Ex-MdB Alexander Neu (DIE LINKE) referierte in Dortmund über den Ukraine-Krieg

Kürzlich (am 21. März 2022) hatten die Veranstalter Attac-Regionalruppe Dortmund und DGB Dortmund-Hellweg den ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE (von 2013 bis 2021), Alexander Neu zu einer ZOOM-Veranstaltung eingeladen, um über den Ukraine-Krieg zu referieren. Trotz einer Corona-Erkrankung hatte er sich bereiterklärt seinen angekündigten Vortrag zu halten.

Alexander Neu: Die Atmosphäre ist im Moment „hochtoxisch“

Neu sprach von einer momentan sehr unangenehmen Atmosphäre im politischen Berlin , wo das Wort Frieden völlig in den Hintergrund getreten sei. Es heiße dort, „der Russe“ verstehe nur Stärke. Die Atmosphäre sei im Moment „hochtoxisch“. Wer nicht auf Linie sei, „das Freund-Feindbild“ nicht teile, „ist automatisch beim Feind anzusiedeln“. Dazu passe, dass der unkrainische Präsident Zelensky ein Vielzahl von oppositionellen Parteien (11 Parteien!) verboten habe, mit der Begründung, die Reihen müssten geschlossen sein. Auch seien ja im Jahr 2021 Medien verboten worden. Beides hätte im Westen keinerlei Kritik herbeigerufen. Wenn dies – wie auch geschehen – in Russland geschähe, werde das – zu recht – kritisiert. Also: es wird im Westen mit zweierlei Maß gemessen. Neu kritisierte ausdrücklich etwas das Verbot von RT in der EU. Gerade, wo der doch der Westen die Meinungs- und Pressefreiheit stets wie eine Monstranz vor sich hertrage.

Moskau zeigte rote Linien auf und kam mit Vertragsentwürfen – Der Westen zeigte die kalte Schulter

Der Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine habe Neu wie viele andere auch geschockt.

Dass das nicht geschähe, habe Neu schon zuvor bezweifelt. Immerhin habe Russland dem Westen schon im letzten Jahr seine Forderungen (mittels Vertragsentwürfen) und roten Linien aufgezeigt. Es sei abzusehen gewesen, dass die NATO nicht von ihrem Prinzip und den Erweiterungen ablassen würde. Russland habe darauf bestanden, dass nur die nationalen Armeen (etwa die bulgarische) als NATO-Armee und nicht fremde Truppen auf dem Boden des eigenen Landes agieren sollten. So habe etwa Viktor Orban kürzlich deutlich gesagt: In Ungarn gibt es NATO-Truppen und das ist die ungarische Armee. Fremde Truppen wollen wir nicht. Des Weiteren forderte Moskau, keine fremden Truppen in die Ukraine zu verlegen. Die russische Seite sei damit sogar einen Schritt zurückgegangen und habe sich selbst unter Druck gesetzt. Die Antworten des Westens seien unzureichend, weil nur verbaler Natur gewesen. Ohne Taten folgen zu lassen.

Schließlich habe Russland den Krieg gewählt, um keinen Gesichtsverlust zu erleiden.

Die Bundesregierung setzt offenbar auf Propaganda und auf das Kurzeitgedächtnis und die Dämlichkeit der Menschen

Alexander Neu bezeichnete die Äußerungen von Bundeskanzler Scholz und anderen Regierungsmitgliedern, wonach der Angriff Russlands auf die Ukraine der erste völkerrechtswidrige Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg sei, als Propaganda und totalen Blödsinn, der verzapft wurde. Immerhin sei doch schon vor 20 Jahren, am 24. März 1999 Jugoslawien durch die NATO überfallen worden. Schon zuvor hätte man Grenzen in Europa erstmalig nach 1945 gewaltsam verändert. Nämlich mit der Sezession von Slowenien und Kroatien 1991 und 1992. Sowie 1999 mit der Loslösung des Kosovo von Jugoslawien. Es würden halt Legenden gesponnen und setze dabei wohl auf das Kurzzeitgedächtnis bzw. „der Dämlichkeit“ der Menschen.

Wladimir Putin streckte die Hand gen Westen aus und sagte zeitig: eine unipolare Welt ist nicht mehr akzeptabel

Alexander Neu wies daraufhin, dass Wladimir Putin 2001 in seiner Rede im Deutschen Bundestag seine Hand ausgestreckt und auf seiner Rede 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz klar gemacht, dass eine unipolare Welt nicht mehr akzeptabel ist.

Und noch weitere Vorschläge – etwa die nach einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur – und darüber hinaus hätten der russische Außenminister Lawrow und Präsident Putin dem Westen offeriert. Es habe eine Vielzahl von ausgestreckten Händen der Russischen Föderation gegeben, „um mit Europa und auch mit dem Westen einen gemeinsamen Raum für Sicherheit und auch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen“. Neu: „Alles wurde beiseite und ausgeschlagen. Man wollte Russland nicht in Europa haben. Insbesondere die USA wollen das nicht.“ Mit dem nun begonnenen Krieg sei ein Kulminationspunkt erreicht worden. Russland habe sich nicht weiter in die Ecke drängen lassen, so Neu.

Neu: Der Ukraine-Krieg ist völkerrechtswidrig, hat aber eine Vorgeschichte und Verantwortung für den ganzen Prozess hin zum Krieg hat der Westen auch. Und zwar nicht wenig

Alexander Neu bekannte, kein besondere Freund von Russland zu sein. Er möchte jedoch – wie zu anderen Ländern – gute Beziehungen auch zu Moskau. Den Krieg Russlands gegen die Ukraine bezeichnete Neu eindeutig als völkerrechtswidrig und inakzeptabel: „Aber es ist ein Krieg, der nicht alleine eine Schuldfrage der russischen Seite mit sich bringt.“

Der Westen versuche aber ausschließlich Putin die Schuldfrage zuzuschreiben. Wer auf die Vorgeschichte dieses Krieges verweise, werde als Putin-Versteher diffamiert und damit sozusagen mundtot gemacht. Neu: „Eine ganz geschickte Demagogie. Es sollen bloß keine Zweifel an der westlichen Politik und deren Aufrichtigkeit aufkommen zu lassen. „Was natürlich total verlogen ist.“

Neu machte ließ aber keinen Zweifel daran, dass die Verantwortung für den Krieg eindeutig beim russischen Präsident liege. „Die ganze Verantwortung für den ganzen Prozess hin zum Krieg hat der Westen auch. Und zwar nicht wenig.“

Wie könnte es nun weitergehen?

Alexander Neu verwies auf einen amerikanischen Militär, welcher davon ausgehe, dass aufgrund der militärischen Überlegenheit der russischen Seite entweder in den nächsten Wochen Kiew fallen wird und man mit Westukraine einen Reststaat habe. Und der Osten des Landes wird in irgendeiner Weise an Russland fallen oder einen Status wie die Volksrepubliken Lugansk und Donezk haben. Und die Westukraine und der Westen wird dann keinen Zugang mehr zum Schwarzen Meer haben. Oder aber die Ukraine stimme zu und man wird es schaffen, dass die Krim und die beiden Volksrepubliken nicht mehr Teil ukrainischen Republik sind. Diese beiden Szenarien würde auch Alexander Neu für möglich ein.

Gewinner des Krieges

Der Gewinner dieses Krieges seien ausschließlich die Vereinigten Staaten von Amerika.

Begründung: Die russischen Vertragsentwürfe seien vom Tisch. Die Reihen der NATO so eng geschlossen wie lange nicht mehr. „Die USA sind wieder die unangefochtenen Führer der sogenannten freien westlichen Welt.

Auch wirtschaftlich dürften die USA von diesem Krieg profitieren.

Verlierer des Krieges

Verlierer seien in erster Linie die Ukraine und vor allem die Menschen in der Ukraine. Und in zweiter Linie Russland. Der dritte Verlierer sei die Europäische Union. „Wir werden enormen wirtschaftlichen Schaden davontragen. Und auch die Menschen in Deutschland werden das spätestens Ende des Sommers und ab Herbst dieses Jahres zu spüren bekommen“, ist sich Alexander Neu sicher.

Ein interessantes Referat, dem sich nicht weniger interessante Fragen aus dem ZOOM anschlossen

Dem interessanten Vortrag von Alexander Neu schlossen sich nicht weniger interessante Fragen aus dem kleinen Auditorium im ZOOM an.

Ebenfalls wurden einige Ergänzungen vorgetragen. Ein Herr erinnerte an den Maidan-Putsch und faschistische Tendenzen in der Ukraine. Ebenso an das von einem rechten Mob verübte Massaker an etwa 40 Personen in Odessa, welche in einem Gewerkschaftshaus am lebendigen Leibe verbrannt worden waren. Bis heute wurde niemand dafür zur Verantwortung gezogen (anbei der Film „Remember Odessa“ von Wilhelm Domke-Schulz).

