Links-grüne Meinungsmacht: Die Spaltung unseres Landes. Von Julia Ruhs – Rezension

Gleichmal Butter bei die Fische. Wie man im Ruhrpott zu sagen pflegt. Nicht nur meiner Meinung nach ist der Journalismus in Deutschland schwer auf den Hund gekommen. Beziehungsweise gebracht worden. Beides spielt zusammen. Gründe dafür gibt es viele. Aber nichts ist darunter, was das entschuldigen könnte.  Positive Erscheinungen bestätigen die Regel.

Selbst – in der DDR geboren und aufgewachsen – interessierte ich mich von frühen Jahren für Journalismus. Ich „frass“ Zeitungen geradezu. Und freute mich, als unsere Staatsbürgerkundelehrerin seinerzeit eine Schulzeitung (sie hieß Schulkurier) ins Leben rief. Es ward eine Redaktion zusammengestellt, in welcher ich für Außerschulisches zuständig war. Interessante Einblicke boten sich mir, woraus Erkenntnisse erwuchsen. Später unterbrachen Lehre und Wehrdienst bei der NVA mein Faible fürs Schreiben eine Zeitlang. Wieder im Beruf des Elektromonteurs und dann meiner Arbeit an einem Theater als Beleuchter zog es mich wieder zum Reportieren und Schreiben hin. Als Volkskorrespondent (sozusagen Laienjournalist mit kleiner Honorierung für Artikel) berichtete und schrieb ich für die Bezirkszeitung in meiner Stadt. Das machte Spaß und brachte mich in Kontakt mit interessanten Menschen und Institutionen. Man konnte auch durchaus Kritisches aufgreifen. Und ließ dies dann geschickt zwischen den Zeilen durchscheinen. Allerdings war klar (die Zeitung war eine der Bezirkszeitungen der SED, der führenden Partei in der DDR), dass einem da verständlicherweise gewisse Grenzen gesetzt waren. Das war einem klar und man arrangierte sich – so manches Mal zähneknirschend – damit. Die Schere im Kopf arbeitete beim Schreiben immer mit.

Als ich eines Tages von dieser Zeitung das Angebot einer Delegierung an eine Fachhochschule zwecks Ausbildung zum Journalisten bekam, war ich begeistert – aber ad hoc auch hin- hergerissen. Schließlich wurde erwartet, dass ich Mitglied der SED und damit „Parteijournalist“ würde. Ein fester Klassenstandpunkt im Sozialismus und das entsprechende Klassenbewusstsein (heute wird Haltungsjournalismus verlangt – ich komme noch darauf). Schließlich schlug ich das Angebot nach tagelanger Überlegung schweren Herzens aus. Denn ich bekam ja seinerzeit nicht nur Lob für meine Artikel, sondern auch manche Beschimpfung seitens einiger Kollegen meiner Arbeitsstätte, der Art: „Was haste denn da wieder in die Zeitung geschmiert.“

Meine Absage gründete sich auch auf die Situation eines Kulturredakteurs der Zeitung, welcher mir anlässlich manchen Theaterbesuchs (er schrieb u.a. Premierenkritiken) zu später Stunde während der Premierenfeier, wo er sich meist mit diversen Alkoholika die Kante gab, sein Leid als mehr oder weniger unglücklicher Journalist klagte. Dabei war er ja immerhin schon froh, dass er nicht in der Politik-Redaktion arbeiten musste.

Würde mich nicht auch so ein Schicksal wie das des besagten Kulturjournalisten erwartet haben, würde ich als Journalist dieser Zeitung gearbeitet haben? Hätte ich bestimmte „Kröten“ lieber schlucken sollen? Tempi passati …

Vorbilder im Westen

In der DDR sahen wir ja (außer im Raum Dresden – spöttisch als ARD bezeichnet) regelmäßig Westfernsehen. Ich war begeistert von Journalisten, wie Peter Scholl-Latour, Gerd Ruge, Klaus Bednarz, Gabriele Krone-Schmalz und anderen. Um nur einige zu nennen.

Wobei mir klar war, dass auch in der BRD nicht alles Gold war, was glänzte. Entsprechende kritische Berichte in Politmagazinen wie MONITOR, Panorama etc. brachten ja Unzulänglichkeiten und Skandale alljährlich an den Tag.

Auch bei westdeutschen Zeitungen waren damals in den 1970er und 1980er Jahren nicht bei jeder Redaktion jeder kritische Artikel willkommen. Zeitungen sind ja sogenannte Tendenzbetriebe. Dort bestimmt sozusagen der Verleger die politische Ausrichtung und somit, was ins Blatt kommt und was nicht. Aber Journalisten hatten ja damals durchaus eine gewisse Auswahl und konnten zu anderen Zeitungen wechseln.

Der Journalismus in Westdeutschland war zudem aber lange Zeit auf jedem Fall viel pluralistischer, als das heute der Fall ist.

Heute geht es gleichgerichteter zu, um es vorsichtig zu formulieren. Und es kam von bestimmter Bürgerseite der Vorwurf „Lügenpresse“ auf. Der Journalist Ulrich Teusch sprach passender von „Lückenpresse“. Und das betrifft auch die Öffentlich-Rechtlichen. Immer mehr Leute üben heruzutage zu Recht Kritik daran.

Journalisten sind dumm“

Neulich hörte ich aus dem Mund einen gestandenen konservativ verorteten Journalisten in einer Radiosendung sagen: „Journalisten sind dumm.“ Nun, für manche dürfte das wirklich zutreffen, wenn man hört oder liest, was sie gerade jetzt in Zeiten hochgefahrener Kriegspropaganda von sich geben. Aber dieser Satz kann und soll wohl auch anders verstanden werden: Nämlich derart, dass eben auch Journalisten nicht alles wissen (und auch nicht wissen können). Das Schlimme ist jedoch: Bestimmte Journalisten tun im Brustton der Überzeugung und nicht selten auf überhebliche Weise (man muss sich nur mal an die Corona-Zeit erinnern! Ein Buch von Jens Wernicke und Marcus Klöckner haben ein Buch dazu veröffentlicht: hier) als hätten sie die Weisheit mit Riesenlöffeln gefressen.

Journalismus in den Orkus? Sagen, was ist!

Also, welches Fazit sollen wir angesichts des jämmerlichen Zustands des momentanen Journalismus ziehen: Fort mit ihm in den Orkus? Und dann? Klar, den auf den Hund gekommenen Journalismus wieder zu dem zu machen, wie er im Buche steht, braucht es Mut und jede Menge Kraft und Verstand. Denn so wie es ist, kann es schließlich nicht bleiben.

Und dieser dann „neue“ Journalismus musst unbedingt wieder das Credo eines Rudolph Augstein „Sagen, was ist“ beherzigen und mit Leben erfüllen. Dies tut ja selbst längst nicht mehr das einstige Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.

Einer jungen Journalistin wie Julia Ruhs, deren Buch hier zur Debatte steht, traue ich zu, dazu beizutragen. Schon deshalb nenne ich deren Veröffentlichung ein wichtiges Buch

Zu Julia Ruhs schrieb Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten:

«Der NDR hat sich von Moderatorin Julia Ruhs getrennt, wie Medien berichten. Künftig soll Ruhs nur noch in Folgen der Diskussionssendung „Klar“ zu sehen sein, die vom Bayerischen Rundfunk produziert werden. Laut einer Pressemitteilung des BR am Mittwoch sucht der NDR nun nach einer neuen Moderatorin. Die Sendung wird im Wechsel von den beiden Sendern produziert.

Eindruck der Intoleranz

Diese Entscheidung (weitere Hintergründe und Reaktionen finden sich etwa in diesem Artikel) hat eine große Diskussion ausgelöst. Der Schritt des NDR macht meiner Meinung nach einen schlechten Eindruck und ist abzulehnen: Auch wenn ich mit den Inhalten von Julia Ruhs persönlich nichts anfangen kann, so finde ich doch, dass auch eine solche Stimme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgehalten werden muss. Ruhs hat sich in dieser Nachricht auf X zu dem Vorgang geäußert. [ … ] Quelle: NachDenkSeiten«

Im Vorwort zu ihrem Buch schreibt Ruhs:

«In meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist Medienschelte

nicht ungewöhnlich. Viele von ihnen haben ein Unwohlsein

entwickelt mit der Berichterstattung. Sie finden, Journalisten

nähmen sich zu viel heraus, sagten einem mit ihrer

Berichterstattung schon, welche Route der Kopf nehmen

soll. „Einordnung“ würden wir das nennen, dabei sei das,

was wir tun, vielleicht nicht immer gleich „Meinungsmache“,

zumindest aber „Meinungslenkung“. Die Infos herauszusortieren,

die nicht ins Weltbild passen. So Kontext zu

verschweigen. Die Fakten hineinzupacken, die der eigenen

Weltsicht in die Karten spielen. Framing. Manipulation.«

Und auch:

«Wer das Gendern doof findet, die Frauenquote ebenso,

illegale Migration ablehnt – und all das tue auch ich –, der

wird schnell gemaßregelt und zurechtgewiesen. Der muss

ständig aufpassen, dass ihm nicht fragwürdiges Gedankengut

unterstellt wird. Wenn dann noch die Falschen applaudieren

und die Richtigen schweigen, kann es passieren,

dass das Etikett an einem kleben bleibt. Dann ist man raus

aus dem Diskurs. Verbannt hinter die unsichtbaren Stadtmauern

unserer modernen Welt.«

Zuzustimmen ist ihr unbedingt hier:

«Echte Toleranz zeigt sich erst, wenn wir etwas ertragen,

das wir ablehnen oder sogar gefährlich finden. Denn nur

allzu oft gehört auch das noch längst zum demokratischen

Meinungsspektrum dazu.

Diese ganze mediale Dynamik wirkt auf mich oft so, als

solle die öffentliche Debatte nicht breit, sondern innerhalb

politisch erwünschter Narrative gehalten werden. Innerhalb

bestimmter Meinungskorridore. Medien definieren so, was

eine „erlaubte“ Meinung ist und was als „unerlaubte“ Meinung

gilt. Sie scheinen außerdem zu oft ein Thema richtig

groß zu machen, ein anderes aber liegen zu lassen. Mal übertrieben zu problematisieren, dann mal unkritisch abzufeiern.«

Was man zum Buch wissen muss

«Julia Ruhs war stets überzeugt, ganz normale Meinungen zu vertreten – bis sie Journalistin wurde. Sie sprach sich als Volontärin in der ARD gegen das Gendern aus und warnte später in einem Kommentar der „Tagesthemen“ vor illegaler Einwanderung. Sie sprach sachlich und mit Bedacht Themen an, die viele Menschen im Lande bewegen. Aber plötzlich war sie eine Exotin im Metier. Die Reaktion war ein linker „Shitstorm“, leider Normalität heutzutage. Die Politikjournalistin Julia Ruhs ist Reporterin beim Bayerischen Rundfunk sowie Kolumnistin für Focus Online. Dieses Buch ist ihr Plädoyer für eine offene Debattenkultur, in der auch kritische und unbequeme Meinungen Gehör finden müssen. Sie hinterfragt, gerade als Journalistin, den herrschenden Zeitgeist, der offenbar nur eine Richtung zuzulassen scheint. Und sie verdeutlicht, warum manche Meinungen laut und andere leise sind, warum Konservative im Journalismus Mangelware sind, weshalb sich Journalisten für besonders mutig halten, um trotzdem lieber mit dem Strom zu schwimmen. Und sie dokumentiert, wie ein Berufsstand, der Neutralität predigt, immer stärker polarisiert.«

Julia Ruhs über sich:

«Ich hatte immer ganz normale Meinungen – bis ich Journalistin wurde. Plötzlich war ich die Exotin. In der ARD öffentlich gegen das Gendern sein? In den Tagesthemen vor zu viel Zuwanderung warnen? Zack, schon war der linke Shitstorm da. Weil ich angeblich so ‚rechts‘ bin. Dabei denke ich wie viele Menschen in diesem Land. Nur offenbar nicht wie die Journalistenwelt.«

Julia Ruhs praktiziert eine sachliche unaufgeregte Analyse und lässt widerstreitende Meinungen zu Wort kommen, die anderswo unter den Tisch fallen oder als AfD-Sprech verteufelt werden

Julia Ruhs analysiert den statt habenden Journalismus akribisch und sachlich. Sie beklagt den sich verengt habenden Meinungskorridor sowie das oft belehrend daherkommende im Journalismus. Passend hierzu eine in der DDR sozialisierte Dame, die mit Julia Ruhs telefonierte und ihr sagte: „Es wird uns aufgezwungen, was wir zu denken, zu reden, zu essen, zu tun haben.“

«Man werde dauerberieselt, von wegen „die AfD ist scheiße, das sind alles Nazis, ihr solltet alle gendern.“ Und sie fügte dann trotzig hinzu:

„Aber wir lassen uns nicht irgendein Gedankengut überstülpen! So tickt der Osten. Wir haben viel mehr diese

Antennen, was wirklich um uns herum passiert.“ (S.22)

Diese Antennen haben die Menschen im Osten der Republik in Jahrzehnten entwickelt. Sie sind fein abgestimmt auf das, was sie empfangen und regieren sensibel.

Bezüglich des angeblichen Klimawandels, Geschlechterdebatte und bezüglich der Migration. Und Julia Ruhs belegt das mit zahlreichen Zuschriften aus dem Publikum. Sie bemerkte, dass in Ostdeutschland die Menschen oft sensibler und dementsprechend kritischer reagieren. Auch weil sie es lernten zwischen den Zeilen zu lesen. Kein Wunder: Denn sie haben jahrzehntelang unter vielfältiger Agitation eines Sozialismus, der m.E. keiner war, gelebt. Besonders über Zeitungen Rundfunk und Fernsehen. Weshalb DDR-Bürger nicht selten auf Westkanäle umschalteten. In der Realität jedoch sah vieles ganz anders, als DDR-Medien es verkündeten und trüber auf. Diesen Menschen kann auch der Westen kaum etwas vormachen. Und so wenden sie sich ab und immer öfter gehen sie auch nicht mehr wählen oder wählen AfD in der Hoffnung, so könnte sich etwas verändern. Den anderen Parteien vertrauen sie nicht mehr. Die Enttäuschung ist im Allgemeinen groß führt eben auch zu einem Vertrauensverlust betreffs der Medien und dazu, dass Journalisten zum Feindbild werden. (S.20) Viele Menschen wendete sich auch Russia Today (RT Deutsch) zu. Für die, wenn man so sagen will, so etwas wie früher das Westfernsehen: ein Korrektiv. Deutschland aber erdreistete sich RT zu verbieten. Allerdings ist es für findige Menschen – über Umwege – trotzdem noch zu erreichen.

