie zwischen den Zeilen – wenn überhaupt – weil mit Tabus belegt – gezeichnet werden durften, auf Dauer nicht aushalten würde. So arbeitete sie fortan freischaffend. Nach der Wende arbeitete sie auch für Westzeitungen. Und musste feststellen, dass dort die journalistische Arbeit gar nicht so frei war, wie sie eigentlich gedacht hatte. Ich schätze an Dahn sehr, dass sie sich stets treu geblieben ist und gemäß Rudolf Augsteins bekanntem Diktum sagt, was ist. Von vielen einstigen DDR-Bürgerrechtlern, die sich dem Westsystem gut angepasst – sich haben rundlutschen lassen – ist nicht zu sagen, dass sie sich treu geblieben sind. Daniela Dahn erwähnt ein paar Mal im Buch Bärbel Bohley, die vor den Gefahren, vom Wege abgebracht zu werden bwz. abzukommen sozusagen stets wie eine Kassandra gewarnt hatte. Und recht behalten hat, wie Daniela Dahn – die derlei einst selbst nicht für möglich gehalten hatte – freimütig eingesteht. In mehreren Büchern hat sich Daniela Dahn mit der sogenannten Wende und der Zeit danach intensiv auseinandergesetzt. Zuletzt in „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.

Wenn Sie erlauben, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich hier eingedenk der Erfahrungen, welche Daniela Dahn gemacht hat einschieben:

Ich kann das sehr gut nachfühlen. In den 1980er Jahren arbeitete ich an einem Theater. Ehrenamtlich schrieb ich als „Volkskorrespondent“ (Anmerkung: Wessis verstehen diesen Begriff meist nicht. Sie verstehen falsch als völkisch und denken dann, das wäre rechts – sei es drum) für das SED-Bezirksblatt „Freiheit“ und andere Organe der Blockparteien. Eines Tages bekam ich von meinem Lokalredakteur das Angebot, eine Fachschulausbildung zum Diplomjournalisten zu machen. Zunächst war ich aus dem Häuschen: War es das nicht immer, was ich gewollt hatte – hauptamtlich als Journalist zu arbeiten? Aber dann quälte ich mich mehrere Wochen, bis ich dann schweren Herzens absagte. Ich hätte ja der SED beitreten sollen (müssen). Und dann wäre ich ja den ideologischen Zwängen in der Redaktion ausgesetzt gewesen. Freilich hätte es Nischen in der Lokalberichterstattung gegeben. Nachdem ich dann im November 1989 – über Ungarn in die BRD gekommen – mit Freunden auf der Festung Ehrenbreitstein über dem Deutschen Eck beim Kaffee saß, schrieb ich eine Ansichtskarte an meine alte Lokalredaktion in Halle. Ich beglückwünschte die hauptamtlichen Redakteure dazu, nun frei berichten zu können. Heute schäme ich mich dafür. Denn auch auch im Westen sind die wenigsten Journalisten frei in ihrer Berichterstattung. Wenn auch die Zwänge, welchen sie bewusst oder unbewusst unterworfen sind, andere sind als in der DDR.

Dahns Partner im Buch, Prof. Dr. Rainer Mausfeld, hatte an der Universität Kiel bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Wahrnehmung- und Kognitionsforschung inne. Mausfeld war einem durch seinen 2015 gehaltenen und auf You Tube veröffentlichten, hunderttausendfach gesehenen Vortrag „Warum schweigen die Lämmer“ einem breiten Publikum bekannt geworden. Dazu auch meine Rezension des gleichnamigem, beim Westend Verlag erschienenen Buches.

Die nicht geringe Zeitspanne von dreißig Jahren ist dazu geeignet, dass wir Menschen – die wir heutzutage ohnehin eine immer unermesslichere Flut von Informationen aus allen möglich Ecken und allen möglichen elektronischen Geräten erhalten, ohne, dass wir sie je ordentlich verarbeiten könnten – zu Vergesslichkeit neigen bzw. im Nachhinein manches anders oder gar rosiger sehen, als in Wahrheit gewesen ist.

Daniela Dahn ist es zu danken, dass sie in dem von ihr verantworteten Teil des Buches unsere Erinnerungen an die Zeit der Wende und des ihr folgenden Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik Deutschland noch einmal mit unumstößlichen Fakten – die mehr oder weniger verschüttet waren – und benannten Quellen ordentlich auffrischt. So wird ziemlich rasch klar, was aus dem Inhalt des Buches in der Buchinnenseite zitiert wird:

„Die Mär, wonach im März 1990 so gut wie alle DDR-Bürger so schnell wie möglich mit Westgeld im blühenden Westgarten leben wollten, stimmte schon vor der Wahl (Anmerkung C.S. 1990) nicht, das Wahlergebnis entsprach ihr nicht und die Folgen der Wahl erfüllten solche Hoffnungen nicht. Und dennoch hat sie sich bis heute gehalten.

Der eigentliche Wunsch bestand bis zuletzt darin, Eigenes in die Einheit einzubringen. Der Meinungsumschwung war einem Diktat aus Desinformation, Zermürbung und Erpressung geschuldet. Der Kampf um Mehrheiten hatt der Mehrheit geschadet. Sie war einer Pseudo-Entscheidung zwischen zahlungsunfähiger Wirtschaft und dem Heilsversprechen der D-Mark ausgesetzt worden. Die Leute glaubten, um ihren Besitzstand zu wahren, sei es erst einmal das Beste, die Kräfte des Geldes zu wählen. Sie lieferten sich den Finanzstarken aus, in der Hoffnung, dadurch selbst stark zu werden. Sie wollten das Kapital und wählten die Kapitulation.“

Die Einschätzung, dass das Jahr 1990 eine „einzigartige Chancen bot – sowohl für eine internationale Friedensordnung wie auch für eine erneuerte Demokratie, die dann diesen Namen verdiente“, wie die Autoren in ihrer „Einstimmung“ (S.8) schreiben, ist voll zu unterschreiben. Nur sollten wir heute wissen: Wir haben es versemmelt. Dahn und Mausfeld weiter: „Heute wissen wir, dass diese Chancen aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner gezielt blockiert und somit verspielt wurden. Warum war dies, entgegen den großen Hoffnungen der Bevölkerung, so leicht?“

In David Hume finden sie eine Antwort: „Die Leichtigkeit“, schreiben Dahn und Mausfeld, „mit der eine kleine Minderheit von Besitzenden über eine großen Mehrheit von Nichtbesitzenden ausüben kann, gleiche einem ‚Wunderwerk‘, bemerkte zur Zeit der Aufklärung der große schottische Philosoph David Hume.“

Hume habe auch erkannt, es käme nicht „auf die rein physische Macht, die es auf den Körper abgesehen hat, sondern auf die Formen der Macht, die auf die Psyche zielen“ an. „Wer über Mittel verfügt, mit denen sich auf der Klaviatur des menschlichen Geistes so spielen lässt, dass Meinungen und Affekte in geeigneter Weise gesteuert werden können, verfügt über einen Einfluss, der kaum noch als Macht erkennbar ist und gerade darum eine besondere Wirksamkeit entfalten kann.“

Wir erfahren also im Buch, „wie sich Menschen in ihrer gesellschaftlichen Willensbildung beeinflussen lassen“. Dasselbe trifft auf Produktewerbung zu. Da wird der potentielle Konsument geschickt verführt. Die wenigsten würden zugeben, dass sich deshalb für eine bestimmtes Produkt entschieden haben. Interessant dieser Satz (S.8 ff): „Zumal es historische Situationen wie den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gibt, in denen diese Probleme besonders grell aufleuchten und so weitere aufschlussreiche Details über Machttechniken erkennbar werden, durch die sich die ‚verwirrte Herde auf Kurs halten lässt‘. „Mit diesen Worten beschrieb schon vor einem Jahrhundert der einflussreiche politische Intellektuelle Walter Lippmann die zentrale Herausforderung für die Elten in einer – von ihm angestrebten – sogenannten ‚Elitendemokratie‘. Heute ist die Elitendemokratie das Standartmodelll kapitalistischer Demokratien.“ (Zu Walter Lippmann hier)

Weiter schreiben die Autoren in ihrer Einstimmung: „Im Verlauf der Ereignisse von 1989/90 gelang es, die Stimmung eines Großteils der DDR-Bevölkerung in wenigen Wochen in die vom Westen gewünschte Richtung zu lenken.“ Wie das im Einzelnen geschah, das hat Daniela Dahn ab S.14 im Kapitel „Volkslektüre. Eine Presseschau“. Lesen, unbedingt lesen, lieber Leserinnen und Leser! Da wurde die alte DDR-Führung mehr oder weniger geschickt diffamiert. Da wurde dann schon einmal gelogen. Nur ein Beispiel aus dem Spiegel auf S.21. Das (inzwischen) ehemalige Nachrichtenmagazin „gibt vor zu wissen, Honecker sei ‚Eigner von vierzehn Luxuskarossen‘ gewesen. In Wahrheit“, so rückt Daniela Dahn es gerade, „besaß der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende privat nicht ein Autor. Da hätte auch gar keinen Sinn ergeben, waren doch die sich selbst ghettosierenden Spitzenfunktionäre aus Sicherheitsgründen nur im Dienstwagen mit Fahrer unterwegs. Ob Honecker in seinem Jagdrevier auf mal in Margots Wartburg durch den Wald preschen durfte, ist nicht überliefert.“

So wird die DDR – wie es dann später ein Justizminister namens Klaus Kinkel fordern würde – damals delegitimiert bis in die Zehenspitzen und Dreck beworfen, dass es nur so spritzte. Wer schmeißt denn da mit Lehm, sang in in der Nazizeit Claire Waldoff, der sollte sich was schä’m!“ Immerhin, so erinnert uns Daniela Dahn, ermahnt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker „als Erster die westdeutsche Publizistik, sie solle die Vorgänge in der DDR ’nicht für hiesige Zwecke instrumentalisieren‘.“

„Die hiesigen Zwecke sind für die Konservativen der Erhalt und die Festigung des Statur quo in der BRD.“ (S.39)

Vergebliche Ermahnungen: man tat freilich weiter. Kohl nutzte seine ihm in den Schoss gefallene Chance koste es was es wolle. „Die Birne“, wie er seinerzeit genannt wurde, wäre nämlich ohne den Fall der DDR weg vom Fenster gewesen. Riesige Summen ließ er einsetzen, damit die Menschen in der DDR so wählten, wie es ihm passte. Propaganda- und Fahnenmaterial wurde in die strauchelnde DDR gekarrt. Den Slogan „Wir sind das Volk“ wurde in „Wir sind ein Volk“ gedreht. Heute würde man das Ganze wohl Nudging nennen – die DDR-Menschen wurden dahin geschubst, wohin man sie haben wollte.

Auch das macht Daniela Dahn klar: Es gab durchaus auch kritische Medien in der Noch-DDR. Doch wurden diese kaum noch gelesen. Alles wurde von Westpresse überschwemmt, Verlage aufgekauft und so weiter.

Es ist den Leserinnen und Lesern wirklich zu empfehlen, das akribisch zusammengetragene und Daniela Dahn für das Buch aufbereitete Material mit den dazu gehörigen Stimmen und Quellen sehr gründlich zu studieren und zu verinnerlichen. Auch das Kapitel „Die Währungsunion war organisierte Verantwortungslosigkeit“ (S.89) ist unverzichtbar und für ganze weiter erfolgte Entwicklung exorbitant wichtig. Wer dies alles sich zu Gemüte führt, wird anlässlich des Einheitsfeiertags nicht leicht in Euphorie verfallen oder gar in Jubel ausbrechen. Langsam, Buchseite für Buchseite lupft Daniela Dahn die über die ganzen wenig rühmlichen, in den Zeiten von Wende und DDR-Anschluss begangenen Missetaten gekippte süße, schleimige Friede-Freude-Eierkuchen-Einheitssoße an. Und manch übler Dunst steigt da aus dem damit ab- zugekippten Kladderadatsch auf.

Auch das Treiben der Treuhand, die betreffs ihres Tuns dieser Bezeichung hohnsprach, wird von Daniela Dahn beackert und bis in die dunklen Seiten hinein beleuchtet.

Wir sollten uns erinnern, möchte ich hier zu diesem Thema einwerfen: Der Schriftsteller Rolf Hochhuth, der das Stück „Wessis in Weimar“ geschrieben hatte, schrieb rückblickend von einer „brutalen Enteignung der Ostdeutschen“ und einem „Gewaltakt namens Wiedervereinigung“. Es dürfte die größte Enteígnung gewesen sein, die die Welt je gesehen hat.

Wie die Willensbildung der DDR-Bürger beeinflusst wurde, zu erklären – um nicht zu sagen: darzulegen, wie sie sozusagen hinter die Fichte geführt wurden -, ist die ureigenste Aufgabe des Wahrnehmungs- und Kognitionsforschers Prof. Dr. Rainer Mausfeld im vorliegenden Buch. Im Kapitel „Wende wohin? Die Realität hinter der Rhetorik“ ab Seite 102 beschönigt er freilich nichts. Dennoch postuliert er: „Das Schweigen der Lämmer ist kein unabwendbares Schicksal.“ Aber müssen wir ehrlichkeitshalber hinzusetzen: Aber nicht mit einem Federwisch zu machen.

Mausfeld: „1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen. Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft aufgekündigt und sich neue gesucht, die seine Vertreibung ins Paradies, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten.“

Rainer Mausfeld spricht Wichtiges bis ins Heute an, wo doch eine Krise nach der anderen allmählich zu explodieren droht: „Die Frage, die wir uns stellen müssen ist also: Warum sind wir so blind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltgewaltordnung? Das Erfolgsrezept des Kapitalismus ist seit jeher, dass er uns zu einem Teufelspakt verführen will, er verspricht uns immerwährenden Fortschritt und eine kontinuierliche Verbesserung unserer Lebensstandards und sorgt zugleich dafür, dass wir unfähig sind, den dafür zu entrichtenden Preis überhaupt erkennen zu können.“

Daniela Dahn wiederum fragt im Kapitel „Ein Luxus anderer Art. Was bedeutet die Forderung nach einem Systemwechsel? (S.118). Und sie erkennt (S.123): „Frei (und demnach revolutionär) ist, wer das als falsch Erkannte umzukehren vermag.“ Aber muss auch einsehen: „Recht und Staat sind praktischerweise so konstruiert, dass sie die herrschende, angeblich nicht verfehlte, sondern fortschrittliche Funktionslogik in Gang halt.“ Dahn führt Kurt Tucholsky: Politik ist die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen mit Hilfe der Gesetzgebung.“

Dahn schließt das Kapitel so: „Den eigentlich verbotenen politischen Streik hat ‚Fridays for Future‘ schon erprobt. Die Gemeinnützigkeit wird sich die globalisierungskritische Attac-Bewegung nicht nehmen lassen. Ist so etwas wie Generalstreiks wieder zeitgemäß? Wie schützt man soziale Revolutionen vor finanzierten und manipulierten Putschen und Umstürzen?