Auch wurde an dem Beitrag eines jüngeren Disputanten deutlich, dass nicht alle Menschen über alle Informationen verfügen, die schon länger zurückliegen. Das dürfte unseren Mainstream-Medien und dem deutschen Journalismus zuzuschreiben sein, der seit vielen Jahren ziemlich auf den Hund gekommen ist. Dieser Teilnehmer fragte sich einfach auch, ob es denn nicht richtig sei, dass jedes Land der NATO beitreten könne. Alexander Neu antwortete, jedoch müsse nicht automatisch jedes dieser Länder aufgenommen werden. Offenbar ist auch nicht jedem klar, dass Ländern etwa wie die USA und Russland gerne bestimmte Militärsysteme wir Raketen oder gar Atomwaffen unmittelbar vor der Haustüre stationiert haben wollten, die in kurze Zeit Ziele im Lande erreichen können und die eigene Reaktionszeiten auf einen etwaigen Angriff einfach zu kurz sind.

Alles in allem ein interessanter Abend.

Beitragsbild: via Alexander Neu

Krieg & Recht – Zerstörung des Rechts durch den Krieg – Rolf Geffken zum Ukraine-Krieg

Im Verlaufe des Ukraine-Krieges werden wir Zeugen von bedenklichen politischen Weichenstellungen und Entwicklungen der Bundesrepublik Deutschland. Ansätze und dementsprechene Tendenzen freilich wurden auch schon zuvor sichtbar bzw. klangen hier und da immer wieder an.

Dr. Rolf Geffken ist darüber außer sich und macht das in seinem jüngsten Video zornig und unmissverständlich, ohne ein Blatt vor den Mund zunehmen, deutlich. Ich kann ihm nur zustimmen. Weshalb ich nach Rezeption dieses Videos sogleich den Entschluss fasste, dieses Video meinen verehrten Leserinnen und Lesern zur Kenntnis zu geben.

„Vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre zeigt Rolf Geffken den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Demokratie und des Rechts durch das Denken und Handeln in den Kategorien des Krieges auf. Siehe auch die Analyse 2 Wochen nach Ausbruch des Krieges“: https://www.drgeffken.de/48_Die_Zeite…

Quelle: Videobeschreibung zu Rolf Geffkens Beitrag vom 11. März 2022.

Zeitenwende!

„Im deutschen Bundestag“, schreibt Rolf Geffken, „wurde von den Protagonisten der aktuellen deutschen Außenpolitik der Begriff der Zeitenwende entdeckt.

Dieser Begriff kennzeichnet in der Tat – völlig unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine – die gegenwärtige Lage Deutschlands. In der Innenpolitik wie in der Außenpolitik. Im folgenden soll auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen des Autors untersucht werden wie die aktuelle Lage aus den früheren Phasen der Politik Nachkriegsdeutschlands hervorgegangen ist und wie sie sich von diesen unterscheidet.“

Lesen Sie hier Rolf Geffkens ganzen Text auf dessen Internetseite.

In der Tat erleben wir gegenwärtig eine Zeitenwende. Eine Zeitenwende rückwärts würde ich sagen. Bis in die Adenauer-Ära. Und weiter? Ist die Zeit der Entspannungspolitik und deren positiven Resultate von Brandt, Bahr und Scheel in Politik (selbst Helmut Kohl setzte die Ostpolitik) fort und in Kreisen des Journalismus völlig vergessen?

Beitragsbild: Screenshot YouTube

 

„Wer schweigt, stimmt zu“ – Ein Essay von Ulrike Guérot. Rezension

Klopfe ich mein bisher gelebtes Leben ab, empfinde ich den Lebensabschnitt von 2020 bis jetzt als den schlimmsten. Eine Zeit permanenter Bedrohung und Unsicherheit. Nicht, dass vorher alles glänzend gewesen wäre – das nicht. Die alte Normalität war schon längst so normal nicht mehr.

Dennoch: zwei Jahre Corona-Pandemie haben uns, unseren Gesellschaften einen schweren Schlag versetzt. Uns davon zu erholen, wird es Zeit brauchen. Zumal im Nachbarland Österreich und hierzulande noch keine Entwarnung gegeben werden kann, bzw. von den Entscheidungsträgern partout noch nicht gegeben wird. Die nicht nötige allgemeine Impflicht gegen Covid19 schwebt beängstigend tief über unseren Köpfen.

Klar, es muss der Gesslerhut gegrüßt werden: Ja, das Virus kann für Menschen gefährlich sein – besonders vulnerable Menschen können schwer erkranken und auch daran sterben. Es muss allerdings auch das Ganze betrachtet werden. Nämlich, wie mit der Pandemie umgegangen worden ist. Dies ist eine Katastrophe, die es so nie zuvor in der ausufernden Form gegeben hat. Auch das forderte Opfer. Auch Tote. Das muss gesagt werden dürfen. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat das getan. Und zwar schon früh in der Pandemie-Zeit. So wurde sie zu einer geschätzten Stimme bei Menschen, welche noch nicht hirngewaschen waren durch Politik und Medien. Weil sie sich erlaubten noch selbst zu denken. Guérots Text trägt nicht umsonst den Titel Wer schweigt, stimmt zu. Die Autorin ist alles andere als eine „Corona-Leugnerin“, wie gewiss manche denken könnten. Weil sie es wagt, alles so hinzunehmen wie Politik und Medien uns lange zwei Jahre nicht müde wurden uns einzuhämmern. Ulrike Guérot durchbrach schon früh das Schweigen. Warum, fragt man sich empört und darf fragen, schwiegen und schweigen so viele Intellektuelle bei uns? Die ansonsten immer zu so vielen Dingen etwas zu sagen hatten, in Funk, Fernsehen und Presse. Doch hier, in dieser mit aller Finesse (möglicherweise unter Mitwirkung von Psychologen) aufgebauten Corona-Angst-Kulisse schwiegen sie dröhnend.

Der Umgang mit der Pandemie. Und deren Profiteure

Und ja: es mussten Maßnahmen ergriffen werden, um die Verbreitung es Corona-Virus zu unterbinden und Menschen vor Ansteckung damit zu schützen.

Es muss freilich auch in Rechnung gestellt werden, dass anfangs wenig über das Virus gewusst wurde. Weshalb die Politik Fehler gemacht hat. Doch selbst, als das Wissen zunahm und auch darüber hinaus noch hätte mehr gewusst werden können (hätten man denn wissen wollen) hielt man an teilweise irrational anmutenden und sich widersprechenden Maßnahmen fest. Sie richteten wie das Virus ebenfalls Schaden an, verursachten Tod und beeinträchtigten die Volkswirtschaft und schädigten vielfach Menschen auch psychisch. In erster Linie unsere Kinder in vielerlei Hinsicht. Was ein Verbrechen an ihnen ist. Und gewiss nachhaltigen Auswirkungen zeitigen dürfte. Arbeitsplätze gingen verloren. In Ländern der dritten Welt nahm der Hunger zu. Derweil die Reichsten der Reichen und Konzerne wie Amazon immens mehr Geld scheffelten. „Gewinner sind vor allem Tech-Konzerne wie Facebook, Twitter sowie YouTube und Finanzriesen, schlussendlich digitale Überwachungssysteme installieren: de Körper als letzte Ware im Visier und leere Heilsversprechen im Gepäck“, lesen wir auf dem Rückdeckel des Buches.

Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet

Festzustellen ist, um eine Pandemie (die übrigens überhaupt erst zur Pandemie erklärt werden konnte, weil die WHO 2009 die Definition dafür änderte), zu bekämpfen, wurde m.E. sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Freiheitsrechte und in diesem Zuge sogar Grundrechte wurden eingeschränkt! Dass Letzteres zwar durchaus geschehen darf, wenn es denn wirklich verhältnismäßig ist, aber sofort wieder zurückzunehmen ist, wenn der Zustand, der dazu führte nicht mehr gegeben ist. Darauf hat nahezu als einsamer Rufer in der bundesrepublikanischen Wüste mehrmals der Journalist und Jurist Heribert Prantl hingewiesen. Seine Worte verhallten.

Die schon vor der Pandemie im Grunde genommen bereits zur Fassadendemokratie (dazu hier mehr) verkommene Demokratie musste im Rahmen der ergriffenen Anti-Corona-Maßnahmen noch weitere Schläge hinnehmen. Noch mehr Putz platzte auch von dieser Fassade ab.

Und das ist es: Diese die Gesellschaft noch weiter spaltenden und die Demokratie beschädigenden Tendenzen, die wir konstatieren, dürfen nicht dem Virus allein in die Schuhe geschoben werden. Das Problem ist der Umgang mit dem Virus.