Und in der Nachrichtensendungen „Tagesschau“ und „heute“ gibt es kaum noch wirkliche Nachrichten, die nämlich dazu da sind, dass sich anhand dessen die Zuschauer sich eine eigene Meinung bilden können. Stattdessen wird in die Ohren der Menschen hineingetrötet, wie sie gefälligst zu denken haben.

Julia Ruhs dürfte sich betreffs journalistischer Arbeit dem alten lateinischen Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars verpflichtet sehen, der wörtlich übersetzt bedeutet: „Es soll auch die andere Seite gehört werden.” 

Drei m.E. fragwürdige Zeitgenossen

Dass der ehemalig ZDF-Mann Claus Kleber in Sachen Meinungskorridor mal etwas Richtiges anmerkte, wenn er sagt, dieser sei mal größer gewesen, hätte ich an Julia Ruhs Stelle nicht so prominent erwähnt. Wie wir wissen, ist Claus Kleber Mitglied der Atlantikbrücke und tickt dementsprechend. Klar, ihm brauchte in der Tat niemand aus der Regierung sagen, was er wie aufs Tapet zu bringen hat. Es ist glaubhaft, was er einmal beteuerte. Als Atlantikbrücke-Mitglied hat er das eh verinnerlicht. (S.34)

Ruhs schreibt: «Selbst der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte bei einer Medienpreis-Verleihung in Hamburg schon im Herbst 2014 fest: „Vielfalt ist einer der Schlüssel für die Akzeptanz von Medien. Die Leser müssen das Gefühl haben, dass sie nicht einer einzelnen Meinung ausgesetzt sind.“ (S.34/35) Gut gebrüllt, Herr Steinmeier! Er ist einer größten Spalter hierzulande. Zur Erinnerung: Einer seiner Vorgänger (meines Einschätzung nach der letzte gute Bundespräsident), Johannes Rau, hatte folgendes Credo: „Versöhnen statt Spalten.“ Ebenso hätte ich Herrn Steinmeier nicht positiv hervorgehoben.

Selbst der stets eloquent wie pastoral daherredende Joachim Gauck (das SPD-Urgestein Albrecht Müller nannte ihn «Der falsche Präsident«) kommt bei Jula Ruhs zu Ehren:

«Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat es einmal wunderbar treffend ausgedrückt: In einer vielfältigen

Gesellschaft könne es nicht nur harmonisch zugehen, sagte er. Streit sei der Lebenshauch einer lebendigen Demokratie – die Suche nach einem Konsens sei das Einatmen, der Streit das Ausatmen. Ein schönes Bild, oder? Deutschland braucht dringend wieder dieses tiefe Ein- und Ausatmen. Denn wenn wir zu oft die Luft anhalten, wächst bei manch einem der Zweifel, ob wir überhaupt noch in einer echten Demokratie leben.« (S.37) Gab es die denn je, möchte ich ketzerisch fragen.

Da stockt mir doch der Atem! Leute, haltet öfters die Luft an!

Apropos Zweifel: Karl Marx postulierte: „An allem ist zu zweifeln“

Man sehe mir meine kleine Meckerei nach.

Links-grünen Meinungsmacht. Julia Ruhs arbeitet das gut heraus und begründet so die Wahl ihres Buchtitels

Dass wir es mit einer „Links-grünen Meinungsmacht“ zu tun haben dämmerte selbst mir erst relativ spät. Julia Ruhs arbeitet das gut heraus und macht das an Beispielen fest.

Journalisten kommen oft aus gut situierten Akademiker – Haushalten

Dass es so ist, ist gewiss auch damit erklärlich, wenn man sich einmal informiert, woher künftige Journalisten meist kommen. Nämlich nicht selten aus Akademiker-Haushalten. Die obendrein durchaus links-grün eingestellt sind. Und die in der Regel auch gut situiert sind. Denn Praktika und auch Journalistenschulen kosten schließlich und sind meist außerhalb der Heimatorte. Oft sind auch dort die Mieten für Studenten nicht von Pappe. Wenige Eltern können ihre Sprösslinge entsprechend finanziell unterstützen.

Bei einer anderen Rezension zu einem Buch des Journalisten Patrik Baab fiel mir der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow ein. Auch er ist Journalist geworden. Er stammt aus keinem Akademiker – Haushalt. Die Familie lebte in einem Dortmunder Problemviertel. Ich zitiere aus dieser Rezension betreffs Bülow: «Das ist auch eine Geschichte für sich. Sie stammen oft aus Akademiker- oder sonst wie gut situierten Haushalten. Sie wohnen in Stadtvierteln, in welchen Menschen mit gleichem Hintergrund bevorzugt leben. Sie besuchen die gleichen Szenekneipen. Die rezipieren die gleichen Medien. Übrigens sagt dies der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund, selbst gelernter Journalist auch von den über die Jahre frisch in den Bundestag gewählten Abgeordneten: „Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung.« (Link zur Rezension des Baab-Buches, welches ich allen Journalisten nur ans Herz legen kann.)

Und gelinge dann Journalisten aus Nichtakademikerfamilien der Sprung in eine Redaktion, fehle ihnen der nötige Stallgeruch, liest man.

Als ein großes Problem empfindet Julia Ruhs den Haltungsjournalismus. Fast alle Redaktionen in den Medien hat er durchdrungen. Kritik am Haltungsjournalismus soll freilich nicht heißen, man solle keine Haltung haben. Wie wir alle wissen, hat jeder Mensch eine bestimmte Haltung. Heutzutage heißt Haltungsjournalismus, dass man als Journalist fürs Gendern, den Klimaschutz und die hundertprozentige Akzeptanz der Klimawandel-Theorie einstehen muss. Fraglos auch in der LGBTQ- und Geschlechterdebatte die „richtige“ Meinung haben muss. Jula Ruhs zitiert jemanden, der sagt Links und Rechts gebe es nicht mehr, sondern nur noch Gut oder Böse.

Unter Journalisten ist es eh verbreitet, dass man für das Gute eintreten möchte. Was verständlich ist. Man muss nur aufpassen, sich nicht zu vertun.

Diesbezüglich zitiert Julia Ruhs den einstigen Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs zugeschriebenen Satz: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Julia Ruhs hat offenbar viel aus ihrer praktischen journalistischen Arbeit und obendrein aus den im Buch zitierten Mails, Zuschriften und Telefonaten mit Zuschauern mitgenommen und gelernt. Auch, wenn sie gesteht hin und wieder erzürnt über manches in der Medienwelt transportierte wütend sein kann, ist sie – was aus ihren Zeilen spricht – nicht pessimistisch. Nein, sie ist fest entschlossen, den Journalismus zusammen mit sich hoffentlich finden lassenden Mitstreitern wieder zu einem Journalismus zu machen, wie er eigentlich gedacht war. Was u.a. nur damit geht sich für mehr hohe Meinungsvielfalt einzusetzen und denn verengten Meinungskorridor wieder aufzustemmen, damit auch wieder Meinungen und Informationen sicht- und hörbar werden, die die Mächtigen allzu gerne verbergen möchte, weil sie ganz offenbar deren Kreise und Machenschaften stören. Dies muss auch für Meinungen und politische Ansichten gelten, denen man als Journalist nicht unbedingt zustimmt. Getreu dem lateinischen Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars.

Aus dem Nachwort zum Buch

Zu den Nachrichten, welche sie von Zuschauern und Lesern erhält, hält Julia Ruhs im Nachwort zu ihrem Buch fest:

«Diese Nachrichten haben mir immer

wieder gezeigt, wie aufmerksam die Menschen sind. Wie

gut sie Zusammenhänge erkennen. Und dass wir Journalisten

uns ja nicht anmaßen sollten, zu glauben, wir lebten

intellektuell in höheren Sphären.

Doch ihre Nachrichten zeigen mir auch etwas anderes:

Frust. Enttäuschung über die Berichterstattung. Das

Gefühl, nicht gehört oder gar bewusst missverstanden zu

werden. Viele wenden sich ab, suchen Zuflucht bei alternativen

Medien und Social Media Accounts – und blicken

dann oft noch feindseliger auf die „etablierten Medien“.

Und auf meinen Arbeitgeber, den öffentlich-rechtlichen

Rundfunk.

Ich bin überzeugt: Wenn klassische Medien wieder für alle da sind, alle Stimmen abbilden, Empathie auch für jene

zeigen, deren Meinung und Wahlentscheidung sie nicht

teilen, würde dies das gesellschaftliche Klima verändern.

Dann würde der Ton weniger unerbittlich, der Diskurs offener.

Wir brauchen wieder einen Debattenraum, in dem

niemand aus Angst vor Konsequenzen schweigt oder sich

in eine Nische zurückzieht.

Für alle da zu sein, kann auch bewirken, dass wir Vertrauen

in Medien zurückholen, gesellschaftliche Spaltung

überwinden. Und dieses Vertrauen brauchen wir dringend.

Denn mit einer Flut an Falschinformationen, Deepfakes also täuschend echten KI-generierten Bildern und Videos

– was bleibt uns dann in Zukunft noch, außer dem

Vertrauen der Menschen?« […]

Und schließt sie ab:

[…] «Aber dabei sollten alle Seiten fair bleiben. Journalisten

haben sich nicht verschworen, um zu lügen. Ich habe noch

keinen getroffen, der bewusst Lügen oder Regierungspropaganda

verbreitet. Genauso wenig sollten wir anderen unterstellen,

sie seien dumm, nur weil sie zu anderen Schlüssen

kommen. Jede politische Meinung, die auf dem Boden

des Grundgesetzes steht, hat ihre Berechtigung. Wer ausgrenzt,

treibt Menschen erst recht in die Radikalität.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Streit nicht

als Bedrohung sieht. Sondern als etwas Notwendiges. Als

Fortschritt. Denn offene, kontroverse Debatten sind kein

Risiko für die Demokratie – sie sind ihr Motor.«

Gern und mit großem Interesse gelesen. Ein wichtiges Buch in schwierigen Zeiten. Höchst informativ und verständlich zu rezipieren. Julia Ruhs ist zu danken, dass sie es geschrieben hat. Mögen es viele Menschen zur Kenntnis nehmen. Unbedingt auch die Kolleginnen und Kollegen der Journalistenzunft! Lassen wir nicht zu, dass der Journalismus kaputt bleibt. Haben wir Mut, ihm wieder aufzuhelfen. Im Interesse von uns allen. Denn bedenkt: Der Hut brennt! Die Spaltung der Gesellschaft ist jetzt schon bedenklich.

Das Buch

Julia Ruhs

„Links-grüne Meinungsmacht“

Herausgeber ‏ : ‎ Langen-Müller
    Erscheinungstermin ‏ : ‎ 18. August 2025
    Auflage ‏ : ‎ 1.
    Sprache ‏ : ‎ Deutsch
    Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 208 Seiten
    ISBN-10 ‏ : ‎ 3784437494
    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3784437491
    Abmessungen ‏ : ‎ 13.7 x 1.8 x 21.5 cm
    20 Euro

Anbei:

Vortrag von Prof. Dr. Andreas Fisahn kürzlich in Dortmund: „Die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit und weiterer demokratischer Rechte“

Da ich diesmal einen im Rahmen einer monatlichen Veranstaltungsreihe von Attac Dortmund und dem DGB Dortmund gehaltenen Vortrag nicht in Präsenz beiwohnen konnte, um hernach darüber zu berichten, möchte ich mit meinen verehrten Lesern eine Information darüber von Attac Dortmund teilen.

Der Vortrag von Prof. Dr. Andreas Fisahn trug den Titel:

„Die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit und weiterer demokratischer Rechte“.

Vortrag mit anschließender Diskussion im Rahmen der monatlichen Veranstaltungsreihe von Attac Dortmund und DGB Dortmund.

Zur Person

Andreas Fisahn ist seit 2004 Professor an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die kritische Staats- und Rechtstheorie, Demokratietheorie sowie Europa- und Umweltrecht.
Er war bis zu dessen Auflösung Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Im letzten Jahr hat er anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Grundgesetzes im VSA-Verlag einen AttacBasisText herausgegeben.

Hinweis von Attac: Der Ton ist bei der Anmoderation durch einen Hall ein wenig gestört; beim Vortrag selbst dann ohne Fehler. Wegen der blendenden Sonne waren die Rollos im Saal heruntergefahren, sodass es im Laufe des Vortrags immer dunkler wurde. Die Präsentation ist aber gut zu sehen. Bei der anschließenden Diskussion wurde dann glücklicherweise das Licht eingeschaltet.

Das Referat sowie die sich anschließende Diskussion können Sie, liebe Leserinnen und Leser, via den Aufzeichnungen Attac-Netzwerk Dortmund auf dessen Homepage rezipieren.

Beitragsbild: Prof. Dr. Andreas Fisahn (Archivbild Claus Stille)

Hinweis auf die nächste Veranstaltung von DGB und Attac in Dortmund

Die nächste nächste Veranstaltung in der Reihe findet am 19. Mai 2025 in Dortmund statt:
Dann wird Marco Bülow zum Thema sprechen: „Defizite der
parlamentarischen Demokratie“.
Anbei noch die Rezension zu Bülows neuestem Buch: „Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will“ von Marco Bülow. Rezension

„Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will“ von Marco Bülow. Rezension

Am 23. Februar finden die Wahlen zum Deutschen Bundestag statt. Gerade noch rechtzeitig vorher hat der Westend Verlag ein interessantes Buch herausgebracht. Dessen Lektüre kann potenziellen Wählern oder auch Nichtwählern mit ziemlicher Sicherheit wichtige Denkanstöße liefern. Geschrieben hat es Marco Bülow. Marco Bülow zog 2002 als direkt gewählter Dortmunder Abgeordneter für die SPD in den Deutschen Bundestag ein. Dort war Bülow unter anderem Umwelt- und Energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2016 trat er aus der SPD aus und war noch drei Jahre fraktionsloser Abgeordneter. Seit 2021 ist er außerhalb des Parlaments politisch aktiv und arbeitet als Journalist, Publizist und Podcaster.