Die Verheißungen eines Systemwechsel, aber auch die Widerstände dagegen bewusster zu machen, hat letztlich einen Zweck: uns die Erfahrungen eines weiteren, folgenreichen Scheiterns zu ersparen. Denn dann wird die Erde sinken und verbrennen.“

Das keinen Moment langweilige Buch geht aus mit einem hochinteressanten Gespräch der beiden Autoren Daniela Dahn und Rainer Mausfeld. Insgesamt fünf Gespräche in Form einer fortgesetzten Telefonkonferenz als Anmerkungen und weiterführende Betrachtungen zu den vorhergehenden Texten. (S.136)

Rainer Mausfeld sagt unter der Überschrift „Wie sich die verwirrte Herde auf Kurs halten lässt.“

„… was sich dazu sagen lässt, ist leider weniger erbaulich. Der Westen verfügt über eine einzigartiges Arsenal höchst raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden. Das wird seit mehr als hundert Jahren mit großen Forschungsanstrengungen und verfeinert. In diesen psychologischen Techniken einer Bevölkerungskontrolle hat der Westen gegenüber dem Osten einen kaum vorstellbaren Forschungsvorsprung.: Kapitalistische Demokratien sind, wie man schon früh erkannte, wegen der freien Wahlen darauf angewiesen, bei den Wählern den Eindruck völliger Freiheit aufrechtzuerhalten und zugleich sicherzustellen, dass diese so wählen, wie sie wählen sollen. Das ist machtechnologisch nur mit höchstem Aufwand zu bewältigen.“

Ab S.149 ein weiteres wichtiges Thema im Gespräch: „Wendevorgänge und manipulierte Geschichtsschreibung über die DDR“! Wie funktionierte das? Daniela Dahn: „Wer die Gegenwart Gegenwart kontrolliert, kontrolliert auch die Vergangenheit.“

Zu „Was sind freie Wahlen?“ (S.174) äußerte im Gespräch: „… das bringt mich noch einmal zu ihrer Presseschau der ‚Volkslektüre‘ zurück. Der empörendste Befunde ist eigentlich die siegestrunkene Hemmungslosigkeit, mit der eine frei Meinungsbildung der DDR-Bevölkerung behindert und blockiert wurde. Ganz ungeniert und offen wurde hier von außen massive Wahlbeeinflussung betrieben. Es lohnt sich das Ausmaß dieser Wahlbeeinflussung in Relation zu jüngeren tatsächlichen oder vorgeblichen Versuchen einer von außen kommenden Beeinflussung demokratischer Wahlen zu setzen, die im Westen größte Empörungen ausgelöst haben. Größer kann Heuchelei wohl nicht sein.“

Das fünfte Gespräche geht „Über die Hoffnung auf eine Wende, die den Namen verdient“. Rainer Mausfeld spricht über den „Systemwechsel als Umkehrung des Ausgangspunktes“ (S.187), ein Zitat von Ernst-Wolfgang Bockenförde, welches Daniela Dahn betreffs der berechtigen Frage der Notwendigkeit eines Systemwechsels angeführt hat.

Und Daniela Dahn erkennt, dass für die Notwendigkeit dieses Wechsels inzwischen viele gut begründete Wortmeldungen gebe. Selbst von Konservativen, „die sich in faschistoide Verhältnisse befürchten.“

Im Abschnitt „Hat das Virus die Demokratie befallen?“ (S.193) sagen die Autoren: „Wenn es in diesem Buch um das Tamtam massenhafter Beeinflussung von Meinungen ging und um das Tabuisierten unerwünschten Widerspruchs, dann kommen wir am Ende an einem aktuellen Bezug nicht vorbei – die Corona-Krise.“

Daniela Dahn: „Ich unterstelle zunächst keinerlei Absichten. Das Virus war da, die Wirkung blieb nicht aus. Nun ist es interessant, wie die einzelnen Akteure mit der Situation umgegehen. (…) Ich mische mich nicht in die innen Angelegenheit der Medizin ein. Aber als Publizistin können mir grobe Nachlässigkeiten, Widersprüche und Unterlassungen in der Argumentation nicht entgehen.“

Und Rainer Mausfeld hat richtig ausgemacht: „Die Corona-Krise ist ja tatsächlich eine Multi-Krise. In ihr kreuzen und verbinden sich sehr unterschiedliche Krisen, die bereits länger erwartet wurden. Dazu gehört auch eine Systemkrise des globalisierten Finanzkapitalismus, die sich auch eine Systemkrise des globalisierten Finanzkapitalismus, die sich auf diese Weise fast unsichtbar gemacht hat und damit ihre Kosten wieder kurzerhand auf die Gemeinschaft umlegen kann. Covid-19 bringt lediglich wie eine Katalysator sehr grundlegende Probleme der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Vorschein.“

Zu Bedenken gibt Mausfeld indem er auf Thomas Pynchons Worte „Wenn sie es schaffen, dass du die falschen Fragen stellst, brauchen sie sich über die Antworten keine Sorgen zu machen.“ anspricht, dem er Recht gibt: „Unangemessene Vergleiche und unbegründete Spekulationen führten schon früh in der Corona-Krise zu falschen Fragen.“

Die Fragen jedoch, beklagt Rainer Mausfeld (S.208), die an die eigentlichen Wurzeln der Missstände gingen, seien im Lärm des medialen Tamtam kaum zu hören.

Stattdessen verzehrten sich die Energien berechtigter gesellschaftlicher Veränderungsbedürfnisse in Kämpfen einer gespaltenen Gesellschaft.

Mausfeld liegt damit richtig: „Damit ist jede Solidarität in der Spaltung verschwunden.“ Und resümiert: „Genau so funktioniert effiziente Stabilisierung von Macht.“

Und Daniela Dahn gibt zu bedenken: „Wenn die Menschheit nach den Erfahrungen mit dieser Pandemie nicht umdenkt, müsste man ihr diese Fähigkeit wohl absprechen. Ein Schluss – wert widerlegt zu werden.“

Was soll man noch hintanführen? Getroffen! Beide Autoren ins Schwarze. Lesen, lesen und andere ermuntern es das Buch zu lesen! Liebe Leserinnen und Leser führt euch auch die Faksimiles zu Gemüte von Zeitungsseiten und Texten aus der beschriebenen Zeit zu Gemüte. Damals gingen sie wohl an vielen Menschen vorbei. Und es wurde hingenommen. Heute können wir noch einmal genau hinschauen. Was glaubten wir damals selbst, als wir dergleichen lasen? Kommt vielleicht heute – mit dem Abstand zu damals und dem Wissen aus diesen wichtigen Buch von heute – dann doch etwas Scham auf?

Und, greife ich damit zu hoch? Egal: Ich wünschte, das Buch würde Schulstoff!

„30 Jahre Wiedervereinigung – ein Grund zum Feiern? Offensichtlich nicht für alle

1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern. Die renommierte Essayistin und Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge.
Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert. Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie. Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie.“

Leseprobe (via Westend Verlag)

Quelle: Westend Verlag

Daniela Dahn, Rainer Mausfeld

Tamtam und Tabu

Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung

Seitenzahl:192
Ausstattung:Klappenbroschur
Artikelnummer:9783864893131

18,00 Euro

Video zum Buch via Westend Verlag/You Tube

Lesen. Weitergeben! „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ – Rezension

Der Zustand der Beziehungen der gegenwärtigen BRD zu Russland ist als ziemlich schlecht und als über die Maßen bedenklich einzuschätzen. Matthias Platzeck (Vorsitzender des deutsch-russischen Forums) dazu kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (Dlf): „Die Beziehungen sind mehr als abgekühlt“.

Egon Bahr formulierte das Diktum „Wandel durch Annäherung“ und gab damit eine erfolgreiche Strategie vor

Doch bedenken tun das nur diejenigen bei uns, die sich unermüdlich für gute Beziehungen, Frieden und Freundschaft mit Russland einsetzen. Es sind wohl in der Mehrzahl Menschen, die das bereits früher getan haben als die Sowjetunion noch existierte. Ironie der Geschichte: Man muss sagen, dass die Beziehungen Westdeutschlands, der alten BRD, zu Hochzeiten des Kalten Kriegs zur damaligen Sowjetunion besser waren als gegenwärtig.

Zu verdanken waren die schrittweise ins Werk gesetzten Verbesserungen der Beziehungen Westdeutschland zur Sowjetunion einer politischen Strategie, die Egon Bahn in seiner Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963 unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ , formulierte. Das Diktum vom „Wandel durch Annäherung“ gilt als eines der „wichtigsten öffentlichen Ankündigungen eines Strategiewechsels in der westdeutschen Deutschland- und Wiedervereinigungspolitik während des Kalten Krieges“. Hier dazu mehr.

Matthias Platzeck immerhin gibt nicht auf. Im erwähnten Dlf-Interview sagte er kürzlich, nun müsse es darum gehen, wenigstens wieder mehr Berechenbarkeit hinzubekommen.

Ich selbst – man erlaube mir diesen kleinen Schlenker – verfolgte diese Politik im Sinne von „Wandel durch Annäherung“ seinerzeit hoch elektrisiert. Und zwar von DDR-Boden aus. Die schrittweisen Verbesserungen der Beziehungen Westdeutschland zur Sowjetunion, die auch auf die DDR ausstrahlten, waren damals quasi mit Händen zu greifen und Anlass zu großen Hoffnungen.

Und heute? Ein Scherbenhaufen! Das ziemlich zerstört, was Bahr, Brandt, Scheel mit viel Mühe zu Hochzeiten des Kalten Krieges ins Werk setzten und das sogar noch von Helmut Kohl weiter fortgesetzt worden war.

Das auf die falsche Fährte führende westliche Narrativ

Das westliche seitens Politik und von den Medien papageienhaft und unhinterfragte nachgeblökte wieder und wieder verstärkte, hauptsächliche Narrativ tönt inzwischen so: Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen Berlin – Moskau sei Russland selbst, das gegen das Völkerrecht verstoßen habe, indem es die Krim annektierte. Das diese Reaktion Wladimir Putins Auslösende, der vom Westen unterstützte Maidan-Putsch in Kiew, kommt in diesem Narrativ nicht vor.

Gute deutsch-russische Beziehungen liegen nicht im Interessen der Mächtigen in den USA

Die Ostpolitik Egon Bahrs und Willy Brandts, die enormen Anstrengungen, die seinerzeit die sozial-liberale Bundesregierung noch von Bonn aus unternahm – und die, wir heute – nicht zuletzt von Egon Bahr – wissen nur in Absprache mit den USA, gemacht werden konnten, können heutzutage nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor allem, wenn wir heute wissen, dass das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg war, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland stets zu torpedieren. Denn, so George Friedman (hier das entsprechende Video) vom US-Thinktank Stratfor, weil sie vereint die einzige Macht seien, die die USA bedrohen könnten. Einleuchtend: Deutschland verfügt über das nötige Knowhow, Russland über eine gewaltiges Reservoir an Bodenschätzen.

94 Prozent der Deutschen befürworten laut einer Umfrage gute Beziehungen zu Russland

Dass es trotzdem die russisch-deutschen Beziehungen auf einen Tiefpunkt angelangt (besser: sehenden Auges dahin gebracht wurden) hierzulande Persönlichkeiten gibt, die nicht ruhen, versuchen zu Kitten was es zu Kitten gibt, um diesen für beide Länder so wichtigen Beziehungen wieder zu einem Aufschwung zu verhelfen, ist aller Ehren wert. Nicht zu vergessen dabei: Wie eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Wiese Consult GmbH

zeigt, befürworten 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland, fast 90 Prozent wünschen sich eine von den USA eigenständige Außenpolitik. Die Mehrheit der Deutschen unterstützt somit die gegenwärtige Außenpolitik nicht.

Adelheid Bahr initiierte dankenswerterweise einen Aufruf für eine neue Friedenspolitik

Adelheid Bahr, die Witwe des 2015 verstorbenen Egon Bahr, hat es dankenswerterweise unternommen einen Aufruf für eine neue Friedenspolitik herauszugeben. Der Titel: „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ (erschienen bei Westend).

Warum? Weil die „aktuelle Politik der deutschen Regierung“ die Meinung der in der Umfrage zutage getretene „überwältigende Mehrheit“ der Deutschen , welche gute Beziehungen zu Russland wichtig finden, sträflich missachtet.

Versammelt in diesem Buch hat Adelheid Bahr Beiträge von Wolfgang Bittner, Peter Brandt, Mathias Bröckers, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann, Frank Elbe, Justus Frantz, Sigman Gabriel, Peter Gauweiler, Richard Kiessler, Gabriele Krone-Schmalz, Wolfgang Kubicki, Harald Kuja, Oskar Lafontaine, Albrecht Müller, Matthias Platzeck, Detlef Prinz, Herwig Roggemann, Florian Rötzer, Evgeniya Sayko, André Schmitz-Schwarzkopf, Hans-Joachim Spranger, Antje Vollmer, Konstantin Wecker, Willy Wimmer und last but not least selbstverständlich von Egon Bahr.

Das klug und weitsichtige Denken und Wirken Egon Bahrs

Hochinteressant ist es die Rede von Egon Bahr nachzulesen, die er 2015 anlässlich der Verleihung des Dr. Friedrich Joseph Haass-Preise gehalten hatte. Ein Schwerpunkt: Verantwortungspartnerschaft mit Moskau und Washington (ab S. 12).

Der Inhalt der Rede macht noch einmal klar, wie klug und weitsichtig Egon Bahr stets zu denken in der Lage war.

Nicht weniger bemerkenswert ist, was Egon Bahr zur Buchvorstellung des als erzkonservativ bekannten und über Jahrzehnte dementsprechend ideologisch auch gegen die Ostpolitik der sozial-liberalen Bundesregierung gewettert habenden CSU-Manns Wilfried Scharnagl, der einst Chefredakteur des Bayernkurier war, zu sagen hatte.

Bahr hatte, als er zur Buchvorstellung gebeten worden war, zunächst verständlicherweise ablehnend reagiert. Doch nachdem er erfuhr, dass Scharnagls Buch im Sinne hatte, nämlich die Beziehungen zu Russland wieder zu verbessern, war er sofort bereit zu dessen gemeinsamer Präsentation.

Wolfgang Bittner fragt: „„Was um Himmels willen treibt Deutschland gegen Russland?“

Unbedingt hinzuweisen ist auf den Buchbeitrag des Schriftstellers Wolfgang Bittner (S. 29ff). Unmissverständlich macht Bittner klar: „Russland gehört zur europäischen Familie“

Erschrocken hat den Schriftsteller die Frage „Was um Himmels willen treibt Deutschland gegen Russland?“ umgetrieben und offenbar tief emotional beschäftigt.

Gleich in der erste Zeile seine Beitrages merkt Bittner an: „Russland ist das größte Land Europas, das wird verdrängt und gerät allmählich in Vergessenheit.“

Er erinnert an die jahrhundertelang intensiven Handelsbeziehungen zwischen Deutschen und Russen, den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Bittner: „Was wäre unsere Kultur ohne die russische Literatur, Kunst, Musik, ohne das russische Theater?“

Er führt „die Schriftsteller und Dichter Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Gorki, Puschkin und Jewtuschenko, die Maler Jawlenski und Repin (ich habe sofort die Wolgatreidler vor Augen), die Musiker Prokowjew, Schostakowitsch und Tschaikowsk (ich höre die Nussknacker-SuitePuschkin, bis heute wird in Russland Heinrich Heine verehrt und Beethoven widmete der Zarin Elisabeth seine Polonaise Op. 89, wofür ihm zum Dank eine großzügige Zuwendung gewährt wurde.“

Bittner – auch andere Autoren des Buches – erinnert an (…) „Wladimir Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 – das war damals noch möglich!“ (…)

Putin habe da Goethe, Schiller und Kant genannt und gesagt, „dass die Kultur immer unser gemeinsames völkerverbindendes Gut war“.