Ulrike Guérot stieg nicht den Zug der CoronaMaßnahmen und ist heute von der Gesellschaft entfremdet

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot merkte auf, wie sie in der Vorbemerkung zu ihrem neuen Buch schreibt, als sie in den „ersten Märztagen 2020, als man in Österreich eine Stunde joggen durfte, fand ich mich einmal am Donaukanal in Wien, weit und breit allein auf weiter Flur, auf einer Parkbank, den Kopf wie Diogenes gen Frühlingssonne gerichtet, als vier bewaffnete Polizisten mich baten, den öffentlichen Raum zu räumen“.

Weiter: „Der Vorfall war so bizarr, dass ich ab da der Überzeugung war, dass ein Großteil der Gesellschaft kollektiv in eine Übersprungshandlung getreten war. Viele trugen etwa noch im eigenen Autor Masken. Alle drängten unter Panik in einen Zug, der immer schneller Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Coronamaßnahmen. Wer, wie ich nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet. Zwei Jahre schon fährt dieser Zug unaufhaltsam einem Ziel entgegen, das niemand mehr kennt.“ Dabei geht es Guérot nicht um Verharmlosung. Sie selbst kennt rund 50 Personen, die Corona hatten.

Wer vom offiziellen Narrativ abwich, wurde diffamiert. Auch Ulrike Guérot geriet unter Feuer

Politisch und medial galt fortan ein bestimmtes Corona-Narrativ. Das durfte – wie sogar einmal der Chef des RKI Lothar Wieler, ein gelernter Tierarzt, auf der Bundespressekonferenz sagte, nicht (sic!) hinterfragt werden. Gestandene Experten – einige davon jahrzehntelang anerkannt und hoch geschätzt – wurden ausgegrenzt, weil sie vom offiziellen Narrativ abweichende Meinungen begründeten und aus Besorgnis öffentlich äußerten. Sie wurden diffamiert, ihre Videos auf YouTube gelöscht. Als Person bekamen sie den Stempel „Schwurbler“ aufgedrückt. Ulrike Guérot geriet selbst unter Feuer (S.11): „Ich persönlich musste im August 2021 eine Rufmordkampagne über mich ergehen lassen, weil ich – wie viele andere – auf Ungereimtheiten in der offiziellen Corona-Berichterstattung. Auf das Framing von Zahlen oder die rechtliche Problematik von 2G hingewiesen habe.“

Verkehrte Welt. Die Nase läuft, die Füße riechen“

Der Autorin ging es so, wie gewiss vielen von uns. Vor allem die politischen Rechte kritisierte die Maßnahmen als unverhältnismäßig. Die politische Mitte und sogar die Linke begrüßte sie und forderte gar noch Verschärfung. Mir fällt dazu ein Wort eines verstorbenen Kollegen ein: „Verkehrte Welt. Die Nase läuft, die Füße riechen.“

Guérot: „Auf einmal konnte man die eigenen Argumenten nur noch in Zeitungen oder auf Webseiten lesen, die man vorher nicht mal mit der Kneifzange angepackt hätte:“ (…)

„Und teilt man“, rückt sie gerade, „wenn man ein Argument mit einer politischen Gruppierung teilt, die man ansonsten als ziemlich unmöglich erachtet, konsequenterweise alle anderen Positionen dieser Gruppierung? Natürlich nicht! Vielmehr muss man diese Argumente schleunigst dieser Gruppierung abnehmen und wieder in die politische Mitte bringen!“

Ulrike Guérot gibt auch zu bedenken: „Die Gefahr des >>Beifalls von der falschen Seite<< ist nicht nur das falsche Argument, es ist das totalitäre Argument, wusste schon Hans Magnus Enzensberger. Sonst überlässt man anderen die Kontrolle darüber, was man selbst denken darf. Wenn der das sagt, darf ich das nicht denken, weil der andere eben pfui ist.“

Oder: Mit dem darf ich nicht reden. Schon mit jemanden – etwa einem „Schwurbler“ gesehen zu werden, kann einem heutzutage quasi den Hals brechen, die Reputation kosten. Man kennt das: Kontaktschuld. Doch das wurde auch schon vor Corona praktiziert, bevor es nun jetzt als Anwurf noch einmal heftiger zur Anwendung kommt. Um unliebsame Kritiker mundtot zu machen.

Debattenräume sind zu engen Meinungskorridoren betoniert worden

Die zwei Jahre Krisengeschehen haben vieles zum Nachteil verändert. Debattenräume wurden immer mehr verengt wurden zu Meinungskorridoren betoniert. Worin sich nur noch äußern darf oder sich zu äußern getraut, wer dem „richtigen“ Narrativ folgt.

Wissenschaft bestimmt den Weg. Die Politik behauptet ohne rot zu werden: Man folge der Wissenschaft. Welcher Wissenschaft? Einst einmal war klar: Die Wissenschaft gibt es nicht. Schon gar keine mit Erkenntnissen, die als endgültig und einzig richtige hingestellt werden können. Die Politik – vornweg ein Klaubautermann Lauterbach, dem die markante rote Fliege vorher weggeflogen war – verbreitet Angst und Panik. Ging es nach ihm, wären die meisten von uns schon tot. Und die Medien schürten tagtäglich zwei Jahre lang Angst, statt Journalismus zu praktizieren. Ein Journalismus, welcher in meinen Augen mindestens seit 2014 schon auf den Hund gekommen ist und längst nicht mehr für Vierte Macht steht, sendet und schreibt!

#WIEWOLLENWIRLEBEN?

Wollen wir so (weiter-)leben? Ulrike Guérot mochte sich nicht abfinden mit dem, was ist – mit dem, was angerichtet und eingestielt wurde. Gut so! Der Westend Verlag, wo ihr Buch erschienen ist:

„Ulrike Guérot hat ein wütendes Essay für all diejenigen geschrieben, die nicht so leben wollen wie in den letzten zwei Jahren; die einem Virus nicht noch ein demokratischen System hinterher schmeißen, und die ihre Freiheit nicht für eine vermeintliche Sicherheit verspielen wollen.“

Guérot erinnert nicht umsonst an die Worte Benjamin Franklins: „Wer die Freiheit aufgibt, verliert am Ende beides.“ (ihre Schlussbemerkung S.123 einleitend)

Mit Verweis darauf, dass wir es schon nach 9/11 mit Gesetzen zu tun haben, die vermeintlich befristet zur Terrorbekämpfung dienen sollten, aber inzwischen fester Bestandteil von Rechtsordnungen geworden sind.

Und, was heißt „demokratisches System“? Wir müssten präzisieren: Was davon noch übrig geblieben ist. Ich schrieb vorhin von „Fassadendemokratie“. Man könnte auch sagen, die das Anzeichen dafür ist, dass wir schon eine Weile in dem Etwas leben, dass Colin Crouch einst „Postdemokratie“ nannte und davor warnte.

Niemand ausgrenzen – „auch nicht die AfD! – , denn mit der Ausgrenzung beginnt die Erosion der Demokratie“, warnt Ulrike Guérot

Es stimmt doch: „Zwei Jahre Krisengeschehen haben das gesellschaftliche und politische Leben nicht nur in Deutschland substanziell verformt und zu einer schier unglaublichen Machtkonzentration der Exekutive geführt. Der Wert von Grundrechten muss dringend neu in unserem Bewusstsein verankert werden, fordert Ulrike Guérot.

„Der allererste Grundsatz dafür müsste sein, dass niemand, aber auch niemand, von der Teilnahme am Diskurs ausgegrenzt wird – auch nicht die AfD! -, denn mit der Ausgrenzung beginnt die Erosion der Demokratie.“

Paranthese meinerseits: Mit Verlaub: Welche meines Erachtens schon eingesetzt hat, die Erosion.

„Wer“, führt Guérot weiter aus, „aber soll diese Arbeit machen, in welchen Bildungsstätten soll sie vorbereitet werden?

Impflicht kurzfristig europaweit verhindern. Dann alle Maßnahmen mit sofortiger Wirkung beenden

„Nehmen wir seine Sekunde an, diese Fragen könnten gelöst werden, so wird die Bereinigung der gesellschaftlichen und politischen Flurschäden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Die Schritte, in denen das zu passieren hat, zeichnen sich gerade am Horizont ab. Kurzfristig muss die Impflicht – europaweit verhindert, dann müssen alle Maßnahmen mit sofortige Wirkung beendet und so das politische System vor seiner autoritären Schließung bewahrt werden. Gehen wir – die Hoffnung stirbt zuletzt – davon aus, dass dies in letzter Minute im März 2022 gelingen wird. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wäre wünschenswert, dürfte aber nicht zustande kommen – oder vielleicht erst in einigen Jahren. Aber die gesellschaftlichen Reparaturarbeiten müssen mit Hochdruck in Angriff genommen werden“, schreibt die Autorin.