Seine politische Arbeit innerhalb in der SPD und seinem Wahlkreis in Dortmund nahm er stets sehr ernst. Doch während seiner Abgeordnetentätigkeit im Deutschen Bundestag beraubte ihn die Praxis dort bald so mancher Illusion. Er veröffentlichte 2010 das Buch „Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter“. Im Klappentext heißt es: «Wie viel Einfluss haben die Mitglieder des Bundestags eigentlich noch? Marco Bülow, SPD-Bundestagsabgeordneter, bricht erstmals das Schweigen der deutschen Parlamentarier. Er deckt auf, wie Abgeordnete zu vorgegebenen Entscheidungen gedrängt werden, wie mächtige Lobbyisten Abstimmungen immer stärker beeinflussen und wie die Medien Politik machen.
Anhand konkreter Beispiele zeigt der Autor, wie Fraktionszwang und Regierungshandeln die Vertreter des Volkes oft zu hilflosen Randfiguren degradieren, die Beschlüsse und Gesetzesvorlagen nur noch abnicken. Bülows Insiderbericht zeugt von einer handfesten Krise der parlamentarischen Demokratie. Er ruft zum Widerstand auf. Politiker müssen selbst vorangehen, mutiger werden und die Macht in die Mitte des Parlaments zurückholen. „Wozu sind Regierungsfraktionen denn noch gut: Zum Abnicken und Jasagen?“«

Damit zog Marco Bülow freilich Kritik aus der Politikerkaste und auch seitens diverser Medien auf sich. Auch aus der eigenen Partei, der SPD. Doch er blieb standhaft. Auch wenn er sich Einiges anhören musste. Was er sich leisten konnte, weil er in seinem Wahlkreis stets ein Direktmandat holte. Jemand anderes wäre gewiss gar nicht wieder aufgestellt oder auf einen aussichtslosen Listenplatz geschoben worden.

Letztlich – wie weiter oben ausgeführt – zog er aber die Reißleine. Auch wenn ihm dabei gewiss klar sein musste, dass er sich da einer wie auch immer gearteten Karriere berauben würde. Aber hätte er dann noch in den Spiegel schauen können? Dieser sicherlich nicht einfache Schritt war wohl der in ihm aufschrillenden Vorstellung geschuldet, dass er (fast) Lobbyist geworden wäre. In Wie ich (fast) Lobbyist wurde (S.43) lesen wir darüber.

Eigentlich, so Bülow, müsste die Überschrift heißen «Wie ich (fast) Lobbytarier wurde«. Und weiter: „Als Unterzeile könnte man schreiben; «Eine wahre Geschichte darüber, wie Politik sich korrumpieren lässt«

Zur Erklärung führt der Autor aus: „Parlamentarier, die gleichzeitig Lobbyisten sind, die ein oder mehreren Lobbys dienen, nenne ich «Lobbytarier« (S.43)

Und jetzt will Marco Bülow gemäß dem Buchuntertitel die Demokratie retten?

Da muss erst einmal die Frage geklärt werden, ob es überhaupt jemals eine Demokratie, sprich Volksherrschaft gegeben hat.

Demokratie bedeutet ja, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so? Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld – welchen Marco Bülow einige Male in seinem Buch zitierend erwähnt – hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon in den Anfängen der Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika, sei sie von vornherein so angelegt gewesen, dass sich durch sie nichts Wesentliches an den bestehenden Machtverhältnissen ändern konnte. Die Mehrheit des Volkes mochte wählen wie es wollte, die Interessen der (Minderheit) der Reichen, der Oligarchen, konnten nicht angetastet werden. Auch heute, bei uns, ist das im Grunde genommen so. Wenngleich noch nicht in den Dimensionen wie in den USA. Denn allein wer dort für das Präsidentenamt kandidiert, braucht ja ohne entsprechend hohe finanzielle Ausstattung erst gar nicht erst antreten. Quelle: Rezension zu „Hybris und Nemesis“ von Rainer Mausfeld.

Unser System: wir haben eine repräsentative Demokratie. Wir wählen also Parteien und deren (zuvor von den Parteien bestimmte, oft in Hinterzimmern ausgekungelte) Kandidaten, welche uns Bürger dann im Deutschen Bundestag und den Parlamenten der Bundesländer vertreten (sollen). In der Regel geben wir Wähler alle vier Jahre unsere Stimme ab [sic!]. Sie landet, was der inzwischen emeritierte Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Prof. Dr. Rainer Mausfeld als treffend bezeichnet, in der Urne.

Bereits vor 15 Jahren prägte Colin Crouch bezüglich des Zustands der Demokratie den Begriff „Postdemokratie“ (dazu mehr in einem Beitrag auf Deutschlandfunk. Gemeint war, wie Bülow ausführt, „eine aufrechterhaltene, demokratische Fassade mit freien Wahlen. Dahinter eine schleichende Demontage, zerfallende Diskurs- und Resonanzräume, übermächtige Lobbys.“

Ullrich Mies und Jens Wernicke (Hrsg) sowie die im Buch versammelten Autoren sahen eine Fassadendemokratie („Fassadendemokratie und Tiefer Staat“).

Auf beide Begriffe und Bücher nimmt Marco Bülow auch in seinem Buch Bezug. Weitere Titel zur Krise der Demokratie sind in einem Fließtext aufgereiht (S.88).

Bülow erklärt: „Es geht in diesem Buch um die (legale) Korruption in der Politik, die einseitige Beeinflussung und die Auswüchse des Profitlobbyismus -, aber nur als ein Ausgangspunkt, um aufzuzeigen, wie unsere Demokratie, unsere ganze Gesellschaft korrumpiert wird. Profit ist darin zur dominierenden Antriebskraft geworden, weil wir alle Lebensbereiche systematisch ökonomisiert haben. Alles, was sich nicht direkt zu Geld machen oder in Geld berechnen lässt, gilt in unserem System als wertlos.“ (S.18) Der Autor will das nicht „rein mit dem Wesen des Kapitalismus“ erklären.

Die Sache sei komplexer.

„Nicht nur die Marktwirtschaft hat sich als anpassungsfähig erwiesen. Demokratie und Gesellschaft sind dem Wesen des Kapitalismus angepasst worden. Wir haben uns mit Brot und Spielen korrumpieren lassen.“ […]

Angela Merkel wird zugeschrieben eine „marktkonforme Demokratie“ befürwortet zu haben. Was hätte das noch mit Demokratie zu tun? Eigentlich entlarvend. Fast hätte es die Wortverbindung zum Unwort des Jahres 2011 gebracht. Für Marco Bülow der „wohl passendste Begriff“. «Wenn Angela Merkel, wie Schirrmacher entgeistert bemerkt, die ‚marktkonforme Demokratie‘ gelobt, dann hat sie bereits kapituliert. Bürger und Staat haben keine Souveränität, sondern spielen nur.«

Marco Bülow weiter im Buch: „Geld und Profit sind zu unserem «Übergott« geworden, der viele Untergötter duldet, wenn sie den Profit von Wenigen nicht schmälern, sich anpassen, sich korrumpieren lassen. Ohne Verschwörung, sondern einfach durch den Druck und die Fliehkräfte, die bei dem Kampf um Geld und Macht entfacht werden. Die süße Lüge, dass alle profitieren und unendliches Wachstum möglich sei, wirkt wie eine Droge. Das Korrektiv und Gegenkollektiv zu dieser Entwicklung ist immer weiter zusammengeschrumpft, während Ohnmacht, Verunsicherung, Rückzug und Wut bei den Menschen spürbar anwachsen. Um daran etwas zu ändern, muss man sich zunächst ehrlich machen, Fehlentwicklungen und -verhalten aller Seiten offenlegen und nicht mit den ewig gleichen Antworten, Appellen und Aktionen vorgehen“

Bülow schreibt über die fragwürdigen Maskendeals, die Korruption von Mandatsträgern und Amtsmissbrauch in der Corona-Zeit. Auch die „Aufarbeitung“ dessen ist fragwürdig.

Das «böse« Wort korrupt werde bei uns gemieden, schreibt der Autor. (S.20)

„Korrupt sind Autokraten, Diktatoren in fernen Ländern. In der Politik wird über viel gestritten, aber nicht über das System, das sich entwickelt hat oder die Demokratie. Ihre Feinde sind Extremisten von rechts und links, alle anderen dagegen seriöse, aufrechte Demokraten.“

Es käme zum Ausverkauf der der Demokratie. „Die Grenzen, das Korrektiv zu dieser Entwicklung, lösen sich auf, während wir uns über Nebenthemen streiten. Sehen wir endlich mal hin und nennen das Kind beim Namen: Nahezu unsere ganze Gesellschaft wir korrumpiert.“

„Was heißt überhaupt «korrupt«?“ Bülow: „Der Ausdruck geht auf das lateinische Wort corruptus zurück, welches gleich mehrere Bedeutungen aufweist: «verdorben«, «sittenlos«, «bestochen«, «verkehrt«.

Unter Korrumpierte Knechte (S.23) zitiert der Autor Abraham Lincoln:

«Wir gehen einem Zeitalter der Korruption bis in hohe Positionen entgegen. Die Macht des Geldes in diesem Land wird ihren Einfluss durch Ausnutzung der Vorurteile im Volk so lange wir möglich zu halten versuchen, bis der Wohlstand in wenigen Händen versammelt und die Republik zerstört ist«

Also nichts Neues.

Bülow weiß: „Die Krisendebatte ist also nicht neu – doch war die Demokratie immer schon nur Mittel zum Zweck? Ich denke nicht ganz und bleibe davon überzeugt, dass sie viel mehr als dem Ziel, die Bevölkerung im Zaum zu halten, dienen kann und soll. Aber eine wirkliche Demokratie, die alle beteiligt und vor allem das Gemeinwohl heute und morgen vor Augen hält, hat es nie gegeben. Daraus lässt sich auch ableiten, warum sie sich heute dem Markt unterordnet, der nur denen dient, die vor allem den eigenen Wohlstand im Blick haben und eine «Volksherrschaft« befürchten.“ (S.90)

Man kann es nicht abstreiten: „Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Finanzkapitalismus gleicht einem Gemisch aus zwei Flüssigkeiten in einem Kessel, der sich immer weiter erhitzt. Ihre Siedepunkte sind unterschiedlich und Druck kann nur abgebaut werden, wenn die Demokratie nach und nach verdampft und entweicht. Einzig übrig bleibt dann zusehends der Finanzkapitalismus.“

Marco Bülow fragt: „Und hat die marktkonforme Postdemokratie bereits das nächste Stadium erreicht? Klar ist, die Debatte wird rein akademisch geführt, die Politik will sie nicht wahrhaben und in der Öffentlichkeit kommt sie nur in Form eines unguten Bauchgefühls an. Die Folgen sind aber immer deutlicher zu spüren, weshalb sich auch die Unzufriedenheit weiter ausbreiten wird. Irgendwann ist die Demokratie aus dem Kessel raus und dann ist nicht mal sicher, ob sich die Erhitzung stoppen, die Schmelze vermeiden lässt.“ (S.91)

Der Autor hat seinen Finger in viele gesellschaftliche Wunden gelegt. Was spannend zu lesen ist.

Und den Lesern zu denken gibt sowie zum Nachdenken anregt.

Gegliedert hat das Marco Bülow in drei interessante Kapitel:

I. (Demokratie-)Demontage.

Die Fragen des Lobbyismus und der Korruption werden an Beispielen konkret benannt. So handelt er unter der Überschrift „Monetarisiert“ das aktuelle Beispiel Cum-Ex mit dem Schaden von 36 Mrd. Euro für den Staat, d.h. für alle Bürger ab. Sein aktuelles Fazit: Die Finanzlobby wird weiter gestärkt werden. „Was Scholz kann, kann Merz schon lange“. „Geld ist die einzige Sache der Welt, deren Qualität sich allein an der Quantität bemisst, wusste bereits Karl Marx. Die Schulden der einen, sind die Gewinne der anderen, Geld verschwindet nicht. „Die Schuldenbremse eine Ablenkung“?

II. (Demokratie-)Karambolage

Was ist der Wert des Menschen, des Bürgers bei einer aufrechterhaltenen, demokratischen Fassade mit freien Wahlen? Bereits bei der ersten Trump Periode „America first“ sah Kanzlerin Angela Merkel die „marktkonforme Demokratie“ als Zielsetzung. Die Aushöhlung der sozialen Marktwirtschaft, der demokratischen Mitwirkung wird bei dem Erstarken der weltweiten Oligopole drängender Wer kennt schon Broligarchien – ( Broligarchie – eine Oligarchie, in der enorme Macht an die Bosse der Technologie- und Finanzbranche fließt, an Magnaten, von denen einige den demokratischen Traditionen gleichgültig oder sogar offen feindlich gegenüberstehen.)
Ausgehend von einer weitreichenden Kritik, führt der Autor über ein weiteres Kapitel

III. (Demokratie-)Montage

zu den Lösungsansätzen.
Kann der Leser den Gedanken vom ÜberLEBEN zum Guten Leben folgen und sieht er auch die Alternativen? Wir brauchen das notwendige Bewusstsein für unsere Situation. Nur wenn wir die Gesellschaft wieder als Demokratie (er)leben und wir mitwirken wird sich etwas ändern. Das Kapitel schließt dem Nachspiel: Permanente Revolte ab.

Überschrieben mit einem Zitat von Albert Camus:

«Ich revoltiere, also bin ich«

«Die wahre Großzügigkeit der Zukunft besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben. Die Revolte beweist dadurch, dass sie die Bewegung des Lebens selbst ist und dass man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben zu verzichten«. (S.186)

Thesen zur den drei Kapiteln

Es folgen jeweils Thesen zu den drei vorangestellten Kapiteln. Sie fassen kurz und bündig den Kern der 3 Kapitel zusammen.

Die Leser können sich schließlich, vom Autor gründlich informiert, aufgefordert fühlen, sich selbst Gedanken über das Gelesene und die darin beschriebene Problematik zu machen und überlegen, wie ob und wie sie selbst daran beteiligt werden wollen.