Ist all das vergessen? Es sieht so aus. Traurig! Bittner sieht als einen ersten Schritt: „Antwort auf die Zumutungen aus Politik und Medien wäre rückhaltlose Aufklärung und Wiederaufnahme friedlicher, gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland“ (S. 41 unten)

Deutliche Worte von Mathias Bröckers

Mit drastischen Worten öffnet uns Mathias Bröckers die Augen, wenn er am Ende seiner Ausführungen warnt: „Und das unsere ‚Flinten-Uschi als militärische ‚Leyen-Darstellerin‘ mit ihren NATO-Knallköpfen und Donald Trump als Oberkommandierendem erreicht, was weder Napoleon noch Kaiser Wilhelm II noch Hitler geschafft haben – nämlich Russland unter die Knute zu kriegen-, können nur völlig Wahnsinnige glauben.“ Deutliche Worte!

Konstantin Weckers Mahnung: „Lasst uns diesen Krieg verhindern. Es könnte schrecklich werden“

Nicht weniger klar gibt Konstantin Wecker (S. 81) betreffs möglicher auch militärischer Konflikte zu bedenken: „Wenn zwei Weltmächte aufeinanderprallen, ist nicht der eine gut und der andere böse. Es geht um handfeste wirtschaftliche und territoriale Interessen, um Eitelkeit, Missgunst, Paranoia, mangelnde Empathie, krude Weltbilder mächtiger Menschen, die ihre Lebendigkeit eingetauscht haben gegen erstarrte Ideologien.“ Und mahnt: „Lasst uns diesen Krieg verhindern. Es könnte schrecklich werden.“

Daniela Dahn: „Von Egon Bahr lernen heißt verstehen lernen“

Auch die Publizistin Daniela Dahn trifft einmal mehr in ihrem Beitrag „Von Egon Bahr lernen heißt verstehen lernen“ den Nagel auf den Kopf.

Eine wichtige Aussage Daniela Dahns auf S. 66 oben: „Dafür, dass zur deutschen Staatsraison die Sicherheit Israels gehört, gibt es unabweisliche Gründe. Sie beruhen auf historischer Verantwortung. Aus denselben Gründen gebietet es sich, auch die Freundschaft zu Russland zur Staatsraison zu erheben.“

Willy Wimmers auf auf hoher Kompetenz beruhender Einwurf und dessen Erinnerung an „Tauroggen“

Der einstige Verteidigungsstaatssekretär unter Helmut Kohl, Willy Wimmer, bezeichnet die Lage unseres Landes als „schwierig“. Warum, das dröselt Wimmer im Buch unter dem Titel „Es ist ‚Tauroggen‘, Dummkopf“ kenntnisreich und durch seine frühere Tätigkeit äußerst kompetent auf. Zur Konvention von Tauroggen finden Sie hier Informationen.

Wimmer erwähnt Egon Bahr und Valentin Falin als große Männer. Beide engagierten sich bekanntlich für gute Beziehungen zwischen der BRD und der Sowjetunion/Russlands und den Frieden.

Wimmer möchte, dass wir uns nicht Tasche voll lügen sollten, „wie wir es seit dem völkerrechtlichen Krieg gegen Jugoslawien so meisterlich gelernt haben“ (S. 187). „Unsere westliche Politik wieder auf null setzen, den berühmten ‚Reset-Knopf‘ drücken und dabei völlig außer Betracht lassen, dass Moskau sicherheitspolitische Fakten geschaffen hat?“

Auch Willy Wimmer sieht da einiges an politischen Porzellan zerschlagen im deutsch-russischen Verhältnis und fragt: „Warum soll Moskau uns noch ein Wort glauben?“ Dennoch schließt der politisch kluge Wimmer zuversichtlich: „Und dennoch müssen wir es versuchen und uns notfalls in der deutschen Geschichte Rat suchen, wenn man Egon Bahr und andere schon nicht fragen kann. Tauroggen eben.“

Botschafter a. D. Frank Elbe empfiehlt: Rückkehr zu bewährten Strategien“

Der ehemalige deutsche Botschafter Frank Elbe hat ebenfalls einen Beitrag für das Buch verfasst. Und rät darin betreffs des Umgangs mit Russland zu einer „Rückkehr zu bewährten Strategien“ (S. 78).

Elbe weist auf Folgendes hin: „Europa hat – wenn es auch von einigen Ländern nicht so gesehen wird – eine eindeutige Interessenlage: beständige, berechenbare Beziehungen zu Russland“.

Damit spricht er aus, dass europäische und amerikanische Interessen eben nun einmal auseinander fallen.

Gabriele Krone-Schmalz: Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer versetzen

Gabriele Krone-Schmalz. Foto: C. Stille

Fehlen durfte freilich auch in diesem Buch Gabriele Krone-Schmalz ganz gewiss nicht. Schließlich hat sie jahrzehntelange Erfahrungen sowohl in der Sowjetunion als auch Russland gesammelt, kennt Land und Leute. Gegen Ende ihrer Ausführungen im Buch (S. 110) appelliert sie an die gegenwärtige Generation und ihnen nachfolgenden Menschen: „Die ‚Kriegsgeneration‘ stirbt langsam aus, und ich habe den Eindruck, dass Bewusstsein der Zerbrechlichkeit von Frieden auch. Wie sonst lässt sich die unbedarfte Eskalation in Politik und Medien erklären? Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer versetzen – das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit menschlicher Größe und mit den christlichen Werten, sie so viele im Munde führen.“

Zum Thema empfehle ich diesen Beitrag.

Frieden in Europa ist es wert, sich der Mühe des Ausgleichs zu unterziehen“, unterstreicht Wolfgang Kubicki (FDP)

Und FDP-Mann Wolfgang Kubicki gibt schon in der Überschrift zu seinem Beitrag (S. 111) zu bedenken: „Frieden in Europa ist es wert, sich der Mühe des Ausgleichs zu unterziehen“

Hauptanliegen des Buches: Frieden

Um nichts mehr – aber auch nichts weniger – als um den Frieden geht es diesem Buch! Möge es eine breite Leserschaft finden. Es geht schließlich um alles. Schon Willy Brandt wusste: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Schon 2013 warnte Egon Bahr vor SchülerInnen: „Ich, ein alter Mann, sage euch, dass wir in einer Vorkriegszeit leben.

Und in der Rhein-Neckar-Zeitung wird Bahr 2013 noch mit diesem Satz zitiert: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Eben das berücksichtigt dieses in diesen Zeiten wirklich Gold werte, von Adelheid Bahr herausgegebene Buch! Russland verstehen, heißt eben auch, Russlands Interessen nachzuvollziehen. Wobei ja keinesfalls jegliche Politik Moskaus gutheißen muss. Zu erkennen gilt es aber in Berlin, dass es nicht im Interesse Deutschlands sein kann, die Beziehungen zu Russland zu beschädigen. Wie schätzte doch Matthias Platzeck nüchtern ein: Die Beziehungen (zu Russland; C.S.) sind mehr als abgekühlt.

Fazit

Kaufen Sie dieses Buch! Lesen Sie es und geben Sie es weiter. Es ist ein Ausrufezeichen, die deutsch-russischen Beziehungen wieder auf Vordermann zu bringen, sie dringen eine Generalinventur und einer groß angelegten Reparatur zu unterziehen. Sonst ist Schlimmes zu befürchten. Haben wir vergessen, dass wir der Sowjetunion und Michael S. Gorbatschow nicht zuletzt auch unsere Einheit zu verdanken habe?!

Wladimir Putin hat wiederholt seine Hand gen Berlin ausgestreckt. Er hat gangbare Wege für die Zukunft vorgeschlagen. Putin Hand wurde bisher nicht ergriffen. Bedenken wir: eine Mehrheit der Deutschland und wohl auch der Bevölkerung der Russischen Föderation ist (trotz von Hitlerdeutschland 27 Millionen zu Tode gebrachter Sowjetmenschen) an guten völkerverbindenden Beziehungen zueinander interessiert.

Adelheid Bahr (Hg.)

Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen

Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn und vielen anderen

Update vom 12. Dezember 2018 Westend Redezeit:

via Westend Verlag

 

 

Herausgegeben von Adelheid Bahr

Erscheinungstermin: 02.10.2018
Seitenzahl: 208
Ausstattung: Klappenbroschur
Art.-Nr.: 9783864892363

Österreichs Regionalkrankenkassen sollen zerstört werden: Auf EU-Kommando und nach Merkel-Ideologie

 

Die 9 Gebietskrankenkassen Österreichs. Grafik: SGKK

Gastbeitrag von Albrecht Goeschel, Markus Steinmetz

Ablenkungsprogramm Flüchtlingsshow

Der Asylkonflikt zwischen der deutschen Kanzlerin Merkel und dem deutschen Innenminister Seehofer und ebenso die Asylkonfrontation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union rauben der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit für Vorgänge und für Bestrebungen von viel größerer Tragweite.

Hierzu gehört neben der antirussischen Militarisierung auch die weitere Demontage der vormals überwiegend regionalautonomen und solidarischen Krankenkassen in den Kernländern der EU.

Von der deutschen „Gesundheitslinken“ unbemerkt und andernfalls wohl heimich sogar gutgeheißen hat nun die neue konservativ-nationale Bundesregierung in Österreich ganz auf EU-Linie eine Liquidierung der österreichischen Regionalkrankenkassen zum Regierungsprogramm erklärt. Das Ziel ist eine Zentralisierung der österreichischen Bundesländer-Gebietskrankenkassen zu einer so genannten

Österreichischen Krankenkasse“ mit Sitz in Wien.(1) Damit würde Österreich im Windschatten der Flüchtlingskrise im Jahr 2018 nachholen, was in Deutschland im Windschatten der so genannten Wiedervereinigung im Jahr 1992 durchgesetzt wor- worden ist: Die Eliminierung der regional-autonomen und solidarischen Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen durch das damalige „Gesundheitsstrukturgesetz“.

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Dieses vom seinerzeitigen Kohl-Gesundheitsminister Horst Seehofer zusammen mit der Sozialdemokratie-Bundestagsfraktion durchgedrückte Gesetz bewirkte in den Folgejahren eine Transformation der kostendeckungsorientierten sozialen Krankenkassen in überschussorientierte konkurrierende Kassenkonzerne. Gekrönt wurde dieses Werk dann 2007 durch den zentralen „Gesundheitsfonds“(3), der die Finanz- ströme der Kassenkonzerne seitdem koordiniert. Diese endgültige Zentralisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands wurde während der ersten Kanzlerschaft von Angela Merkel wiederum von den Christlichen Parteien und der Sozialdemokratie, diesmal als Koalition, ins Werk gesetzt. Es handelt sich um einen der typischen Merkel-Kretins, bei dem neoliberale Konkurrenzpolitik und autoritäre Sparpolitik verschmolzen sind.

Eine Beseitigung seiner Regionalkrankenkassen war eine der ersten Forderungen der so genannten „Troika“ zur EU-Kolonisierung Griechenlands. In den Medien der deutschen „Gesundheitslinken“ findet man zur ebenfalls von der EU geforderten Zerstörung der österreichischen Regionalkrankenkassen dennoch weder Meldungen

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noch Meinungen. Auch in den so genannten deutschen „Qualitätsmedien“ muss man einschlägige Meldungen mit der Lupe suchen.

Sozialdemokratische Vorarbeit

In der deutschen Gesundheitsdebatte ist es Gemeingut, dass die Sozialdemokratie die treibende Kraft bei der Ghettoisierung der Langzeitarbeitslosen (Hartz IV) war. Thema ist aber nicht, dass sie auch die Antreiberin bei der Liquidierung von 1200 autonomen solidarischen Regionalkrankenkassen AOK, BKK, IKK (GSG-Reform) gemacht hat. Und auch bei der aktuellen Eliminierung der Regionalkrankenkassen Österreichs waren hier nicht die Parteien der neuen Koalitionsregierung in Wien, die ÖVP und FPÖ, die Antreiber, sondern die zuvor in Koalition regierende österreichische Sozialdemokratie. Diese war es, die der EU bei ihren berüchtigten Strukturreformen folgte, bei denen Eingriffe in die Sozialen Krankenversicherungen eine zentrale Rolle spielen.

Es war der vormalige österreichische sozialdemokratische Sozialminister Alois Stöger, der den Anschlag auf den Sozialstaat der Alpenrepublik vorbereitet hat. Stöger hat bei der London School of Economics (LSE) ein „Gutachten“ (4) gekauft, das nunmehr von der FPÖ-Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein als Legitimation für die Eliminierung der Regionalkrankenkassen berufen wird. (5)

Miserables Alibigutachten

Immer wieder wird in der Öffentlichkeit auf das schmutzige Gutachtengeschäft verwiesen, bei dem sich die Politiker und Regierungen von willigen „Wissenschaftlern“ Rechtfertigungstexte für gemeinschaftsschädliche Zustände und Vorhaben schreiben lassen. Das vom inzwischen abgelösten SPÖ-Sozialminster eingekaufte „LSE-Gutachten“ ist offenbar ein Paradebeispiel für diese Art von „Wissenschaft“. Es hat nicht nur die Unsumme von 630.000 Euro gekostet, ohne dafür wenigstens ins Deutsche übersetzt zu sein. Es täuscht auch auf geradezu pennälerhafte Art und Weise bei gähnender Leere „Viel Inhalt“ vor. Von den ca. 1400 Blättern dieses Werkes sind bald die Hälfte nichts weiter als Kopien der Antwortschreiben, die von den „Gutachtern“ bei österreichischen Einrichtungen, Verbänden etc. im Rahmen einer höchst dürftigen „Umfrage“ eingesammelt worden sind. Studierende, die eine Bache-lorarbeit präsentieren, von der die Hälfte aus kopierten Notizzetteln besteht, werden von ihren Lehrenden bzw. Prüfenden wohl zu Recht nur ausgelacht. Der eigentliche Skandal dieses Gutachtens besteht aber darin, dass ein sozialdemokratischer Sozial- minister sich Argumentationshilfe von einem weltweit als Brutstätte des Neoliberalismus berüchtigten Institut geholt hat.

Soweit es nun noch die letztendlich entscheidende Qualität der Ausarbeitung der London School of Economics betrifft, stellt der österreichische Gesundheitsökonom Ernest G. Pichlbauer in der Wiener Zeitung bereits im August 2017 diesbezüglich ein verheerendes Zeugnis aus:

Die Rede ist von einer Studie der London School of Economics (LSE) im Auftrag

des Sozialministeriums, die eine Handlungsanleitung zur Reform der Sozialversiche-

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rung geben sollte. Nach der Lektüre einiger hundert Seiten stellt sich das Werk als Zusammenfassung bekannter Lehrmeinungen und Theorien ohne eigene Berech-

nungen dar – also ein Lehrbuch. Eine Studie, die helfen soll Entscheidungen zu treffen, ist es nicht – nicht nur wegen des Umfangs. Selbst dort, wo es Vorschläge gibt, bleibt es eine Aufzählung von dem, was die Lehre der Gesundheitssystemforschung anzubieten hat. Eine Bewertung der Vorschläge fehlt…“.