Wir müssen unser Zusammenleben schlicht neu entwerfen“

Also retten, was noch zu retten ist? Wenn es nach Guérot geht: „Wir müssen unser Zusammenleben schlicht neu entwerfen: für eine postnationale, postkapitalistische und postpatriarchale Welt. Mit öffentlichen Räumen, zu denen alle Zugang haben und wo niemand durch einen Barcode ausgesperrt wird. Europa und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Schweigen wir also nicht.“

Unbedingt: „Ein Buch gegen den transhumanistischen Zeitgeist, der mit einer als Lebensrettung maskierten Kontrollpolitik genau das verspielt, was das Mysterium des Lebens ausmacht.“

Und, heißt es zum Essay: „Zwischen Wahn und Hoffnung. Ein kämpferischer Text über den Zustand der Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Wie wollen wir eigentlich leben? Nach zwei Jahren Pandemie, in zermürbten Gesellschaften, verformten Demokratien, polarisierten Debatten, erschöpften Volkswirtschaften und eingeschränkten Freiheitsrechten, liegt diese Frage mitten auf dem europäischen Tisch!“

Der Essay ist in drei Teile gegliedert.

Teil I Wo wir stehen ( S.21)

Teil II Was passiert ist (S.63)

Teil III Was wir jetzt machen (S.89)

Es folgt die Schlussbemerkung (S.123)

Noch einmal nimmt Guérot (S.131) auf den Titel ihres Textes  Wer schweigt, stimmt zu Bezug. Ihre Begründung: „Am Ende ist es wieder niemand gewesen, wenn die Dinge jetzt doch, langsam, aber merklich, kippen sollten.“

Sie gibt mahnend zu bedenken: „Wenn die Impflicht doch noch kommen sollte, wird sie ein Pyrrhussieg eines Systems, das sich selbst entlarvt hat.“

Aufzulösen wäre das mittelfristig nur, wenn einfach immer größere Teile der Bevölkerung sich weigern würden, mitzumachen, bei 2G, Impfen oder digitaler Kontrolle, allen voran das Gesundheitspersonal, die Lastwagenfahrer:innen oder die Polizist:innen, also all diejenigen, die vielen, die man – im Gegensatz zu den meritokratischen Funktionseliten – tatsächlich buchstäblich braucht, um den bundesrepublikanischen Laden auf Laufen zu halten.“

Dieser Essay gehört in jeden Haushalt

In ihrer Danksagung (S.135) schließt die Autor ihren hervorragenden und wichtigen Text in durchaus hoffnungsvoll und Mut machend: „Doch inzwischen fast unüberschaubare Fülle von kritischen Gruppen, egal ob Ärzt:innen oder Richter:innen, Anwält:innen oder Unternehmer:innen, Hotelgewerbe oder der Polizei, angesichts der der Fülle von alternativen Medien, angesichts der Vielzahl und Größe der Demonstrationen sowie des stillen, unsichtbaren Protests der Verweigerung, zeigt, dass die Zivilkräfte unserer Gesellschaft noch wach sind und funktionieren. Arbeiten wir also daran, dass sie den gesellschaftlichen Diskurs jetzt wieder in zivilisierte Bahnen und eine demokratischen Normalität lenken.“

Was bleibt zu sagen? Lesen! Dieser Essay gehört in jeden Haushalt. Weil wir alle betroffen sind.

Informationen

Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin, Autorin und Aktivistin in den Themenbereichen Europa und Demokratie, mit Stationen in Think Tanks und an Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington, Berlin und Wien. 2014 gründete sie das European Democracy Lab, e.V., eine Denkfabrik zum Neudenken von Europa. 2016 wurde ihr Buch „Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie“ europaweit ein Bestseller. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn und Co-Direktorin des Centre Ernst Robert Curtius (CERC).

Ulrike Guérot. „Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen“, Westend, 7. März 2022, 144 S., 16 Euro.

Hier noch ein Gespräch, das Milena Preradovic mit Prof. Dr. Ulrike Guérot geführt hat: https://odysee.com/@Punkt.PRERADOVIC:f/Guerot2:1

Gehört in jede Hand: Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie? Ein Buch von Paul Schreyer

Wer einigermaßen bewusst in der Realität lebt und nicht schon einer (auch politisch und medial hergestellten) gesellschaftlichen Bewusstlosigkeit verfallen ist, wird spüren: mit unsere per definitionem demokratisch verfassten Gesellschaft stimmt etwas nicht. Im Vorwort von Paul Schreyers Buch „Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie?“ wird gefragt: „Wie viel Demokratie ist heute also überhaupt möglich? Und wie demokratisch sind unser Gemeinwesen, die Regierung, die Konzerne, die Medien tatsächlich verfasst? Wo stehen wir heute, was fehlt und welche Voraussetzungen für eine Demokratie sind vielleicht gar nicht erfüllt?“

Die Demokratie ist geschwächt

Ich ließ anklingen, dass unsere Demokratie in möglicherweise bedenklicher Verfassung ist. Dem dürften meine LeserInnen, die sich wie ich jenseits der Sechzig befinden, zustimmen. Zumal, wenn wir die zurückliegenden Jahrzehnte betreffend die Bundesrepublik Deutschland betrachten. Auch wenn nie gewissermaßen alles Gold war, was glänzte: das Land hatte viele gute Jahre. Es herrschte sogar im Vergleich zu anderen Ländern des Westens eine annehmbare soziale Gerechtigkeit. Das allerdings – was hier nicht Thema ist und auch nicht weiter ausgeführt werden kann – freilich mit der Frontstellung der BRD zur (sogenannten) sozialistischen Staatengemeinschaft – in erster Linie zur DDR – zu tun hatte. Als diese ab 1989 stützte, hielt der „Raubtierkapitalismus“ (Oskar Lafontaine) – mangels des (vielleicht vom Westen früher auch überbewertenden) Gegenentwurfs, bzw. aufgrund dessen Scheiterns – Einzug und forcierte diesen noch durch die quasi zur Staatsdoktrin erhobenen neoliberale Ideologie. In Folge dessen nicht nur soziale Errungenschaften unter die Räder kamen, sondern auch die Demokratie schwächer wurde bzw. vorsätzlich geschwächt wurde.

Demokratie oder konzentrierter Reichtum in den Händen weniger

Kann also die Demokratie im Kapitalismus – wenn wir den Wortsinn ernst nehmen: Demokratie gleich Herrschaft des Staatsvolkes – tatsächlich im Interesse und Dienst der Mehrheit des Volkes wirken? Paul Schreyer gibt uns mit einem Zitat, welches aller Wahrscheinlichkeit nach von Louis Brandeis, „einem der einflussreichsten Juristen der USA und von 1916 bis 1939 Richter am Obersten Gerichtshof“ (S. 13 oben) stammt, darauf schon eine Antwort. Die uns zumindest verunsichern wird – wenn nicht sogar dazu veranlassen könnte die (in der Schulzeit geweckte) Hoffnung in Bezug auf das Wirken der Demokratie ad hoc fahren zu lassen: „Wir müssen uns entscheiden: Wir können eine Demokratie haben oder konzentrierten Reichtum in den Händen weniger – aber nicht beides.“

Ich möchte meine verehrten LeserInnen darum bitten, sich dieses Zitat einmal in aller Ruhe auf der Zunge zergehen zu lassen. Und danach einmal einen rekapitulierenden Blick auf die nähere Vergangenheit respektive unsere Gegenwart zu werfen …

Autor Schreyer zu diesem Zitat: „Wenn in einer Gesellschaft die meiste Energie darauf verwandt wird, Geld und Besitztümer anzuhäufen, dann sollte es niemanden überraschen, dass die reichsten Menschen an der Spitze stehen. Was wir als führendes Prinzip akzeptieren, das beschert uns auch entsprechende Führer. Und wo sich Erfolg an der Menge des privaten Vermögens bemisst, da können die Erfolgreichen mit gutem Grund ihren politischen Einfluss für recht und billig halten.“

Die Gesellschaft ist gespalten wie lange nicht

Paul Schreyer hat den Zustand unserer Gesellschaft für sein Buch sehr akribisch untersucht. Dabei hat er viele Anhaltspunkte dafür gefunden, dass es in der Tat so ist, wie von ihm beschrieben. So wird Politik gemacht von den uns Regierenden. Inzwischen – nach dem Totalausfall der Sozialdemokratie und den systemgerecht rundgelutschten Grünen – gleich welch parteipolitischer Färbung. Demokratie also Herrschaft des Volkes? Welchen Volkes? Die Gesellschaft ist gespalten wie lange nicht. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die Abgehängten sind verdrossen, gehen kaum noch zur Wahl oder wählen die rechte AfD. Und werden obendrein auch noch von Politikern und Medien gegeneinander ausgespielt, so dass sie ihrerseits auf die noch Schwächeren losgehen.

Populismus-Vorwurf dient dem Schutz der etablierten Eliten

Ebenfalls untersucht hat Paul Schreyer im Kapitel 2 „Die Wahrheit über den Populismus“. Und kommt auf Seite 32 zu folgendem Schluss: „Der Populismus-Vorwurf dient, so scheint es, vor allem dem Schutz der etablierten Eliten.“ Zur Untermauerung dessen zitiert Schreyer den Theaterdramaturgen Bernd Stegemann und aus dessen Buch „Das Gespenst des Populismus“: „Eine einfache Antwort ist dann falsch, wenn sie der eigenen Meinung widerspricht, und sie ist populistisch, wenn mit ihr Stimmen gewonnen werden sollen.“

Volksabstimmungen – gefährlich für wen?