Ab Seite 192 lesen Sie einen 9-Punkte-Plan zur Kooperativen Demokratie.

Fazit

Marco Bülows Buch ist ein Augenöffner, inhaltlich informativ sowie tief schürfender Aufrüttler. Wir müssen nämlich unbedingt konstatieren, dass der Hut längst brennt und es höchste Eisenbahn ist, etwas zu tun. Schließlich stecken wir in einer multiplen Krise, die unsere Gesellschaft, die Wirtschaft und unser Land bedroht und schon beträchtlich ruiniert hat. Ich möchte einmal etwas anders und provokativ formulieren als auf der Buchrückseite so geschrieben steht: «Wer die Demokratie retten will, muss erkennen, wer sie demontiert«. Und zwar so: «Wer eine echte, wirkliche Demokratie schaffen will, muss erkennen, wer das verhindert«. Denn klar ist, man kann nur retten, was tatsächlich existiert.

Wir lesen dort: «Soziale Marktwirtschaft und Herrschaft des Volkes sind Fassade, so Bülow, Täuschungen eines Profit-Systems, welches immer weniger Menschen nutzt. Korrumpierungen, fatale Denkstrukturen und unfaire Spielregeln setzen sich fest. Bülow ruft zum Widerstand auf und macht Auswege deutlich. Statt wehrlose Sündenböcke zu suchen, müssen wir uns bewusst mit den Mächtigen anlegen, fordert er, und setzt auf das Korrektiv und Kollektiv.«

Pardon! Unappetitlich, dass mir da ein von Robert Habeck in Dortmund noch vor seiner Ministerzeit getätigter Ausspruch in den Sinn kommt: «Wir haben verlernt politisch zu denken und müssen es schaffen uns mit den wahrhaft Mächtigen anzulegen«. (dazu: claussstille.blog)

Als er sich dann anschickte schlechtester Wirtschaftsminister zu sein, welchen die BRD je hatte, las sich das dann während seines Besuches 2022 in den USA so: «Habeck sieht „dienende Führungsrolle“ für Deutschland« (Quelle: t-online.de)

Von Marco Bülow dürfte derlei nicht zu erwarten sein. Sonst hätte er nicht die Notbremse gezogen und einen anderen Weg eingeschlagen. Martin Sonneborn – deutscher Satiriker, Journalist und Politiker (Die PARTEI); MdEP – sagt über Marco Bülow: «Last Sozialdemokrat Standing!“

Für dieses wichtige Buch sollten wir Bülow dankbar sein. Gut, dass es noch vor der Bundestagswahl am 23. Februar erschienen ist. Es sollte der Orientierung der Wählerinnen und Wähler und über die Wahl hinaus dienen können. Für andere der allgemeinen Information. Empfehlen Sie es gerne weiter. Nutzen Sie es!

Zum Autor:

Marco Bülow zog 2002 als direkt gewählter Dortmunder Abgeordneter für die SPD in den Deutschen Bundestag ein. Dort war Bülow unter anderem Umwelt- und Energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2016 trat er aus der SPD aus und war noch drei Jahre fraktionsloser Abgeordneter. Seit 2021 ist außerhalb des Parlaments politisch aktiv und arbeitet als Journalist, Publizist und Podcaster.

Foto: ©Claus Stille

Aus dem Inhalt:

Unsere Demokratie war nie eine wirkliche Herrschaft des Volkes. Selbst die reale repräsentative Demokratie – wie wir sie nennen – wird zunehmend ausgehöhlt. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat längst die Politik erreicht. Ausufernder Profitlobbyismus, bröckelnde Gewalten- und Machtteilung, sowie zusammenbrechende Korrektive sind die Folge. Wir haben uns korrumpieren lassen, zu viele haben oder wollen mitprofitieren. Und noch mehr ergeben sich den Bedingungen oder ihrer Ohnmacht.

Marco Bülow

Korrumpiert

Erscheinungstermin 10.02.2025
Einbandart kartoniert
Seitenanzahl 208
ISBN9783864894848
Preis inkl. MwSt.20,00 €

Westend Verlag

Dazu passend Marco Bülow auf Radio München:

Martin Sonneborn spricht mit dem Autor

Aus die Maus. Der Blick von unten auf die da oben. Von Żaklin Nastić – Rezension

Wer will fleißige Handwerker seh’n, … so heißt ein bekanntes Kinderlied. Ist Politik eigentlich auch ein Handwerk? Klaus von Dohnanyi diente als Minister unter den Kanzlern Brandt und Schmidt und war lange Jahre Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Sein Credo: „Politik ist ein Handwerk“

Stümper und verkappte Lobbyisten im Bundestag

Politiker wären demnach (auch) Handwerker? Na, mal schön langsam mit den jungen Pferden! Schauen wir doch nur einmal in den Deutschen Bundestag. Da ist es schwer wirkliche politische Handwerker auszumachen. Was übrigens für nicht wenige dort vertretenen Bundestagsabgeordneten aus fast allen Parteien zutrifft. Stattdessen fallen uns dort inzwischen einige Stümper und Pfuscher auf, die dank eines Mandats in die oberste demokratische Vertretung gelangen konnten. Etliche dieser dort sitzenden Menschen sind als Volksvertreter verkappte Lobbyisten, die entsprechende Interessen vertreten. Die der Wählerinnen und Wähler? Da kommen hier und da Zweifel auf.

Und zwar nicht erst seit Außenministerin Baerbock in puncto Ukraine-Unterstützung auf einer Konferenz in Prag sagte: […]„Wir stehen so lange an eurer Seite, wie Ihr uns braucht’, dann möchte ich auch liefern, egal was meine deutschen Wähler denken, aber ich möchte für die ukrainische Bevölkerung liefern.“ […]

Nun, die Wählerinnen und Wähler müssten inzwischen (eigentlich) durchgeholt haben, dass sie sich betreffs Politikern und Abgeordneten kaum auf deren Versprechungen verlassen können. Franz Müntefering (SPD) sagte einmal unverblümt:

„Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen.“ Doch das Wahlvolk ist bekanntlich vergesslich.

Anbei:

Schadet es Politikern, Wahlversprechen zu brechen?

[…] Aber wenn Politiker regelmäßig Wahl- und sonstige Versprechen brechen: Schadet ihnen dies? Könnte dies ihre Macht gefährden? Der Schriftsteller, Diplomat und politische Philosoph Niccolò Machiavelli (1469-1527) meint in seinem berühmten Werk „Der Fürst“, dies sei kein Problem:

Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, dass der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.“

Als Beispiel führt Machiavelli Papst Alexander VI. an:

Alexander VI. tat nichts anderes als zu betrügen, sann auf nichts anderes und fand immer solche, die sich betrügen ließen. Nie besaß ein Mensch eine größere Fertigkeit, etwas zu beteuern und mit großen Schwüren zu versichern, und es weniger zu halten. Trotzdem gelangen ihm alle seine Betrügereien nach Wunsch, weil er die Welt von dieser Seite gut kannte“ (Beide Zitate aus „Der Fürst“, Kapitel XVIII, „Inwiefern die Fürsten ihr Wort halten sollen“).[…] Quelle: Aus einem Beitrag der NachDenkSeiten von Udo Brandes.

Żaklin Nastić ist für die Partei DIE LINKE im Bundestag. Eine engagierte Politikerin, wie sie nicht oft anzutreffen ist

Darüber dass Żaklin Nastić für Partei DIE LINKE in den Bundestag gewählt worden ist sollten wir indes froh sein. Erst recht darüber, dass sie überhaupt in die Politik gegangen ist.

Sie gehört nicht zur in den letzten Jahrzehnten verstärkt im Bundestag vertreten Generation von Akademikern etc. mit einer sogenannten „Drei-Saal-Karriere“: „Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal. Ohne Kenntnis des Lebens da draußen. Diesen Abgeordneten fehlt in der Regel das Gefühl die wirklichen gesellschaftlichen Probleme wahrzunehmen. Erst recht abgeschnitten werden sie von diesem wenn sie unter der gläsernen Kuppel des Reichstagsgebäudes zu Stuhle gekommen sind.

Der aus geerdeten Verhältnissen – aus der Dortmunder Nordstadt, die immer wieder als sozialer Brennpunkt benannt wird – stammende ehemalige Bundestagsabgeordnete Marco Bülow empfand diese Entwicklung bedenklich. Als er erstmalig in den Bundestag gekommen war, sei das noch nicht so extrem gewesen. Bülow erklärte vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung, woher das Nichtwahrnehmen sozialer Probleme vieler Abgeordneten rühre: „84 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, 16 Prozent Nichtakademiker.“ (aus meinem damaligen Bericht)

Bülows Credo: „Die Bevölkerung ist mein Chef.“

Letzteres dürfte auch Żaklin Nastić so sehen.

Was Links-sein bedeutet

Żaklin Nastić versteht sich noch als eine wirklich Linke. Warum schreibe ich das? Weil offenbar viele sich als links bezeichnende Menschen – eingeschlossen gewisse Abgeordnete und Funktionsträger der Partei DIE LINKE – inzwischen gar nicht mehr wissen, was Links-sein überhaupt bedeutet. Es bedeutet, sagt etwa Sahra Wagenknecht, sich in der Politik für die Menschen zu engagieren, die es schwer haben. Für die, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, die sich täglich bewähren und hart kämpfen müssen. Sowie sich für eine friedliche Außenpolitik – schlicht: den Weltfrieden einzusetzen.

Armut ist ŻaklinNastić bekannt

Żaklin Nastić ist 1980 in einem Dorf bei Gdansk in Polen geboren, hat polnische, deutsche, kaschubische und jüdische Wurzeln sowie die deutsche und die polnische Staatsbürgerschaft. Sie kam 1990 nach Hamburg, lebte auf Flüchtlingsschiffen im Hafen und wuchs in einem sogenannten sozialen Brennpunkt am Rande Hamburgs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Armut ist ihr sehr wohl bekannt.

Über sich und ihre politische Arbeit hat sie nun ein Buch geschrieben: „Aus die Maus. Der Blick von unten auf die da oben“.

Gleich im ersten Satz der Vorbemerkung schreibt Nastić nicht um den heißen Brei herum: „Die Welt ist im Eimer. Wir wissen nicht mehr weiter. Es fehlen starke Persönlichkeiten, die sich gegen alle Widerstände durchsetzen. Es mangelt an Führern. (In Deutschland ist der Begriff belastet, darum spricht man lieber von Leader.) Keine Visionen, nur Verwaltung. Es regiert der Sachzwang: Krisen, Kriege, Konflikte, Klimakatastrophe …“

Engagement ist anstrengend. Viele Menschen sagen: Es ändert sich ja sowieso nichts. Żaklin Nastić schreibt, sie verstehe die Ermüdung. „Auch die Verbitterung. Mir geht es bisweilen ebenso. Ich möchte dann allem den Rücken kehren und wütend erklären: Macht euren Mist doch allein, ich muss mir das nicht antun! Aber das ist unmöglich. Wir Menschen sind gemeinschaftliche Wesen, keine Einzelgänger. Wir brauchen uns. Wir sind auf die Stärke der Gemeinschaft angewiesen. Das ist in erster Linie eine Klassenfrage. «Wer im Stich lässt seinesgleichen lässt ja nur sich selbst im Stich«, dichtete Bert Brecht im «Solidaritätslied«.

«Seinesgleichen« – die Meinung vertritt Żaklin Nastić „nicht nur Klassenbruder und Klassenschwester. Wie eben auch die Menschenrechte für alle gelten – sie sind unteilbar“. (S.11)

Żaklin Nastić wendet sich gegen dieDiffamierungvon Kämpfernfürden Frieden

Gegen die Diffamierung des „Manifests für Frieden“ – veröffentlicht im Februar 2023 von ihrer Fraktionskollegin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer – als rechtsoffen, aus der vermeintlicher linken Ecke sowie durch Presseartikel stellt Żaklin Nastić Worte des vormaligen Vorsitzenden der SPD und später der LINKEN. Lafontaine habe nämlich erklärt im Friedenskampf gebe es keine Gesinnungsprüfung. Niemand werde gefragt: «Welches Parteibuch hast du?» oder «Wen hast du gewählt«?

Und sie zitiert den unlängst verstorbenen Hans Modrow, der sich auf seinen zur See fahrenden Bruder berief: Wenn wir einen Schiffbrüchigen aus dem Meer retten, interessiert uns nicht, ob er weiß, schwarz oder gelb ist – es ist ein Mensch!

Schluss mit dem Ukrainekrieg!

Zum Krieg in der Ukraine hat die Bundestagsabgeordnete eine klare Meinung: „Damit muss Schluss sein! Es ist ohne Bedeutung, wer und warum einer oder eine Frieden fordert. Wichtig ist, dass die Waffen zum Schweigen gebracht werden!

Żaklin Nastić erinnert an Willy Brandts Worte: «Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts!«

Und auch die Worte des 1914 ermordeten französischen Sozialisten Jean Jaurés ruft sie auf, welcher „den Kriegshetzern vor dem Weltkrieg den richtigen Satz“ entgegen geschmettert hatte: «Der Kapitalismus trägt den Krieg ins sich wie die Wolke den Regen.«

Żaklin Nastić über ihre Arbeit und ihren Anspruch daran

In ihrem Buch behandelt Żaklin Nastić ihre politischen Tätigkeitsfelder. Sie stellt darüber hinaus auch nichts weniger an als Überlegungen, „wie wir in der derzeitigen Phase den Übergang von dem System, das keineswegs schon hinüber ist, in das andere System, dessen Konturen noch nicht erkennbar sind, meistern können“. (S.20)

Obwohl, gibt sie zu bedenken, die kapitalistische Ausplünderung der globalen Ressourcen zu Karl Marx Zeiten noch in weiter Ferne lag, habe dieser schon zu seinen Zeiten die «gesellschaftliche Menschheit« beschworen, die Welt nicht nur zu erkennen und zu interpretieren. «Es kömmt darauf an, sie zu verändern«, habe Marx seinerzeit beschieden.

Żaklin Nastić gibt sich entschlossen und zuversichtlich:

„Wir alle sind Teil der gesellschaftlichen Menschheit. Und wir stehen in der Pflicht, die Welt zu verändern – wir können es auch.

