Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Rezension

Egon Krenz, einstiger Staatschef der DDR legt seine Memoiren vor. Meine Rezension zum ersten Teil seiner Memoiren unter dem Titel „Egon Krenz. Aufbruch und Aufstieg“ (»dass ein gutes Deutschland blühe«) leitete ich folgendermaßen ein:

„Menschen müssen immer auch im Kontext der Zeit verstanden werden, in welche sie hineingeboren und fortan aufgewachsen sind. Und auf welche Weise sie sozialisiert und politisiert wurden.“

Biografien wie die seine waren durchaus so selten nicht. Sie sind freilich nicht ohne den Hintergrund des zu Ende gegangenen verheerenden Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Krenz` Schwester lebte in Westerland in der britischen Zone, als der zehnjährige Egon mit seiner Mutter illegal zu Besuch dorthin hinreiste. Wie selbstverständlich kehrte die Mutter mit ihrem Sohn wieder nach Ostdeutschland zurück. Ihre Begründung laut Egon Krenz: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“ Der Westen war für Egon Krenz keine Alternative.

Egon Krenz, Kriegskind aus Kolberg (heute Kołobrzeg, Republik Polen) , fand in Damgarten eine neue Heimat und nahm die Chance wahr, die ihm die neue Ordnung in Ostdeutschland bot. Fördern und fordern, lautete deren Losung für den Umgang mit der jungen Generation. Die DDR schickte die Kinder armer Leute an hohe Schulen und vertraute ihnen Funktionen an, die sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen nie hätten ausüben dürfen. Die Biografien, die daraus wurden, waren einzigartig. Typisch DDR.“

Der erste Teil seiner Biografie hat mich als einstigen DDR-Bürger gefesselt. Wir waren ja jeden Tag mit ideologisch überladenen Sätzen und dementsprechend ausgewalzten Wortungetümen in unseren Zeitungen konfrontiert. Der darin mit der Zeit in Form immer langweiliger werdenden Bleiwüsten daherkommenden, Propaganda waren wir überdrüssig. Weder aber war ich persönlich ein Gegner der DDR noch unbedingt ein „Fan von Egon Krenz“.

Wir lesen im zweiten Teil seiner Biografie, dass Krenz gar nicht amüsiert darüber war, dass er bei einem Besuch von DDR-Brigaden, welche am Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion beteiligt waren, mit dem Ausspruch: „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ empfangen worden war. Hier ein Video vom Offenen Kanal Magdeburg über die „Trasse“.

Egon Krenz fühlte sich halt als einer von vielen SED-Funktionären (er stand ja zunächst der FDJ vor). Und wollte nicht hervorgehoben werden. Aber er nahm das ehrliche Bekenntnis der Trassenleute nicht übel.

Seine Biografie erster Teil bringt uns neben dem einstigen FDJ-Chef und SED-Funktionär den Menschen Egon Krenz und dessen Ansichten in sachlicher und ehrlicher Form nahe. Auch spart er nicht daran, eigene Fehler, Irrtümer und diejenigen der Partei- und Staatsführung offen zu benennen.

»Wir hatten es in der Hand!«

Dessen bleibt sich Egon Krenz nun auch im inzwischen herausgekommenen zweiten Teil seiner Biografie, welche unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ steht nichts schuldig. Das Buch befasst sich mit den Jahren 1973-1989: »Wir hatten es in der Hand!« Egon Krenz
— Teil II der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR —

Egon Krenz berichtet über seinen Weg, der nicht untypisch für die DDR und dennoch ein besonderer war und ihn nach Schlosserlehre, Lehrerstudium und Arbeit als Jugendfunktionär zum »Nachwuchskader« der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) machte. Und, wie alsbald in den Westmedien gemunkelt wurde, zu »Honeckers Kronprinzen«.

„Die Memoiren sind auf drei Bände angelegt“, informiert der Verlag, „setzen je einen zeitlichen Rahmen, sind jedoch nicht chronologisch und linear erzählt. Durch Vor- und Rückgriffe ordnet Krenz seine biografischen Stationen in die Zeitgeschichte ein und wertet aus der Fülle und Differenziertheit der Erkenntnisse seiner langen politischen Laufbahn und natürlich auch jener Erkenntnisse, die er nach dem Untergang seines Staates machen musste.“

Zum jüngsten, zweiten Band der auf drei Bände angelegten Memoiren von Krenz schreibt edition ost:

„Der zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR führt direkt in den Inner Circle der Staatsführung und in jene Phase, die mittels Wandel durch Annäherung die friedliche Koexistenz sichern soll. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die neue Ostpolitik der SPD-Regierung in der BRD und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Inzwischen vom Westen als »Honeckers Kronprinz« aufmerksam beäugt, ist er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöst. Was angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet der Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste. Krenz berichtet faktenreich und selbstkritisch und reflektiert von heutigem Erkenntnisstand aus differenziert die Ereignisse, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren.“

Für uns Leser ist all das aus erster Hand berichtete abermals sehr interessant. Die DDR-Bürger erfuhren nicht was hinter den Kulissen sich in der Regierung, in Partei- und Staatsführung abspielte. Freilich machten sie sich ihre Gedanken. Und nebenan in der BRD wurde versucht alles Mögliche aus dem Tun und Lassen der DDR herauszulesen. Man betrieb im Prinzip Kaffeesatzleserei. Besonders die Springer-Medien, vornweg die Bild waren darin besonders engagiert. Zuweilen lag man sogar richtig bzw. fast richtig. Man hatte wohl auch Zuträger, die aus dem Nähkästchen plauderten. Und über Westradio und Westfernsehen drangen die Halbwahrheiten, Vermutungen sowie auch manches, was einen wahren Kern hatte, auch in die Wohnstuben der DDR-Bürger. Und dort versuchte man sich einen Reim darauf zu machen. Hoffnungen gab es ohnehin, neue wurden geweckt. Was freilich auch die Partei- und Staatsspitze beschäftigte. Und man sich dort wiederum Gedanken machte wie darauf zu reagieren sei. Was sollte in den DDR-Medien veröffentlicht oder lieber verschwiegen werden. Und dennoch drang manche Information – vor allem später als Gorbatschow in Moskau am Ruder war – an die DDR-Öffentlichkeit. Egon Krenz stellt dar, wie dazu auch innerhalb des Politbüros unterschiedlich gespielt wurde. Wie er selbst gezwungen war mit dergleichen umzugehen. Vor allem als er selbst ins Politbüro berufen worden war – wovon er selbst ziemlich überrascht gewesen sei.

Wem konnte man voll vertrauen, bei wem war in mancher Beziehung Vorsicht geboten. Gegenüber Honecker, schreibt Krenz, sei er stets loyal gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und und sich beschreibt er als vertrauensvoll und auch kollegial. Wenn auch Krenz schon mal einen Rüffel vom Chef wegstecken musste. Öfters musste er seinen Chef bei Terminen vertreten. Krenz erlebte Honecker zunächst als durchaus geistig wie körperlich fit und immer gut vorbereitet. Auch bei Begegnungen mit Westpolitikern, die Honecker durchaus schätzten. Was ebenso für wichtige Industrielle in Westdeutschland, wie beispielsweise etwa Berthold Beitz, aber auch andere galt. Wovon allerdings so mancher dieser BRD-Politiker nach dem Ende der DDR nichts mehr wissen wollten.

Durchaus anders zeichnet Krenz Honecker als die DDR-Normalbürger ihn für gewöhnlich erlebten bzw. sich selbst ein Bild machten. Beim Lesen von Krenz` Zeilen ist man als einstiger DDR-Bürger durchaus versucht manch eigenes damaliges Gemecker oder irgendeine gemachte Witzelei, die Person Honecker betreffend, im Nachhinein eher als unpassend zu empfinden. Nur was die spätere Zeit anbetrifft konstatiert Egon Krenz einen gewissen Altersstarrsinn bei Honecker. Er dachte ja bis zum bitteren Ende nicht daran seinen Sessel für einen Jüngeren freizumachen. Was auch nicht unwichtig ist: Erich Honeckers strikter Antifaschismus und sein Eintreten für den Sozialismus beruhte gewiss auch auf dessen Verfolgung durch das Naziregime. Honecker wurde damals für zehn Jahre ins Gefängnis geworfen. All das prägt schließlich.

Michail Gorbatschow

Was das Agierens von Michail Gorbatschow betraf war Honecker mit der Zeit immer skeptischer geworden, war mit Vielem was dessen Politik und Handeln betraf, so nicht einverstanden.

Krenz selber bekennt, von Anfang an Gorbatschows Politik eher positiv bewertet und von Herzen unterstützt zu haben. Da spricht er allerdings über die Zeit „vor dem Verrat Gorbatschows“, wie er im Vorwort „Wo ist denn Ihre Klingel, Herr Krenz?“ (S.9) schreibt.

Krenz kritisiert nicht nur Gorbatschows Alkoholverbot als mehr als fragwürdig, was den Nutzen anging. Sondern auch dessen Wirtschaftspolitik. Was dazu führte, dass in manchem sowjetischen Geschäft die Regale leer blieben. Und schließlich war auch der DDR-Führung nicht verborgen geblieben, wie die sowjetische Wirtschaft im Großen und Ganzen unter Gorbatschow quasi den Bach herunterging. Die UdSSR sah sich deshalb veranlasst den Ölpreis für den Bruderstaat DDR immer weiter zu erhöhen. Was in der DDR wiederum zu Schwierigkeiten führte.

Später – und erst recht nach dem Ende der DDR – hat Egon Krenz erleben müssen, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch nicht immer ganz ehrlich spielte. Sogar manches gar nicht so gesagt haben wollte. Was Egon Krenz bei einem Zusammentreffen in einem Berliner Hotel die Stirne runzeln ließ. Sogar Raissa Gorbatschowa bestätigt Egon Krenz damals. Ihr Mann bestritt das Gesagte auch seiner Frau gegenüber.

Mehrmals hält Krenz Gorbatschow im Buch vor, dass er den sozialistischen Bruderstaaten versprochen hatte, sie könnten von völlig souverän handeln. Davon habe er, so Krenz, jedoch nichts bemerkt.

Wobei wir bei einer Tatsache sind, die beide deutsche Staaten betraf (und die BRD aktuell wohl noch immer betrifft): Letztlich konnten sie wichtige Entscheidungen nicht selbst treffen ohne grünes Licht aus Washington oder Moskau dafür erhalten zu haben.

Rückmeldungen

In seinem Vorwort zum zweiten Teil seiner Biografie schreibt Egon Krenz, dass er viel Zuspruch für seinen ersten Band erhalte. Aus Ost wie aus West. Ein 90-jähriger Leser aus Gransee ließ ihn wissen: «Alles, was Sie beschreiben, habe ich so ähnlich erlebt.«

„Ein 22-Jähriger aus einem kleinen Dorf in Norden Baden-Württembergs bekundete sein Interesse für die DDR-Geschichte, die nach seiner Wahrnehmung im Westen entstellt werde. Und ein ehemaliger Schüler der Erweiterten Oberschule (EOS) äußerte, man habe in der DDR im Fach Staatsbürgerkunde gehört, «was Kapitalismus ist«. Damals hielt er es für übertrieben und wollte es nicht glauben. Seit 1990 wisse er, dass es eher untertrieben war.“ (S.10) Meine Wenigkeit sieht das nebenbei bemerkt übrigens ebenso.