Im Kapitel 5 hinterfragt Schreyer ob Volksabstimmungen gefährlich seien. Die Frage ist ja wohl zuerst: gefährlich für wen? Schreyer kommt zu dem Schluss (S. 75): Wer nun mit Blick auf die deutsche Geschichte beurteilen möchte, ob Volksabstimmungen gefährlich für den Parlamentarismus waren, der kann an den genannten Beispielen zumindest erkennen, dass Gefahr zunächst aus einer Politik erwächst, die sich von den Interessen der Bürger entfernt. Volksentscheide sind als Korrektiv gedacht, tauchen als in einer schon bestehenden Vertrauenskrise auf, wenn drängende Fragen vom Parlament nicht zufriedenstellend gelöst werden.“ Und stellt fest: „Gefährlich und explosiv wird es, wenn auch ein solches Korrektiv nicht mehr funktioniert oder sogar sabotiert wird (oder eben, wie heute, gar nicht existiert) und sich die betroffenen Bürger in der Folge gezwungenermaßen radikalisieren.“ Schreyer schließt das Kapitel mit einem erhellenden Satz: „Wer nicht gehört wird, der resigniert – oder schreit umso lauter und schriller.“

Betreffs direkter Demokratie (behandelt im Kapitel 6 „Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht“) findet sich ein nicht weniger bedenkenswertes Zitat von 1946, das vom bayerischen Journalisten und konservativen Politiker Erwein von Aretin stammt, der dafür eintrat, „dass für Verfassungsänderungen ein Volksbegehren möglich sein müsse“: „Man kann doch logischerweise unmöglich dem ‚Souverän‘, dem Volk, weniger Rechte einräumen als seiner Vertretung!“

Unter dem dünner werdendem Eis, worauf unsere Demokratie fußt, arbeitet der „Tiefenstaat“

Sehr ans Herz legen möchte ich den LeserInnen das Kapitel 11 „Der Tiefenstaat“ ab Seite 130 des Buches. Ich muss zugeben, dass mir dieser Begriff bislang immer nur als „Der tiefe Staat“ untergekommen ist. Sei es drum. Gemeint ist gewiss dasselbe. Denn es geht hier um etwas, das für uns quasi unter der Wasserlinie abläuft, jedoch großen und nicht selten verheerende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, unsere Demokratie hat. Der Tiefenstaat bezeichne, so setzt uns Paul Schreyer in Kenntnis, „keine definierte Organisation mit Mitgliederliste und einem Big Boss an der Spitze, sondern ein eng verflochtenes Milieu aus Reichen, Regierungsbeamten, Geheimdienstlern und Militärs, die sich informell organisieren und unabhängig von Wahlergebnissen und Parlamenten versuchen, den Einfluss der eigenen Kreise zu sichern.“ Ja, das ist in höchstem Maße beunruhigend! Aber wissen sollte man das. Denn da läuft etwas unter unserer Demokratie her ab, das uns massiv schadet. Das hohe Haus, das Parlament, verkommt so zu einer Theaterbühne, auf der dem Volk vorgespielt wird, dort würde etwas zugunsten der Mehrheit entschieden. Die Demokratie wird verhöhnt und bleibt Fassade. Während unter ihrem dünnen Eis – das ständig dünner wird! – auf welchem sie (noch) fußt, Entscheidungen getroffen werden, die der Gesellschaft als Ganzes massiv schaden.

Unweigerlich musste ich hier an einen entlarvenden Ausspruch denken, welchen Horst Seehofer einst bei Erwin Pelzig in der Sendung äußerte: „„Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“

Mit Erschrecken lesen wir auf Seite 134 unten: „Mit Abstand betrachtet sind ‚Deep Events‘ in gewisser Wiese der Joker im politischen Spiel. Wenn diese Trumpfkarte aus dem Ärmel gezogen wird, müssen alle übrigen Spieler eine Runde aussetzen (sofern sie noch leben). Im Grunde besteht ein wesentlicher Teil der jüngeren Weltgeschichte aus weitgehend unaufgeklärten ‚Deep Events‘, in die der Tiefenstaat verstrickt ist.“

Paul Schreyer gibt zu bedenken: „Der ständige Versuch, solche Zusammenhänge pauschal als ‚Verschwörungstheorien‘ und ‚Spinnerei‘ abzuwerten, mutet hilflos an und erinnert an die Tabuisierung von Gewalt und Misshandlungen innerhalb von Familien und ‚ehrenwerten‘ Institutionen.“ (S. 135).

Zum Thema tiefer Staat empfehle ich zwei Videos. Einmal eines von einer Lesung des leider bereits verstorbenen Autors Jürgen Roth und das andere mit einem Vortrag des Journalisten Dirk Pohlmann.

Zum Nachdenken anregendes, informatives Buch

Zu Paul Schreyers rundum mit gutem Gewissen empfehlenswerten, sehr zum Nachdenken (und Handeln?) anregendem und überdies hoch informativen neuem Buch „Die Angst der Eliten: Wer fürchtet die Demokratie?“ in welchem er deren real existierenden Zustand beleuchtet, sei hier ergänzend auch auf ein Interview hingewiesen, das Jasmin Kosubek für RT Deutsch mit dem Autor führte. Aus der Ankündigung des Senders: „Vor allem wird die Frage gestellt, wem die demokratisch gewählten Vertreter überhaupt dienen – der Mehrheit oder vielleicht doch einer einflussreichen Elite. Schreyer zitiert Studien, die eher auf die zweite Option hindeuten. Im Gespräch mit Jasmin Kosubek möchte der Autor zum Denken anstoßen und Fragen zu den Themen Elite, Eigentum, Reichtum und Staat aufwerfen.“

Liebe LeserInnen, Sie erinnern sich noch an das eingangs erwähnte Zitat des US-Richters Louis Brandeis, das Paul Schreyer im ersten Kapitel seines hervorragend in die Zeit passenden, aufklärendes wie warnenden Buches auf Seite 13 notiert hat?

Auf der letzten Seite stellt Schreyer diesem Sprengkraft innewohnenden Zitat etwas entgegen:

„Wer sich auf falsche Begriffe nicht einlässt, wer sich der Kraft einer klaren und logischen Sprache bewusst wird und diese verteidigt, der könnte – nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen – Schritt für Schritt die Deutungshoheit und damit über kurz oder lang auch politische Macht gewinnen. Der Schlüssel liegt nicht in verbissenem Kampf und hitziger Aufregung, sondern in Klarheit und Ruhe bei Eintreten für gemeinsame Prinzipien.“

Es gehe auch „um die Bewahrung einer gemeinsamen Kultur“.

Unmissverständlich und fest in der Sache sieht Schreyer nur einen Weg dorthin: „Dazu gehören allgemeingültige und gleiche Standards für alle, fairer Umgang und friedliches Miteinander. Das derzeitige System der maßlosen Geldanhäufung zerstört diese Kultur. Es ist kriegerisch, unfair und garantiert Sonderregelungen für einige Wenige. Es ist mit der Idee der Demokratie nicht vereinbar.“

Dem ist nichts hinzufügen. Ein wichtiges Buch, das in viele Hände gehört!

Paul Schreyer.

Die Angst der Eliten

Wer fürchtet die Demokratie?

Erscheinungstermin: 03.04.2018
Seitenzahl: 224
Ausstattung: Klappenbroschur
Art.-Nr.: 9783864892097

18,00 Euro

Paul Schreyer ist freier Journalist und Autor.

Update vom 12. Juni 2018 KenFM im Gespräch mit: Paul Schreyer („Die Angst der Eliten“)

Ken Jebsen hat mit dem Autor des hier besprochenen Buches gesprochen

Meinen LeserInnen ans Herz gelegt: Matthias Platzeck über das Verhältnis zu Russland: Ich habe Angst vor Entfremdung

Wie im Kopf meines Blogs zu lesen steht, möchte dieser u.a. auch einer Gegenöffentlichkeit verpflichtet sein und deren Stärkung dienen. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, die RT-Deutsch-Aufzeichnung einer Rede von Matthias Platzeck hier zu veröffentlichen. Sie soll einem größeren Teil der Öffentlichkeit nahe gebracht werden. Meines Wissens nämlich ist diese – wie ich finde – in diesen Tagen wichtige Rede in anderen deutschen Medien nicht transportiert worden. Gerade in Zeiten, da in den meisten Medien ständig gegen Russland Stimmung gemacht wird (erst recht seit Großbritannien Russland für einen Giftanschlag verantwortlich macht – bar jeden Beweises), sind m. E. Platzecks Worte äußerst wichtig.