Und das beginnt nicht erst vor unserer Haustür, sondern bereits in unseren vier Wänden.

Dort darf die Veränderung nicht enden.“

„Wir sollten nie vergessen, woher wir kommen“, fordert Nastić

Żaklin Nastić schreibt im Kapitel „Wir sollten nie vergessen, woher wir kommen“ u.a. über die Ankunft mit ihrer Mutter in Deutschland. Erst landeten sie auf einigen Flüchtlingsschiffen in Hamburg, dann in einer Hochhaussiedlung. Dort sei geschlagen, geschossen und gedealt worden. Selbst innerhalb der Wohnungen war Gewalt keine Seltenheit. Die Kriminalitätsrate sei hoch und der Schufa-Score niedrig gewesen. „Wer beim Versandhändler bestellte, konnte nicht sicher sein, dass die Ware auch geliefert wurde. Die Postleitzahl war verräterisch.“

Das prägt.

Solche Siedlungen werden in der Regel „soziale Brennpunkt“ oder „Problemviertel“ genannt. Die Autorin: „Das sind freundlichere Bezeichnungen als etwa «Ghetto«. Dieses Wort ist in der deutschen Sprache belastet.“ Wir wissen warum.

Der Jugoslawien-Krieg

Auch der Krieg in Jugoslawien politisierte Żaklin Nastić. Sie protestierte gegen die militärischen Auseinandersetzungen in dem zerfallenden Bundesstaat und gegen die Einmischung der NATO.

Als sie 1998 erstmals in Jugoslawien war schockierte sie die Not, „die die vom Westen verhängten Sanktionen insbesondere in Serbien angerichtet hatten“. (S.28)

Nachdem der völkerrechtswidrige Krieg mit den NATO-Bombardements in Serbien vom Zaun gebrochen worden war, weilte sie wieder dort: „Ich sah die zerstörten Häuser, die gesprengten Brücken und ausgebrannten Wohnungen: Kriegsbilder, die dich als Achtzehnjährige bislang nur aus Geschichtsbüchern und Filmen kannte“, erinnert sich Żaklin Nastić.

Dies alles habe sie politisiert.

Ihr wurde klar, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft Klassen gibt. Was weder in der Schule gelehrt worden sei noch in der Zeitung zu lesen gewesen war.

Nastić erinnert daran, wie sich „ein ungedienter Steinewerfer aus Frankfurt am Main in seiner Funktion als Außenminister und williger Zögling von US-Madeleine Albright – formally known as Jana Korbelová – das deutsche Volk ans Gewehr gerufen [hatte]“ (S.37)

„Wortgewaltig hatte der grüne Joschka Fischer mit der Losung «Nie wieder Krieg und nie wieder Auschwitz« eine deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien durchgesetzt.“

Zehn Jahre nach Ende des Kalten Kriegs habe die BRD ihre „unkriegerische Unschuld“ verloren, so die Politikerin.

Damit es nicht der Vergessenheit anheimfällt merkt sie an, dass die Jugoslawien am 29. April 1999 beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen die BRD und neun weitere NATO-Staaten eingereicht hatte. „Wegen Völkermords, wegen des Verstoßes gegen das Interventionsverbot und wegen Missachtung des Souveränitätsgegebots (die gleichen Gründe übrigens, weshalb der Westen Russland mit Sanktionen überzogen hat).

Allerdings lief die Klage ins Leere, weil Jugoslawien auf Betreiben des Westens aus der UNO ausgeschlossen worden war. Das Verfahren wurde ohne Entscheidung in der Sache wegen Nichtzuständigkeit des Gerichtes in Den Haag wieder eingestellt.

Wer sich noch erinnert, wird wissen, dass damals auch einige Strafanzeigen in Deutschland beim Generalbundesanwalt eingereicht worden waren. Da war nämlich die Vorbereitung eines Angriffskrieges noch gemäß § 80 StGB strafbar. Ermittlungen unterblieben, weil die jugoslawische Staatsführung das friedliche Zusammenleben der Völker auf dem Balkan gestört habe. 2017 war dann der dieser Paragraph aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden.

Serbien der alleinige Täter?

Alle wichtigen deutschen Medien hätten seinerzeit Serbien allein als Täter in diesem Krieg benannte. Aber das war einseitig. Żaklin Nastić schreibt über die wohl einzige Ausnahme in der medialen Befassung mit diesem Krieg: „Die ARD beispielsweise zeigte in einer Dokumentation («Es begann mit einer Lüge« WDR 2001), dass die deutsche Öffentlichkeit massiv belogen worden war, um die dritte Bombardierung Belgrads in einer Jahrhundert zu rechtfertigen.“ Der Film und dessen Macher seien dann aber angegriffen und diffamiert worden.

Żaklin Nastić: 1999 war die Zeitenwende.

Żaklin Nastić hat sich mit diesem Krieg schon befasst bevor sie 2017 in denn Bundestag einzog. Weil der Vater ihrer beiden Kinder Serbe ist. Darüber hinaus hat sie Slawistik studiert, was die Region Südosteuropa einschloss und ihr so viele Erkenntnisse brachte.

Interessant, dass die Autorin ab Seite 42 die Geschichte bis in die Gegenwart der immer umkämpften Region (einschließlich der des Kosovos (u.a. „Die Schlacht auf dem Amselfeld 1389) beleuchtet, was auch heutige Zusammenhänge besser einzuordnen hilft und verstehen lässt.

Dokumentation parlamentarischer Arbeit

Das Buch ist Seite für Seite äußerst informativ für die Leserinnen und Leser. Wichtige Interviews mit der Autorin, Reden in Parlamentsdebatten und kleine Anfragen ihrerseits sind im Buch enthalten. Was uns Lesern einen Überblick über den enormen Arbeitsumfang und die Tätigkeit einer Bundestagsabgeordneten verschafft, die ihr Mandat im Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler im Rahmen und im Namen der Demokratie hoch engagiert ernst nimmt.

Ich denke, nicht zu hoch zu greifen, wenn sich mir der Eindruck vermittelt: Politik ist ein Handwerk, wie weiland das politische Urgestein Klaus von Dohnanyi bekannte und nach wie vor lebt. Und Żaklin Nastić versteht dieses (ihr) Handwerk. Wer will fleißige (politische) Handwerker finden, der muss beispielsweise hochachtungsvoll auf Żaklin Nastić sehen.

Nicht weniger interessant ist das Kapitel „Irak, Iran und Naher Osten sowie weitere Krisenherde“ (ab S.63)

Ebenso „Menschenrecht, geteilt“ (S.105)

Darin schreibt die Autorin über die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die der Bundestag 2017 feierte, weil sie siebzig Jahre zuvor in die Welt gesetzt worden war.

Die Einschätzung von Żaklin Nastić: „Die dreißig Artikel klingen gut, aber haben einen Makel: Sie sind rechtlich nicht bindend – nicht justiziabel, also nicht einklagbar.“

Völkerrecht und Ukrainekrieg

Und auch das wohl uns alle auf den Nägeln brennende Thema kommt in „Das Völkerrecht und der Ukrainekrieg“ bringt die Politikerin ausführlich und sachlich aufs Tapet. (S.127)

Unter anderem dokumentiert sie eine Kleine Anfrage, welche sie Anfang Februar 2023 gemeinsam mit ihren Fraktionskollegen Sevim Dagdelen und Andrej Hunko betreffend den Sachverhalt an die Bundesregierung gerichtet hatte.

„Schüsse ins Blaue bringen nichts“, erklärt Żaklin Nastić dazu. „Man muss immer viele Pfeile im Köcher haben.“

Aus diesem Grund fragten die genannten Abgeordneten Bundesregierung „welche Kenntnisse sie über die Verletzung der Menschenrechte durch ukrainische Institutionen habe. Es sind zweiundzwanzig Fragen an der Zahl. Gewiss interessant für die Leser. Weil sie derlei nicht in den Medien finden werden.

Quo vadis, Linke

Das hoch informative Buch schließt mit einem Kapitel, dass nicht nur Żaklin Nastić brennend interessiert: „Quo vadis, Linke“ (S.161)

Die Autorin zeichnet die Geschichte der Partei nach. Dann geht sie hart mit ihr ins Gericht. Wir erinnern uns: Eingangs des Buches stellte ich die Frage was eigentlich Links-sein bedeute.

Nastić wird diesbezüglich deutlich: „Doch statt sich mit vereinten Kräften gegen die asoziale Politik der Regierungsparteien zu stellen und um andere Mehrheiten in der Gesellschaft zu kämpfen, statt unser Profil als Antikriegs- und Menschenrechtspartei zu schärfen, ziehen es einige vor, sich dem politischen Mainstream anzupassen.“ (S.165)

Und die Linkenpolitikerin urteilt ohne Rücksicht auf Verluste: „Ich beobachte eine Mischung aus egoistischer Profilierungssucht, aus Opportunismus und Lust am eigenen Untergang. Wofür steht eigentlich diese Partei, fragen sich darum viele Wählerinnen und Wähler und wenden sich ab oder anderen Parteien zu. Eine Partei ist kein Selbstzweck.“

Man kann nur hoffen, dass sich auch Politikerinnen und Politiker der Partei DIE LINKE dieses Kapitel im Buch von Żaklin Nastić zu Gemüte führen.

Gegen Ende ihres Buches schreibt Żaklin Nastić der Linkspartei mahnende Worte ins Stammbuch: „Wenn die Linke ernst genommen werden will, braucht sie mehr Souveränität und weniger Servilität. Beim Katzbuckeln macht sie sich kleiner, als sie ist.“

Und auch hier ist ihr unbedingt zuzustimmen: „Wenn sie sich ihrer Sache allerdings nicht mehr sicher ist, sollte sie gehen, bevor die Wählerinnen und Wähler sie dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst. Wenn die Linkspartei ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nicht gerecht werden sollte, wird es heißen: Aus die Maus!“

Żaklin Nastić zeigt sich allerdings überzeugt, dass in dieser kapitalistischen Ausbeutergesellschaft mehr denn je eine konsequente linke politische Kraft mit Rückgrat und Kopf gebraucht wird, die für Frieden, soziale Sicherheit und eine streitbare Demokratie kämpft.“

Nun ist die Partei am Zug. Sonst richten es die Wähler.

Eine starke Stimme aus der Opposition!
»Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat« Rosa Luxemburg

Żaklin Nastić ist unzufrieden mit dem Zustand der Gesellschaft, der Welt und ihrer Partei. Als Menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion hat sie ebenfalls tausende Gründe zur Klage. Doch Jammern und Barmen helfen nicht weiter, sagt sie, Tränen trüben nur den Blick. In einer sachlichen Bestandsaufnahme setzt sie sich polemisch mit der Gegenwart auseinander, insbesondere damit, wie hierzulande mit moralischen Kategorien Außenpolitik gemacht wird. Sie spricht über die rot-grüne Regierungspolitik, die opportunistischen Verrenkungen ihrer Partei, die Heuchelei von Christdemokraten und Liberalen. Sie tut dies kritisch. Aber nicht defätistisch und resignativ, sondern – trotz berechtigter Empörung – immer in der Überzeugung, dass Veränderung möglich ist. Dazu braucht es aber Mehrheiten, für die sie streitet. Auf der Straße wie im Parlament.


Zaklin Nastic

Żaklin Nastić, 1980 in einem Dorf bei Gdansk in Polen geboren, hat polnische, deutsche, kaschubische und jüdische Wurzeln sowie die deutsche und die polnische Staatsbürgerschaft. Sie kam 1990 nach Hamburg, lebte auf Flüchtlingsschiffen im Hafen und wuchs in einem sogenannten sozialen Brennpunkt am Rande Hamburgs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Armut ist ihr sehr wohl bekannt. 2000 machte sie das Abitur und studierte anschließend Slawistik. Sie hat zwei Kinder. Seit 2008 politisch engagiert bei den Linken, war sie seit 2011 Kommunalpolitikerin und seit 2017 Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft, bis sie 2017 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde. Dort ist sie Menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion und vertritt die Fraktion als Obfrau im Verteidigungsausschuss.

Zaklin Nastic

Aus die Maus

Der Blick von unten auf die da oben

192 Seiten, 12,5 x 21 cm, broschiert

sofort lieferbar

Buch 16,– €

ISBN 978-3-360-02756-6

eBook 12,99 €

ISBN 978-3-360-50193-6

Sisyphos lässt grüßen. Die Leiden der Linken und das Leiden an der LINKEN. Von Ekkehard Lieberam. Rezension

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 ließ Hoffnung aufflammen. Das war auch einmal bei der PDS nach einer längeren Durststrecke der Fall gewesen. Zuletzt aber war die PDS jedoch – wie soll man sagen nach einigen Erfolgen aus vielerlei Gründen: abgesandelt. Dann taten sich in der neu gegründeten DIE LINKE engagierte Linke aus PDS, SPD und den Gewerkschaften, vereint und entschlossen gegen die Agenda 2010 zusammen, um den «Stein« einer kämpferischen linken Partei – dabei gegen den Sozialabbau der Schröder-Fischer-Regierung anrennend – den Berg hinan zu rollen. Unterdessen rollt er längst wieder nach unten.

Ekkehard Lieberam hat „Das Leiden der Linken und Leiden an der LINKEN akribisch über viele Jahre verfolgt und akribisch analysiert

Zur anschaulichen Verdeutlichung hat Ekkehard Lieberam, angelehnt an die Legende vom altgriechischen tragischen Helden Sisyphos, für seine Broschüre den Titel „Sisyphos lässt grüßen“ gewählt. Darin er „Das Leiden der Linken und das Leiden an der LINKEN“ akribisch analysiert hat. Lieberam will uns die Analogie aufzeigen „zwischen der Geschichte linker Parteien im kapitalistischen Deutschland und der Legende vom altgriechischen tragischen Helden Sisyphus“. Lieberam: „Sisyphos befördert einen großen Stein den Berg hinauf. Der Stein rollte zurück. Er rollt ihn wieder den Berg hinauf. Und wieder rollt er zurück. Ähnliches geschieht im Parteien- und Parlamentssystem mit linken systemoppositionellen Parteien.“

Abschreckendes Beispiel: Die Grünen

Was nichts Neues ist. Auch in Zeiten der BRD nicht. Wir hatten Zeit das an den Grünen zu studieren. Wobei unterdessen die Frage aufscheint, ob diese Partei überhaupt jemals links gewesen war. Immerhin mischte sie, wie es auch in der Broschüre heißt, seinerzeit das politische System Westdeutschland gehörig auf. Was den Altparteien, die ja trotzdem sie – deutlich unterschiedliche Interesse und Wähler mehr oder weniger gut vertraten als das heute in der parteipolitisch-ideologischen Einheitssoße der Fall ist – ansonsten jedoch in einem gewissen gesellschaftlichen Konsens agierten, ganz und gar nicht schmeckte.