Weiter notierte Krenz: „Professor Kurt Starke, ein international bekannter Soziologe, Sexualwissenschaftler und Jugendforscher, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin, schrieb mir vor einiger Zeit: «Je mehr ich über unser gewesenes Land nachdenke und je öfter ich in den vergangenen Jahren mit Ost-West-Unterschieden in meinen Untersuchungen zu tun hatte, desto mehr sehe ich mich in der Erkenntnis bestätigt, dass die DDR ein Unikat von bleibender historischer Bedeutung ist.«

Egon Krenz: „Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte“

Egon Krenz merkt weiter an: „Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und es militärischen Engagements der Bundesrepublik sollte ebenfalls daran erinnert werden: Die DDR hat nie einen Krieg geführt und ist damit eine Ausnahme in der deutschen Geschichte. Kein NVA-Soldat setzte je seinen Fuß auf fremdes Territorium, um an Kampfeinsetzen teilzunehmen. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit Achtung und Respekt zu erinnern. Ein Drittel Deutschlands war hier dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen, und das mehr als vierzig Jahre lang. Das ist aus dessen Sicht die eigentliche Sünde der DDR, die ihr – und damit uns, die wir sie aufbauten und verteidigten – niemals vergeben werden wird. Nach 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. Nach 1945 wurden in Westdeutschland dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten in die Wüste. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Zukunft. Nicht zu reden von den vielen Werktätigen aus den über achttausend volkseigenen Betrieben, die die Treuhandanstalt übernahm und asozial abwickelte.“ (S.12)

Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt“, macht Krenz unumstößlich klar

Zusammenhänge von Politik, Kapital und wirtschaftlichen Interessen würden verschleiert. Sie und die Geschichte müsse man aber kennen, meint Egon Krenz. Um zu verstehen, „warum so viel Menschen im Osten beispielsweise gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind“.

Und einen wahren, unumstößlichen Satz schreibt Krenz da: „Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen, aber zweimal hat Deutschland im 20. Jahrhundert Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion geführt. Die Berliner Mauer sei „von Osten verschoben (worden) – sie steht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland“

„Sie ist dort, wo die Frontlinie im Prinzip an jedem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Diese «Grenzziehung« ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde.“

In Briefen äußern die Menschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg

In Briefen an Krenz äußerten Menschen: „Angst. Angst vor einem Dritten Weltkrieg, in den uns die deutsche Regierung durch ihre pro-amerikanische Politik führen könnte. Dass die Bundesregierung das Streben der USA, einzige Weltmacht zu bleiben höher stellt als deutsche Interessen, hat ebenfalls zum sinkenden Ansehen der gegenwärtigen Ampel-Koalition beigetragen.“

Verantwortungslos und folgenlos habe die deutsche Außenministerin davon gesprochen, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, dessen Ziel darin bestünde, «Russland zu ruinieren«. Krenz ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sprache ist bekanntlich Ausdruck des Denkens.“

Die Tatsache, dass in Deutschland Nazijargon öffentlich verbreitet wird, mache ihm Angst.

Er bezieht sich dabei auf die von einer Boulevardzeitung gewählte Schlagzeile: «Deutsche Panzer stoßen gegen russischen Stellungen vor«

Und Krenz beklagt die hierzulande herrschende Russophobie. Sie erinnere ihn an seine Kindheit, „als die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs große Plakate klebten, auf denen Russen als Untermenschen dargestellt wurden“.

Die Russophobie und Hetze gegen Russland mit Sorge zur Kenntnis nehmend fragt sich Krenz: „Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führenden Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.“

Wenn Westdeutsche einstigen DDR-Bürgern erklären, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen

Aus dem Herzen spricht mir Egon Krenz, wenn man von altbundesrepublikanischer Seite einstigen DDR-Bürgern erkläre wie man in der DDR gelebt habe. Ich selbst kann ab September 1989 ein Lied davon singen. Denn diese Erklärungen kamen in der Regel aus den Mündern von Westdeutschen, die die DDR nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus der Westpresse kannten. Mir selbst platzte irgendwann 2019 der Kragen als mir ein Kollege wieder einmal sagte, wie ich in der DDR gelebt haben sollte: „Bei euch war das doch so …“ Ich wurde kurz laut. Seither hat mich dieser Kollege nie wieder dazu angesprochen.

Krenz betrachtet sich selbst als eine Biografie von 17 Millionen Biografien in der DDR besteht darauf: „Wir müssen uns wegen unseres Lebens nicht entschuldigen.“

Dass es in Politik und Medien noch immer Versuche gibt, DDR-Bürgern erklären zu wollen, wie sie gelebt haben oder hätten leben sollen, beweist, dass die deutsche Einheit mental noch lange nicht vollzogen ist.“ (S.15)

Egon Krenz: „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin“

Egon Krenz malt nicht rosarot, sondern gesteht so manchen Fehler der DDR ein. „Wir neigten in der Folgezeit dazu, das Leben im Lande aus Sicht von Tribünen und Präsidiumstischen zu beurteilen und gaben uns mancher Selbsttäuschung hin. Allzu oft ließen wir uns etwa bei der Auswahl von Kadern blenden von Worten der Ergebenheit. Das förderte Heuchelei, die nicht zu einer Partei wie der unseren passte. Die Quittung dafür erhielten wir 1989.“ (S.38/39)

Mit der Biermann-Sache legte sich die DDR ein Ei

Auch die Biermann-Geschichte bringt Krenz zur Sprache. Der Dichter Wolf Biermann war nach einem Auftritt in der BRD, die in der DDR Kritik hervorgerufen hatte, die Wiedereinreise in die DDR versagt worden. Der Westen tönte, er sei aus ausgebürgert worden. Als der Fall im Politbüro erörtert und abgehakt wurde, habe sich nur Kurt Hager kritisch geäußert, der gegenüber Erich Honecker eingewendet hatte: „Erich, war denn das notwendig?“ Krenz erinnert sich: Es habe geknistert. Niemand habe geantwortet, so sprach Hager weiter: „Biermann ist es nicht wert, dass wir uns deshalb mit den Künstlern anlegen und unsere Kulturpolitik ändern. Wir machen in erst groß, wenn wir ihm solche Aufmerksamkeit widmen. Wir sollten ihn ignorieren. Das trifft diesen Gernegroß mehr als alles andere.“

Werner Lamberz, der als Politikerpersönlichkeit eine große Hoffnung nicht nur für die SED gewesen war (der tragischerweise später und viel zu früh bei einem Hubschrauberabsturz in Libyen sterben sollte) habe zustimmend genickt. Hager muss Recht gegeben werden. Mit diesem Schritt, Biermann nicht wieder in die DDR einreisen zu lassen, hatte sich das Land sozusagen ein Ei gelegt. Zumal Wolf Biermann den meisten DDR-Bürgern bis dato unbekannt war. Zuweilen sah man ihn vielleicht mal in der Tagesschau, wie der einstige Jungkommunist mit einem Korrespondenten des westdeutschen Fernsehens in seiner Berliner Wohnung am Kachelofen saß und auf Opposition machte. Diesen Herrn, dem eine enge Beziehung zu Margot Honecker nachgesagt wird, hätte die DDR aushalten können – und auch müssen. Der Filmregisseur Konrad Wolf habe einmal zu Egon Krenz gesagt: «Egon, Dir mag der Begriff des Ausbürgerns weniger sagen als mir. Du hast den Faschismus nicht mehr erlebt. Aber die Menschen, die von Nazis aus Deutschland vertrieben wurden wie wir -, hätten nicht zulassen dürfen, dass jemand aus der DDR «ausgebürgert« wird. Sag Erich, er möge sich seiner eigenen Vergangenheit erinnern.“

Weiter erinnert sich Egon Krenz: „Der Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant (1926-2014), übte Kritik, zurückhaltend zwar, aber öffentlich im Neuen Deutschland: «Ich will nicht verhehlen, dass ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich braucht niemand vor ihm zu schützen.«

Honecker habe wohl dann nachgedacht (jedoch viel zu lange) wie man wieder aus der unangenehmen Biermann-Sache herauskäme. Aber der Schaden war gemacht. Dann erfuhr Honecker von der Protestresolution von 12 DDR-Schriftstellern und -Künstlern die sich gegen das Einreiseverbot von Biermann richtete. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte sie entworfen und auch westlichen Agenturen übergeben. Krenz: „Dass er sie zuvor der Zeitung Neues Deutschland angeboten hatte, wo sie lediglich der Pförtner entgegennehmen wollte, erfuhr Honecker erst viel später.“ Ja, auch hier trifft der Satz »Wir hatten es in der Hand!« zu. Manches jedoch entglitt leider dieser Hand.

*Staatssicherheitsminister Erich Mielke berichtete, „dass der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“

Eines Tages hatte Honecker Krenz einen Packen Briefe von Bürgern aus Rostock übergeben, in denen Bürger sich vom dort stattfindenden Kirchentag belästigt fühlten. Seinetwegen war ein Fußballspiel der DDR-Oberliga verlegt worden. Und auf öffentlichen Plätzen wehten anstelle die Staatsflaggge oder rote Fahnen wehten Kirchentagsfahnen. Man sei, wurde beklagt vom Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat abgewichen. Krenz schickte Mitarbeiter nach Rostock, die Gespräche mit den Briefeschreibern führten. Sie teilten Krenz mit, alles sei durch zentrale Entscheidungen geregelt gewesen. Zentrale Entscheidungen seien in der Regel Festlegungen des Ministers für Staatssicherheit gewesen. Krenz rief Mielke an. Der berichtete ihm unter anderem, „dass Rostocker Pfarrer Joachim Gauck ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten zusammengearbeitet habe“. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“

*Bärbel Bohley lag mit ihrer damaligen Befürchtung nicht falsch

In einem andereren, an Erich Honecker gerichteten, Brief ging es um die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und des Bürgerrechtlers Werner Fischer. Beiden war im Februar 1988 „bei Vermeidung von Strafverfahren ein befristeter Auslandsaufenthalt vermittelt worden war.“ Geschrieben worden war er von Bischof Dr. Gottfried Forck. Postbote sei Manfred Stolpe gewesen. Krenz informierte den im Urlaub befindlichen Honecker. Der stimmte der Wiedereinreise zu. Bohley und Fischer hätten versprochen, die Gesetze der DDR nicht zu verletzen. Krenz: „Eine Ausbürgerung wäre nicht nur juristisch, sondern auch politisch ein großer Fehler gewesen. Es ist schon interessant, dass die – um es freundlich zu sagen – von der DDR nicht gerade freundlich behandelte Bärbel Bohley schon 1991 kurz nach der staatlichen Vereinigung über die Zeit sagte: <<Die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständigen Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“<< Ein Zitat nebenbei bemerkt, dass man dieser Tage öfters in sozialen Medien lesen kann. Und wenn man den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft in Augenschein nimmt, beschleicht einem das Gefühl, dass Bärbel Bohley mit ihrer Befürchtung nicht falsch lag.