Der Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und Ministerpräsident a.D., Matthias Platzeck, sprach Anfang März auf einer Diskussionsveranstaltung zum Thema: Russland und der Westen – Wege aus der Sackgasse. Geladen hatte die bayerische SPD-Landtagsfraktion. RT Deutsch hat die Rede von Matthias Platzeck im Senatssaal des Bayerischen Landtags in München aufgezeichnet. Quelle: RT Deutsch

 

Valentin Falin ist tot. Ein großartiger Mensch, verantwortungs- und geschichtsbewusster Diplomat und Freund der Deutschen hat uns verlassen

Sind die Toten vorangeganener Krieg angesichts neuer kriegerischer Auseinandersetzungen vergessen?; Photo: Maren Beßler via Pixelio.de

Valentin Falin ist am vergangenen Donnerstag verstorben. Ein liebenswerter Mensch, ein großartiger Diplomat, den ich stets geschätzt habe, hat uns verlassen. Er war ein Freund der Deutschen und als Diplomat jemand, der Geschichte hautnah erlebte und später aus ihr gelernt habend bis zuletzt dementsprechend gehandelt hat. Seinen Hinterbliebenen gilt unser herzliches Beileid. Uns sollte dieser großartige Mensch unvergessen bleiben.

Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär und langjährige Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer hat anlässlich des Todes Valentin Falins ein Schreiben an RT Deutsch gerichtet, das der Sender wie folgt dokumentierte:

von Willy Wimmer

Diese Nachricht erfüllt mich mit großer Trauer. Mit Valentin Falin ist ein großer Europäer und bedeutender Sohn des russischen Volkes heimgegangen. Er ist nicht mehr unter uns und er wäre für uns gerade jetzt so ungeheuer wichtig. Valentin Falin war das historische Gewissen eines geschundenen Kontinentes und er hat die globalen Herausforderungen wie kein zweiter Mensch gesehen.

Er war Deutschland und dem deutschen Volk verbunden und das in der ganzen Dimension, die man nur ermessen kann, wenn man sich nicht der Propaganda, sondern der Geschichte verpflichtet fühlt.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, stünde das gemeinsame Haus Europa schon längst. Stattdessen müssen wir erleben, dass wir in Europa wieder gegeneinandergehetzt werden und man sich in Moskau fragen muss, warum das russische Volk nach allen Leiden dieses Jahrhunderts sich so für das Ende des Kalten Krieges und die Einheit des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland eingesetzt hat?

Wenn ich an Valentin Falin denke, sehe ich seine Gattin, die ihn stets begleitete und die die deutsche Sprache so spricht wie der werte Verstorbene sie geschätzt hatte. Wir trauern mit ihr und das von ganzem Herzen.

Ende September 1989 habe ich den langjährigen sowjetischen Botschafter in Bonn, Herrn Valentin Falin, zum ersten Male in Moskau sprechen können. Er sprach über die deutsche Einheit, als – außer Kohl und Genscher – das in Bonn kaum jemand hören wollte.

Er sprach aber auch über gewaltige Migrantenbewegungen, die unseren gemeinsamen Kontinent heimsuchen würden. Valentin Falin war im alttestamentarischen Sinne ein Seher.

Was machen wir aus dem, was er uns hinterlassen wollte?

Quelle: RT Deutsch

Beitragsbild: Beate Broianigo via Pixelio.de

Quelle Trauermarsch:

TheMylium

Am 02.11.2012 veröffentlicht

Infos zum Stück: Komponist: Frédéric Chopin Stück: Trauermarsch (Marche funèbre)

Hinweis: Wissenswertes über und Aussagen zu Valentin Falin hat Sputnik Deutschland zusammengestellt.

Update vom 26. Febrauar 2018: Beigefügt eine Videoaufzeichnung von KenFM mit einem Interview, welches Ken Jebsen mit Valentin Falin vor einiger Zeit in Moskau führte

Bemerkenswerte Eröffnungsrede Can Dündars anlässlich der Lessing-Tage 2018: „Wir brauchen mutige Menschen, die nein sagen. Wenn wir dem aufkommenden Populismus nicht gemeinsam begegnen, werden wir alle Opfer dessen“

Im Januar hat Can Dündar im Thalia Theater in Hamburg eine bemerkenswerte Rede zur Eröffnung der Lessing-Tage 2018 gehalten.Die Rede wurde aufgezeichnet und ist auf dem YouTube-Kanal vom Thalia Theater verfügbar.

Das Theater schreibt dazu:

Kein Mensch muss müssen!“ Die Bedrohung der Demokratie (in Europa) Eröffnungsrede von Can Dündar – Lessingtage 2018

„Derzeit werden in vielen Ländern Künstler und Journalisten verfolgt. Can Dündar ist einer der prominentesten im Exil lebenden Journalisten und Autoren und weltweit als leidenschaftlicher Kämpfer für die Freiheit bekannt. Seit die Türkei immer autokratischer wird, besteht er umso unerschrockener auf Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Er ist das Gesicht des kritischen Journalismus in der Türkei und nutzt das Wort, um deutlicher denn je zu verteidigen, wofür er steht. Für die Idee der Freiheit hat er seine persönliche Freiheit riskiert. Dündar war langjähriger Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“. Erdoǧan persönlich erstattete Strafanzeige gegen ihn wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation und forderte lebenslange Haft. Nach drei Monaten im türkischen Gefängnis wurde Dündar im Februar 2016 vom Verfassungsgericht aus der Untersuchungshaft entlassen. Momentan lebt Can Dündar in Deutschland im Exil, er ist Chefredakteur der Internetplattform „ozguruz.org“ („Wir sind frei“), Mitbegründer des journalistischen Netzwerkes „Correctiv“ und schreibt für Die Zeit. Dündar war fürden diesjährigen Friedensnobelpreis nominiert, im vergangenen Jahr erhielt er den Alternativen Nobelpreis. 2017 wurde er im Rahmen des von 19 euröpäischen Rundfunkanstalten verliehenen „Prix Europa“ (unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments) als „Europäischer Journalist des Jahres“ ausgezeichnet. Im Rahmen der Veranstaltung sammelt das Thalia Theater für Can Dündars Netzwerk „Correctiv“ und unterstützt so seinen Kampf für die Freiheit des Wortes. Denn: „Nur die Sache ist verloren, die man selbst aufgibt.“ (Lessing)“

Zu Can Dündars Rede

In seiner beachtenswerten Rede hinterfragt Dündar den Zustand der Demokratie. Auch hier bei uns. Oft, sagt er, spreche man von „Europa als Wiege der Demokratie“. Aber im Rest der Welt sehe es ganz anders aus. Und der Journalist im Exil fragt: „Müssten wir nicht auf den Westen mit anderen Augen schauen?“ In Guantanamo werde gefoltert. Die USA seien im eigenen Land demokratisch: „Reicht das aus, um die USA als demokratisch zu bezeichnen?“ Und: „Wenn Länder demokratisch sind, aber Faschismus exportieren – kann man sie als demokratisch bezeichnen? Ich schaue jetzt nicht nur darauf wie Länder regiert werden, sondern darauf, was sie in anderen Ländern unterstützen, um sie als demokratisch zu bezeichnen oder nicht.“

Konnte man Frankreich als Demokratie bezeichnen, als es den Algerienkrieg führte? Die demokratischen USA unterstützen einst einen Militärputsch in der Türkei. Wie müsse man das werten?

Aus einer schwarzen Wolke aus Angst regnet Hass, Intoleranz. Menschen sind „zu Krokodilen geworden, die Ledertaschen kaufen“

Can Dündar betrachtet die aktuelle Situation und stellt Fragen: „Haben demokratisch an die Macht gekommene Regierungen das Recht die Demokratie abzubauen und zerstören? Wie gehen wir damit um?“

Der Redner lobt die ins Leben gerufene Organisation „Forbidden Storries“ (dazu Reporter ohne Grenzen) . Deren Sinn: Immer wenn ein Journalist irgendwo auf der Welt bedroht oder ermordet wird, werden andere Journalisten anderswo auf der Welt dessen Arbeit fortsetzen.