Was letztlich dazu führte, dass die Grünen vom System „rundgelutscht“ (wie es ein Dortmunder Professor einmal auf einem Friedensratschlag in Kassel nannte) wurden. Die Grünen selbst zudem gingen daran, einen „Marsch durch die Institutionen“ anzutreten“.

Eine „1967 von Rudi Dutschke artikulierte Methode , die eine langfristige politisch-strategische Perspektive der damals noch hauptsächlich studentisch geprägten Protestbewegung in einem inhaltlich linkssozialistisch gemeinten Sinn, den später ideologisch zunehmend heterogenen Konzepten der sogenannten Neuen Linken folgend, anmahnte“. (Quelle: Wikipedia)

Der von den Grünen gegangene Weg im weiterem Verlauf dürfte allerdings wohl kaum den Beifall von Rudi Dutschke gefunden haben. Denn dieser Weg war ein gefährlicher Holzweg, den die Grünen beschritten und der sie von Joschka Fischer angeführt (doppeldeutig) in den Jugoslawien-Krieg und abermaligen Bombardierung Belgrads durch eine deutsche Armee und zu Olivgrünen mutieren ließ.

Und mit Regierungsämtern und Staatssekretärposten mit (ver)lockendem Salär lässt sich manche/r still stellen.

Wer diese verhängnisvolle Entwicklung der Grünen verfolgt hat, mussten ob des Weges der Partei DIE LINKE eigentlich etliche rote Alarmlampen aufgeleuchtet haben.

Wollte man das diese nicht sehen? DIE LINKE hat inzwischen längst gewisse Programmierungen aus der Zeit ihrer Gründung 2007 sowie beim Erfurter Parteitag 2011 aufgegeben. Bemäntelt wurde das so: „Seitdem hat sich die Welt weitergedreht.“

Ekkehard Lieberam hat diese Entwicklung genau verfolgt und einige Schriften dazu verfasst. Aus ihnen ist zu erfahren warum DIE LINKE gewisse Drehungen vollzogen hat.

Man lutschte sich quasi selbst rund und zurecht, um besser dem parlamentarischen Politikbetrieb zu entsprechen. Die Medien lutschten wieder fleißig mit – wie weiland bei den Grünen.

Man machte Anstalten sich der NATO-Politik anzunähern. „Selbst die NATO-Mitgliedschaft sollte hingenommen werden, wenn irgend wann damit eine Regierungsbeteiligung im Bund erreicht werden kann (so ihr Bundestags-Fraktionschef Dietmar Bartsch Ende 2019).“ Auch gegenüber Russland und China verhärtete sich DIE LINKE. Erst recht nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine.

Erschreckend, ist ebenfalls, was Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen kürzlich in einem FAZ-Interview äußerte: „Putin hat vollzogen, was Hitler nicht geschafft hat.“ Der Westexport der Linkspartei, der sich auch als Christ begreift. Ein Linker? Der Ramelow-Sager geschah allerdings erst in diesem Jahr, somit erst nach dem Erscheinen der zweiten Auflage dieser Lieberam-Schrift.

Akute Existenzkrise der Partei

Grund für deren Erscheinen sind die bedenklichen „Entwicklungen der Linkspartei im Zeichen der Anpassung an die Außenpolitik der Ampel und einer akuten Existenzkrise der Partei“, wie es eingangs der zweiten Auflage heißt.

Nicht zu vernachlässigen ist dieser Aspekt ist: „Wichtig für das Voranschreiten der Anpassung in der LINKEN war die Ausschaltung von Sahra Wagenknecht als Franktionsvorsitzende im Bundestag nach zwei Jahren Mobbing.“ (S.39)

Es ist die Rede von einer Kluft zwischen einer Tagespolitik, die sich aufs Mitregieren orientiert und sich dabei immer mehr der der regierenden Parteien im Bund annähert, und einer Programmatik, die die Partei als kämpferische systemoppositionelle Partei der Lohnabhängigen und aller Prekarisierten gegen das Kapital versteht, tritt diese Krise allerdings schon seit einiger Zeit in Erscheinung. Zu bewältigen ist sie nunmehr nicht mehr.“

Und weiter: „Mit der Bundestagswahl 2021, dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 und der anhaltenden Zereißprobe um die Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht am 8. September 2022 ist ein «point of no return« überschritten. Die entgegen gesetzten Positionen zum Sanktionswahnsinn gegenüber Russland, zu den Waffenlieferungen an die Ukraine und überhaupt zur NATO unter Funktionsträgern und in der Mitgliedschaft sind unvereinbar geworden. Die Fähigkeit der Parteiführung zur Erneuerung ist dahin.“

Als sich die Delegierten anlässlich des 8.Parteitags der am 16.Juni 2007 gegründeten Linkspartei vom 24. bis 26. Juni 2022 versammelt hatten, wollte Festredner Gregor Gysi ein «rechter Glückwunsch« zum Geburtstag nicht einfallen. Im Gegenteil: Er sah die Partei in einer «existentiellen Krise«. „Es gehe um «Rettung oder «Versinken in der Bedeutungslosigkeit«.

Rechtsruck in der Partei

Als beängstigend empfindet Ekkehard Lieberam in der Broschüre (S.7), „dass der Parteitag den NATO-Freunden in der Linkspartei einen legitimen Platz in der Partei eingeräumt hat“. Kritik an USA, NATO sowie an der Sanktionspolitik gegenüber Russland und an den Waffenlieferungen an die Ukraine sei weiter abgeschwächt worden.

Es habe ein Rechtsruck stattgefunden: „Der rechte Flügel (um Bodo Ramelow, Benjamin Hoff, Katina Schubert und Wulf Gallert) meldete sich deutlicher als je zuvor zu Wort und er verstärkte seinen Einfluss auf den Kurs der Partei.“

Nach Wolfgang Abendroth entsteht mit dem politischen Erfolg der Partei in ihr eine «Sozialschicht« von «Berufspolitikern und Parteiangestellten«

Lieberam nach ist bei der Linkspartei nur das zu beobachten, „was zögerlich mit der SPD und dann zielstrebig unter den Bedingungen des Parteienstaates mit der PDS geschehen war: einem erfolgreichen Anlauf folgt eine existentielle Krise, die ihre wichtigste Ursache in einer Abkehr vom ursprünglichen politischen Kurs der Partei hat“.

Betreffs der Ursache verweist Ekkehard Lieberam in seiner Schrift mehrfach auf Wolfgang Abendroth, der das in der von ihm verfassten Geschichte der deutschen Sozialdemokratie aufgedeckt habe. Demnach entstehe mit dem politischen Erfolg der Partei in ihr eine «Sozialschicht« von «Berufspolitikern und Parteiangestellten«. Diese entwickle eigene Interessen, welche sich grundlegend von denen der Lohnarbeiter unterscheiden. Sie sei «Träger er Integrationsideologie« und beeinflusse in diesem Sinne ihre Mitglieder und bestimme immer mehr das politische Verhalten der Partei. Die Partei entwickle sich von einer Oppositionspartei zu einer Staatspartei. Lieberam: „Unweigerlich gerät sie in Konflikt mit ihren Wählern und vielen Parteiaktivisten.“

Im Kapitel „Der Thüringer Rechtsaußen-Putsch“ (S.23) lässt Lieberam abermals Wolfgang Abendroth mit drei interessanten Phänomenen zu Wort kommen (aus dem Interview «Ein Leben in der Arbeiterbewegung«):

« Neben denjenigen in der Partei, die für die Politik leben, treten diejenigen, die von der Partei leben. Das sind Tausende. Der Ausbau des Parteienstaates und die fortwährende Erhöhung, der finanziellen Mittel, die aus der Staatskasse in die Kassen der Partei fließen, erweitern und festigen diese Sozialschicht.

« Politische Intelligenz ist von den Vertretern dieser Sozialschicht, die Träger der Integrationsideologie und -praxis sind, nicht zu erwarten.

« Der Gegensatz zwischen den Interessen der Lohnarbeiter und den Kapitalinteressen bleibt in der SPD virulent, auch wenn sie zur systemkonformen Parteien geworden sind. Ihre Existenz als Partei hängt davon ab, dass ihre Selbstdarstellung als Vertreterin der Lohnabhängigen eine gewisse Glaubwürdigkeit behält.

Haben wir dies verinnerlicht, sollten wir uns Folgendes sozusagen auf der Zunge zergehen lassen:

Der Autor schreibt (S.38): „Die Linkspartei ist noch mehr als die PDS das Sprungbrett für eine berufliche Karriere:

„Etwa 2300 Abgeordnete, Partei,- Parlaments- und Stiftungsmitarbeiter leben heute von der Partei. Dazu kommen noch einige hundert, die als Beamte ihre Anstellung im Staat der Partei verdanken (Parteienstaat). Von den 44 Mitgliedern im Parteivorstand sind gut 70 Prozent Berufspolitiker; auf dem Leipziger Parteitag im Juni 2018 waren es 40 Prozent der Delegierten.“

Dazu kommen noch staatliche Zuwendungen an Mitteln für Wahlen.

Ist der neue Anlauf zu einer sozialistische Partei sinnvoll?

Der Autor betrachtet den neuen Anlauf zu einer sozialistischen Partei mit Massenanhang nur dann als sinnvoll, wenn diese ein Parteienkonzept vorsieht, das dem Integrationsdruck des parlamentarischen Systems zu widerstehen vermag. Er gibt zu bedenken: „Ohne eine marxistisch orientierte Programmatik und Politik wird das nichts.“ (S.13)

Wie aber eine Herausbildung einer «Sozialschicht« von Berufspolitiker zu verhindern wäre („wie die Begrenzung von Gehältern auf das Maß eines Facharbeiters“), schreibt der Autor nicht. Regeln sind gut und schön. Aber man kann sie halt brechen, gebe ich hier zu bedenken, wenn die Welt sich mal wieder weiterdreht.

Allerdings empfiehlt Lieberam Erfahrungen der Partei von der Arbeit in Belgien und der KPÖ in Graz (Österreich) daraufhin genauer auszuwerten.

Ob ein neuer Anlauf – anhand der wenig Hoffnung machenden – bisherigen Bemühungen und Drehungen der Linkspartei und mit (Rück-)Blick auf den schlimmen Holzweg der Grünen überhaupt lohnenswert bzw. zielführend ist betreffs einer Verwirklichung linker Politik ist bleibt äußerst fraglich.

Friedrich Wolff 2020: «Aber sind wir noch eine sozialistische Partei?

Schon 2020, lesen wir in dem Heft, habe Friedrich Wolff in der gesellschaftlichen Debatte der Linken angemerkt: «Aber sind wir noch eine sozialistische Partei? Nach unserem Programm sind wir das, unserer Tagespolitik merkt man es jedoch nicht an. Das ist unser Problem. Der Wähler erkennt unseren sozialistischen Charakter nicht mehr. Wir haben ihn versteckt. Das führt auf die Dauer zu unserem Untergang.« (S.26)

Wir schreiben unterdessen das Jahr 2023. Ist der sozialistische Charakter wieder aus dem Versteck heraus geholt worden?

Grund für Optimismus sieht Ekkehard Lieberam indes nicht.

Und dass, obwohl der globale Kapitalismus einer sich verschärfenden Krise der Kapitalverwertung gegenübersieht, der den globalen Kapitalismus in eine multiple politische Krise stürtzte. Weder hätten linke Politik noch linke Parteien davon profitieren können.

Außer die belgische Partei van der Arbeit. „Ganz im Gegenteil“: Die Linken zeichneten sich weltweit hauptsächlich durch «Zerfall und Konfusion» (Domenico Losurdo) aus. (S.47)

Im in der Broschüre veröffentlichten Einführungsstatement auf der Hamburger Strategie-Konferenz der Linken am 22.6.2019 schließt Lieberam so: „Wir dürfen uns nicht scheuen, die Regierenden immer wieder im Klartext anzuklagen: der Kumpanei mit Rüstungskonzernen, Kriegspolitikern und Kapitalinteressen. Hin und wieder müssen wir deshalb auch wie einst August Bebel mit Nagelschuhen über das politische Parkett zu gehen.“

Meine Frage: Ist das denn zu erwarten?

Nutzung der Linkspartei als «Operationsbasis« für linke Politik

Ekkehard Lieberam hat den Anpassungsprozess der Linkspartei seit vielen Jahren genau verfolgt. Er ist sicherlich kein Traumtänzer. Dennoch plädiert er im Sinne von Wolfgang Abendroth (hinsichtlich der SPD in den 1950er Jahren) für die Nutzung der Linkspartei als «Operationsbasis« für linke Politik.

„In den ausgewählten Texten dieser hier vorliegenden Artikelsammlung“, schreibt der pad-Verlag, „weicht er aber auch nicht der Frage aus, dass die abhängig Arbeitenden im 21. Jahrhundert eine Linkspartei brauchen werden, die tatsächlich diese verdient.“ Dem ist nicht zu widersprechen. Dass sie aber eine solche bekommen werden, daran bestehen m. E. erhebliche Zweifel.

Interessant ist Broschüre allemal. Denn sie enthält wichtige Analysen der Entwicklung der Linkspartei. Was aber fangen wir nun damit an? Und: wird sie von der Linkspartei selbst rezipiert und von selbiger zum Anlass genommen, die nötigen Schritte zu unternehmen? Schließlich habe es nach der letzten Bundestagswahl, wie Ekkehard Lieberam schreibt, zwar Stellungnahmen zu den Ursachen des schlechten Abschneidens der Linkspartei seitens der beiden Parteivorsitzenden gegeben, aber es sei „ein Verharren in Allgemeinplätzen nicht zu übersehen“ gewesen.