Wichtige Themen wurden beackert

Alle wichtigen Themen hat Egon Krenz beackert. Und das dürfte wohl nicht nur für gewesene DDR-Bürger sondern auch Bundesbürger als den alten Bundesländern von Interesse und spannend sein. Ob das nun die Zeiten der Entspannungspolitik der Brandt- und Schmidt-Regierungen betreffs der Sowjetunion und Polen sind, oder die Bemühungen zwischen BRD und DDR gute Beziehungen in der Sache und auch für die jeweilige Bürger zu erzielen. Da gab es einige Kontakte und Besuche von Westpolitikern in der DDR, die wir in der DDR mit hohem Interesse verfolgten. Auch die damaligen Gespräche von SPD und SED bargen Hoffnungsschimmer.

Natürlich ging es uns in der DDR auch darum Reisen in die BRD oder das andere westlichen Ausland machen zu können. Es tat sich was. Aber doch viel zu wenig. Was nicht nur mit politischen sondern auch mit Fragen von Devisen zu tun hatte, die die Menschen ja dann im kapitalistischen Ausland benötigten. Nachdem BRD-Politiker zu Besuch gewesen waren war Erich Honecker auch zum Gegenbesuch eingeladen worden. Der Einladung wäre Erich Honecker gern nachgekomme. Er empfand das nach Anerkennung der DDR in vielen anderen Ländern auch als eine Ehre für die DDR. Es war ja ein offizieller Empfang ins Auge gefasst. Es brauchte letztlich mehrere Anläufe dahin, bis Erich Honecker in die BRD reisen und auch seine alte Heimat im Saarland besuchen konnte. Immer wieder war Moskau dagegen. Honecker ließ sich allerdings immer weniger hereinreden. Und es kristallisierte sich heraus, dass Honecker eben auch Deutschland als Heimat in seinem Herzen trug.

Krenz schreibt, in der DDR träumte man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten

Erich Honecker sei immer wieder auch am Weltfrieden und dem Frieden auf deutschem Bode interessiert gewesen, so Krenz. Im Buch macht das Egon Krenz auch an der Frage der Raketenstationierung auf BRD-Boden deutlich. Die Pershing II -Raketen sollten nach dem Willen des Westens gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion abschrecken. Stichwort Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte für die Stationierung in Westdeutschland votiert. Der sowjetischen Seite war nichts weiter übrig geblieben als nachzuziehen. In der DDR wurden dann neue sowjetische Raketensysteme aufgestellt. (S.215: „Atomraketen in der DDR)

Krenz schreibt, in der DDR träumten man damals dazu beitragen zu können, in Ost und West auf neue atomare Raketen zu verzichten. „Honecker hat dafür mit hohem Einsatz gespielt. […] Wir wollten unsere Maxime, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, ohne dieses Teufelszeug erfüllen. Spätestens 1983/84 hatten wir die politische Schlacht um die Aufstellung der Raketen verloren.“

»Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt

Egon Krenz sagt in einem Interview, am 16.12.2023 von junge Welt veröffentlicht: „Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.“ Und Honecker tat das. Honecker forderte, dass alle Raketen, diese Teufelszeug, von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen. Alles zu diesem Thema finde Sie ausführlich im Teil 2 der Biografie von Egon Krenz veröffentlicht.

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler

Gegen Ende der DDR häuften sich Fehler und Entscheidungen, die zu Unmut führten. Ich erinnere mit noch gut daran, als es in der DDR hieß, die sowjetische Zeitschrift Sputnik sei verboten worden. Sie war kurzerhand von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Nach Rücksprache mit dem Postminister erfuhr Egon Krenz, dass Honecker diese Verfügung diktiert hatte. „Die Zeitschrift, so hieß es, bringe keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen würden darin verzerrende Beiträge zur Geschichte veröffentlicht. Konkreter Anlass waren Beiträge zum sogenannten «Hitler-Stalin-Pakt«. Krenz’ Ehefrau, in der Lehrerbildung tätig, fragte sich mit ihren Kollegen, „kopfschüttelnd, ob die alten Herrschaften im Politbüro überhaupt noch wüssten, was im Lande los sei. Wie könne man noch Öl ins Feuer gießen.“ Selbst die „FDJ-Führung hatte auf acht Seiten aufgeschrieben wie empört junge Leute über die Bevormundung durch die Partei- und Staatsführung waren.“

Honecker zeigte sich ungerührt.

An der Basis brodelte es

Auf der letzten Seite berichtet Egon Krenz von der sich vergrößernden Misere im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Viel Vertrauen war in diesem Jahr verloren gegangen. An der Basis brodelte es. Das Politbüro aber tat, als sei alles in bester Ordnung.“

Und Krenz schließt so: „Es brodelte an der Basis. Die Zeichen standen auf Sturm.“

Ich weiß: Vergleiche hinken. Ich will auch nichts vergleichen. Dennoch: Die derzeitige von der Politik der Ampel – aber auch von Vorgängerregierungen – herbeigeführte in vielen Hinsichten prekäre Lage unseres Landes lässt auch hier und da – wir haben gerade die Bauernproteste – ein Wind in meine Nase wehen, der etwas nach 1989 riecht. Erste Rufe „Wir sind das Volk“ und Forderungen nach Veränderung sind zu vernehmen …

Lest dieses Buch in Ost und West

Ich empfehle, dass möglichst viele Menschen in West und Ost dieses Buch zu lesen. Es ist wichtig. Egon Krenz gebührt das Lob, aufgeschrieben zu haben, was ansonsten wohl der Vergessenheit anheim fallen könnte. Die Leser werden vieles nicht wissen, von dem Krenz hier geschrieben hat. Die Leser mögen sich ein eigenes Bild machen. Ich fürchte, die üblichen Verdächtigen in den Mainstream-Medien werden, auch diesen zweiten Band von Krenz’ Biografie wieder als Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei auf Honecker und die DDR missverstehen (wollen). Das bleibt ihnen unbenommen. Ich sehe das anders. Auch dieser Band ist wieder sachlich verfasst und es fehlt auch nicht an der Aufführung von gemachten Fehlern. Ein Verdammen des Staates DDR in Grund und Boden wird man jedoch darin nicht finden. Was aus der Biografie des Autors heraus verständlich ist und dem Ganzen absolut kein Abbruch tun. Auch ich als gewesener DDR-Bürger werde das nie tun. Manche versteinerten Ewiggestrigen oder Woke mit Gutmensch-Ideologie werden das nicht verknusen können. Andere wiederum, die mit objektiverer Brille auf die Sache blicken, werden – wenn sie vielleicht auch nicht alles teilen können – einiges verstehen. Lassen wir die von mir hochverehrte Gabriele Krone-Schmalz betreffs zu Worte kommen: „Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann“.

Ich freue mich jedenfalls bereits auf den dritten Band der Erinnerungen von Egon Krenz, der bis in die Gegenwart führt.

*Eingefügt am 19.01.2024

Egon Krenz

Gestaltung und Veränderung

Erinnerungen

472 Seiten, 14,5 x 21 cm, gebunden
mit 32 Seiten Bildteil, Lesebändchen

sofort lieferbar

Buch 26,– €

ISBN 978-3-360-02811-2

Egon Krenz (Autor, Hrsg.)

Egon Krenz (links). Foto: C. Stille

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (Pommern), kam 1944 nach Ribnitz-Damgarten, wo er 1953 die Schule abschloss. Von einer Schlosserlehre wechselte er an das Institut für Lehrbildung in Putbus und schloss mit dem Unterstufenlehrerdiplom ab. Seit 1953 FDJ-Mitglied, wurde er 1961 Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau war er von 1964 bis 1967 Vorsitzender der Pionierorganisation und von 1974 bis 1983 der FDJ, ab 1971 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1983 Politbüromitglied. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. Im sogenannten »Politbüroprozess« wurde Krenz 1997 zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und 2003 aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Krenz ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Wir und die Russen« (2019) und »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (mit Friedrich Wolff, 2021).

„Manifest der Radikalen Mitte: Warum wir eine Ideologie der politischen Mitte brauchen“ Von Wätzold Plaum. Rezension

Man könnte es, orientiert an Friedrich Nietzsche, so ausdrücken: Wir haben Jahre und Jahrzehnte in den Abgrund geschaut und bereits seit einige Zeit blickt er zurück. Dass er das irgendwann tun würde, hätten wir wissen können. Klar es hat Warnungen gegeben. Doch wurden die in den Wind geschlagen. Nun ist es womöglich bereits ziemlich weit nach zwölf Uhr. Stürzen wir hinab?
Sicherlich hat es gute Zeiten gegeben. Errungenschaften verschiedener, auch sozialer Art sind nicht von der Hand zu weisen. Sogar waren wir nach dem Scheitern des Sozialismus, der am wenigsten ein demokratischer gewesen war, im Jahre 1990 sogar einem Weltfrieden nahe, der von Dauer hätte sein können. Ein Fenster hatte sich geöffnet. Nicht zuletzt hatten wir das den im vergangenen Jahr verstorbenen Michael Gorbatschow zu verdanken. Indes wir haben das Fenster wieder zugehen lassen, wenn nicht gar ohne Sinn und Verstand zugeschlagen.
Der Westen, die NATO (gleichzusetzen mit den USA), der Kapitalismus hatte gesiegt. Und konnte nicht aufhören zu siegen. Der Kapitalismus (der nach Jean Jaurés den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen) mutierte zum Raubtierkapitalismus. Der Neoliberalismus trat auf den Plan. (Der Autor des hier zu besprechenden Manifests fast diesen Begriff klarer, richtiger: „Diese Einordnung ist falsch, meint „Neoliberalismus“ doch eine breite Palette liberaler Wirtschaftsschulen, die sich im 20. Jahrhundert als Revision des klassischen ökonomischen Liberalismus heraus bildeten: Ordoliberalismus, Monetarismus, Österreichische Schule – um nur die wichtigsten zu nennen.)
Im Laufe der Zeit bis heute folgte eine Krise auf die andere. Die letzte war die Finanzkrise 2007/2008. Die Staaten retteten Banken, die sich verspekuliert hatten. Bald wusste man: Noch einmal wäre das nicht machbar. Und bereits vor 2020 munkelten Experten, eine weitere schwere Finanzkrise könnte bevorstehen. Dann kam die Corona-Krise, der zunächst eine Verharmlosung der Krankheit Covid-19 vorhergegangen war, dann aber offenbar weltweit koordiniert harte Einschränkungen für die Menschen ins Werk gesetzt worden waren. Dienten die tatsächlich vorhandene Krankheit, indem man sie gefährlicher darstellte als sie in Wirklichkeit war, als eine Art Paravent, um die anrollende Finanzkrise zu verdecken bzw. dahinter zu verschieben?
Und nun beschäftigt uns der Ukraine-Krieg. Herbei provoziert über viele Jahre durch Washington. Bis der russische Präsident nicht mehr anders konnte als völkerrechtswidrig in die Ukraine einzumarschieren?
Wie unsere Ampel-Koalition (nach Oskar Lafontaine) „die dümmste Regierung Europas“ darauf reagiert wissen wir. Die Sanktionen, der Wirtschaftskrieg gegen Russland, sich selbst ohne Not das Erdgas von dort sozusagen abzudrehen – all das wirkt wie ein Schuss ins eigene Knie. Das wird uns noch teuer zu stehen kommen.
Mögen unser Bundeskanzler Olaf Scholz und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch noch so darauf beharren, unser Land sei nicht gespalten, wir würden uns unterhaken. Die Wirklichkeit sind anders aus. Nach einer jüngste Umfrage vertrauen der Politik nur noch rund 30 Prozent der Befragten. Siehe Welt Online.
Wie reagieren wir darauf? Wie die Regierung? Wie die Opposition? Welche Opposition? Von keiner dieser Seiten ist eine Lösung zu erwarten. Auch die Partei DIE LINKE hat sowohl in der Corona-Krise als auch jetzt wieder schwer versagt.
Kann eine neue politische Ideologie eine Lösung für die schwere Krise anstoßen, in welcher wir uns befinden?
Man darf erst einmal skeptisch sein. Aber sollte vielleicht auch nicht gleich in Defätismus verfallen. Wir brauchen fraglos eine Neuorientierung.