Ernest G. Pichlbauer, Wiener Zeitung, 31.8.2017

Vorbild Österreichische Regionalkrankenkassen

In der deutschen Gesundheitsdebatte tauchen die Regionalkrankenkassen Öster-

reichs nur selten als eigentlich optimale Krankenkassenorganisation für „Marktwirt-, schaften“, d.h. kapitalistische Ökonomien mit industriewirtschaftlicher Tradition auf. Das österreichische Vorbild beinhaltet kostendeckungsorientierte Bundesländerkassen mit Risikoausgleich statt überschussinteressierte Kassenkonzerne mit staatlichem Gesundheitsfonds wie in Deutschland. Aber im Zusammenhang der Bildung der gegenwärtigen Großen Koalition in Berlin wurde das österreichische Vorbild erwähnt. Die SPD hatte im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen eine „Bürgerversicherung“ gefordert. Aufmerksame Ökonomen hatten dazu angemerkt, dass eine derarti-ge Umorganisation fundamentaler ansetzen müsse: Mit einer durchgängigen „Regionalisierung“ der Krankenkassenorganisation nach österreichischem Vorbild. Andernfalls diene eine Bürgerversicherung nur dazu, die exorbitanten Gesundheitskosten der Beamten aus den Staatshaushalten in die Arbeitnehmerkrankenkassen zu verlagern. (6)

Die Vorteile kostendeckungsorientierter Bundesländer- oder sonstiger Gebietskrankenkassen mit pflichtweiser Zugehörigkeit der überwiegenden Mehrheit aller Erwerbstätigen eines Raumes liegen auf der Hand. Durch den damit verbundenen Ausschluss von Beitrags- oder Leistungskonkurrenz um so genannte „Gute Risiken“ zu Lasten „Schlechter Risiken“ und die nachhaltige Re-Investierung eventueller Überschüsse in die Gesundheitsinfrastruktur sowie durch die Beitragszahlerselbstverwaltung verfügt diese Krankenkassenform über eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen den internationalen Finanzmarkt.

1. Keine Chance für Spekulation

Im Gegensatz dazu hat die Politik in Deutschland den konkurrierenden Kassenkonzernen inzwischen sogar erlaubt, ihre gesetzlichen Rücklagen auf den internationalen Aktienmärkten anzulegen.(7) Infolge der Zentralisierung der Krankenkassen sind die Volumina ihrer Rücklagen enorm angestiegen. Infolge der Konkurrenz zwischen den Kassenkonzernen reduzieren diese systematisch ihre Leistungen, um

Zusatzbeiträge zu vermeiden – auch hierdurch steigen die Überschüsse. Die seit einigen Jahren als Gegenmittel gegen die zerstörerische Exportdumping- und Auste- rity-Politik der Merkel-Koalitionen unumgängliche Niedrigzinspolitik der EZB bewirkt erhebliche Zinsverluste bei den Rücklagen der Kassenkonzerne. Dies hat der letz- ten Koalition aus Christlichen Parteien und Sozialdemokratie das Alibi geliefert, den Kassenkonzernen ab 2017 Aktienanlagen zu erlauben und sie damit für den Kapital-markt zu öffnen. Wäre es bei der bis zur Krankenkassenreform von 1992 bestehen-

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den Regionalstruktur, vergleichbar mit derjenigen der Sparkassen und Raiffeisenbanken geblieben, hätte es weder Zinsprobleme in dieser Größenordnung gegeben noch die Regierung die Chance gehabt, nach der Rentenversicherung nun auch die Krankenversicherung zu kapitalisieren.

2. Keine Ausgrenzung der Pflegebedürftigkeit

Welten liegen auch beim Grad der Solidarität mit den schwächsten Mitmenschen, den Pflegebedürftigen, zwischen den österreichischen Regionalkassen und den deutschen Kassenkonzernen. Während in Österreich pflegebedürftige Mitglieder in ihrer Gebietskrankenkasse bleiben, haben in Deutschland die von Horst Seehofer ermöglichten Kassenkonzerne schon wenige Jahre später, 1994, den schlimmsten Entsolidarisierungsschlag, die Einrichtung einer „Gesetzlichen Pflegeversicherung“ durch Norbert Blüm erreicht. An diese Pflegekassen werden die Krankenkassenkonzerne ihre langjährigen Vollbeitragszahler los, wenn diese besonders leistungsbedürftig, d.h. pflegebedürftig werden. Im Unterschied zu den Krankenkassen bieten die Pflegekassen nicht Vollkaskoleistungen, sondern nur Teilkaskoleistungen. Der entscheidende Antrieb für die Ausgliederung der Pflegebedürftigen in ein eigenes Versicherungs-Ghetto, vergleichbar nur mit der Ausgrenzung der Langzeitarbeitslosen ins Hartz IV-Ghetto, war auf Seiten der Kassenkonzerne die zwischen diesen durch die Krankenkassenreform von 1992 erzwungene Konkurrenz um „Gute Risiken“ – Pflegebedürftige gelten als das Gegenteil.

3. Keine Plünderung der Peripherie

Regionalkrankenkassen bieten zuletzt den Vorteil, dass sie solche Räume sichtbar werden lassen, die ökonomische, demografische oder epidemiologische Schwächen oder Überlastungen aufweisen. Diesen kann und muss dann in einem transparenten, demokratischen und solidarischen Ausgleichsverfahren Unterstützung durch die besser gestellten Regionalkassen oder den Staat gewährt werden. Letzteres ist schon wegen der hohen dienstleistungswirtschaftlichen und arbeitsmarktlichen Bedeutung der regionalen Gesundheitswirtschaften geboten.

Vor allem kann bei einer regionalen Aufgliederung der Finanzkreisläufe von Beitragsabschöpfung und Leistungsrückfluss wirksam darauf geachtet werden, dass vor allem die peripheren Regionen möglichst wenig Sozialfinanzmittel an die zentralen Regionen verlieren.

In Deutschland ist wegen des zentralen Gesundheitsfonds das Gegenteil der Fall.

Durch den bundeseinheitlichen Beitragssatz für alle Krankenkassen werden periphere und stagnative oder rezessive Regionen im gleichen Masse abgeschöpft wie zentrale und prosperierende Regionen. Die von den Kassenkonzernen an die Gesundheitswirtschaften in den Regionen ausbezahlten Leistungsvergütungen, d.h. Rückflüsse von Beitragsfinanzen sind jedoch in den starken bzw. schwachen Regio- nen sehr ungleich. Der Besatz an Gesundheitswirtschaft in den prosperierenden Regionen ist meist deutlich höher als in den stagnativen oder rezessiven Regionen, in die daher weniger Beitragsfinanzen an Leistungserbringer zurückfließen können.

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Im Endergebnis verteilt der zentrale „Gesundheitsfonds“ in Deutschland Krankenkassenmittel aus der Peripherie in die Zentren und Metropolen um. Der eigentliche An- lass für die Etablierung dieses raumordnungspolitisch und regionalwirtschaftlich ganz und gar dysfunktionalen „Gesundheitsfonds“ war die Absicht, zwar die Konkurrenz zwischen den Kassenkonzernen weiter zu steigern und damit weiter die Kosten zu senken, damit aber verbundene soziale Negativwirkungen abzumildern. Diese sind damit aber nur von den verschiedenen Kassenkonzernen und ihren eventuellen Zusatzbeiträgen zwischen die Regionen verschoben worden.

4. Keine Spaltung der Arbeitnehmerschaft

Das Grundübel der deutschen Krankenkassenorganisation, zutreffender gesagt der Krankenkassenorganisation West-Deutschlands, die nach dem Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik auch dieser übergestülpt wurde, war die von den west-alliierten Besatzungsmächten und der Adenauer-Regierung betriebene Spal- tung der Arbeitnehmerschaft in „Arbeiter“ und in „Angestellte“. Hierzu diente auch die Einrichtung und der Aufbau getrennter Sozialversicherungen für Arbeiter und für Angestellte. In der Krankenversicherung wurden regionale Krankenkassen (AOK, BKK, IKK) für Arbeiter und zentrale Krankenkassen (Ersatzkassen) für Angestellte eingerichtet. Hauptgrund für die Krankenkassenreform von 1992 war die mit dem Wachsen des Dienstleistungssektors verbundene Zunahme der Angestellten und damit des Anteils der zentralen Ersatzkassen an den Krankenversicherten. Die zunächst niedrigeren Beitragssätze und besseren Leistungen der Ersatzkassen gegenüber den von ihnen abgesonderten Regionalkassen konnten aus wahlpolitischen Gründen nicht in sachgerechten regionalen Gesamtkrankenkassen eingebunden werden. Die Christlichen Parteien ebenso wie die Sozialdemokratie wollten die Wahlstimmen der an ihren Kassenprivilegien festhaltenden Angestelltenschaft nicht riskieren. Eine Zentralisierung der regionalen Arbeiterkassen auf dem Schleichweg gesetzlich eröffneter Konkurrenz zwischen den Kassenarten war der scheinbar clevere Ausweg.

Dieser Konkurrenz zwischen den auf den Weg gebrachten Kassenkonzernen fiel dann prompt auch der bis dahin praktizierte Finanzausgleich zwischen allen Kran- kenkassen zum Opfer. Er hatte dazu gedient, die besonders kostenaufwendige Gesundheitsversorgung der Versicherten im Rentenalter als Gemeinschaftsaufgabe auch gemeinsam zu finanzieren. Die Krankenkassenreform von 1992 beseitigte diesen patientenbezogenen Finanzausgleich. Ein neuer Ausgleich, nun als „Risiko- strukturausgleich“, wurde etabliert. Er diente aber nicht der Patientenversorgung, sondern der Erhaltung der als „gegliedert“ schöngeredeten gespaltenen Kassenarten bzw. ihrer konkurrierenden Konzerne. Der Risikoausgleich sollte vor allem die un- günstigeren Wettbewerbschancen der Regionalkassen gegenüber den Ersatzkassen ausgleichen und damit letztere aus dem politischen Schussfeld nehmen. Mittlerweile ist der später selbst reformierte Risikostrukturausgleich zu einem Tummelplatz von Täuschungsmanövern, Datenmanipulationen, Betrugsaffären etc. zwischen den Kassenkonzernen geworden und hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Regionalkrankenkassen wie diejenigen in Österreich können sich nicht wie die Kas-

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senkonzerne in Deutschland sogar noch beim angeblichen Solidarausgleich Platzvorteile verschaffen – es gibt keine Konkurrenz von Kassenkonzerne um Krankenversicherungspflichtige mit unterschiedlichen Risiken, sondern die Ge- bietskrankenkassen sind zuständig für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in den jeweiligen Bundesländern unabhängig von deren Risiken.

5. Höhere „Wirtschaftlichkeit“

Zu den Glaubenssätzen und zur Stammtischwissenschaft der deutschen Gesundheitsdebatte gehört die Überzeugung, eine möglichst gnadenlose Konkurrenz zwischen möglichst großen Kassenkonzernen mit einem zentralen Koordinierungsfonds des Staates sorge für eine höchstmögliche „Wirtschaftlichkeit“ von Kranken- versicherung und Gesundheitsversorgung. Dabei gilt der für gesetzliche Krankenversicherung und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung adäquate Wirtschaftlichkeits- begriff als wissenschaftlich ungeklärt. (8) Für den sozial- und gesundheitspolitischen Interessenkampf wird „Wirtschaftlichkeit“ in der Krankenversicherung und Gesundheitsversorgung gleichgesetzt mit „Beitragssatzstabilität“ oder besser noch Beitragssatzregression, d.h. möglichst niedrigen (Neben-)Lohnkosten.

Bleibt man boshafter Weise bei genau diesem „Wirtschaftlichkeitsbegriff“, den ins- besondere die deutsche Sozialdemokratie zu ihrem Credo gemacht hat, dann müsste das Erstaunen über die österreichischen Krankenkassen ganz groß sein: Die Regionalkrankenkassen Österreichs haben einen einheitlichen Arbeitgeberbeitrag von 3,8 Prozent; die Kassenkonzerne Deutschlands haben hingegen einen einheitlichen Arbeitgeberbeitrag von 7,3 Prozent. Weiters haben die Regionalkrankenkassen Österreichs einen mittleren Arbeitnehmerbeitrag von 3,9 Prozent; die Kassenkonzerne Deutschlands haben hingegen einen einheitlichen Arbeitnehmerbeitrag von 7,3 Prozent. (9)

Nach den Dogmen der Gesundheitspolitik sind damit die österreichischen Regionalkrankenkassen eindeutig „wirtschaftlicher“ als die deutschen Konzernkrankenkassen.

6. EU-Krankenkassenimperialismus

Die politische Entwicklung der Krankenkassenstrukturen in der Europäischen Union hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in drei Phasen vollzogen. In der Gründungsphase der späten 1950er Jahre wurden die nationalen Sozialordnungen, Sozialsicherungssysteme und insbesondere Sozialen Krankenversicherungen bzw. Nationalen Gesundheitsdienste als ausschließlich nationale Angelegenheiten respektiert. Lediglich Vereinbarungen über die wechselseitige Erbringung und Erstattung von Gesundheitsleistungen wurden getroffen.

Pluralistische Struktur nationaler Sozialordnungen

Dies galt weitgehend auch noch für die 1970er bis 1980er Jahre mit ihrer Süd-West- und Norderweiterung der EU. In einer pluralistischen Struktur waren damals nebeneinander so unterschiedliche und gegensätzliche Krankenversicherungssys-

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teme und Gesundheitssysteme tätig wie steuerfinanzierte Nationale Gesundheitsdienste einerseits und beitragsfinanzierte Soziale Krankenkassen andererseits. Steuerfinanzierte Nationale Gesundheitsdienste waren dabei erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien, Skandinavien, Mittel- und Osteuropa und Südeu- ropa eingeführt worden. Dementsprechend war es damals ausreichend, zwischen steuerfinanzierter und beitragsfinanzierter Gesundheitsversorgung zu unterscheiden. Jede Art von Harmonisierung wurde als überflüssig und abwegig betrachtet.

Sozialkolonisierung von Mitte und Osten Europas

Eine zweite Phase der Entwicklung begann mit dem Anschluss der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1990.

Unter der Überschrift einer deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion okkupierten die konkurrierenden Krankenkassen Westdeutschlands regelrecht die Aufgabenfelder und Mitgliederbestände der vormaligen Einheitsversicherung der DDR, um im Vorfeld der anstehenden Krankenkassenreform noch möglichst hohe Geländegewinne zu erzielen. Bei dieser Art von Politik bestand keine Möglichkeit, die sich bietende Chance für eine Beseitigung der Kassenartenspaltung in Deutschland mittels einer durchgängigen Neuaufstellung der Sozialen Krankenversicherung in Form von „Regionalkrankenkassen“ , etwa nach dem Vorbild Österreich, zu realisieren. Im Gegenteil: In Ostdeutschland wurden gezielt auch bei den noch regionalen AOKen Groß-AOKen aufgebaut, um Zentralisierungsdruck auf die meist kleineren AOKen in Westdeutschland auszuüben.