Das derzeitige Parteiensystem wurde von den Parteien trotz früher Warnung von Richard von Weizsäcker ruiniert

Überhaupt – wenn mir die Anmerkung erlaubt ist – betrachte ich das Parteiensystem, die Parteiendemokratie als letztlich von den Parteien selbst ruiniert. Im Grunde ist es gescheitert. Der einstige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte seinerzeit bereits gewarnt;

«Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat den Einfluss der Parteien in Deutschland kritisiert. Statt „um die Lösung der Probleme zu ringen“, instrumentalisierten sie diese für ihren Machtkampf, sagte Weizsäcker der „Bild“-Zeitung«. (Quelle: Spiegel)

Dazu gehört auch die Art wie die Kandidatenlisten in Hinterzimmern oder wo und wie auch immer ausgekungelt werden. Dies halte ich für mehr als fragwürdig. Dabei macht auch die Linkspartei leider keine Ausnahme.

Es sollte – wie es etwa es der frühere SPD-Bundesabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund (inzwischen aus der SPD ausgetreten) sieht – mehr Direkte Demokratie und Bürgerräte geben. Anbei zu Marco Bülow hier und hier.

Auch sollten, so finde ich jedenfalls, Abgeordnete in Abständen gegenüber ihren Wählern Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen müssen. Und wenn sie darin offensichtlich versagt haben, sollten die Wähler sie abberufen können. So etwas ist meines Wissens sogar in der Republik Kuba möglich.

Ekkehard Lieberam
„Sisyphos läßt grüßen“
Die Leiden der Linken und das Leiden an der LINKEN
Bestellanschrift: pad-verlag@gmx.net, 6,00 Euro

Redaktion Thomas Kubo & Peter Rath-Sangkhakorn

Lebenslauf von Ekkehard Lieberam

Ekkehard Lieberam, 1937 geboren in Braunschweig, Mitglied der SJD-Die Falken und der SPD. Im März 1957 wegen Einberufung zur Bundeswehr Übersiedlung in die DDR. Bis 1962 Studium der Rechtswissenschaft in Leipzig. 1971 dort Dozent für Verfassungsrecht der BRD. 1978 Akademieprofessor für Staatstheorie und Verfassungsrecht in Berlin. Ab 1987 Hochschullehrer am Institut für Internationale Studien der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1991-1999 Mitarbeiter bzw. Referent der PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag.

Quelle: Verlag / vlb

Anbei: Ein Interview, welches Peter Rath-Sangkhakorn 2016 mit Ekkehard Lieberam führte: „Was ist denn eigentlich bei der Linkspartei los“

Beitragsfoto: Carsten Weber  / pixelio.de

„Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung“ von Patrik Baab – Rezension

Schaue ich mir den deutschen Journalismus an, so überkommt mich Trauer, Abscheu und bisweilen auch schon einmal kaum zu bändigende Wut. Ich bin schwer enttäuscht von der sogenannten „Vierten Macht“. Der Journalismus, der ja demnach die Mächtigen, die Regierenden kontrollieren und wo notwendig, entsprechend hart kritisieren soll. Die Journalisten, sollen ebenfalls nach der Definition von vierter Macht, Wachhunde, watchdogs, im Dienste der Demokratie sein. Sollen. Sollten! Aber sind sie es denn (noch)? Klar: die berühmten Ausnahmen bestätigen die Regel.

In meinen Augen ist der Journalismus – mit hartem Einschnitt festzumachen mindestens ab der „Ukraine-Krise“ mit Maidan-Putsch und daraus resultierender Sezession der Krim, welche eben keine Annexion war (nach Strafrechtler Reinhard Merkel; im hier zu besprechendem Buch „Recherche“ uch S.164) – zwar auf den Hund gekommen. Aber statt watchdogs zu sein, sind zu viele Journalisten zu bloßen Bettvorlegern auf dem Parkett der Herrschenden (und zwar sowohl der wirklich Herrschenden wie der unter ihnen Regierenden) mit eingekniffenem Schwänzen und Maulkörben (die sie sich nicht selten selbst angelegt haben, um in den Redaktionen nicht anzuecken) mutiert.

Doch schlimmer geht immer: In der Corona-Krise haben sich die Mainstream-Medien gar von selbst (noch) gleich(er) ausgerichtet und machen statt kritischen Journalismus Propaganda, sozusagen als Regierungssprecher. Unsäglich. Ja, ja, die Ausnahmen – ich weiß schon! Man muss sie mit dem Elektronenmikroskop suchen.

Vierte Macht“?

Apropos „Vierte Macht“! Im Interview der NachDenkSeiten zum hier zu besprechenden Buch „Recherchieren“ von Patrik Baab merkt dieser an: Wer die Chefebene erreicht hat, teilt häufig Umfeld und Lebenslage mit den Machteliten aus Politik und Wirtschaft. So bilden sich ähnliche Haltungen und Ansichten heraus. Im Ergebnis verengt sich der Diskurs tendenziell auf die Interessen der Machteliten und blendet die Interessen der abhängig Beschäftigten aus. So werden Journalisten zu affirmativen Intellektuellen, wie der italienische Philosoph Antonio Gramsci sagte, die den Interessen der Mächtigen folgen. Das Gerede von der „vierten Gewalt“ geht deshalb an der Sache vorbei. Journalisten sind Lohnschreiber, und leider manchmal Hofnarren unter Wegfall der Höfe. Das sage ich nicht von oben herab, sondern als ein Mensch, der seit 45 Jahren Teil des Geschehens ist.“

Die Gründe für den Niedergang des Journalismus indes sind vielfältig

Das Internet mit kostenlosen Inhalten ist nur einer dieser Gründe. Niemand will mehr so recht dafür zahlen. Man reagierte (spät) mit Paywalls. Die aber lehnen Viele ab, andere können oder wollen sie sich diese zu bezahlenden Inhalte nicht leisten. Das Annoncengeschäft bricht vielfach weg. Redaktionen werden aus Kostengründen ausgedünnt und, und und.

Tatsächlich, macht Patrik Baab klar, sind manche Probleme im Journalismus nicht neu. Darauf habe bereits Georg Lucács 1923 hingewiesen (S.216). So gelange mit der Ausbeutung in Redaktionen und der Verengung des Debattenraums im Wesentlichen jener Prozess der Verdinglichung auf eine Stufe. Die bestehe im Kern darin, dass auch Journalisten die Ergebnisse ihrer Recherche verkaufen müssen. Baab: „Was Lukács damit meint, dazu sagt der Volksmund schlicht: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!‘. Ein paar Jahre später beschrieb es der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair so: ‚Es ist schwierig, einen Mann dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht!’“

Dass beschreibe präzise das Problem, „dass ausgerechnet Journalisten, die sich in einem Anfall von Hybris gerne als ‚Vierte Gewalt‘ bezeichnen, äußerst beleidigt auf jede Art von Kritik reagieren. Weiter: „Entgegen dieser Selbstidealisierung üben sie meist keine wirksame Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Machtzentren aus. Vielmehr wirken sie durch ihre Nachrichtenselektion und -interpretation als Torwächter bei der Formulierung des öffentlichen Diskussionsraumes.“

Baab verweist auf Didier Eribon. Der „beschreibt diesen Verrat der Intellektuellen, an dem Journalisten entscheidenden Anteil hatten. Sie begannen, den Rückbau des Wohlfahrtsstaates zu legitimieren, schrieben sich das Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, redeten Rentenkürzungen und der Agenda 2010 das Wort. Sie sprachen nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der herrschenden Machteliten.“ (S.218/217)

Was wir – möchte ich anmerken – nun auch (wieder) bereits zwei quälend lange Jahre in der Corona-Krise erleben.

Und die Journalisten im Speziellen? Das ist auch eine Geschichte für sich. Sie stammen oft aus Akademiker- oder sonst wie gut situierten Haushalten. Sie wohnen in Stadtvierteln, in welchen Menschen mit gleichem Hintergrund bevorzugt leben. Sie besuchen die gleichen Szenekneipen. Die rezipieren die gleichen Medien. Übrigens sagt dies der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow aus Dortmund, selbst gelernter Journalist auch von den über die Jahre frisch in den Bundestag gewählten Abgeordneten: „Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung.

Diese Bundestagsabgeordneten bekämen nichts von gravierenden sozialen Problemen mit. In Berlin lebe man unter der Reichstagskuppel und somit in einer Blase. Marco Bülow: „Die Journalisten mit denn man es zu tun hat, die Lobbyisten mit denen man zu tun hat und die Kollegen mit denen man zu tun hat, die haben alle ein sehr gutes Auskommen und ihr Umfeld auch.“ Weshalb deren Fokus weg von den sozialen Problemen sei.“ (Dazu hier.)

Patrik Baabs Buch schreibt in seinem Buch (S.204): „Die Ähnlichkeit im Habitus zwischen dem journalistischen Milieu und denn Eliten sorgen für Nähe und Sympathie. Wer exklusive Informationen bekommen will, vermeidet Nestbeschmutzung.“ Und Baab zitiert Uwe Krüger: „Die Eliten suchen sich ihre Journalisten aus.“

Wobei hier meinerseits anzumerken ist: Das Gros der Journalisten heute dürfte nicht zu denen von Bülow erwähnten gehören, die „ein sehr gutes Auskommen“ haben. Eher ist das Gegenteil der Fall. Nicht wenige gehören quasi zum Prekariat.

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ (Karl Marx)

Von Journalisten – vor allem wenn sie Anfänger im Beruf sind – ist wohl kaum zu erwarten, dass sie heiße Eisen anfassen. Erst recht nicht von denen, die bei ihrem Redaktionsleiter schon einmal eine „heiße Geschichte“ versucht haben unter und damit ins Blatt zu bringen. Und der Redakteur ihm geraten hat: „Das schreibst du besser nicht.“ Beim nächsten Mal dürfte der voller Tatendrang und hohem Engagement angetretene Journalist so ein Thema „freiwillig“ auslassen. Er will ja vielleicht auch einmal eine Familie gründen, oder ein Häuschen im Grünen bauen – oder er ist schon dabei es abzuzahlen. Dann lieber spuren …

So werden manche mit hehren Zielen im Kopf gestartete, weiter aufzustreben gedenkende Journalist*innen womöglich eines Tages früher oder später auch lernen, was olle Karl Marx bereits zu Papier gebracht hatte: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

Es dürfte zumindest nicht von Nachteil sein, wenn kommende Journalist*innen den selben Stallgeruch haben, wie die leitenden Redakteure. Anders bei Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“), dem dieser nämliche Stallgeruch fehlte und er sich infolgedessen als Journalist durchbeißen musste.

Recherchieren in Zeiten der Gegenaufklärung“

Im Kapitel „Recherchieren in Zeiten der Gegenaufklärung“ schreibt Baab (S.203) auf den Elitenforscher Michael Hartmann verweisend, dass dieser darauf aufmerksam macht, „dass im Journalismus die eigene Lebenswirklichkeit und die Herkunft eine entscheidende Rolle spielen. Die Spitzenvertreter der privaten Medienkonzerne stellen mit fast 77 Prozent Bürger- und Großbürgerkinder nach den Topmanagern der Wirtschaft die sozial zweitexlusivste aller Eliten. Daneben sorgen die drei großen Journalistenschulen in Hamburg, München und Köln – die zentrale Karriere-Maschinerie der Medien – für strikte soziale Selektion. Hartmann zitiert ein Studie, der zufolge sechzig Prozent ihrer Journalistenschüler aus den höchsten von vier Herkunftsgruppen (Akademiker in leitender Position) und keine Einziger aus der niedrigsten (Arbeiter sowie untere und mittlere Angestellte und Beamte) stammen. Zur Welt der Normalbevölkerung fehlt diesen Medienvertretern einfach der Draht:

>>Das entscheidende Problem in der Berichterstattung sind deshalb nicht eine bewusst verfälschte Darstellung oder böser Wille, sondern der durch die eigene Situation und Herkunft verengte Blickwinkel.<<“

So entsteht eine verdeckte privatisierte Tyrannei, die dafür sorgt, dass Abweichler ausgegrenzt, gemobbt, mit arbeitsrechtlichen Verfahren überzogen oder von ihren Arbeitgebern gefeuert werden – nicht, weil sie gegen Gesetze verstoßen, sondern weil sie kontroverse Überzeugungen geäußert haben.“

Der Autor schreibt (S.218): „Der Debattenraum wird so zum Exekutionsfeld politischer Säuberungen. Dies lässt in den Institutionen ein Klima der Angst und Selbstzensur wachen, welches keines direkten staatlichen Eingriffs mehr bedarf.“ Und man darf beim nächsten Satz durchaus auch an erschreckende Vorgänge in Corona-Zeiten (Beispiel You Tube: Löschungen kritischer Inhalt und sogar ganzer Kanäle!) denken: „So entsteht eine verdeckte privatisierte Tyrannei, die dafür sorgt, dass Abweichler ausgegrenzt, gemobbt, mit arbeitsrechtlichen Verfahren überzogen oder von ihren Arbeitgebern gefeuert werden – nicht, weil sie gegen Gesetze verstoßen, sondern weil sie kontroverse Überzeugungen geäußert haben.“

Die aufklärende Vernunft bilde sich zurück zur rein instrumentellen, so Baab.