Wätzold Plaum und seine Visionen

Da kommt Wätzold Plaum gerade recht. Er hat nämlich Visionen. Ja, ich höre Sie, liebe Leserinnen und Leser schon lauthals in ihrer Guten Stube lachen. Hatte nicht Helmut Schmidt einmal beschieden: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ – Langsam mit den jungen Pferden!
Wätzold Plaums Buch hat seine Visionen im „Manifest der Radikalen Mitte: Warum wir eine Ideologie der politische Mitte brauchen“ niedergelegt. Er hat es dem Publikum des Kanals „Wätzolds Welt“ gewidmet, welches ihm – wie er sagt – regen Zuspruch und Mut gegeben habe das zu tun.

Radikale Mitte“? Werden da nicht abermals Leser aufmerken? Radikal stammt von dem lateinischen Wort „radix“ (Wurzel) ab und beschreibt das Bestreben, Probleme an der Wurzel anzupacken, d.h. sie „von Grund aus“ anzugehen (Duden Online). Hört sich doch ganz gut an, nicht wahr?
Doch andere Ohren werden da wieder Radikalismus heraushören und gleich an Gewalt denken. Radikalinskis nun auch in der Mitte?
Und Mitte? Lässt sich da nicht an einen dritten Weg denken, der einst schon einmal gedacht worden aber niemals verwirklicht wurde? Das Beste aus Kapitalismus und Sozialismus nehmen und …

In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod“ (Friedrich von Logau) heißt es.
Ja, weder kann momentan eine Gefahr noch eine zumindest anwachsende Not abgestritten werden.
Doch nun in medias res: „Wir leben in politisch aufwühlenden Zeiten. Multiple Krisen erfassen den Westen. Jahrzehnte relativen Wohlstands und Sicherheit scheinen auf der Kippe zu stehen. Die Polarisierung in der Gesellschaft nimmt zu. Der Ton wird rauer, unter Bürgern wie auf der politischen Bühne“, heißt es zum Buch.
Und weiter. „In verwirrenden Zeiten justiert Wätzold Plaum den politischen Kompass neu: Die Ideologie der „Radikale Mitte“ wendet sich ebenso gegen Fanatismus wie gegen Relativismus. Ihre Kritik zielt auf die dominierenden Ideologien der Gegenwart: Kapitalismus und Vulgärsozialismus. Über das Politische hinaus brauchen wir eine Philosophie der Mitte, die ähnlich der Stoa oder dem Konfuzianismus individuelles Leben und politisch-gesellschaftliche Partizipation auf eine philosophische Grundlage stellt.

„Das Manifest beinhaltet nach der Klärung begrifflicher Grundlagen eine Diskussion der drei großen Lehren der politischen Philosophie: Konservativismus, Liberalismus und Linksprogressivismus. Diese Lehren sind im Sinne der „Radikalen Mitte“ nicht als wahr oder falsch anzusehen, sondern als verschiedene legitime Perspektiven auf Politik und Gesellschaft. Zur Abwehr des Relativismus werden ferner vier gedankliche Modelle entwickelt, welche als Orientierungshilfen und geistige Leitplanken dienen können: die vier Ebenen der Betrachtung, die drei Stufen der Sittlichkeit, die drei Aspekte des guten Lebens und die vier fundamentalen Dimensionen des Menschseins. Schließlich arbeitet der Autor anhand der gesellschaftlichen Bereiche Digitalisierung, gemeinschaftliches Wohnen und Ökonomie konkrete Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme heraus.“

Der Autor erkennt richtig, dass der Westen sich gegenwärtig in einer Stagnationskrise befindet.
Plaum macht klar: „Wir wollen der Philosophie keine Absage erteilen. Allein hier geht es nicht darum, die dargebotenen Ansichten letztendlich zu fundieren. Es geht darum einer neuen Geisteshaltung Name und Programm zu geben. Es ist dies die Geisteshaltung der Radikalen Mitte oder gleichbedeutend des Radikalen Zentrismus.“

Es ist Zeit für ein neues Denken“ – wer wollte dem nicht zustimmen? Der Autor erklärt: „Dieses Denken stemmt sich gegen eine Stimmung, die in allgemeinen politischen Fanatismus zu kippen droht. Die Scharfmacher scheinen das Feld zu übernehmen. Linksprogressive verabsolutieren die Gleichheit, Libertäre die Freiheit, Nationalisten das Volk, Religiöse den Glauben, Globalisten die eine Menschheit und Ökologisten den Umweltschutz. Für Fanatiker gibt es ein alles beherrschendes Problem, dessen Lösung sich alles unterzuordnen hat.“
Und spüren wir es nicht schon, nach Luft schnappend: „Die Gefahr legt sich wie ein Totentuch über die westlichen Gesellschaften. Die bestehende Ordnung droht sich in eine technokratische Diktatur zu verwandeln. Schleichend. Leise. Deswegen sollten diejenigen ihre Kräfte bündeln, die den drohenden Niedergang vor Augen haben und willens sind, ihn abzuwenden.“

Audiatur et altera pars!“

Was wier hiernach lesen, wurde u.a. schwer in der Corona-Zeit vernachlässigt. Alle – und seien es jahrzehntelang anerkannte Ärzte, Wissenschaftler oder gar ein Nobelpreisträger wie Luc Montagnier, wurden als Schwurbler verhöhnt oder als Quacksalber diffamiert, wenn sie WHO- oder Regierungsnarrativen widersprachen: „Für jeden Standpunkt, für jede Meinung, jedes noch so moralisch unantastbare Plädoyer gilt: Audiatur et altera pars! Man möge auch die andere Seite hören! Denn alles historisch Gewordene hat ein Recht, wodurch es entsteht, und eine Schuld, an der es zugrunde geht. Dies nennen wir das Prinzip der historischen Zweischneidigkeit. Oft ist es klüger dem politischen Gegner das Recht zu nehmen, indem man sich selbst zum Anwalt des dahinter stehenden Guten macht, als ihn ob seiner Schuld anzuklagen.

So sieht es die Radikale Mitte

Wir wägen ab und streben nach der goldenen Mitte. In politischer Hinsicht ist dies der Ort, an dem sich die weltanschaulichen Lager wie Linksprogressivismus, Liberalismus und Konservativismus zum Dialog treffen. Keines dieser Lager hat per se recht oder unrecht oder ist per se gut oder böse. Jedes Lager repräsentiert eine legitime Sicht auf Kultur und Gesellschaft das erste Wort. Erst wenn wir einen Sachverhalt verstanden haben, können wir ihn moralisch einordnen.“

Haltungsjournalismus“ – m. E. ein Übel unserer Zeit – ist „von Propaganda kaum zu unterscheiden“

Das gnostizistische Schwarzweißdenken ist gekennzeichnet durch die klare Tendenz, schon im Voraus Sachverhalte moralistisch zu bewerten. Die Bewertung steht von Anfang an fest, und die weitere geistige Auseinandersetzung trägt allein den Charakter der Festigung dieses bereits getroffenen Urteils. Dies ist mittlerweile zum inoffiziellen Standard des Journalismus geworden – bezeichnet als „Haltungsjournalismus“, jedoch von Propaganda kaum zu unterscheiden.“
Als wichtiges „Erkenntniswerkzeug der Ideologie der Radikalen Mitte“ nennt Autor Plaum „die Methode der ausgewogenen Mitte“.
Damit stellt Wätzold Plaum auch auf eine heuchlerische Ideologie des Westens und der Konzernmedien ab: „Im Weltbild unserer Alphajournalisten scheint es zweierlei Arten von Staaten und Menschen zu geben. Die Edlen leben im Westen, die Schurken in Schurkenstaaten. Schurken rotten sich zu Verschwörungen zusammen, Edle niemals. Dies ist die Sicht der Beschwichtigungsprediger, derer, die uns erzählen, nur Informationen aus „verlässlichen“ (also mit unseren westlichen Eliten eng verwobenen) Quellen zu beziehen. Nur kein falsches Misstrauen! Es gibt hier nichts zu sehen!“
Das Wirken der Radikale Mitte ist freilich perspektivisch zu sehen. Weshalb Plaum zunächst bekennt: „Wir brauchen einen vorläufigen Plan. Die Radikale Mitte versteht den Menschen als denkende, handelnde und fühlende Ganzheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets auf ein holistisches Menschenbild bezogen bleiben, bei dem weder etwa emotionale oder rationale Aspekte überbetont werden. Wenn einer der Aspekte des Menschseins vernachlässigt wird, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht, verliert er seine Mitte. Im Denken und Handeln ohne Fühlen wird der Mensch empathielos, kalt und unauthentisch. Im Handeln und Fühlen ohne Denken folgt der Mensch blindem Aktionismus, ist in ständiger emotionaler Aufwühlung, lässt sich von Angst überwältigen und von Stimmungen hin- und hertreiben.“
Plaum rät den in der Mitte stehenden seine unmittelbaren Nachbarn aufmerksam zu beobachten. Die seien ihm nämlich ähnlicher als diejenigen, welche weiter entfernt sind. Was der geopolitischen Rolle Deutschlands in Europa ähnle. „Von allen Schemata, nach denen man das politische Spektrum ordnen kann – von denen das klassische Rechts-Links-Schema nur das einfachste ist – wählen wir hier das politische Wertedreieck. Es bietet den Vorteil, als einziges Schema den drei großen historischen Schulen des politischen Denkens zu entsprechen: Liberalismus, Linksprogressivismus und Konservativismus. Alle drei Schulen können sich mit einer gewissen Berechtigung auf die Französische Revolution berufen.“
Plaum weist auf das Folgende hin: „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Diese Werte – recht verstanden – können in der Tat als die Hauptwerte der drei großen politischen Schulen angesehen werden: Die Gleichheit ist der Hauptwert des Linksprogressivismus, die Freiheit der des Liberalismus und die Brüderlichkeit derjenige des Konservativismus.“
Dass das sich das Manifest als „ein Weckruf in dieser Zwischen- und Transformationszeit“ versteht ist zu begrüßen. Dass zu diesem Behufe zunächst ein Blick nach vorne gerichtet wird ist wichtig. Schließlich ist eine wie auch immer ins Auge gefasste Zukunft nicht ohne die Vergangenheit zu verstehen. […] „blicken wir noch einmal zurück: Was ist, was war dieses sterbende Zeitalter?“
Wätzold Plaum: „Wir haben Großes vor! Wir werden versuchen, eine Ahnung davon zu bekommen, welcher Art die geistige Ordnung der neuen Zeit sein wird. Wir liefern Ideologie, keine Philosophie. Das verhält sich wie Verbandskasten zu Universitätsklinikum.“
Die Radikale Mitte hat sich das fast die Quadratur des Kreises vorgenommen indem sie sich Bewältigung der gegenwärtigen Stagnationskrise des Westens auf die Fahne geschrieben ist.