In den 1990er Jahren wurde dann der Zerfall der Sowjetunion, des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe vorrangig vom vergrößerten Deutschland genutzt, um die vormals realsozialistischen Länder Mittel- und Osteu-ropas zum peripheriekapitalistischen Hinterland der deutschen Exportökonomie zu machen: Billige Arbeit, Zweigproduktion und Absatzmarkt. Dies geschah in der Form von Freihandelsabkommen der EU mit diesen Ländern und wurde durch eine massive Beratungsoffensive in diesen Ländern vorbereitet. Bei dieser Beratungsoffensive ging es darum, durch den Aufbau beitragsfinanzierter Sozialversicherungen, insbesondere auch Krankenkassen, diese Länder für eine Wirtschaftsweise reif zu machen, bei der die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darauf angewiesen ist, ihre Arbeitskraft auf Arbeitsmärkten zu verkaufen. Auch das größte Land unter den genannten, Polen, hatte zunächst ein beitragsfinanziertes regionales Krankenkassensystem installiert. 2004 wurden diese Länder dann in die EU aufgenommen.

Regionalkrankenkassen als Korrektur des Maastricht-Korsett

In diesem Zeitabschnitt wurde auch die Europäische Währungsunion vorbereitet. Die im Maastricht-Vertrag festgelegten Kriterien für die Aufnahme von Mitgliedsländern setzten unter anderem enge Grenzen für die Staatsverschuldung. Zum Staatssaldo wurden auch die Über- oder Unterdeckungen der Sozialversicherungen, d.h. auch der Krankenkassen gezählt. Die steuerfinanzierten Gesundheitssysteme in Europa wurden durch die Euro-Kriterien direkt unter Sparzwang gesetzt. Aber auch für die beitragsfinanzierten Krankenkassen erhöhte sich der Spardruck. Allerdings hatten die Regierungen gegenüber den beitragsfinanzierten Sozialversicherungen, insbe-

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Sondere gegenüber autonomen Regionalkassen keine direkten Eingriffs- und Zugriffsmöglich. Das ist wohl auch ein Hauptgrund für die im Zuge des so ge- nannten „Gesundheitsstrukturgesetzes“ von 1992 in die Wege geleitete Eliminierung von 1200 autonomen Regionalkrankenkassen in Deutschland. Allerdings ließen der „Transformationsschock“ in den vormals realsozialistischen Ländern der EU und das „Maastricht-Korsett“ der Euroeinführung es den Gremien und Apparaten der EU angezeigt erscheinen, danach nicht noch schärferen Zwang auszuüben. Das Mittel der Wahl, die EU-Länder möglichst freiwillig für eine Marktunterwerfung und Sparpolitik im Gesundheitswesen und in der Krankenversicherung zu gewinnen, nannte sich „Offene Methode der Koordinierung“ – eine Art Wettbewerb um die Liebedienermedaille der EU.

Finanzkrise als Chance für Staatszugriff auf die Regionalkassen

Es war dann die 2008 auf Deutschland und Europa durchschlagende Finanz-, Banken und Budgetkrise, die Merkel-Deutschland als Vormacht und den Europaeliten die Chance bot, endlich direkt und offensiv, nicht mehr nur via „Koordinierung“ auf die nationalen Sozialordnungen und Sozialversicherungssysteme durchgreifen zu können. Banken- und Budgetrettungsprogramme wurden an harte so genannte „Strukturreformen“ insbesondere auch in den Krankenversicherungen und in der Gesundheitsversorgung geknüpft. Vom europäischen „Fiskalpakt“ waren insbesondere die Krankenversicherungen bzw. Gesundheitsdienste im EU-Süden betroffen. Zu welcher Menschenfeindlichkeit das Merkel-Schäuble geführte EU-Regime hier fähig war, zeigten die Brutalitäten nicht gegenüber den griechischen Steuer-Großhinterziehern, sondern gegenüber den griechischen Krankenhauspatienten und Kleinrentnern. Deutschland hatte mit der Einrichtung des zentralen Gesundheitsfonds kurz vor Beginn der Krise und mit der Verankerung eines Verschuldungsverbots für den Bundes- und die Länderhaushalte, der so genannten „Schuldenbremse“, im Windschatten der auflaufenden Krise vorgemacht, wie durch funktionale Zentralisierung in Gestalt eines „Gesundheitsfonds“ auch beitragsfinanzierte Krankenkassen zur Schul-denvermeidung des Staatshaushaltes und zur Bankenrettung herangezogen werden können. Dementsprechend kam es in den Folgejahren zu den bekannten Zugriffen des damaligen Finanzministers Schäuble auf die mit Sparpolitik gegenüber den Versicherten und Kranken abgepressten Überschüsse der Kassenkonzerne bzw. des Gesundheitsfonds.(10)

Diejenigen europäischen Länder, die noch autonome Regionalkrankenkassen oder teilautonome Elemente in ihren Nationalen Gesundheitsdiensten hatten, wurden unter Ausnutzung der Krise massiv dazu gedrängt, diese zu zentralisieren. Nachdem insbesondere die Länder Mittel- und Osteuropas willfährig diesen Vorgaben gefolgt waren, hat sich im Laufe dieser Austerity-Politik wegen der schon seit Kriegsende zentralisierten Gesundheitsdienste Skandinaviens und Großbritanniens mittlerweile eine Mehrheit zentralisierter Gesundheitssysteme in Europa gebildet, die direktem Staatszugriff unterliegen.

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Lediglich der Süden Europas, einschließlich des Alpenraumes, aber ohne Frankreich, zeigt noch starke Elemente von Regionalautonomie auch innerhalb Nationaler Gesundheitsdienste. Die von Griechenland erpresste Zentralisierung seiner Krankenkassen war und ist daher eine anhaltende Drohung des EU-Regimes gegen den gesamten EU-Süden.

Österreichische Regionalkrankenkassen als Provokation für die Merkel-EU

Dass die EU-Kommission im Rahmen des „Europäischen Semesters“ mit unzutref-fenden Argumenten eine Zentralisierung der autonomen Regionalkrankenkassen Österreichs fordert, sollte als sozialpolitischer Angriff verstanden werden. Das EU-Regime und das dieses dominierende Merkel-Deutschland können kein Vorbild für eine regionale Krankenversicherung und Gesundheitsversorgung dulden, die auto- nom, solidarisch und wirtschaftlich in einem Land funktioniert, das zu den starken und erfolgreichen Ökonomien in der EU und in der Welt gehört.

In diesem Zusammenhang erscheinen der für Österreich besonders belastende Willkommensputsch Merkels von 2015 und die seit Jahren durch den BND betriebene Ausspionierung Österreichs durchaus als Elemente einer feindseligen Gesamt-

strategie. Die EU-Kommission diffamiert das vorbildliche Krankenkassensystem Österreichs dementsprechend wie folgt:

Die hohe Zahl an Krankenversicherungsträgern deutet auf Potenzial für Effizienzge-

winne hin. Österreich zählt derzeit 18 Krankenversicherungsträger, denen die Ver-

sicherungsnehmer auf der Grundlage ihres Wohnorts und Berufs zugewiesen wer-

den… Im neuen Regierungsprogramm wurde eine Senkung der Zahl der Sozialver-

sicherungen auf maximal fünf Träger angekündigt. Dies könnte dazu beitragen, die

Kosteneffizienz, Transparenz und Gerechtigkeit des Systems zu verbessern“.

Europäische Kommission: 2018 European Semester: Country Reports 7.3.2018

Die große Mehrheit der Österreicher ist durch die 9 autonomen Regionalkrankenkassen versichert. Dass diese ausgeprägt solidarisch und hochgradig beitragsgünstig sind, wurde gezeigt. Die Argumente der Kosteneffizienz und der Gerechtigkeit sind also vorgeschobene Argumente. Durch die geforderte Zentralisierung der Regionalkrankenkassen würde die institutionelle und vor allem die regionalökonomische Transparenz gerade nicht gefördert, sondern geschmälert – wie das abschreckende Beispiel der Kassenkonzerne und des Gesundheitsfonds in Deutschland zeigen.

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Kartographie: Die 9 Gebietskrankenkassen Österreichs

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Quellen:

1)

Bundeskanzleramt (Hrsg.)

Für Österreich: Regierungsprogramm 2017 – 2022

Wien 2017

2)

Wikipedia:

Gesundheitsstrukturgesetz (1992)

3)

Wikipedia

Gesundheitsfonds (2007)

4)

London School of Economics and Political Science (Hrsg.)

Efficiency Review of Austria’s Social Insurance und

Healthcare System

London 2017

5)

https://www.otsat/presseaussendung/OTS_20180529_OTS0250

6)

TELEPOLIS , 26.1.2018. Albrecht Goeschel; Rudolf Martens; Markus Steinmetz,

Bürgerversicherung – Instrument der Sparpolitik

7)

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/krankenkassen

21.5.2016

8)

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Hrsg.)

Das Gesundheitswesen im vereinten Deutschland

Baden-Baden 1991,

S.60 ff.

9)

https://www.ess-europe.de/krankenversicherung-in-oesterreich

10)

https://www.iwkoeln.de//presse/iw-nachrichten/beitrag/gesundheitsfonds

-12-

Literatur:

Dreyer, Deborah; Strobach, Torge

Gesundheitliche Entwicklung der Bevölkerung ausgewählter Staaten

im Kontext der EU-Finanzkrise

Hrsg. Rektor der Hochschule Neubrandenburg

Neubrandenburg 2017

Goeschel, Albrecht

EU-Sozialpolitik: Formierung einer Klassengesellschaft

der billigen Arbeit

Bergkamen 2015

Goeschel, Albrecht; Martens, Rudolf

Gesundheitsfonds und Regionalpolitik

Hrsg. Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale

Verona 2013

Verspohl, Ines

Gesundheitspolitik durch die Hintertür: Der Einfluss der

EU auf das deutsche Gesundheitssystem

Hrsg. Friedrich Ebert Stiftung

Berlin 2011

Sozialverband VdK Bayern (Hrsg.)

Währungsunion bricht Kassenmonopol

München 1999

Hixt, Lothar

Regionalisierung und Föderalisierung der

gesetzlichen Krankenversicherung

Frankfurt am Main 1996

Goeschel, Albrecht

Regionalisierte Krankenkassen als Leitbild

der gesetzlichen Krankenversicherung in einem

geeinten Deutschland

In:

Sozialverband VdK Bayern (Hrsg.)

Harmonisierungsprobleme zwischen den Sozialversicherungen

beider deutscher Staaten

München 1990

Goeschel, Albrecht; Harms, Jens (Hrsg.)

Raumordnung und Sozialpolitik

Frankfurt am Main 1988

 

Berichte vom 24. Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel (Teil 1)

Am vergangenen Wochenende war es wieder einmal soweit: In Kassel trafen sich Friedensbewegte zum „Friedenspolitischen Ratschlag“. Dem nunmehr vierundzwanzigsten in seiner Geschichte.

Der Hintergrund

Seit 1994 finden in Kassel „Friedenspolitische Ratschläge“ statt.  Veranstalter am 2. und 4. Dezember 2017 war der Bundesausschuss Friedensratschlag sowie das Fachgebiet Didaktik der politischen Bildung am FB 05 an der Universität Kassel.

 

Eröffnungsrede von Anne Rieger

Nach einem Grußwort der Universität Kassel seitens Dr. Andreas Eis eröffnete Anne Rieger (Bundesausschuss Friedensratschlag) vor 300

Anne Rieger eröffnet den 24. Friedenspolitsichen Ratschlag. Fotos: C. Stille

TeilnehmerInnen die zweitägige Veranstaltung in der Aula der Universität. Rieger thematisierte die gefährliche Zuspitzung durch die weltweit forcierte Aufrüstung. An vorderster Front die USA, die NATO und Deutschland.

Von der allein Rüstungsindustrie aber Banken, Aktionäre und Großkonzerne profitierten. Rieger: „Zur Ausweitung und Sicherung ihrer Profite sind die Aktionäre von Banken und Großkonzernen an einem starken, militärtechnisch auf höchster Ebene stehenden Staat interessiert. Im globalisierten Kapitalismus findet ein brutaler Konkurrenzkampf um wirtschaftliche und politische Einflusssphären, um Vorherrschaft statt. Auf staatlicher Ebene realisieren ihn die regierenden Eliten“. Absatzmärkte, Ressourcen, Rohstoffe, Transportwege, Stützpunkte und billige Arbeitskräfte stünden dabei im Fokus.

Anne Rieger warb eindrücklich für Aktion „Abrüsten statt Aufrüsten!“. Vehement forderte Rieger eine „Friedensrepublik Deutschland“. Denn ohne Frieden sei ein Überleben der Menschheit ausgeschlossen. (Hier die Rede von Anne Rieger)

Ingar Solty zu aktuellen Konfliktherden auf dieser Welt

Ingar Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung nahm sich in seinem Redebeitrag „Die Welt in Unordnung – Neue Kriegsgefahren“ der aktuellen Konfliktherde auf der Welt an.

Trotz hoher Verschuldung und einem festzustellende Bröckeln des Imperiums USA vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufstiegs etwa Chinas würde, so Solty, Washington seine Rolle als bedeutendster Akteur in dieser Ordnung verteidigten – notfalls mit Gewalt und auf der Basis von über 800 Militärbasen in mehr als 70 Ländern. Trump versuche mit seiner Außenpolitik (etwa der Verschärfung des Konflikts mit Nordkorea) innere Widersprüche der USA zu übertünchen. Die Steigerung des USA-Rüstungshaushalts um zehn Prozent aber auch die Verdoppelung des deutschen Wehretats bis 2024 auf zwei Prozent des BIP setzten eine weltweite Aufrüstungsspirale in Gang. Worauf freilich auch China und Russland mit Hochrüstung reagierten.

IG-Metaller Wolfgang Lemb über den Kampf der Gewerkschaften für Frieden und Abrüstung sowie Arbeitnehmerrechten über Ländergrenzen hinweg

IG-Metall-Vorstandsmitglied Wolfgang Lemb informierte über den internationalen Kampf der Gewerkschaften um Frieden, Abrüstung und Rüstungskonversion.

Deutschland als drittgrößter Waffenexporteur der Welt spiele dabei keine positive Rolle: „Tod ist nach wie vor Exportschlager aus Deutschland.“ Weshalb Rüstungskonversion, die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion, von besonderer Bedeutung sei. Es brauche in diesem Produktionsbereich internationale Projekte entlang der Wertschöpfungsketten. Es brauch aus diesem Grund rund um den Globus mehr friedenspolitischen Projekte. Beim Kampf um Arbeitnehmerrechte hätte man Erfolge in den USA und Ungarn zu verzeichnen. Weiter müssten die Gewerkschaften dagegen kämpfen Osteuropa als Labor für die Verschlechterungen von Arbeitnehmerrechten zu missbrauchen. Und die Profiteure von Krieg gelte es zurückzudrängen. (Dazu hier die redaktionelle und redigierte Fassung der Rede.)

Eine Reihe weiterer interessanter Veranstaltungen waren Teil des 24. Friedensratschlags

An diesem ersten Tag des 24. Friedenspolitischen Ratschlags gab es noch eine Reihe weiterer Veranstaltungen, die ich freilich nicht alle besuchen

Die 300 TeilnehmerInnen des 24. Friedensratschlags während der Eröffnung der zweitägigen Veranstaltung.

konnte. Ob ein neuer Korea-Krieg zu befürchten steht, darüber referierte der Publizist Dr. Rainer Werning. Über das Verhältnis von Russland zu EU und NATO sprach der ausgewiesene Russland-Experte Kai Ehlers.