Nicht zuletzt nach 9/11 habe man „eine schwarze Wolke der Angst“ geschaffen und aus jener Wolke regne Hass, Intoleranz, was zur Einigelung der Menschen führe. Can Dündar: „So sind die Menschen zu Krokodilen geworden, die Ledertaschen kaufen. Sie haben sich verliebt in ihre Mörder“, seien dem Stockholm-Syndrom verfallen. Für das Schweigen und das Sich-Beugen werde man heute belohnt. Dieser bedenkliche Zustand müsse durchbrochen werden, fordert Dündar:

Wir brauchen mutige Menschen, die nein sagen!“

Und zur zweifelsohne in der Krise befindlichen Demokratie führte Dündar aus, dass es wichtig sei, dass wir solidarisch sind. Und als Beispiel: Die Grenze verlaufe nicht mehr zwischen Türken und Deutschen, nicht mehr zwischen Ost und West, sie verläuft zwischen Türken und Deutschen, die die Demokratie unterstützen und zwischen Türken und Deutschen, die den Faschismus unterstützen. „Nicht unsere Länder trennen uns, sondern unsere Prinzipien. Und wir müssen diese Prinzipien festhalten und verteidigen“. Von den Deutschen, den Politikern, den Journalisten, Künstlern und anderen gesellschaftlichen Kräften erwartet Dündar Unterstützung und gemeinsam gegen die Aushöhlung der Demokratie zu kämpfen.Um sie zu erhalten und auszubauen, müssten Ängste beseitigt werden. Es gelte ein Demokratie-Modell zu entwickeln, „wo wir sagen wir sind da, die Demokraten sind da. Solidarität wird uns zusammenführen.“ Und Can Dündar redete allen ins Gewissen: „Wenn wir dem aufkommenden Populismus nicht gemeinsam begegnen, werden wir alle Opfer dessen. Alle zusammen. Heute ist der Tag, lassen Sie uns einander an den Händen halten und diese Entwicklung stoppen.“

Bitte, liebe LeserInnen schauen sich das Video (via Özgürüz „Wir sind frei“/YouTube/Thalia Theater) an, hören sie die eindringlichen Worte Can Dündars und verbreiten sie die  Rede gerne weiter.

DiEM25-Mitglieder entschieden mit „überwältigender Mehrheit“: Bewegung bleiben, aber Beteiligung an Wahlen

Als die GriechInnen „Oxi“, nein, zu den europäischen „Reformen“ gesagt hatten und darob von den „Institutionen“ noch schlimmer gedemütigt worden waren, schrieb ich: Europa ist gestorben (dazu u.a. hier). Europa meint selbstverständlich immer explizit die Europäische Union. Aber eigentlich begann der Sterbeprozess des oft als das großes Europäische Projekt, gar als Garant eines immer währenden Friedens in Europa bezeichnet wird, bereits vor längerer Zeit. Was natürlich auch mit der Fehlkonstruktion des Euros sowie mit den konkreten Auswirkungen dessen in Zusammenhang steht. Die Finanzkrise tat ein Übriges. Der Umgang mit dem Zustrom Geflüchteter, die Tatsache, dass das Mittelmeer zu einem Friedhof werden konnte und die EU zu einer Festung ausgebaut wird macht den Zustand der EU nicht besser.

Tot oder nicht tot oder nur weiter dahinsiechend – wie also weiter mit der EU? Fakt ist: so kann es nicht bleiben. Auf die Parteien in den EU-Staaten ist da wohl wenig Hoffnung zu setzen. Ein Driften nach Rechts ist zu konstatieren. Zuletzt in Österreich.

Es gibt mehrere Pläne von außerhalb der auch noch intransparent handelnden Eliten, die EU nicht über die Klippe springen zu lassen. Dafür jedoch müsste die EU jedoch entschieden verändert werden: Ja, sogar eine Neugründung erfahren.  Die vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis initierte DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) ist eine davon. Und zwar eine linke paneuropäische politische Bewegung. Sie wurde am 9. Februar 2016 vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis in der Volksbühne Berlin vorgestellt (Wikipedia). Das Manifest von DiEM25 finden Sie hier. Den YouTube-Kanal hier.

Nun haben die Mitglieder von DiEM25 mit einem überwältigenden ‚Ja‘ dafür gestimmt, dass sich DiEM25 an Wahlen (auch nationalen) beteiligen so. Hier via DiEM25 das Ergebnis im Detail.

DiEM25 teilt mit:

„Diese Abstimmung mit einer Wahlbeteiligung von 72,98 % ist das Resultat eines gewaltigen Meinungsbildungsprozesses von monatelangen internen Debatten, hunderten von Änderungen und Verbesserungsvorschlägen von Mitgliedern weltweit, zwei Facebook Live Chats, einer Fragen-Antworten-Veröffentlichung und verschiedenen Artikeln. Dank an alle, die mit abgestimmt haben. Entscheidend ist, dass sich damit unsere Bewegung nicht in eine politische Partei verwandeln wird – vielmehr haben wir jetzt beide Möglichkeiten! Die heutige Entscheidung ist der Auftrag unserer Mitglieder, eine ‘Wahlplattform’ aufzubauen, mit der wir künftige Wahlen bestreiten können. Die Mitglieder von DiEM25 müssen sich nicht unseren Wahlkampagnen anschließen, wenn ihnen das lieber ist… aber jedes DiEM25 Mitglied wird sich weiterhin daran beteiligen, die Politik von DiEM25 in Europa zu gestalten!“

Wie geht es jetzt weiter?

DiEM25 führt weiter aus:

„Während das Establishment Politiker festsetzt in Katalonien und Künstler in Serbien, und wegschaut, wenn die Reichen Steuern hinterziehen, arbeiten wir weiter an Bündnissen mit progressiven politischen Akteuren auf allen Ebenen – national, kommunal und regional – um unsere Vorschläge zum Europäischen New Deal an die Wahlurnen zu bringen. Dazu gehören Razem in Polen, The Alternative in Dänemark, Tschechien, (wo zwei unserer Mitglieder kürzlich ins Parlament gewählt wurden) und progressive PolitikerInnen in Italien, Frankreich, Spanien, Kroatien und weiteren.Aber jetzt, bestärkt durch diese grundlegende Entscheidung unserer Mitglieder, sind wir auch so stabil, potenziell in Grundsatzfragen gegen politische Parteien anzutreten, mit denen keine Bündnisse möglich oder erwünscht sind.Wie immer werden das unsere Mitglieder entscheiden. Demnächst geht es um Fragen wie Wahlbeteiligung in welchen Ländern, mit welchem Programm und welchen Verbündeten – wenn du mitabstimmen willst, registrier dich einfach.

Europa zurückholen

„In diesen schwierigen Zeiten haben wir soeben ein Stück Hoffnung gewonnen“, ist sich DiEM25 sicher, „– wir holen uns Europa zurück!“

Die Hoffnung ist groß, dass die EU vom Holzweg des Neoliberalismus abgebracht und zu einem sozialen Europa der Menschen gestaltet werden kann. Es ist geradezu eine Notwendigkeit, wenn dieses Europa nicht über die Klippen gehen soll. Dass es sinngemäß mit Nietzsche gesprochen schon viel zu lange an einem Abgrund steht, in welchen es blickt – und dieser längst zurückblickt – sollte inzwischen immer mehr Europäerinnen und Europäern dämmern. Von den sogenannten Eliten, die in der EU dürfte keine Rettung zu erwarten sein: im Gegenteil. Diese Eliten sind schwach, lobbygesteuert und oft inkompetent. Und Visionen haben sie nicht. Weshalb sie zum Arzt sollten.

DiEM25 und die Menschen, welche die Bewegung mit Leben erfüllen, haben einen steinigen Weg vor sich. Ob er letztlich von Erfolg gekrönt sein wird, ist von einem langem Atem abhängig, der dazu nötig ist.

Von Vorteil kann sein, dass DiEM25 eine Bewegung bleiben und keine Partei werden will. So haben es mit Mitglieder entschieden. Gibt es eine Alternative zum ambitionierten Vorhaben von DiEM25? Kaum. Denn zu wareten bis der Karren gegen die täglich näher kommende Wand kracht, wäre verantwortungslos. Und der Schaden unfassbar hoch.

Vergangene Woche hatte Yanis Varoufakis zudem im Namen von DiEM 25 im Zentrum eines der aktuellen europäischen Krisenherde, in Barcelona, eine Pressekonferenz zur Katalonien-Krise gegeben. Er kritisierte dort den Umgang der EU mit dieser Krise als „heuchlerisch und inkohärent“. Es sei nicht hinnehmbar, so Varoufakis, dass eine demokratische EU die Kriminalisierung einer friedlichen Unabhängigkeitsbewegung toleriere. An die katalanische Regierung gewandt sagte er aber auch, dass Unabhängigkeit nicht einfach auf Grundlage knapper Mehrheiten von regionalen Autoritäten proklamiert werden könne.

Weitere Links zu DiEM25 hier und hier.

Was ist DiEM25?

DiEM25 ist eine europaweite, grenzüberschreitende Bewegung
von Demokraten. Wir glauben, dass die Europäische Union
dabei ist zu zerfallen. Die Europäer verlieren ihren Glauben
an die Möglichkeit, europäische Lösungen für europäische
Probleme zu finden. Zur gleichen Zeit wie das Vertrauen in
die EU schwindet, sehen wir einen Anstieg von
Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus.

Wenn diese Entwicklung nicht beendet wird, befürchten wir
eine Rückkehr zu den 1930er Jahren. Deshalb sind wir trotz
unserer unterschiedlichen politischen Traditionen zusammen
gekommen, – Grüne, radikale und liberale Linke, – um die EU
zu reparieren. Die EU muss wieder eine Gemeinschaft für
gemeinsamen Wohlstand, Frieden und Solidarität für alle
Europäer werden. Wir müssen schnell handeln, bevor die
EU zerfällt.