Eine noch kleine, aber stärker werdende Minderheit erkennt am Horizont die ersten Zeichen einer Dämmerung“, findet der Autor. Da könnte was dran sein.
Aber fehlt da nicht der entscheidende Funke, aus dieser Dämmerung ein Licht aufgehen zu lassen? Ist es dieses Manifest? Das Problem ist: Ohne dass solche Gedanken den Widerhall in der Presse- und Medienlandschaft finden, ist wenig auszurichten. Davon ist momentan leider nicht ausgehen. Der „richtige“ Journalismus in Gestalt als Vierte Säule der Demokratie ist in Deutschland auf den Hund gekommen.
Aber, schrieb ich eingangs: Wir sollten vielleicht auch nicht gleich in Defätismus verfallen.

Wir befinden uns in einer geistesgeschichtlichen Umbruchszeit. Gegenwärtig erleben wir das Ende der Neuzeit“

Die Wirren der Gegenwart drohen uns von den großen Aufgaben abzulenken, welche die Zeit uns stellt“, schreibt der Autor im „Ausklang“.
Lassen wir uns von Olaf Scholz nicht hinter die Fichte führen, wenn er von einer „Zeitenwende“ schwafelt. Die wahre Zeitenwende steht mit Sicherheit erst noch bevor.
Der Autor so: „Wir sollten uns nicht überwinden lassen von Propaganda, Spektakel, Konsumismus, Karrierismus, Gutmenschentum und sinnlosen Gewohnheiten. Eine Philosophie der Mitte kümmert sich auch um das individuelle Leben und nicht nur um die gesellschaftlichen Zustände, denn beide Sphären durchdringen sich auf vielfältige Weise. Wir befinden uns in einer geistesgeschichtlichen Umbruchszeit. Gegenwärtig erleben wir das Ende der Neuzeit. Um hier destruktive Krisen zu vermeiden, müssen wir die kulturelle Kreativität darauf richten, diesen Übergang intellektuell zu fassen und kulturell zu gestalten. Die Radikale Mitte braucht eine breite Kulturoffensive. Unter anderem setzen wir uns kritisch mit den Erzideologien der Neuzeit auseinander: Nominalismus, Voluntarismus und Relativismus. Wir werden aber auch im eigenen Leben aktiv und versuchen, der großen Verantwortung, welche das Licht der Erkenntnis uns erblicken lässt, gerecht zu werden. Lasst uns auf Menschen zugehen und nach Gleichgesinnten suchen! Lasst uns den Geist einer neuen Zeit zum Leben erwecken, im Kleinen wie im Großen! Lasst uns endlich beginnen!“
Ich empfehle meinen Leserinnen und Lesern dieses Manifest unbedingt. Seien sie neugierig darauf! Empfehlen Sie es weiter. Gerade auch, weil so viele Menschen von Politik schwer enttäuscht worden sind und sich abgewendet haben. Wir müssen aus der Stagnationskrise herausgekommen. Da sind neue Ideen und Vorstellung die Gestaltung der Zukunft betreffen wichtig. Denn es ist die Frage zu beantworten: Wie wollen wir künftig leben? Ob Ihnen, werte Leser dieses Manifest diese Frage genügend beantwortet, müssen sie selber herausfinden. Ich finde, es ist ein Anfang, ein Anstoß, unsere Gesellschaft neu zu denken. Was nicht heißen soll, alles bisher sich bewährt habende gleich mit dem Bade auszuschütten.

Das Buch (momentan nur bei Amazon bestellbar)
Manifest der Radikalen Mitte: Warum wir eine Ideologie der politischen Mitte brauchen
Wätzold Plaum (Autor)

Herausgeber ‏ : ‎ Bookmundo Direct; 1. Edition (22. Dezember 2022)

  • ASIN ‏ : ‎ B0BPGJJ7KN
  • Herausgeber ‏ : ‎ Independently published (7. Dezember 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 261 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 979-8361486113
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.7 x 1.68 x 20.32 cm
  • Preis: 13,95 Euro

Über den Autor:
Wätzold Plaum studierte Physik und promovierte 2009 in Mathematik an der Universität Regensburg. Er arbeitet im Bereich und Software- und Fahrzeug-Entwicklung. 2012 erschien sein Buch „die Wiki-Revolution“ zum Thema Digitalisierung und Politik. Seit 2013 betreibt er den YouTube-Kanal „Wätzolds Welt“. 2019 promovierte er im Fach Philosophie zu einem eigenen geschichtsphilosophischen Modellentwurf. Wätzold Plaum betätigt sich auch als Musiker.

Beitragsbild: Via Amazon.de

Gedenken und Mahnung am Hiroshima-Tag in Dortmund

Künster Leo Lebendig (mit Hut) mit seinem purpurfarbenen Kranich (rechts). Fotos: C. Stille

Vor 74 Jahren warf die US-Luftwaffe eine Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima. Das erste Mal in der Geschichte der Menschheit überhaupt, dass eine solch schreckliche Waffe auf bewohntes Gebiet abgeworfen wurde. Es war der 6. August 1945, morgens um 8.15 Uhr.

An diesem Tag starben in Hiroshima 140.000 Menschen. Noch heute sterben dort Menschen an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung. IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung) und die Deutsch-Japanische Gesellschaft der Auslandsgesellschaft luden am 6. August zu einem Mahngang ein. Dieser führte am Platz von Hiroshima und führte zum Ginkgobaum am Dortmunder Rathaus. Es wurde der Opfer des Atombombenabwurfs mit einer Schweigeminute gedacht, auf die gegenwärtigen Gefahren hingewiesen und gefordert, den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterschreiben.

Leo Lebendigs Papierkranich möchte Frieden und Glück bringen und die Liebe befördern

Die TeilnehmerInnen des diesjährigen Mahnganges hatten sich auf dem Platz von Hiroshima eingefunden. Unmittelbar dort, wo Anselm Treeses Kunstwerk „Mutter von Hiroshima“ steht. Dort war auch der pupurfarbene Papierkranich des Dortmunder Künstlers Leo Lebendig „gelandet“. Wie er sagte, um Frieden und Glück zu bringen sowie Liebe zu befördern. Der Kranich ist das japanische Symbol des Glücks und Zeichen der Friedensbewegung.

Dr. Inge Zeller bedauerte, dass Deutschland bislang den ICAN-Vertrag nicht unterzeichnet hat, lobte aber, dass Dortmund den ICAN-Städteappell signierte

Dr. Inge Zeller (IPPNW) sagte in ihrer kurzen Rede, die Opfer der Atombombenabwürfe (von Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki)

Dr. Inge Zeller (IPPNW).

mahnten uns auch nach 74 Jahren „für eine Welt ohne Atomwaffen einzutreten.“ Sie gab zu bedenken: „Doch noch immer gibt es weltweit rund 15.000 Atomwaffen, von denen etwa 1800 in ständiger Alarmbereitschaft gehalten werden und der Menschheit innerhalb weniger Minuten ein Ende bereiten könnten. Die Schicksale der Menschen von Hiroshima und Nagasaki mahnen uns, wie wichtig das Engagement für eine atomwaffenfreie Welt ist.“ Dies verdeutlichten auch die aktuellen Spannungen zwischen den Atommächten. Der INF-Vertrag zwischen den USA und Russland sei gescheitert. Die Kriegsgefahr zwischen Pakistan und Indien weiterhin sehr hoch. Dazu käme, dass „alle Atommächte ihre Arsenale des Schreckens qualitativ aufrüsten“.

„Grund zu Hoffnung“, so Dr. Zeller, „weckt der im Juli 2017 verabschiedete Vertrag ICAN“, der inzwischen von 70 Staaten unterzeichnet und von zirka 30 Staaten ratifiziert worden sei. Neunzig Tage nach Ratifizierung seitens des 50. Staates würde der Vertrag in Kraft treten und eine völkerrechtliche Lücke schließen, um diese Massenvernichtungswaffen zu verbieten. Sie bedauerte, dass Deutschland den ICAN-Vertrag (Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, verabschiedet 2017 bei der UNO, organisiert von der Internationalen Kampagne ICAN, die im gleichen Jahr den Friedensnobelpreis dafür erhielt) bislang nicht unterzeichnet hat. Obwohl eine große Mehrheit der Bundesbürger dafür ist. Inge Zeller informierte darüber, dass unterdessen mehrere internationale und deutsche Städte, darunter Dortmund, den ICAN-Städteappell unterzeichnet, womit sie ein Zeichen nach Forderung atomarer Abrüstung gesetzt haben.

Dem Vortrag des Gedichts „Hiroshima“ folgte eine Schweigeminute für die Opfer des US-amerikanischen Atombombenabwurfs

Nachdem das Gedicht „Hiroshima“ (1951) von Marie Luise Kaschnitz verlesen worden war, legten die Versammelten eine Schweigeminute ein. Dann begannen sich die zum Mahngang erschienenen Menschen mit ihren Transparenten und Schildern – der pupurne Kranich von Leo Lebendig „schwebte“ mit ihnen – in Bewegung zu setzen. Sie überquerten den Hansaplatz und passierten Friedenssäule und Rathaus, um dann an der Gedenkstätte am Ginkgobaum einen Halt einzulegen.

Der Ginkgobaum war eine Geschenk des zeitlebens unermüdlich für ein weltweites Atomwaffenverbot eintretenden Dr. Shuntaro Hida an Dortmund

Dieser Ginkgobaum erinnert an die Opfer des US-amerikanischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima.

Heinz-Peter Schmidt (IPPNW) erinnerte daran, dass der japanische Arzt Dr. Shuntaro Hida bei einem Besuch in Dortmund den inzwischen prächtig gediehenen Ginkgobaum der Stadt damals geschenkt habe. Zusammen mit dem damaligen Oberbürgermeister Günter Samtlebe habe Schmidt diesen Baum seinerzeit eingepflanzt. Dr. Hida (im Alter von 100 Jahren 2017 gestorben) war ein Hibakusha (Überlebender des US-Atombombenabwurfes auf Hiroshima). Zeitlebens und unermüdlich habe sich Dr. Hida für die Hibakusha und ein weltweites Atomwaffenverbot eingesetzt, sagte Heinz-Peter Schmidt. Der Ginkgobaum gilt als Symbol des Überlebens nach dem Atombombenabwurf.