Zum von den hiesigen Medien betreffs der Berichterstattung darüber sehr stiefmütterlich behandelten Krieg im Jemen und seinen entsetzlichen Folgen war Jacqueline Andres von der Informationsstelle Militarisierung zu vernehmen. Das Land wird seit 2015 von Saudi-Arabien mit Luftschlägen überzogen und ist überdies Ziel des US-Drohnenkriegs. Momentan hungern sieben Millionen Menschen im Jemen, 17 Millionen sind von Hunger bedroht. Die deutsche Bundesregierung spielt auch in diesem Krieg eine unrühmliche Rolle, weil sie Saudi-Arabien als strategischen Partner sieht.

Hier noch ein Grußwort Thomas Roithner, der krankheitsbedingt hatte absagen müssen.

Hinweis: Sollten noch Manuskripte der von mir nicht besuchten Veranstaltungen im Rahmen des 24. Friedenspolitischen Ratschlags ins Netz gestellt werden, werde ich diese hier in den Text einpflegen.

Voraussichtlich morgen bzw. in den nächsten Tagen lesen Sie hier auf diesem Blog noch meine Berichte über den Vortrag 100 Jahre „Dekret über den Frieden“ Jahre des italienischen Philosophen Prof. Domenico Losurdo (Urbino) sowie der Journalistin und Syrien-Korrespondentin Karin Leukefeld „Teile und herrsche in Syrien – wie Deutschland in der Levante Einfluss nehmen will“.

Hochinteressant war auch der Vortrag des Juristen und Politikers Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, am Sonntagvormittag in der Aula der Uni Kassel. Orlando sprach in seinem bewegenden Beitrag über die „Charta von Palermo“ und berichtete von der bemerkenswert positiven Entwicklung der Stadt am Mittelmeer, in der die Mafia massiv an Einfluss verloren hat.

Buchempfehlung: „Lustig ist anders“ Ein deutsch-amerikanisches Lesebuch von Lutz Jahoda und Reiner Schwalme (Zeichnungen)

Das Cover des Buches (via Lutz Jahoda).

Es ist eine Binse. Menschen sind äußerst vergesslich. Politik nutzt diese Vergesslichkeit nicht selten aus. Von der Einheitseuphorie 1990 erfasst, wurde von den Menschen manches im Eifer des Gefechts nicht bedacht und vieles nicht bemerkt. Aber es gibt immer Zeitgenossen, die sich vielleicht kurzzeitig täuschen lassen, jedoch bald schon bemerken, dass da etwas schief läuft. Lutz Jahoda, Schauspieler, Entertainer, Sänger, Moderator und Autor – vergangenen Juni feierte er seinen 90. Geburtstag (hier) – ging Zeit seines Lebens wachen Auges und mit geschärftem Gehör durchs Leben. (Ich empfehle meinen LeserInnen dessen Autobiografie und die Romantrilogie „Der Irrtum“.) Das Multitalent dürfte einstigen DDR-BürgerInnen zwangsläufig eher bekannt sein als den Menschen jenseits der Elbe, im Westen Deutschlands. Letztere sollten Nachholbedarf anmelden.

Ein deutsch-amerikanisches Lesebuch

Nun – in Sorge wegen politisch bedenklicher und gefährlich zu nennender gesellschaftlichen Entwicklungen hierzulande wie in der Welt – hat Lutz Jahoda abermals ein Buch verfasst. Es trägt den Titel Lustig ist anders: Ein deutsch-amerikanisches Lesebuch. Politpoesie und Prosa von Lutz Jahoda“.

Es enthält 447 unterhaltsame, auf- und (hoffentlich!) zu eigenem Handeln anregende informative und einige Polit-und andere Schweinereien in Erinnerung rufende Seiten Politpoesie und Prosa aus der Hand Lutz Jahodas, mit 91 den Nagel krachend auf den Kopf treffender Zeichnungen des 80-jährigen Reiner Schwalme (Eulenspiegel). Eigentlich sollte der Titel wohl „Lustig war gestern“ (mit Fragezeichen von Schwalme drüber) lauten. Doch man fand diesen Titel eine „anfechtbare Behauptung“: „Wann war es jemals durchgehend lustig in Deutschland?“ Entweder bereits aus eigener Betrachtung heraus selbst erkannt oder erst nach der Lektüre des Jahoda-Schwalme-Buchs in Auge und Hirn gesprungen: 27 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung der beiden Deutschländer muss konstatiert werden: Lustig ist anders. Und wir als LeserInnen dürfen uns am Ende des Buches, uns dabei ehrlich machend, fragen: Wurde aus vergangenen Fehler etwas gelernt?

Statt eines Vorworts“, heißt es ziemlich am Anfang des Buches erläuternd:

„Reime mit und ohne Häme,

einfach nur Politprobleme:

Unmut, metrisch gebündelt.

Denn weder die Jungen

und erst recht nicht die Alten

hätten es jemals für möglich gehalten,

dass Deutschland noch einmal zündelt.“

Darauf umseitig folgend eine treffliche Illustration mit einem auf einen Handrücken gestützten, nachdenklichen Reiner Schwalme im Selbstporträt, die alle derzeitigen Übel als Kranz um ihn herum anzeigt: Aufrüstung, Kriege, Finanzkrise, IS-Terror, Neonazis, Ohnmacht, Protest und Aufruhr – mit mittig untendrunter einer Merkel, die statt der obligatorischen Raute ein Fragezeichen in Händen hält. Bombig!

Ja, viele DDR-Bürger ahnten es anfangs nicht:

Der Kapitalismus sah, kam und siegte ohne Rücksicht auf Verluste peu á peu. Deshalb für mache Menschen unbemerkt. Er konnte das, weil das Gegensystem, welches – wie Westgewerkschafter sich noch erinnern – bei Tarifverhandlungen immer imaginär mit am Tisch gesessen hatte, war erledigt (worden). Jetzt konnte der Kapitalismus wieder ungeniert Raubtier sein. Jahoda bekennt:

„Es stand schon einmal besser um David gegen Goliath. Da war eine Menge versemmelt worden, noch ehe Gorbatschow sich von Reagan übertölpeln ließ. Das System, mit dem wir es seit der Wende zu tun haben, trägt das aus den USA importierte keep smiling oberflächlicher Herzlichkeit vor sich her, das sich allerdings rechnen muss. Ist dies nicht der Fall, und geht es gar um höhere Beträge, kann das Lächeln schnell einfrieren und das Herz zu Stein werden.

Die Welt weiß, was 1989 in Berlin geschah. Was sie nicht weiß, dass ein Land und dessen jubelnden Bewohner mit Bravour über den Tisch gezogen wurden.“

All das nachdem, wie der Autor des Buches weiter hinten notierte nach dem Aufbegehren der Menschen in der DDR, „angeregt durch Gorbatschows Glasnost und Perestrojka und angeregt durch Honeckers Widerstand“ (…), „Schabowski, der unterbelichtete Unglücksvogel“, der Schieflage einen entscheidend letzten Tritt mit seiner Fehlmeldung einer sofortigen Grenzöffnung für alle Bürger der DDR (versetzt hatte), und Helmut Kohl wurde der Lorbeerkranz des Einheitskanzlers aufgesetzt.“

Und Lutz Jahoda zitiert einen Betroffenen, der später äußert:

„Während ich noch begeistert das Bundesfähnchen schwenkte, hatten die mir schon das Oberleder von den Schuhen geschnitten.“

Einst wirklich Gutes an der DDR sei rasch diffamiert und delegitimiert worden. (Wir erinnern uns: der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel hatte sogar eine „Delegitimierung der DDR“ als „Unrechtsstaat“ verlangt.) Während von den Bundesdeutschen vergessen worden sei – wie wir Seiten später lesen werden – „mit welch übler Ansammlung an Unrecht der Bonner Bundesstaat Deutschland seinen Anfang nahm“ (Gründung des BND mit CIA-Hilfe, bestückt mit Angehörigen der SS, des SD und der Gestapo sowie Hans Globke (Kommentator der Nürnberger Rassegesetze) zum Staatssekretär des Bundeskanzleramtes zu machen. Auch wirtschaftlich habe es um die DDR besser gestanden, als man in der Presse zu lesen und von der Politik zu hören bekam. Und warum, fragt Jahoda: halte man die wirklichen Einheitskosten bis heute unter Verschluss?

Lafontaines Empfehlungen wurden in den Wind geschlagen

Oskar Lafontaines Empfehlungen, so der Autor, seien seinerzeit während dessen Krankenhausaufenthalt nach einem Messeranschlag auf ihn, in den Wind geschlagen und somit das wirtschafts- und sozialpolitische System der BRD ad hoc der DDR übergestülpt worden. Jahoda:

„Bumm, Radetzky, sagte ich und sah mich bald einig mit Lafontaines späteren Worten, dass Wahrheit nicht immer populär sei, und dass die Vernunft die Einheitseuphorie unterschätzt und die ins Feld geführten Argumente überschätzt habe.“

Währungsreform in den Westzonen, Blockade Westberlins und der Marshall-Plan

Lutz Jahoda erinnert an einen für die Entwicklung der beiden deutschen Staaten nicht unerheblichen Vorgang: An eine via Rundfunk verkündeten Währungsreform für die drei westlichen Besatzungszonen:

„Von Montag an, dem 21 Juni 1948 werde nur noch die die DM als allein gültiges Zahlungsmittel gelten.“

Kurz danach habe zwar auch die sowjetische Besatzungszone reagiert, „allerdings nicht mit jenem Geld dienen“ können, das in den USA für die Westdeutschen gedruckt worden war.“ Ein Missverhältnis habe sich ergeben und die Blockade Westberlins sei erfolgt. Die Amerikaner reagierten mit der Versorgung der Frontstadt mit Lebensmitteln und Heizmaterial aus der Luft. Daraus sei nicht zuletzt „jene Dankbarkeitsbindung“ entstanden, „die sich für das vereinigte Deutschland nachteilig auswirkt“. Wir finden auch einen Hinweis im Buch darauf, dass der berühmte Marshall-Plan alles andere als uneigennützig für Washington war.

Eine „Elegie Ost“ beinhaltet eine „Kurzbeschreibung christlich-demokratischer Einverleibung“:

„Wir hätten es eigentlich wissen müssen,

und wenn schon nicht wissen so zumindest erahnen.

Wir verkauften unser reines Gewissen

für hundert Mark West

Und Discounter-Bananen.

Ein Vierteljahrhundert danach wird

erhoben:

Zu tadeln sei nichts – nur noch zu loben,

gemäß Weisung der

Zeitungskonzerne.

Noch gibt es den Euro,

da bückt man sich gerne

und besonders tief vor jenen ganz oben.“

Thematisiert wird auch das Über-den-Tisch-Ziehen von Gorbatschow

Jahoda: „Längst weiß die Welt, dass Gorbatschows Entgegenkommen am 31. März 1991 purer Leichtsinn war.“ Die bedingungslose Auflösung des Warschauer Paktes und der Abzug der auf DDR-Gebiet stationierten sowjetischen Besatzungstruppen, „während die USA und die NATO sich schamlos osterweiternd ausdehnte“. Jahodas bitteres Fazit:

„Gorbatschows Versäumnis hat Wladimir Putin gegenwärtig auszubaden.“

Eine bedenkliche Entwicklung wird Punkt um Punkt nachgezeichnet

Der Autor zeichnet die nahezu von Jahr zu Jahr seit 1990 sich immer bedenklicher gestaltende Entwicklung bis in unsere Tage nach. Die düstere Adenauer-Zeit, die Flick-Affäre, schwarze Kassen und der widerliche Trick mit den angeblichen jüdischen Vermächtnissen bei der CDU und deren Spendenaffäre. Und den LeserInnen wird es von gelesener Zeile zu gelesener Zeile wie Schuppen von den Augen fallen: das läuft auf eine mögliche Katastrophe hinaus. Danach, so Jahoda sei mit Angela Merkel, als unbescholten geltende „aus dem Osten und damit frei von allen Sünden des Westens“ zur CDU-Chefin gemacht worden. Die dann fünf Jahre später Bundeskanzlerin wurde. „So nahm ein neues Elend seinen Lauf“, lautet das treffliche Urteil Lutz Jahodas. Europa, dichtet er ist „Auf schiefer Bahn“, sei „schäbig auf- und abgestiegen zum Dienstobjekt der Vereinigten Staaten!“ Kriege – auch mit deutscher Beteiligung – wurden wieder möglich.

Arm und Reich driftet immer mehr auseinander. Das für Deutschland eigentlich so wichtige gute Verhältnis zu Russland ist ruiniert und auf Kalten-Kriegs-Niveau. Doch selbst da war es besser: Man denke nur an die Entspannungspolitik der Regierung Brandt, die Kohl einst sogar fortsetzte. Müssten – so leuchtet’s achtungblinkend einen aus den Zeilen des Buches heraus an – Deutschland und seine Medien nicht endlich ihre Blindheit gegenüber den Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten (Rationalgalerie) aufgeben und die auferlegte „beschämende Untertänigkeit“ aufgeben? Und das Zitat von Noam Chomsky will im Buch versammelt auch zum NachDenken animieren: „Die USA sind ein Schurkenstaat, und Europa ist extrem rassistisch.“

Manchem mag es vielleicht zu viel des Guten sein. Lutz Jahoda zitiert sehr oft Ulrich Gellermanns Internetplattform RATIONALGALERIE, wo er selbst hin und wieder kommentiert. Jedoch ist dort nun einmal wirklich oft Interessantes, Standpunktfestes, zu lesen, das den Rezipienten bereichert. Andere  LeserInnen könnte bemängeln, dass das Buch Kritik an der DDR weitgehend ausspare. Nun, das wäre wohl zu ausufernd geworden. Zumal doch in diese Richtung vieles aus bekannt vorausgesetzt werden kann. Wo Jahoda die bedenklichen Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa thematisiert, ist ihm ein Fehler bei Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) unterlaufen. Er verortet den Blondschopf in Belgien, dieser aber ist Niederländer.

Das Buch ist weiten Teilen durchaus ein Geschichtsbuch

Es porträtiert auch die gewesenen Bundespräsidenten. Wie lehrreich! Man vergisst ja bekanntlich schnell. Alle wichtigen Ereignisse bis dato – Untaten und Sauereien eingeschlossen – sind darin zu finden. Auch wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Redaktion Tagesschau aktuell vermehrt journalistische Fauxpas begeht. Etwa Bestimmtes weglässt, somit vergessen lässt, was wie Jahoda in „Unschuldswalzer“ reimt, (…)„ist leichter als Lügen/Totschweigen schwächt den Verdruss!/Schweigen! Schweigen!/Was nicht erscheint, spart Verdruss!/Schweigen! Schweigen!/Kein Kommentar, Punkt und Schluss!“ Auch die Tagesschau bekommt noch gehörig auf den Hut. Sowie ARD-Korrespondentin Golineh Atai mit ihrer verzerrten Ukraine-Berichterstattung.

Ein Sack voll Interessantem ist im Buch zu finden. Hier kann und soll nur ein wenig davon gestreift werden. Auch um munter dazu zu animieren, dass Werk zu lesen.

Ich verspreche: man mag es, einmal aufgeschlagen, eigentlich kaum wieder aus der Hand legen.