28. Pleisweiler Gespräche mit Professor Rainer Mausfeld: Wie sich die „verwirrte Herde“ auf Kurs halten lässt

Demokratie bedeutet, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so? Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld („Warum schweigen die Lämmer?“) hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon im Mutterland der Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, war sie von vornherein so angelegt, dass sich durch sie nichts an den Machtverhältnissen ändern konnte. Das Volk mochte wählen wie es wollte, die Interessen der Reichen, der Oligarchen konnten nicht angetastet werden. Auch heute, auch bei uns, das im Grunde genommen so. Die repräsentative Demokratie hat gravierende Mängel. Das fängt ja schon bei der Auswahl und Aufstellung der KandidatInnen der einzelnen Parteien an. Am Rande bemerkt: Oskar Lafontaine sagte etwa im Interview mit Tilo Jung: „“Deutschland ist keine Demokratie, sondern eine Oligarchie“.

Ich möchte zum hier angerissenen Thema und darüber hinaus einen kürzlich von Rainer Mausfeld im Rahmen der 28. Pleisweiler Gespräche (Informationen zur Veranstaltungsreihe hier) in Lindau gehaltenen Vortrag empfehlen.

Dazu schrieb der Herausgeber der NachDenkSeiten Albrecht Müller:

„Der Vortrag ist mit gut zwei Stunden recht lang geraten. Aber er war spannend und Rainer Mausfeld präsentierte viel Material, viele Anregungen, viele Daten, viele Zitate, viele Hinweise auf Literatur – der Vortrag enthält ein Bündel von nützlichen Informationen. Sie können dann, wenn Sie sich für eine der vielen benutzten Abbildungen und Folien besonders interessieren, das Video anhalten, nachlesen und notieren“

Der hochinteressante Vortrag lief unter dem Titel „Wie sich die „verwirrte Herde“ auf Kurs halten lässt“

Das Gehörte mag zu Depressionen Anlass geben. Aber es kann gleichzeitig zum Handeln inspirieren. Schließlich sind all die ins Werk gesetzten Sauereien von Menschen gemacht. Und Menschen können Änderung herbeiführen. Nichts ist also alternativlos. Gegen Ende seines Vortrages in Lindau macht Rainer Mausfeld Mut. Es gelte etwas zu finden „wofür wir kämpfen, nicht wogegen wir kämpfen“. Und er zitiert Noam Chomsky:

„Was können wir tun? So ungefähr alles, was wir wollen.

Tatsache ist, dass wir in einer relativ freien Gesellschaft leben. Die ist nicht vom Himmel gefallen.

Die Freiheiten, die wir haben, wurden in harten, schmerzlichen, mutigem Kampf erstritten, aber nun haben wir sie.

Sie sind unser Erbe, das uns die Kämpfe anderer hinterlassen haben.

Es kann viel getan werden, wenn die Menschen sich organisieren, für ihre Rechte kämpfen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, und wir können noch viele Siege erringen.“

Tjerk Ridder unterwegs im Licht von Martinus: Was bedeutet den Menschen das Teilen und Solidarität heute?

Tjerk Ridder dürfte meinen Leserinnen und Lesern bekannt sein. Der niederländische Theatermacher und Musiker aus der Domstadt Utrecht hat bereits mit zwei interessanten Projekten auf sich Reden gemacht. Sie waren stets mit einer Reise verbunden. In „Trekaak Gezocht!“ („Anhängerkupplung gesucht!“) im Jahre 2010 ging es darum mit einem Campingwagen (ohne Zugfahrzeug) von Utrecht nach Istanbul zu gelangen. Der Grundgedanke dabei: Man braucht andere, um voranzukommen.

Erlebnisse und Eindrücke von unterwegs flossen in Videos, ein Buch und Bühnenprogramme ein

Ridders fünf Jahre später unternommenes zweites Projekt trug den Titel „A Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ („Langsame Reise – Spuren der Freiheit“). „A Slow Ride – Spuren der Freiheit“ wurde eine symbolische und poetische Reise über Freiheit und Befreiung. Aber spürte auch Gefühlen der Unfreiheit nach. Tjerk Ridders Ziel: „Dich und alle unterwegs Beteiligten auf der Suche nach ihrer persönlichen Bedeutung von Freiheit zu

Tjerk Ridder mit Esel Lodewijk. Foto via Tjerk Ridder

befragen, um anschließend das eigene Erleben von Freiheit weiter zu entwickeln.“

Auf jeweils beiden Reisen entstanden Videos und Songs, welche von den Begegnungen mit Land und Leuten erzählen. Zu „Anhängerkupplung – gesucht!“ kam ein Buch heraus. Songs fanden Eingang in die jeweiligen Bühnenprogramme. Welche der Utrechter in den Niederlanden, Deutschland und im niederländischen Konsulat in Istanbul aufführte und welche auch jetzt weiter gezeigt (hier) werden.

Begleitet wurde Ridder auf der Anhängerkupplung-gesucht-Tour von einem Freund, dem Journalisten Peter Bijl, sowie seinem Hund Dachs. In „Slow Ride – Sporen van Vrijheid“ war eine kleine Kutsche ein wichtiges Transportmittel, das vom belgischen Arbeitspferd Elfie gezogen wurde.

Tjerk Ridder – In het Licht van Martinus“ mit „ezeltje Lodewijk“

Nun wirft ein weiteres Reiseprojekt von Tjerk Ridder seine Schatten voraus.

Logo der Grande Parade Saint-Martin Tours. Grafik via Stadt Tours.

Ridder wird am 1. Juli 2017 mit dem Esel Lodewijk (Ludwig) anlässlich der Internationalen Martinus-Parade in Tours in Frankreich sein.

Die Geschichte von Sankt Martin (Martinus) wird den meisten von uns gewiss geläufig sein. Sankt Martin teilte am Stadttor der französischen Stadt Amiens seinen Mantel mit einem Bettler. Seither symbolisiert die Mantel-Teilung Mitgefühl und Solidarität für viele Menschen in Europa und andernorts auf der Welt.

Eine soziokulturelle Wallfahrt entlang Martins europäischer Kulturroute möchte Tjerk Ridder unternehmen. Der Pilgerweg soll am 4. Juli 2017 von Paris aus beschritten werden. Die Reise führt über Arras, Ieper, Gent, Brüssel, Antwerpen, Bergen op Zoom und Breda nach Utrecht. Es ist geplant, dass Tjerk Ridder mit Lodewijk am 2. September 2017 auf dem Domplein ankommt. Dort soll die Heimkehr gefeiert werden.

Was bedeutet Teilen für uns?

Tjerk Ridder erforscht wiederum wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen. Was bedeutet Teilen für die Menschen in Zeiten der Veränderung? Wie ist es mit der Solidarität mit unseren Mitmenschen bestellt? Wie teilen wir gemeinsame Zeit, Wissen, Trauer, Liebe, Essen und vielleicht Eigentum? Wie sind wir sind in der Lage, miteinander in unserem täglichen Leben wirklich zu kommunizieren, wenn es um unsere eigene Nachbarschaft geht – in Europa und auf unseren Planeten? Inspiriert ist die Reise von der Tat, der Mantel-Teilung, des barmherzigen Martins. Tjerk ist einmal mehr an einem Erfahrungsaustausch über das Thema des Teilens mit Menschen, welche er auf dem Weg wird, interessiert.

Unterstützt werden kann das Projekt via Crowdfunding. Informationen auf YouTube und in den sozialen Medien

Verfolgt werden kann die Reise via eines wöchentlichen Blogs (ab dem 15. Juni jeden Donnerstag um 17:00 Uhr online auf dem YouTube-Kanal Tjerk Ridder) und auf dessen Socia-Media-Kanälen (Facebook und Twitter). Ridder wird die unterwegs gemachten Erfahrungen mit uns teilen.

Unterstützer

Die Pferdeklinik der Universität Utrecht kümmert sich tierärztliche Versorgung für „ezeltje Lodewijk“. Die Firma „Anemone – Pferde, Trucks und Triorep“ sorgt für einen guten und sicheren Transport.

Es wird gewiss wieder ein Projekt, von dem wir auf die eine oder andere Weise profitieren werden

Wir können uns also abermals auf ein interessantes Projekt – über das auch an dieser Stelle berichtet werden wird – des Künstlers Tjerk Ridder aus Utrecht freuen. Es läuft unter dem Titel „Tjerk Ridder – In het Licht van Martinus“ und kann über Crowdfunding unterstützt werden. Wer Lust hat, schreibt Ridder, kann Tjerk Ridder auf der letzten Strecke vor Utrecht begleiten.

Update vom 14. Juli 2017 Tjerk Ridders Reiseblog