Dr. Inge Zeller, Johannes Koepchen, Dr, Schulz und Hans-Peter Schmidt am Ginkgobaum (vl.).

Die Flagge der „Mayors for Peace“ wehte an diesem Hiroshima-Tag

Am Dortmunder Rathaus war am Hiroshima-Tag die Flagge der „Mayors for Peace“ (Bürgermeister für den Frieden), damit ist auch ein verpflichtendes

Die Flagge „Bürgermeister für den Frieden“.

Eintreten dieser Bürgermeister gegen Atomwaffen verbunden, gehisst. Dortmund ist bereits seit einigen Jahren als eine der ersten Städte dieser Initiative beigetreten.

Johannes Koepchen „Ohne Atomindustrie sind keine Atomwaffen möglich“

Johannes Koepchen (IPPNW).

Vor dem Eingangsportal des Rathauses sprach Johannes Koepchen (IPPNW) über die Entstehung des INF-Vertrages – unterschrieben am 8. Dezember 1987 durch den sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan -, der Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte und nun am 1. August dieses Jahres – zunächst von den USA, dann auch von Russland gekündigt – ausgelaufen ist.

Als brisant schätzte Koepchen ein, dass in Büchel in der Eifel nach wie vor etwa 20 US-Atomwaffen stationiert sind. Koeppchen: „Deutschland hat Zugang zu Atomwaffen über die „Nukleare Teilhabe“. Heißt nichts anderes als das: Deutschland kann im Rahmen der „Nuklearen Teilhabe“ der NATO in die Bredouille kommen, die US-Atomwaffen mit Flugzeugen der deutschen Luftwaffe auszutragen.

Kritisch findet Johannes Koepchen: „Außenminister Maas erklärt zwar, er wolle auch eine atomwaffenfreie Welt; – aber die Atomwaffen in Büchel dürfen bleiben, und der Verbotsantrag der Atomwaffen wird von der Bundesregierung boykottiert.“

Und Koepchen rief in Erinnerung: „Weil die Lage so brisant ist und weil die große Mehrheit der Menschen keine Atomwaffen will, hat auch der Stadtrat in Dortmund im März mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, die diesen Verbotsantrag unterstützt und die Bundesregierung aufgefordert, sich mit ihm zu befassen.“

Unmissverständlich machte Koepchen deutlich, dass Atomindustrie und Atomwaffen zusammen gehörten: „Ohne Atomindustrie sind keine Atomwaffen möglich – das ist auch ein Grund, warum so viele Staaten an den Atomreaktoren festhalten“.

Äußerst bewegender Film im Rathaussaal „Westfalia“: „ Als die Sonne vom Himmel fiel“

Im Saal Westfalia des Dortmunder Rathauses wurde er äußerst bewegende Film „Als die Sonne vom Himmel fiel“ (Schweiz) von Aya Domenig vorgeführt. Zum Film: Auf den Spuren ihres verstorbenen Grossvaters, der nach dem Abwurf der Atombombe 1945 als junger Arzt im Rotkreuzspital von Hiroshima gearbeitet hat, begegnet die Regisseurin einem ehemaligen Arzt und einer Krankenschwester, die Ähnliches erlebt haben wie er. Zeit

Yoko Schlütermann.

seines Lebens hat ihr Grossvater nie über seine Erfahrungen gesprochen, doch durch die große Offenheit ihrer Protagonisten kommt sie ihm näher. Als sich am 11. März 2011 in Fukushima eine neue Atomkatastrophe ereignet, nimmt ihre Suche eine neue Wendung. Übrigens kommt im Film auch Dr. Shuntaro Hida vor, welcher Dortmund den Ginkgobaum geschenkt hatte.

Yoko Schlütermann skandalisierte, dass zur in Tokio stattfindenden Olympiade 2020 Wettkämpfe auch in der Präfektur Fukushima stattfinden sollen, wo der Atomunfall geschah: Strahlender Wahnsinn

Die Vorsitzende der Deutsch-Japanischen Gesellschaft der Auslandsgesellschaft, Yoko Schlütermann, sprach davon, dass der Bürgermeister von Hiroshima sich bei der diesjährigen Zeremonie am Hiroshima-Tag von japanischen Regierung wünschte, dass sie den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichne und ratifiziere. Doch der japanische Premier Shinzo Abe habe lediglich zugesichert, über die Folgen der Atombombenabwürfe zu informieren und als Brücke zwischen Atommächten und Nichtatommächten vermittelnd dienen zu wollen. Über den Atomwaffenverbotsvertrag, so Yoko Schlütermann, habe er indes kein Wort verloren.

Äußerst bedenklich findet sie, dass die japanische Regierung, die den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Spiele 2020 (24. Juli bis zum 9. August 2020) in Tokio bekommen hat, diese Spiele als „Wiederaufbauolympiade“ deklariert habe. Einen Teil der Wettkämpfe sollen nämlich sogar in der Präfektur Fukushima – also dort wo der AKW-Unfall geschah! – stattfinden.

Damit werde der Welt vorgetäuscht, dass das Fukushima-Desaster bereits unter Kontrolle sei.

Vor diesem Hintergrund werde die Deutsch-Japanische Gesellschaft eine zweitägige Konferenz (14. und 15. September 2019) mit dem Thema „Für eine Olympiade in Tokio, die die Gefahren von Fukushima nicht verschweigt“ veranstalten. Unter anderen wird daran als Referent auch Eiichi Kido (Professor für Politik, Universität

Die Trommlergruppe „Senryoko“.

Osaka/Bochum) teilnehmen, der zur Veranstaltung am 6. August im Rathaus anwesend war.

Zu einem wahren Höhepunkt gestaltete sich der Auftritt der Trommler-Gruppe „Senryoko“ mit ihrer Taiko-Darbietung vorm Dortmunder Rathaus.

Lesen. Weitergeben! „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ – Rezension

Der Zustand der Beziehungen der gegenwärtigen BRD zu Russland ist als ziemlich schlecht und als über die Maßen bedenklich einzuschätzen. Matthias Platzeck (Vorsitzender des deutsch-russischen Forums) dazu kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (Dlf): „Die Beziehungen sind mehr als abgekühlt“.

Egon Bahr formulierte das Diktum „Wandel durch Annäherung“ und gab damit eine erfolgreiche Strategie vor

Doch bedenken tun das nur diejenigen bei uns, die sich unermüdlich für gute Beziehungen, Frieden und Freundschaft mit Russland einsetzen. Es sind wohl in der Mehrzahl Menschen, die das bereits früher getan haben als die Sowjetunion noch existierte. Ironie der Geschichte: Man muss sagen, dass die Beziehungen Westdeutschlands, der alten BRD, zu Hochzeiten des Kalten Kriegs zur damaligen Sowjetunion besser waren als gegenwärtig.

Zu verdanken waren die schrittweise ins Werk gesetzten Verbesserungen der Beziehungen Westdeutschland zur Sowjetunion einer politischen Strategie, die Egon Bahn in seiner Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963 unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ , formulierte. Das Diktum vom „Wandel durch Annäherung“ gilt als eines der „wichtigsten öffentlichen Ankündigungen eines Strategiewechsels in der westdeutschen Deutschland- und Wiedervereinigungspolitik während des Kalten Krieges“. Hier dazu mehr.

Matthias Platzeck immerhin gibt nicht auf. Im erwähnten Dlf-Interview sagte er kürzlich, nun müsse es darum gehen, wenigstens wieder mehr Berechenbarkeit hinzubekommen.

Ich selbst – man erlaube mir diesen kleinen Schlenker – verfolgte diese Politik im Sinne von „Wandel durch Annäherung“ seinerzeit hoch elektrisiert. Und zwar von DDR-Boden aus. Die schrittweisen Verbesserungen der Beziehungen Westdeutschland zur Sowjetunion, die auch auf die DDR ausstrahlten, waren damals quasi mit Händen zu greifen und Anlass zu großen Hoffnungen.

Und heute? Ein Scherbenhaufen! Das ziemlich zerstört, was Bahr, Brandt, Scheel mit viel Mühe zu Hochzeiten des Kalten Krieges ins Werk setzten und das sogar noch von Helmut Kohl weiter fortgesetzt worden war.

Das auf die falsche Fährte führende westliche Narrativ

Das westliche seitens Politik und von den Medien papageienhaft und unhinterfragte nachgeblökte wieder und wieder verstärkte, hauptsächliche Narrativ tönt inzwischen so: Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen Berlin – Moskau sei Russland selbst, das gegen das Völkerrecht verstoßen habe, indem es die Krim annektierte. Das diese Reaktion Wladimir Putins Auslösende, der vom Westen unterstützte Maidan-Putsch in Kiew, kommt in diesem Narrativ nicht vor.

Gute deutsch-russische Beziehungen liegen nicht im Interessen der Mächtigen in den USA

Die Ostpolitik Egon Bahrs und Willy Brandts, die enormen Anstrengungen, die seinerzeit die sozial-liberale Bundesregierung noch von Bonn aus unternahm – und die, wir heute – nicht zuletzt von Egon Bahr – wissen nur in Absprache mit den USA, gemacht werden konnten, können heutzutage nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor allem, wenn wir heute wissen, dass das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg war, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland stets zu torpedieren. Denn, so George Friedman (hier das entsprechende Video) vom US-Thinktank Stratfor, weil sie vereint die einzige Macht seien, die die USA bedrohen könnten. Einleuchtend: Deutschland verfügt über das nötige Knowhow, Russland über eine gewaltiges Reservoir an Bodenschätzen.

94 Prozent der Deutschen befürworten laut einer Umfrage gute Beziehungen zu Russland

Dass es trotzdem die russisch-deutschen Beziehungen auf einen Tiefpunkt angelangt (besser: sehenden Auges dahin gebracht wurden) hierzulande Persönlichkeiten gibt, die nicht ruhen, versuchen zu Kitten was es zu Kitten gibt, um diesen für beide Länder so wichtigen Beziehungen wieder zu einem Aufschwung zu verhelfen, ist aller Ehren wert. Nicht zu vergessen dabei: Wie eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Wiese Consult GmbH

zeigt, befürworten 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland, fast 90 Prozent wünschen sich eine von den USA eigenständige Außenpolitik. Die Mehrheit der Deutschen unterstützt somit die gegenwärtige Außenpolitik nicht.

Adelheid Bahr initiierte dankenswerterweise einen Aufruf für eine neue Friedenspolitik

Adelheid Bahr, die Witwe des 2015 verstorbenen Egon Bahr, hat es dankenswerterweise unternommen einen Aufruf für eine neue Friedenspolitik herauszugeben. Der Titel: „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ (erschienen bei Westend).