Gewiss gibt es jede Menge Sachbücher, wo sich ähnliches wie in diesem – nur ausführlicher – Beschriebenes finden lässt. Doch die Kunst dieses Buches bzw. die dessen Autors nebst last but not least dessen Mitstreiters Schwalme besteht darin, in Kürze und in fesselndem, durchaus – trotz bitterer Tatsachen – auch in humorvoll-satirischer Form den Kern des zu transportierendem Inhalts zu vermitteln. Und vieles zusammenzufassen. Was erkennen lässt, wie Michael Lüders in anderer Hinsicht zu sagen pflegt: Alles hängt mit allem zusammen. Klar auch, dass noch Trump und das Elend und die Hintergründe für den Syrien-Krieg beleuchtet und einer Beurteilung unterzogen wird.

Gegen Ende des Buchs gibt es ebenfalls noch eine „Kummervolle Vorausschau auf das deutsche Wahljahr 2017“

Worin der Verwunderung Ausdruck verliehen wird, warum, obwohl 90 Prozent der Deutschen keinen Krieg wollten, 90 Prozent Parteien wählen, die gegen Kriegseinsätze nichts einzuwenden haben. In der Tat: Warum wählen viele Menschen gegen ihre Interessen? Und zwar nicht nur Kriegs- auch in wirtschaftlichen und sozialen Fragen.

Vorläufiges, traurig stimmendes Fazit im Buch:

„Das Elend politischer Dummheit ist groß.

Der Schaden lässt sich nicht leimen.

So werde auch ich das Gefühl nicht los:

Die Mehrheit wählt falsch. Was mach ich bloß?

Und weiß darauf nichts mehr zu reimen.

???“

Doch der Autor besinnt sich zu guter Letzt, will die LeserInnen nicht in depressiver Stimmung zurücklassen:

„Ja, die Fragezeichen sind berechtigt, und Nein so darf Geschichte nicht enden. Dass wir wieder einmal an Georg Büchner erinnern müssen, ist traurig, aber notwendig.

Zu Darmstadt im Sommer 1834, notierte er:

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“

Und Jahoda zitiert daraus. Nimmt das Zitat als „ein Schlusswort, das Herz und Verstand streichelt.“

An meine LeserInnen: Unbedingt zur Lektüre empfohlen! Und weiterempfehlen.

Ja, es ist ein Binse: Menschen sind vergesslich. Das Buch ruft vielleicht verschüttete Erinnerung zurück. Gut so.

Das Buch

Rückseite des Covers von „Lustig ist anders“ (via Lutz Jahoda).

Lustig ist anders

Lutz Jahoda/Zeichnungen Reiner Schwalme

Paperback

448 Seiten

ISBN-13: 978-3-7448-3766-8

Verlag: Books on Demand

Erscheinungsdatum: 14.06.2017 26,90 €, E-Book 9,99 €

Bundesregierung reagiert spät, droht Ankara aber nun endlich Konsequenzen für ihr Handeln an. Erklärung von Außenminister Sigmar Gabriel auf Pressekonferenz

Burg in der Türkei. Foto: Stille

Nach den jüngsten Verhaftungen von deutschen Menschenrechtlern in der Türkei will die Bundesregierung dem NATO-Partner Türkei offenbar nun endlich mit Konsequenzen drohen. Was praktisch geschehen soll, sagte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel heute auf einer Pressekonferenz in Berlin. Für den Geschmack der Opposition im Deutschen Bundestag reagiert Berlin ziemlich spät auf das antidemokratischen Treiben und die Schleifung des Rechtsstaats in der Türkei. Auslöser dürfte die Verhaftung des deutschen Amnesty-International-Mitarbeiters Peter Steudtner auf der Marmarameerinsel Büyükada gewesen sein. Minister Gabriel hatte wegen der zugespitzten Situation in der Türkei seinen Urlaub abgebrochen. Hier das ZDF-Video mit dem Statement von Außenminister Sigmar Gabriel auf der heutigen Pressekonferenz.

Aktuelle Reise- Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes für die Türkei

Stand 20.07.2017
(Unverändert gültig seit: 20.07.2017)

„Die innenpolitische Lage in der Türkei ist weiterhin angespannt. Es ist nicht auszuschließen, dass es zu vereinzelten Demonstrationen und Großveranstaltungen kommen kann.Zuletzt waren in der Türkei in einigen Fällen Deutsche von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen, deren Grund oder Dauer nicht nachvollziehbar war. Hierbei wurde teilweise der konsularische Zugang entgegen völkerrechtlichen Verpflichtungen verweigert. Personen, die aus privaten oder geschäftlichen Gründen in die Türkei reisen, wird zu erhöhter Vorsicht geraten und empfohlen, sich auch bei kurzzeitigen Aufenthalten in die Listen für Deutsche im Ausland bei Konsulaten und der Botschaft einzutragen. Die Auslandsvertretungen werden bei Festnahmen deutscher Staatsangehöriger nicht immer rechtzeitig unterrichtet, der Zugang für die konsularische Betreuung wird nicht in allen Fällen gewährt. Seit Anfang 2017 wurde wiederholt deutschen Staatsangehörigen an den Flughäfen in der Türkei die Einreise ohne Angabe genauer Gründe verweigert. Die betroffenen Personen mussten nach einer Wartezeit in Gewahrsam von mehreren Stunden ihre Rückreise nach Deutschland antreten. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass ungeachtet des gesetzlichen Anspruchs deutscher Staatsangehöriger auf konsularischen Rat und Beistand, konsularischer Schutz gegenüber hoheitlichen Maßnahmen der türkischen Regierung und ihrer Behörden nicht in jedem Fall gewährt werden kann, wenn der oder die Betroffene auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt.Nach dem gewaltsamen Putschversuch am 15.07.2016 hat die  türkische Regierung in allen 81 Provinzen der Türkei den Notstand nach Art. 119 und 120 der türkischen Verfassung und des Notstandgesetzes von 1983 ausgerufen. Dieser wurde erneut verlängert und gilt zumindest bis zum 19. Oktober 2017 fort.Auf dieser Grundlage können u.a. Ausgangssperren kurzfristig verhängt, Durchsuchungen vorgenommen und allgemeine Personenkontrollen jederzeit durchgeführt werden. Es kann im Einzelfall auch zu Festnahmen von Personen kommen, gegen die türkische Behörden strafrechtlich vorgehen (etwa bei Verdacht auf Verbindungen zur sogenannten Gülen-Bewegung, der verbotenen „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK oder tatsächlichen oder vermeintlichen terroristischen Straftaten ).Während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kann u.a. die Ausreise untersagt werden. Unter den während des Notstands geltenden Bestimmungen können Verdächtige auch bis zu 14 Tagen in Polizeigewahrsam genommen werden, bevor sie einem Haftrichter vorzuführen sind. Außerdem kann ihnen für 24 Stunden jeglicher Kontakt zur Außenwelt verwehrt werden. Von diesen Maßnahmen, sowie von der Möglichkeit zur Verhängung von Untersuchungshaft (nach türkischem Recht von bis zu fünf Jahren möglich) im Anschluss an den Polizeigewahrsam, wird unter der Geltung des Notstands reger Gebrauch gemacht. Dabei genügen oft bereits geringe Verdachtsmomente.In der Türkei ist es, insbesondere seit Mitte 2015, wiederholt zu terroristischen Anschlägen gekommen.
Es ist keinesfalls auszuschließen, dass terroristische Gruppierungen auch weiterhin versuchen werden, Anschläge, insbesondere in den großen Metropolen, durchzuführen. Diese können sich auch gezielt gegen Ausländer richten.Reisende sollten besonders aufmerksam sein und Menschenansammlungen und Orte, an denen sich regelmäßig viele Ausländer aufhalten, möglichst meiden.Reisenden wird ferner empfohlen, sich über Medien und diese Reise- und Sicherheitshinweise zur weiteren Lageentwicklung informiert zu halten sowie engen Kontakt mit ihrem Reiseveranstalter oder ihrer Fluglinie zu halten.Im Reiseverkehr kann es weiterhin zu Beeinträchtigungen und insbesondere zu verstärkten Sicherheitskontrollen an den Flughäfen kommen.“

Mehr hier.

Stand 20.07.2017
(via Auswärtiges Amt)

Prof. Albrecht Goeschel interviewt zu seinem Text: „Mehrwertsteuer: Das Geld des Volkes“

Portal des Reichstages, Sitz des Deutschen Bundestages in Berlin; Foto: Claudia Hautumm via Pixelio.de

Einmal mehr hereingeflattert: Ein „*Interview“ mit dem Professor aus Verona. Es geht um eine Steuer, die wir alle zahlen. Prof. Goeschel antwortet wie immer schonungslos. Das muss nicht jedem gefallen. Aber ich denke, er hat mit seiner Arbeit abermals in ein Wespennest gestochen.


 

Frage:

Herr Professor, wieder haben Sie uns vor diesem Interview einen Text zum Lesen

gegeben. Titel: „Mehrwertsteuer: Das Geld des Volkes?“. Der Text soll im Herbst in

„Tumult“ veröffentlicht werden. Warum erst im Herbst ?

Goe.:

Im Herbst deshalb, weil nach den Wahlen für die Berliner Glaskugel voraussichtlich wieder eine GroKo auf der Regimebank hocken wird und dann wird genau die Steuer erhöht werden, von der keiner redet.

Frage:

Von welcher Steuer reden Sie denn ?

Goe.:

Das war jetzt wohl eine Falschfrage. Bevor Sie darauf eine Echtantwort bekommen,

frage ich Sie: Ist Ihnen schon aufgefallen, dass seit einigen Wochen in der Wahrheitspresse das Thema „Einkommenssteuer“ enorm aufgeblasen wird ? Eine Steuer, die nur 7-8 Prozent der gesamten Steuereinnahmen ausmacht und die zur Hälfte von nur 5 Prozent der Einkommensteuerzahler, also von Spitzenverdienern finanziert wird, ist das Medienthema Nummer Eins im Steuertheater. Warum? Nicht weil in der Tat die so genannte Progression ein Verarmungsrisiko auch für gut verdienende Lohn- und Gehaltsempfänger etwa bei den Exportkonzernen ist, sondern weil damit zwei andere,wirkliche Probleme kaschiert werden können.

Frage:

Jetzt haben wir schon drei Fragen: Welche Steuer ist die allseits beschwiegene? Und von welchen beiden Steuerproblemen wird mit dem aktuellen Steuergedöns abgelenkt?

Goe.:

Allora“ – fangen wir an. Zur ersten Frage. Beschwiegen wird die Mehrwertsteuer.

Diese macht mittlerweile über 30 Prozent aller Steuereinnahmen aus und sie wird vom kleinsten Baby, vom frechsten Schüler, von der ältesten Oma bei allem bezahlt,

was die täglich so brauchen, damit sie über die Runden kommen. Bezahlt wird diese

Steuer auch von allen Niedriglöhnern, Krankengeldbeziehern, Dauerarbeitslosen und

Altersrentnern etc. bei jedem noch so dürftigen Einkauf. Das läuft so seit den einhundert Jahren, in denen die Mehrwertsteuer von 0 Prozent Anteil an den Staatseinnahmen auf heute über 30 Prozent Anteil an den Staatseinnahmen angewachsen ist. Die Mehrwertsteuer – das ist das Geld des Volkes.

Frage:

Und was hat das Einkommensteuergeblöke jetzt damit zu tun ?

Goe.:

In der Finanzgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehört es seit deren Grün-

dung zur „Staatskunst“, Steuervergünstigungen für Unternehmen, Großvermögen und Hocheinkommen möglichst mit Mehrwertsteuerbelastungen für die einfachen Leute „gegenzufinanzieren“. Der Begriff sagt schon alles: „Gegenfinanzieren“ bedeutet meistens gegen das Volk und die abhängigen Klassen finanzieren. Damit die Regimes das möglichst problemlos über die Bühne bekommen, braucht es Phrasendonner und Ideologienebel. Der wird mit den Arien zur Einkommensteuerprogression gerade produziert.

Frage:

Gibt es Beispiele aus der Finanzgeschichte der BRD ?

Goe.:

Die beiden übelsten Bubenstücke einer Bereicherung der Wirtschaftsunternehmen, Großvermögen und Hocheinkommen auf Kosten des Volkes und der abhängigen Klassen waren die Phasen der westdeutschen „Währungsreform“ von 1948 und des deutsch-deutschen „Einigungsvertrages“ von 1990. Im Nachgang zur „Währungsreform“ wurden vom Duo Adenauer-Erhard vor allem den Unternehmen enorme Abschreibungsvergünstigungen für den Kapitalausbau gewährt. Die entsprechenden Steuerausfälle mussten die Leute mit einer von 3 auf 4 Prozent erhöhten Mehrwertsteuer berappen. Das ganze Theater hieß „Soziale Marktwirtschaft“. Die Nummer zwei lief unter Kohl-Waigel und hieß „Wiedervereinigung“. Auch hier wurden der

Wirtschaft, den Großvermögen und den Hochverdienern enorme Steuervorteile bei

Produktivinvestitionen und Immobilienspekulationen im Anschlussgebiet eingeräumt

und im Gegenzug die Mehrwertsteuer im Jahre 1993 auf 15 Prozent und im Jahre 1997 auf 16 Prozent erhöht.

Frage:

Das war jetzt das Problem der Reichenbereicherung durch Mehrwertsteuererhöhung. Welches ist das zweite Problem, das mit der Einkommensteuerdebatte kaschiert wird?

Goe.:

Dieses Problem besteht in der Mehrwertsteuer-Regression. Damit gemeint ist, dass

die Personen und die Familien mit den niedrigen Einkommen den größten Teil dieses Einkommens für Verbrauchsgüter und Dienstleistungen, die sie zum Leben brauchen, ausgeben müssen. Diese Personen und Familien sind also von der Mehrwertsteuer am stärksten belastet. Das hat in jüngster Zeit eine wissenschaftliche Studie des RWI-Institutes wieder eindrucksvoll bestätigt. Die hochstilisierte Progression der

Einkommensteuer betrifft vergleichsweise wenige und das sind häufig Steuerpflichtige mit so hohen Einkommen, dass sie damit oberhalb der Beitragspflicht zur Sozialversicherung liegen.Dafür vertuscht die nicht geführte Debatte über die Mehrwertsteuer-Regression, dass locker 15 Millionen Haushalte, die weniger als sagen wir zusammen 1800,- Euro Bruttoeinkommen im Monat haben, von der Mehrwertsteuer weit überdurchschnittlich belastet sind. Ganz jämmerlich in diesem Zusammenhang: Das akademische Linksmilieu; die pseudokritische Linksökonomie und die opportunistische Linkspartei. Bei diesen Genannten existiert die Frage nach dem Geld des Volkes gleich gar nicht. Löbliche Ausnahme: Der Kollege Prof. Hickel.

Frage:

Was bestärkt Sie eigentlich in der Annahme, dass W. Schäuble, ob wieder als Finanzminister oder in einer anderen Stichwortgeberfunktion, irgend eine Bosheit ersinnen wird, um in der nächsten GroKo die Leute via Mehrwertsteuererhöhung wieder bezahlen zu lassen – für noch vollere Konten der Firma BRD und noch fettere Steuervergünstigungen für Wirtschaftsunternehmen, Großvermögen und Hocheinkommen?