Warum? Weil die „aktuelle Politik der deutschen Regierung“ die Meinung der in der Umfrage zutage getretene „überwältigende Mehrheit“ der Deutschen , welche gute Beziehungen zu Russland wichtig finden, sträflich missachtet.

Versammelt in diesem Buch hat Adelheid Bahr Beiträge von Wolfgang Bittner, Peter Brandt, Mathias Bröckers, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann, Frank Elbe, Justus Frantz, Sigman Gabriel, Peter Gauweiler, Richard Kiessler, Gabriele Krone-Schmalz, Wolfgang Kubicki, Harald Kuja, Oskar Lafontaine, Albrecht Müller, Matthias Platzeck, Detlef Prinz, Herwig Roggemann, Florian Rötzer, Evgeniya Sayko, André Schmitz-Schwarzkopf, Hans-Joachim Spranger, Antje Vollmer, Konstantin Wecker, Willy Wimmer und last but not least selbstverständlich von Egon Bahr.

Das klug und weitsichtige Denken und Wirken Egon Bahrs

Hochinteressant ist es die Rede von Egon Bahr nachzulesen, die er 2015 anlässlich der Verleihung des Dr. Friedrich Joseph Haass-Preise gehalten hatte. Ein Schwerpunkt: Verantwortungspartnerschaft mit Moskau und Washington (ab S. 12).

Der Inhalt der Rede macht noch einmal klar, wie klug und weitsichtig Egon Bahr stets zu denken in der Lage war.

Nicht weniger bemerkenswert ist, was Egon Bahr zur Buchvorstellung des als erzkonservativ bekannten und über Jahrzehnte dementsprechend ideologisch auch gegen die Ostpolitik der sozial-liberalen Bundesregierung gewettert habenden CSU-Manns Wilfried Scharnagl, der einst Chefredakteur des Bayernkurier war, zu sagen hatte.

Bahr hatte, als er zur Buchvorstellung gebeten worden war, zunächst verständlicherweise ablehnend reagiert. Doch nachdem er erfuhr, dass Scharnagls Buch im Sinne hatte, nämlich die Beziehungen zu Russland wieder zu verbessern, war er sofort bereit zu dessen gemeinsamer Präsentation.

Wolfgang Bittner fragt: „„Was um Himmels willen treibt Deutschland gegen Russland?“

Unbedingt hinzuweisen ist auf den Buchbeitrag des Schriftstellers Wolfgang Bittner (S. 29ff). Unmissverständlich macht Bittner klar: „Russland gehört zur europäischen Familie“

Erschrocken hat den Schriftsteller die Frage „Was um Himmels willen treibt Deutschland gegen Russland?“ umgetrieben und offenbar tief emotional beschäftigt.

Gleich in der erste Zeile seine Beitrages merkt Bittner an: „Russland ist das größte Land Europas, das wird verdrängt und gerät allmählich in Vergessenheit.“

Er erinnert an die jahrhundertelang intensiven Handelsbeziehungen zwischen Deutschen und Russen, den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Bittner: „Was wäre unsere Kultur ohne die russische Literatur, Kunst, Musik, ohne das russische Theater?“

Er führt „die Schriftsteller und Dichter Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Gorki, Puschkin und Jewtuschenko, die Maler Jawlenski und Repin (ich habe sofort die Wolgatreidler vor Augen), die Musiker Prokowjew, Schostakowitsch und Tschaikowsk (ich höre die Nussknacker-SuitePuschkin, bis heute wird in Russland Heinrich Heine verehrt und Beethoven widmete der Zarin Elisabeth seine Polonaise Op. 89, wofür ihm zum Dank eine großzügige Zuwendung gewährt wurde.“

Bittner – auch andere Autoren des Buches – erinnert an (…) „Wladimir Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 – das war damals noch möglich!“ (…)

Putin habe da Goethe, Schiller und Kant genannt und gesagt, „dass die Kultur immer unser gemeinsames völkerverbindendes Gut war“.

Ist all das vergessen? Es sieht so aus. Traurig! Bittner sieht als einen ersten Schritt: „Antwort auf die Zumutungen aus Politik und Medien wäre rückhaltlose Aufklärung und Wiederaufnahme friedlicher, gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland“ (S. 41 unten)

Deutliche Worte von Mathias Bröckers

Mit drastischen Worten öffnet uns Mathias Bröckers die Augen, wenn er am Ende seiner Ausführungen warnt: „Und das unsere ‚Flinten-Uschi als militärische ‚Leyen-Darstellerin‘ mit ihren NATO-Knallköpfen und Donald Trump als Oberkommandierendem erreicht, was weder Napoleon noch Kaiser Wilhelm II noch Hitler geschafft haben – nämlich Russland unter die Knute zu kriegen-, können nur völlig Wahnsinnige glauben.“ Deutliche Worte!

Konstantin Weckers Mahnung: „Lasst uns diesen Krieg verhindern. Es könnte schrecklich werden“

Nicht weniger klar gibt Konstantin Wecker (S. 81) betreffs möglicher auch militärischer Konflikte zu bedenken: „Wenn zwei Weltmächte aufeinanderprallen, ist nicht der eine gut und der andere böse. Es geht um handfeste wirtschaftliche und territoriale Interessen, um Eitelkeit, Missgunst, Paranoia, mangelnde Empathie, krude Weltbilder mächtiger Menschen, die ihre Lebendigkeit eingetauscht haben gegen erstarrte Ideologien.“ Und mahnt: „Lasst uns diesen Krieg verhindern. Es könnte schrecklich werden.“

Daniela Dahn: „Von Egon Bahr lernen heißt verstehen lernen“

Auch die Publizistin Daniela Dahn trifft einmal mehr in ihrem Beitrag „Von Egon Bahr lernen heißt verstehen lernen“ den Nagel auf den Kopf.

Eine wichtige Aussage Daniela Dahns auf S. 66 oben: „Dafür, dass zur deutschen Staatsraison die Sicherheit Israels gehört, gibt es unabweisliche Gründe. Sie beruhen auf historischer Verantwortung. Aus denselben Gründen gebietet es sich, auch die Freundschaft zu Russland zur Staatsraison zu erheben.“

Willy Wimmers auf auf hoher Kompetenz beruhender Einwurf und dessen Erinnerung an „Tauroggen“

Der einstige Verteidigungsstaatssekretär unter Helmut Kohl, Willy Wimmer, bezeichnet die Lage unseres Landes als „schwierig“. Warum, das dröselt Wimmer im Buch unter dem Titel „Es ist ‚Tauroggen‘, Dummkopf“ kenntnisreich und durch seine frühere Tätigkeit äußerst kompetent auf. Zur Konvention von Tauroggen finden Sie hier Informationen.

Wimmer erwähnt Egon Bahr und Valentin Falin als große Männer. Beide engagierten sich bekanntlich für gute Beziehungen zwischen der BRD und der Sowjetunion/Russlands und den Frieden.

Wimmer möchte, dass wir uns nicht Tasche voll lügen sollten, „wie wir es seit dem völkerrechtlichen Krieg gegen Jugoslawien so meisterlich gelernt haben“ (S. 187). „Unsere westliche Politik wieder auf null setzen, den berühmten ‚Reset-Knopf‘ drücken und dabei völlig außer Betracht lassen, dass Moskau sicherheitspolitische Fakten geschaffen hat?“

Auch Willy Wimmer sieht da einiges an politischen Porzellan zerschlagen im deutsch-russischen Verhältnis und fragt: „Warum soll Moskau uns noch ein Wort glauben?“ Dennoch schließt der politisch kluge Wimmer zuversichtlich: „Und dennoch müssen wir es versuchen und uns notfalls in der deutschen Geschichte Rat suchen, wenn man Egon Bahr und andere schon nicht fragen kann. Tauroggen eben.“

Botschafter a. D. Frank Elbe empfiehlt: Rückkehr zu bewährten Strategien“

Der ehemalige deutsche Botschafter Frank Elbe hat ebenfalls einen Beitrag für das Buch verfasst. Und rät darin betreffs des Umgangs mit Russland zu einer „Rückkehr zu bewährten Strategien“ (S. 78).

Elbe weist auf Folgendes hin: „Europa hat – wenn es auch von einigen Ländern nicht so gesehen wird – eine eindeutige Interessenlage: beständige, berechenbare Beziehungen zu Russland“.

Damit spricht er aus, dass europäische und amerikanische Interessen eben nun einmal auseinander fallen.

Gabriele Krone-Schmalz: Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer versetzen

Gabriele Krone-Schmalz. Foto: C. Stille

Fehlen durfte freilich auch in diesem Buch Gabriele Krone-Schmalz ganz gewiss nicht. Schließlich hat sie jahrzehntelange Erfahrungen sowohl in der Sowjetunion als auch Russland gesammelt, kennt Land und Leute. Gegen Ende ihrer Ausführungen im Buch (S. 110) appelliert sie an die gegenwärtige Generation und ihnen nachfolgenden Menschen: „Die ‚Kriegsgeneration‘ stirbt langsam aus, und ich habe den Eindruck, dass Bewusstsein der Zerbrechlichkeit von Frieden auch. Wie sonst lässt sich die unbedarfte Eskalation in Politik und Medien erklären? Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer versetzen – das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit menschlicher Größe und mit den christlichen Werten, sie so viele im Munde führen.“

Zum Thema empfehle ich diesen Beitrag.

Frieden in Europa ist es wert, sich der Mühe des Ausgleichs zu unterziehen“, unterstreicht Wolfgang Kubicki (FDP)

Und FDP-Mann Wolfgang Kubicki gibt schon in der Überschrift zu seinem Beitrag (S. 111) zu bedenken: „Frieden in Europa ist es wert, sich der Mühe des Ausgleichs zu unterziehen“

Hauptanliegen des Buches: Frieden

Um nichts mehr – aber auch nichts weniger – als um den Frieden geht es diesem Buch! Möge es eine breite Leserschaft finden. Es geht schließlich um alles. Schon Willy Brandt wusste: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Schon 2013 warnte Egon Bahr vor SchülerInnen: „Ich, ein alter Mann, sage euch, dass wir in einer Vorkriegszeit leben.

Und in der Rhein-Neckar-Zeitung wird Bahr 2013 noch mit diesem Satz zitiert: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Eben das berücksichtigt dieses in diesen Zeiten wirklich Gold werte, von Adelheid Bahr herausgegebene Buch! Russland verstehen, heißt eben auch, Russlands Interessen nachzuvollziehen. Wobei ja keinesfalls jegliche Politik Moskaus gutheißen muss. Zu erkennen gilt es aber in Berlin, dass es nicht im Interesse Deutschlands sein kann, die Beziehungen zu Russland zu beschädigen. Wie schätzte doch Matthias Platzeck nüchtern ein: Die Beziehungen (zu Russland; C.S.) sind mehr als abgekühlt.

Fazit

Kaufen Sie dieses Buch! Lesen Sie es und geben Sie es weiter. Es ist ein Ausrufezeichen, die deutsch-russischen Beziehungen wieder auf Vordermann zu bringen, sie dringen eine Generalinventur und einer groß angelegten Reparatur zu unterziehen. Sonst ist Schlimmes zu befürchten. Haben wir vergessen, dass wir der Sowjetunion und Michael S. Gorbatschow nicht zuletzt auch unsere Einheit zu verdanken habe?!

Wladimir Putin hat wiederholt seine Hand gen Berlin ausgestreckt. Er hat gangbare Wege für die Zukunft vorgeschlagen. Putin Hand wurde bisher nicht ergriffen. Bedenken wir: eine Mehrheit der Deutschland und wohl auch der Bevölkerung der Russischen Föderation ist (trotz von Hitlerdeutschland 27 Millionen zu Tode gebrachter Sowjetmenschen) an guten völkerverbindenden Beziehungen zueinander interessiert.

Adelheid Bahr (Hg.)

Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen

Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn und vielen anderen

Update vom 12. Dezember 2018 Westend Redezeit:

via Westend Verlag

 

 

Herausgegeben von Adelheid Bahr

Erscheinungstermin: 02.10.2018
Seitenzahl: 208
Ausstattung: Klappenbroschur
Art.-Nr.: 9783864892363

Gorbatschows Wermutstropfen in der Feierbrause – Ein Kommentar

Erinnerung an den Verlauf der Berliner Mauer; Foto: PixelWookie via Pixelio.de

Erinnerung an den Verlauf der Berliner Mauer; Foto: PixelWookie via Pixelio.de

Das große Feier-Theater zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin ist endlich zu Ende. Wäre man boshaft, könnte gesagt werden: Manches daran erinnerte in einigen Punkten an ähnliche Feierlichkeiten zu DDR-Zeiten. Hurra, hurra und nochmals hurra. Bloß keine kritischen Töne aufkommen lassen. Es ist ja wie bei Familienfeierlichkeiten auch: Hoch die Tassen! Die dunklen Seiten bleiben unter dem Tisch und dessen Tuch. Bloß nicht drunter gucken und dran rühren! Wie ungefähr bei dem Dogma-Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg. Na ja, irgendwie menschlich verständlich.

Eine Prise Ehrlichkeit wäre nicht schlecht gewesen

Doch beim Mauerfall-Brimborium hätte eine Prise Ehrlichkeit im Rückblick gewiss nicht geschadet. Verkehrt in diesem Sinne wäre nämlich nicht gewesen anklingen zu lassen, unter welcher Situation es überhaupt zum Mauerbau erst kommen konnte. Mit Sicherheit hätten die dann beleuchteten Gründe keinerlei vom DDR-Staat begangenes Unrecht um und hinter der Mauer entschuldigt. Aber wahrscheinlich hätte diese Prise wie ein Wermutstropfen in der lustige Feierlaune-Brause der Funktionäre von heute gewirkt. Weshalb es unterblieb.

Feier auf den Scherben zerdepperten Porzellans

Ein schaler Beigeschmack blieb jedoch für mich. Vermittelte sich mir doch der Eindruck, die Mächtigen von heute feierten sich über den Umweg der (gewiss berechtigten) Feier des Falls der Mauer vor 25 Jahren selbst als die über jegliche Kritik erhabenen Guten. Die dabei den Anschein erweckten ein für allemal über das Schlechten gesiegt zu haben. Dieser Anschein jedoch trügt.

Zwar hatten sich durch den letztlich wie auch immer zustande gekommenen Fall der Mauer und der darauffolgenden Eingemeindung der DDR einzigartige Chancen für die Menschen nicht nur in beiden Deutschlands, sondern auch ganz Europas eröffnet. Viele dieser Chancen wurden und werden m. E. von den gegenwärtigen Machthabern u.a. in Berlin in Verkennung der womöglich schrecklichen Folgen zusehends vertan. Auf den von Scherben des zerdepperten Porzellans feierte man nun.

Gorbatschow erhob schwerwiegende Vorwürfe gegenüber dem Westen

Immerhin einer sprach das in Berlin am Brandenburger Tor an. Der greise, aber nach wie vor weise Friedensnobelpreisträger Michael Gorbatschow tat dies dankenswerterweise. Die Chuzpe, das zu verhindern bzw. in den Medien irgendwie zu verschweigen, hatten die Verantwortlichen in herrschender Politik und im gleichlautender palavernden Medien Gott sei Dank dann doch nicht.

Und so erhob denn der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow bezüglich dessen Agierens im Ukraine-Konflikt schwerwiegende Vorwürfe gegen den Westen.
Auf den Ukraine-Konflikt anspielend, sagte der 83 Jahre alte Gorbatschow am Samstag: „Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen.“ Zu konstatieren sei ein „Zusammenbruch des Vertrauens“.

Die Heuchelei des Westens

Gorbatschows Politik von Glasnost, Perestroika und der Öffnung hatte letztlich auch die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen.

Ohne Gorbatschows weitgehende Zugeständnisse an die BRD seinerzeit und darüber hinaus an den Westen waren enorm. So enorm, dass Gorbatschow bis heute bei vielen Menschen der auseinandergebrochenen Sowjetunion regelrecht verhasst ist. Wie wir wissen, versicherte man dem damaligen sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, die NATO werden kein Meter weiter gen Osten rücken. Inzwischen ist sie um die 1000 Kilometer an das heutige Russland herangeschoben worden!

Vor und erst im Jahre 1989 wurde Michael Gorbatschow für dessen Politik der Öffnung vom Westen hoch über den grünen Klee gelobt. Und bei vielen Gelegenheiten hofiert. Gorbi, Gorbi-Rufe allerorten. Ich erinnere mich Ende der 1980er Jahre das Konterfei Gorbatschows in vielen Schaufenstern im österreichischen Linz gesehen zu haben. Bei einem Besuch des damaligen Generalsekretärs in Dortmund wurde dieser geradezu stürmisch begrüßt. Hauptsächlich von es ehrlich meinenden Stahlarbeitern. Dass Gorbatschow damals von westlichen Politikern so hochgelobt wurde hat zum Teil auch etwas mit der üblichen Heuchelei des Westens zu tun. Wie wir das heute auch bei anderen Gelegenheiten beobachten. Einerseits war das einhellige Lob für Gorbatschow und die Hoffnung ehrlich und ernst gemeint. Andererseits hegten Kapital und Konzerne gewiss schon ganz andere Vorstellungen dahinter. Denn hatten sie erst einmal Gorbatschow im Sack, würde bald das ganze (pseudo-)sozialistische System und zusammen mit ihm die sowjetischen Satellitenstaaten fallen. Wie es dann auch kam. Kapital und Konzerne scharrten mit den Füßen. Und machten sich über die dann neu entstehenden Märkte her.

Gorbatschow wurde vom Westen über den Tisch gezogen

Kurz: Gorbatschow ward vom Westen, von der NATO über den Tisch gezogen. Dessen Rede und – wie ich finde – hervorragende Vision – von der Schaffung eines „gesamteuropäischen Hauses“ eifrigst beklatscht. Aber wie wir heute erschrocken feststellen müssen: letztlich nicht wahr. Vielleicht war das von bestimmten Kreisen auch von vornherein gar nicht gewollt. Jedenfalls nicht so, wie Michael Gorbatschow sich das ausgedacht hatte.

Ein „Störenfried“, den man sich nicht zu übergehen traute

Heute wird Michael Gorbatschow von den meist selben Leuten, die ihn vor und um 1989 gar nicht oft genug hochleben lassen konnten, der das in eigentlich ganz anderem Zusammenhang gesagte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ eher als Störenfried empfunden. Ein Störenfried – aber, wie ich finde, im Gegensatz zu Barack Obama und der EU – würdiger Friedensnobelpreisträger, den man man sich aber bei den Feierlichkeiten zum 25. Jahr des Falls der Mauer nicht einfach zu übergehen traute.

Medialer Hieb gegen Gorbatschow

Nicht nur das. Man musste sich ganz und gar dessen (berechtigte) Kritik am Westen und dessen Warnung vor einem neuen Kalten Krieg anhören.

Heute früh wandte sich dann auch die Moderatorin von Funkhaus Europa bei der Vermeldung von Gorbatschows Kritik am Westen wie ein übriggebliebener Regenwurm im Novemberlaub. Und sowohl die WDR-Frau als auch der die Äußerungen kommentierende WDR-Mann entblödeten sich nicht, Gorbatschow, der m.E. einfach Wahrheiten laut ausgesprochen hatte, einen kleinen Hieb mitzugeben. Gorbatschow hätte nicht nur an die Ereignisse von 1989 erinnert, sondern „sogar auch noch Kritik“ am Westen geübt. Auch Worte können wie Schläge wirken. Kritik am Westen, wo der doch immer der Gute ist!? Das geht ja gar nicht. Und noch schlimmer: Gorbatschow habe „gar“ Verständnis für die aktuelle Politik Putins rund um die Ukraine-Krise gezeigt. Dessen jüngste Äußerungen, so Gorbatschow, ließen das Bestreben erkennen, Spannungen abzubauen und eine neue Grundlage für eine Partnerschaft zu schaffen.
„Gorbatschow forderte eine schrittweise Aufhebung der gegenseitigen Sanktionen. Vor allem die von der EU und den Vereinigten Staaten verhängten Strafmaßnahmen gegen Politiker müssten aufgehoben werden“, berichtete die FAZ.

Wir sollten die Bedenken zweier Elder Statesman ernst nehmen

Indes sollten wir abseits von Ausrutschern der üblichen Medienverdächtigen Michael Gorbatschows Aufforderung zu einer Stabilisierung der deutsch-russischen Beziehungen im eignen Interesse baldigst nachkommen. Gorbatschow gab zu bedenken: „Lasst uns daran erinnern, dass es ohne deutsch-russische Partnerschaft keine Sicherheit in Europa geben kann.“ Wir sollten das verinnerlichen, statt das mit zynischen und abwertenden Kommentaren zu versehen.

Warum kommt nicht viel mehr Leuten (und Medien) der Gedanke, dass der 83-jährige Michael Gorbatschow richtig mit seinen Äußerungen liegt? Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) tut das offenbar. Und das tut gut. Am Freitagabend in einer Rede in Merzig warnte der alte außenpolitische Fuchs aus Reideburg bei Hall vor einer „Aufrüstung der Sprache“ im Ukraine-Konflikt. „Mit der Sprache des Krieges hat es immer angefangen”, gab der 87-Jährige beim 25. Sparkassen-Forum in seinen Ausführungen zum Thema Europa zu bedenken.

Verschließen wir doch bitte nicht die Ohren vor den berechtigen und richtigen Äußerungen der beiden Elder Statesman. Und verinnerlichen wir noch einmal den 1989 aus zwar aus dem Zusammenhang gerissenen, aber dennoch passenden, Ausspruch, Michael Gorbatschows beim DDR-Staatsbesuch zum Republikgeburtstag (von eilfertigen Medien dankbar aufgegriffen und kurzerhand auf die DDR-Oberen gemünzt) „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Oder wollen wir warten, um zu überprüfen, ob sich das wirklich bewahrheitet?

Apropos Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls: Wir sollten über die von Gorbatschow in die schäumende Feiertagsbrause gegebenen Wermutstropfen froh und dankbar dafür sein.