Goe.:

Schäuble, dienstältester, so zusagen chronischer, Bundestagsinsasse und dem entsprechend in Heimtücke geübt, redet schon seit einiger Zeit von ominösen 15 Milliarden Euro, die er im Rahmen einer „Steuerreform“ für Steuersenkungen locker machen will. Als Empfänger dieser Wohltaten nennt er dabei Lohnsteuerzahler, Einkommensteuerzahler und Unternehmenssteuerzahler. Als Gründe für diese Steuererleichterungen badensert Schäuble dann etwas daher über Standortwettbewerb, Integrationskosten und Sicherheit. Damit sind schon einmal die Hauptdardarsteller im nächsten Mehrwertsteuer-Schurkenstück bekannt: Trump, die Asylanten und Putin. Was der ehemalige Regierungsrat Sch. des Finanzamts Freiburg tatsächlich im Schilde führt, hat er dem Flaggschiff der Wahrheitspresse, der Süddeutschen Zeitung im Januar 2017 in einem Interview zugeraunt: „Aufkommensneutrale Verschiebungen mit dem Ziel struktureller Verbesserungen“. Das ist genau die Formel für die „Gegenfinanzierung“ von Steuerentlastungen für die Unternehmen durch Mehrwertsteuererhöhungen für die Leute.

Frage:

Das klingt doch, obwohl es gemein ist, irgendwie ganz harmlos ?

Goe.:

Gerade das ist ja das Gefährliche an Schäuble. Er mimt den Sparbuchspiesser,

ironisiert sich in einem Interview (The European) als “mürrischen“ Opa und kommt genau damit bei denen gut an, die sich kreuzbrav durch den grauen Adenauer- bis Merkelkapitalismus durchgeackert haben und sich jetzt auf ihre weg gesteuerten

Direktversicherungen und leerer werdenden Sparbüchlein freuen dürfen.Diese Leute müssten nicht nur die aufgezwungenen Zuwanderer hassen, sondern vor allem den Steuertäter Schäuble schleunigst in eine Putzzeugkammer schieben. Trau’n sie sich aber nicht, haben sie nicht gelernt – glauben sie ihm halt sein Gefasel.

In Wahrheit ist Schäuble ein dogmatisch-notorischer Anhänger der Umstellung möglichst der gesamten Besteuerung auf Mehrwertsteuer und der Ersetzung der Sozialbeiträge auch durch die Mehrwertsteuer. Seine Chance für einen derartigen Steuerputsch hat Schäuble z. B. im Durcheinander der Übernahme der Ex-DDR durch die Firma BRD gesehen. Damals hat er eine derartige Steuerumstellung vorgeschlagen.

Und bei der damals auch eingeführten Pflegeversicherung hat er es wieder probiert und gefordert, diese Sozialversicherung nicht aus Sozialbeiträgen, sondern aus der Mehrwertsteuer zu finanzieren. Zum Glück ist aus diesem Schäuble-Ansinnen aber nichts geworden.

Wenn ich es recht bedenke, ist W. Schäuble für die Leute, für die Klasse der abhängig oder scheinselbständig Beschäftigten, für das Volk inzwischen gefährlicher als die moralisch erledigte A. Merkel.

Frage:

Ist es so schlimm ?

Goe.:

Es ist noch schlimmer. Vergessen Sie nicht, dass der Sadismus und die Infamie, mit denen Schäuble die kleinen Leute in Griechenland, nicht die korrupten Eliten dort, in Armut und Krankheit getrieben hat und weiter treibt und sie herabwürdigt, eiskalter Bürokratenpopulismus für seine ihrerseits verbitterten Stammwähler und die Bildleser ist.

Hinter seiner demonstrativen Menschenfeindlichkeit, mit der dieser „bekennende

Christ“, getarnt als Rollstuhlopfer, im unsäglichen Kaufhausanzug, aber mit sauberem Scheitel, nicht den verkommenen EU-Milliardären und NATO-Kreaturen in Griechenland einen Schuldenbeitrag, sondern der „armen Witwe ihr Scherflein“ (nachlesen Schäuble ! Bibel Lukas 21) konfisziert, dreht Schäuble ein viel größeres Mehrwertsteuer-Rad: Den weiteren Ausbau der Mehrwertsteuer von einem Instrument der nationalen Konfiskation und Umverteilung von den Leuten zu den Eliten zu einem Instrument der transnationalen Destruktion und Aggression gegen andere Volkswirtschaften und Gesellschaften. Genau das hat Schäuble unter Ausnutzung der Finanz-, Real- und Budgetkrise des zurückliegenden Jahrzehnts mit dem EU-Fiskalpakt erfolgreich gefingert. Vor allem in der Südperipherie Europas wurde Schäubles Austerity-Diktat mit Mehrwertsteuererhöhungen durchgesetzt. Die südeuropäischen Konkurrenzvolkswirtschaften wurden damit noch tiefer in die Krise getrieben und die Lebenslagen in der dortigen Gesellschaften wurden noch weiter zerrüttet. Die geschlossenen Krankenhäuser, die privatisierten Wasserwerke und die verkaufte Staatsbahn Griechenlands: Das Werk des „bekennenden Christen“ Schäuble.

Frage:

Wenn Schäuble aber diesen Erfolg gegenüber Europa erzielt hat, warum sollte er dann weiter die Mehrwertsteuer gegen die Leute in Deutschland erhöhen?

Goe.:

Das hat er vor kurzem bei einer Konferenz an der John-Hopkins-Universität in Washington offenbart. Schäuble plant einen Europäischen Währungsfonds für ein Kerneuropa mit dem „Geschäftsmodell Deutschland“ als Hegemon und Hauptprofiteur. Hauptfunktion dieses Währungsfonds soll es sein, eine zentrale Währungs-,

Finanz- und Wirtschaftspolitik ohne Einfluss der Parlamente und Regierungen der

beteiligten Nationen und unter Umgehung der EU insgesamt zu installieren – Finanzdiktatur halt. Für diese erneute Aggression gegen die bestehenden Institutionen, Nationen, Normen etc. braucht Schäuble volle Kassen, exportdominierende

Konzerne, ein Privilegiertenmilieu einschließlich BMW-Arbeiterprinzen etc. – und dafür braucht Schäuble das Geld des Volkes über eine höhere Mehrwertsteuer.

Frage:

So betrachtet war Merkels Migrationsputsch dann ja eine Steilvorlage für Schäuble ?

Goe.:

Schon. Die von Merkel herbeigerufenen Millionen Muselmanen, man muss ja den „Familiennachzug“ mit dazu rechnen, sind ein enormer Konsumschub und damit Mehrwertsteuerschub. Noch der islamistischste „Gefährder“ ist bis zur Tatausübung und danach auch im Knast „Verbraucher“, Mehrwertsteuerverursacher. Mit ihrem

Verfassungsbruch hat Merkel die Finanzierung ihres Regimes zweifach verbessert:

Durch Erhöhung des Mehrwertsteueraufkommens und durch Vorwände für eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes.

Am Beispiel „Gefährder als Verbraucher und Mehrwertsteuerzahler“ verstehen Sie

vielleicht, warum für mich Schäuble der „Biedermann als Brandstifter“ (Max Frisch) ist.

Frage:

Aus Ihren Bewertungen des Herrn Schäuble als Protagonisten einer radikalisierten

Mehrwertsteuerpolitik klingt nicht gerade eine besondere Hochachtung zumindest für den Charakter Schäuble – liegen wir da richtig ?

Goe.:

Nach dem jahrelangen Denk- und Redeverbot als Folge des Merkelschen Dogmas

der „Alternativlosigkeit“ bricht sich jetzt ironischer Weise als „Merkel-Hass“ doch wieder eine politisch-ökonomisch-psychologische Kritik des Charakters der politischen Milieus, aber auch des politischen Personals Bahn. Die vom Regime finanzierten und hofierten Promotoren der offiziösen „Menschenfeindschaftsdebatte“ haben sich das so sicherlich nicht gedacht. Jedenfalls ist es jetzt wieder seriös möglich, sich die Abstimmungskarten- und Unterschriftsmappen-Täter etwas näher anzusehen, die das Lebensglück, aber auf alle Fälle den Lebensstandard der Leute ruinieren. Eine Person wie Schäuble muss die Aufmerksamkeit psychoanalytisch-sozialpsychologisch geschulter Beobachter geradezu magisch auf sich ziehen: Tatsächlich menschenfeindlicher Spar- und Vorschriftensadismus gepaart mit protestantisch-christlichem Bekenntnisgetue und dann noch die Verwicklung in eine ganz, ganz schmutzige Spendengeldaffäre. Schäuble: Ein charakterologischer Leckerbissen.

Mir fällt dazu ein, was Sigmund Freud und später Wilhelm Reich über den so genannten „Zwanghaften Charakter“ herausgefunden haben: Geiz, Ordnungszwang, Starrsinn, Trotz und Quällust als Abwehr seitens des kleinen Kindes gegen seine analerotisch-schmutzigen Triebkräfte aus Angst vor den sauberkeitsfanatischen und zugleich geliebten Eltern. Typisch „Evangelisches Pfarrhaus“ halt, das Schäuble einmal irgendwo im Internet idealisiert hat.

Besonders herzlich lache ich schon bei der Vorstellung, wie der zwanghafte Schäuble zum Rumpelstilzchen werden musste, wenn ihm der kurzzeitige griechische Finanzminister Varoufakis, locker, viril, braungebrannt, Hemd über der Hose, Lederjacke, Motorrad und heiße Alte, vor seinem Rolli vorbeigebraust ist. Prost Galle, Wolfgang ! Das läßt der Sch. die armen Leute in Griechenland jetzt büßen.

Frage:

Aua ( Zwerchfell weh tut ) – können wir bitte wieder über – aua – , die Mehrwertsteuer sprechen ?

Goe.:

Das tun wir auch, wenn wir darüber sprechen, welche Charaktertypen es sind,

die eine besonders asoziale Steuer wie die Mehrwertsteuer zu ihrem christlichen Herzensanliegen machen. Wie das mit der Mehrwertsteuer steuerhistorisch in Deutschland abgelaufen ist, erzähle ich Ihnen jetzt:

Die Mehrwertsteuer, bis 1968 hieß sie Umsatzsteuer, ist eindeutig eine Kriegs-,

Krisen- und Politiksteuer. Eingeführt wurde sie 1916 mit einem Steuersatz von 0,1 Prozent zur (Mit-)Finanzierung der deutschen Kosten des 1. Weltkrieges. 1919 wurde sie angehoben auf 1,5 Prozent, um die enormen Kriegsfolgekosten, insbesondere die infamen Reparationsforderungen der Siegermächte bezahlen zu können. Zur Mitfinanzierung der Aufrüstung des Dritten Reiches wurde die Mehrwertsteuer 1935 dann auf 2 Prozent angehoben. Um die erneuten Kriegsfolgekosten nun des 2. Weltkrieges sowie den Wiederaufbau und den Ausbau des Industriekapitals finanzieren zu können, wurde die Mehrwertsteuer in den Nachkriegsjahren in Westdeutschland dann auf 4 Prozent angehoben. 1968 waren es die hohen Kosten der „Reformen“, d.h. der Modernisierung von Kapital, Arbeit und Gesellschaft, und die stark angestiegenen Kosten der Aufrüstung im Kalten Krieg, die mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer auf 11 Prozent finanziert wurden. Vom Ende der so genannten sozialliberalen Koalition über die dann folgende „Wende“ bis in die Ära Kohl hinein diente die Mehrwertsteuer vorrangig als politische Kompromissmasse zwischen den

Arbeitnehmerflügeln und den Unternehmerlagern der so genannten Volksparteien.

Damit diese Parlaments- und Koalitionsspielchen finanziert werden konnten, wurde

die Mehrwertsteuer zweimal erhöht: 1978 auf 12 Prozent, 1983 auf 14 Prozent.

Die Kosten der Übernahme der Ex-DDR durch die Firma BRD wurden, wie wäre es

anders zu erwarten gewesen, durch eine zweimalige Erhöhung der Mehrwertsteuer

finanziert: 1993 wurde die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent erhöht; 1997 auf 16 Prozent.

Die Transformation der nationalen Mehrwertsteuer in ein Instrument internationaler

Handelsaggression begann in der Zeit der angeblich sozialdemokratisch-grünalternativen Koalition: In dieser Zeit stieg der Exportüberschuss, d.h. das Niederkonkurrie-

ren der europäischen Nachbarvolkswirtschaften noch steiler an als schon zuvor. Zur Förderung dieses Exportterrors zählte die Befreiung der Exportlieferungen an ausländische Abnehmer von jeglicher Mehrwertsteuer in Deutschland. Die Verluste an Mehrwertsteuer allein zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2007 beliefen sich auf etwa 126 Milliarden Euro. Zum Ausgleich dieser indirekten Förderung des Exportterrors erhöhte die erste Merkel-GroKo 2006 die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent.

Frage:

Ehrlich, das haben wir jetzt aber nicht alles so ganz geschnallt.

Goe.:

Macht nix. Sie können das ja im Herbst im „Tumult“ nachlesen. Außerdem genügt es, wenn Sie sich merken, dass die Mehrwertsteuer in den einhundert Jahren ihrer

Eintreibung in Deutschland die politische Steuer per se war. Sie diente und dient vor allen anderen Steuern der Finanzierung von Aufrüstung, von Krieg, von Kriegsfolgen.

Ebenso diente und dient sie der Umverteilung von Unten nach Oben und der Kompromisskungelei der Parteien- und Parlamentslager. Und in neuerer Zeit dient die Mehrwertsteuer dem infamen Angriff auf die Volkswirtschaften und Gesellschaften der europäischen Nachbarländer.

Frage:

Und was heißt das für das deutsche Volk, die Leute hier ?

Goe.:

Ich denke, die Leute sollten unbedingt wissen, dass der so genannte Sozialstaat, der ihnen immer wieder als großartiges „Geschenk“ des politischen Systems ins Gewissen geredet wird, nicht nur von ihnen selbst, aus ihren Bruttolöhnen finanziert wird.

Und die Leute sollten unbedingt auch wissen, dass sich der Steuerstaat einen erheblichen Teil seiner Einnahmen genau aus diesem Sozialstaat holt. Wie er das macht? Mit der Mehrwertsteuer. Vereinfacht gesagt unterliegen alle Sachleistungen des Sozialstaats der Mehrwertsteuerabschöpfung – dies wird für die Empfänger nur nicht sichtbar. Auf den Sachleistungen, auf dem Arztbesuch steht ja nicht „inkl. Mehrwertsteuer“. Und die Geldleistungen des Sozialstaats, soweit sie Verbrauchsausgaben finanzieren, werden sowieso über die Mehrwertsteuer abgeschöpft.

Frage:

Haben Sie dazu einen passenden Schlusssatz ?

Goe.:

„Einmal etwas Richtiges von den Amerikanern lernen: Die haben bei sich bis heute eine nationale Mehrwertsteuer verhindert“

Danke für dieses Gespräch !

*Das Interview führte eine Autorengemeinschaft der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona.

Der vollständige Interviewtext liegt in der Verantwortung von Prof. Albrecht Goeschel i.S.d. Pressegesetzes.

Mail: mail@prof-goeschel.com

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Prof. (Gast)Albrecht Goeschel

Staatliche Universität Rostov

Präsidiumsmitglied der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona

Alle Rechte bei:

Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona 2017

Mail: mail@accademaistituto.com

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Albrecht Goeschel.