„Das Ergebnis dieser Identitätspolitik ist das weit verbreitete Mittelmaß, das heute in der Medienlandschaft zu beobachten ist. Es deckt sich mit den politischen Vorstellungen einer vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelklasse, die sich an ihre Identifikation mit der Oberschicht klammert. Allerdings sind es die Denkverbote und ideologischen Trümmer des Neoliberalismus, welche das geistige Klima prägen.“ (S.219)

Baab zitiert den Kieler Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld:

„Kurz: Wir leben in einer Phase der Gegenaufklärung, wie es sie in diesem räumlichen und zeitlichen Umfang, in dieser fast alle gesellschaftlichen Lebensbereiche tiefgehend umfassenden und in dieser unsere sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen zerstörenden Weise seit den Zeiten der Aufklärung noch nicht gegeben hat – eine Phase der Gegenaufklärung, die es perfiderweise sogar geschafft hat, sich als Aufklärung zu tarnen.“ (Leseempfehlung Rainer Mausfeld hier im Blog)

Und Baab wiederum gibt zu bedenken: „Die Tendenz vieler Journalisten, ja der ganzen Branche, zur Selbstgleichrichtung hat fundamentale Bedeutung für den Fortbestand der Demokratie, lehrt doch die historische Erfahrung, dass die Presse als ‚Sturmgeschütz der Demokratie‘ meist wenig taugt.“ Das zielt auf das Versagen in der Weimarer Republik vorm Heraufziehen des Nationalsozialismus. Baab: „der – linksradikaler Tendenzen unverdächtige – Historiker Karl Dietrich Bracher attestiert dem Großteil der Intellektuellen bei der Zerschlagung der Weimarer Republik und der Machtübergabe an die Hitler-Diktatur jedenfalls nicht nur eine Art kampflose Kapitulation, sondern vielmehr tatkräftige Mitwirkung.“

Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung

Der Status quo des Journalismus bietet kein Grund zum Jubeln. Im Gegenteil. Doch soll man resignieren, ihn noch weiter in den Abgrund abrutschen lassen? Aber nein doch! Zum Journalismus gehören gut ausgebildete Journalist*innen, welche ihr Handwerk verstehen. Von Patrik Baab ist soeben ein Buch im Westend-Verlag erschienen, das den Titel „Recherchieren“, Untertitel „Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung“ trägt.

„Dieses Buch ist den Gedanken der journalistischen Aufklärung verpflichtet. Zu ihren Kernaufgaben zählen die Kritik und Kontrolle politischer Macht. In der Praxis jedoch wird die Presse häufig zum Apologeten der Mächtigen und zum publizistischen Verteidiger des Status quo. Statt Macht- und Gewaltverhältnisse aufzuklären, vernebelt sie oft die Interessen von Machteliten und wird so zum Helfer der Gegenaufklärung. Patrik Baab zeigt, wie Kritik und Kontrolle von Eliten wieder in den Mittelpunkt der Recherche rücken können. Baab bietet einen Werkzeugkasten mit Instrumenten der Aufklärung.“ Quelle: Westend-Verlag

Das Buch trägt heutigen Gegebenheiten Rechnung

Zu begrüßen ist, dass das Buch den heutigen Gegebenheiten Rechnung trägt. Es wendet sich eben nicht explizit nur an Journalisten. Schließlich verschwimmen inzwischen eh die Grenzen wer Journalist ist und wer nicht. Und Journalist ist keine geschützte Berufsbezeichnung. So richtet sich das Buch ausdrücklich auch an Blogger und Internet-Aktivisten, aber gleichermaßen an Studentinnen und Mitarbeiter von NGO’s oder Bürgerinitiativen und somit ebenso an alle, die Medien-Berichterstattung und Informationsgebung kritisch zu hinterfragen gedenken.

Das Buch bietet dazu eine Reihe von Werkzeugen mit einem Arsenal von Fragen, die dabei helfen, herauszufinden, wes Geistes Kind die Autoren von Texten sind und welche Fragen an Mächtige gerichtet werden sollten.

Recherchieren heißt aufklären“

„Recherchieren heißt aufklären“ ist das erste Kapitel (S.9) überschrieben. Nur wo in den Medien wird noch wirklich recherchiert? Recherche kostet Geld und bindet Ressourcen. Weshalb viele Journalisten von einander abschreiben. Oft muss eine Story aus Aktualitätsgründen auch schnell rausgehauen werden. Sie muss Klicks generieren. Man muss vor der Konkurrenz damit draußen sein.

kantwasistaufklaerungIn puncto Aufklärung verweist Baab verständlicherweise auf Immanuel Kants Gedanken dazu. Jedoch ihn ausführlicher zitierend als das für gewöhnlich in den meisten Publikationen geschieht.

Menschen, die sich ernsthaft und ehrlichen Herzens für berufen erachten, den Journalismus als ihr künftiges Arbeitsfeld zu wählen, kommen m.E. an diesem Buch nicht vorbei. Ohnehin sollte Baabs Buch „Recherche“ in keiner Journalistenschule fehlen. Akribisch – dabei von eigenen Erfahrungen profitierend und wohl überlegt hat Patrik Baab den journalistischen Werkzeugkasten (S.24) Fach für Fach mit Werkzeugen bestückt, die für die Ausübung des Berufes unentbehrlich sind.

Klappt man den Werkzeugkasten auf und besieht sich die zutage tretenden einzelnen Fächer mit seinen auf den Seiten 24 bis 178 gründlich beschriebenen Werkzeugen darin, für den Beruf des Journalisten gewappnet. Selbstredend ist dabei zu bedenken. Übung macht den Meister. Und die dabei erlangte Erfahrung sorgt mit der Zeit für Sicherheit und Verbesserung des Selbstbewusstseins bei der Ausführung der Tätigkeit. Ganz oben im Werkzeugkasten liegen die sieben wichtigsten Fragen, die Journalisten immer zu berücksichtigen haben (S.30): Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Warum? Woher die Meldung?

Es gibt Hilfestellungen, wie Themen zu finden sind, wie Quellen erschlossen und wie sie geprüft werden sollten (immer nach zwei voneinander unabhängigen Quellen suchen!) und die dann natürlich auch überprüft gehören. Und unerlässlich auch der Quellenschutz! Nicht zu vernachlässigen klug, auf Vorsicht bedachter Umgang etwa mit Whistleblowern und somit deren Schutz, von denen Material angeboten wird. Ein Journalist, der da gravierende Fehler macht, bekommt womöglich nie wieder dergleichen angeboten.

Ebenso gut zu bedenken ist dabei, was man zu Treffen mit Informanten mitnimmt und was nicht. Wir wissen: Smartphones können abgehört oder geortet werden!

Wie gehe ich mit Daten um? Wo speichere ich sie?

Ebenfalls, empfiehlt Baab, sollte man sich davor hüten betreffs eines Beitrags, lediglich mit Pressestellen – die ja nun einmal naturgemäß interessengeleitet sind – zu telefonieren. Oder lediglich vor dem Bildschirm sitzen, um zu Googeln. Der Autor weißt darauf hin, dass etwa Google unter Umständen mehr über uns erfährt, als wir von irgend etwas zu erfahren gedenken. Schließlich sind Daten das neue Gold.

Überhaupt gelte es immer und überall Augen und Ohren offenzuhalten und mit Leuten zu sprechen, persönliche Kontakte zu ihnen aufzubauen. Immer und überall Fragen stellen. Vor Ort sein! Vermeintlich fertige Beiträge seien immer nochmals zu überprüfen. Habe ich etwas vergessen? Oder könnte da und dort etwas noch verständlicher formuliert sein?

Des Weiteren wird auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit hingewiesen von Vorgängen Memos zu fertigen oder wie Recherchen zu dokumentieren sind. Dazu gehört freilich auch was zwecks Publikation von Recherchen zu wissen ist. Und es wird darauf hingewiesen, die Reaktionen auszuwerten.

Sehr genau wird auch das Thema Interview behandelt. Wie bereite ich mich vor? Welches Equipment (Kamera, Aufnahmegerät etc.) ist vonnöten? Nicht unwichtig: Welche Kleidung ist für dieses oder jenes Interview angemessen? Und was ist bei der Interviewführung zu beachten? Wie reagiert man auf unterschiedliche Charaktere der Interviewpartner und deren etwaigen Reaktionen während des Interviews?

Sehr praktisch: Zu allen Werkzeugen und Themen gibt es im Anschluss jeweils Kästen, in welchen noch einmal alles Wichtige stichpunktartig zusammengefasst ist. Sucht man etwas, kann immer rasch nachgeschlagen und das Wichtigste mit einem Blick erfasst werden.

Ein wichtiges Buch in trüben Zeiten

Ein wichtiges Buch in trüben Zeiten, welche die Demokratie auf schwere Proben stellt. Gerade aber da wäre ein funktionierender, wachsamer Journalismus dringender denn je gefragt. Patrik Baab (S.223): „Danach wäre es die Aufgabe von Recherche, die Falschheit der Welt zu erkennen und auszusprechen; die dafür Verantwortlichen zu nennen und ihre sozialen Strukturen zu destabilisieren, ihren Verschleierungscharakter offenzulegen. Damit hat Recherche die Aufgabe, in Alternativen zur bestehenden Ordnung zu denken, sie als Menschen gemacht, erkennbaren Interessen folgend und von Menschen veränderbar darzustellen.“

Recherche, so Baab, könne ihrem Wesen nach als ein oppositionelles Konzept gelten. Recherche bedeute den Debattenraum (wieder!) zu erweitern und sich nicht auf Themen festzulegen, die rechte und neoliberale Think-Tanks setzen wollen, sondern die Grenzen des Sagbaren zu transformieren.

Dick unterstrichen gehört: „Deshalb wäre es an der Zeit , mit einem Perspektivwechsel auch den eigenen Standpunkt zu verändern. Tendenziell bedroht von sozialem Abstieg und Prekarisierung, wäre der Platz des Rechercheurs eigentlich an der Seite jener, die ebenfalls Prekarisierung und sozialen Abstiegsängsten ausgesetzt sind. Nicht an der Seite der Machteliten, sondern an der Seite der abhängig Beschäftigten, vom Klimawandel bedrohten, von Deklassierung betroffenen. (S.224) Nicht an der Seite derjenigen, die journalistische Arbeit entwerten und enteignen, sondern an der Seite derer, die in den Risikokaskaden zulasten des Faktors Arbeit etwas entgegensetzen wollen.“

Ein hochwichtiges Buch, das aktueller und in aller notwendigen Deutlichkeit nicht sagen könnte, was ist. Und darüber hinaus: Was geschehen müsste. Nur, wie kann dieser sich daraus ergebende, unbedingt nötige große Ruck durch den Journalismus und freilich – Roman Herzog, Gott hab ihn selig, der dies einst postulierte: darüber hinaus ein Ruck durch Deutschland ins Werk gesetzt werden?

Diesbezüglich muss ich aber dann doch etwas Wasser in den Wein gießen – was sich aber wohlgemerkt nicht auf das hervorragende Buch bezieht: Unsere Gesellschaft ist längst auf dem Pfad der Refeudalisierung (der Begriff „Refeudalisierung“ wird auf Jürgen Habermas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas [1962]1990) zurückgeführt) und im weiteren Verlauf auf dem Holzweg des Neoliberalismus, respektive Marktradikalismus gebracht worden. Die Regierenden – bitter: am Schlimmsten die Sozialdemokraten mit ihrem Komplizen den Grünen unter Bundeskanzler Schröder, haben mit dem Sozialabbau und der Agenda 2010 die verheerendsten gesellschaftlichen Einschläge zu verantworten. Der Journalismus hat die Politik des Sozialabbaus und der Privatisierungen im Grunde unkritisch mitgetragen und sogar noch forciert.

Können wir da – ohne absolut schwarzmalen zu wollen – an einen Wandel glauben? Immerhin könnte uns noch die Umsetzung der teils gruseligen Vorstellungen eines Klaus Schwab vom „Great Reset“, die längst vom World Economic Forum ausgekocht sein dürften, das der Journalist Paul Schreyer „Politbüro des Kapitalismus“ nennt, drohen. Überdies, wie der Finanzexperte und Autor Ernst Wolff seit langem befürchtet, stehe uns ein schlimmerer Finanzcrash als 2007/2008 bevor.

Fazit

Wie dem auch sei, das hier ausdrücklich empfohlene Buch von Patrik Baab sollten all jene zuallererst lesen, die Journalisten werden wollen.

Weshalb es m.E. unbedingt in die Regale der Bibliotheken von Journalistenschulen gehört. Vielleicht neben das ebenfalls sehr empfehlenswerte Buch „Medienanalyse. Ein kritisches Lehrbuch“ von Sabine Schiffer. Ebenfalls im Westend Verlag erschienen. Auch Bloggern und Aktivisten von NGO’s, denen es bei der Recherche dienlich sein kann, ist „Recherchieren“ von Patrik Baab empfohlen. Aber auch Bürger*innen, Medienkonsumenten, den nebenbei zu anzuraten ist, mehrere, unterschiedliche Medien zu rezipieren – sofern sie die Zeit dazu haben, um sich ein besseres Bild zu machen.

Aber auch bereits, vielleicht schon seit Jahren, als Journalist*innen tätige Menschen, sollten durchaus einmal dieses Buch bemühen. Nicht zuletzt, um einmal zu überprüfen, ob man noch seinen einstigen Vorstellungen vom Beruf verpflichtet ist, oder hier und da doch einmal vom Wege abgekommen ist.

Patrik Baab: Recherche – ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung . Westend Verlag. 31. Januar 2022. 20 Euro, 256 Seiten.

Zum Autor

Patrik Baab ist Politikwissenschaftler und Journalist und hat u.a. an den ARD-Filmen „Der Tod des Uwe Barschel – Skandal ohne Ende“ (2007), „Der Tod des Uwe Barschel – Die ganze Geschichte“ (2008) sowie „Uwe Barschel – Das Rätsel“ (2016) mitgewirkt. Er ist Lehrbeauftragter für praktischen Journalismus an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin.

Patrik Baab. Foto via Westend Verlag

„Lobbyland“ von Marco Bülow – Rezension

Ich fürchte, unsere Demokratie ist in einer ziemlichen Krise. Und das schon seit längerem. Dass kann man erkennen, wenn man genau hineinsieht und hineinhorcht in unser Land. Wer das nicht sieht, profitiert womöglich von diesem Zustand. Oder ist blind und taub zugleich. Das Parteiensystem ist einigermaßen verkommen. Dass Parteien sich zuweilen das Land sozusagen unter den Nagel reißen, als gehöre es ihnen, hat schon sehr früh der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker kritisiert. Die Parteien seien „machtversessen“, beschied der Politiker ihnen. Hat sich seither etwas verändert? Ja, muss man glasklar konstatieren: Es ist noch viel schlimmer geworden! Heute tritt ja nicht einmal mehr ein Minister zurück, der nachprüfbar teure Fehler gemacht hat. Ja, Sie haben richtig gedacht: gemeint ist unseren Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU)! Aber die Liste bzw. die Latte von Verfehlungen von Politikern ist lang. Die jüngste Schweinerei ist die Maskenaffäre. Kritik – so sie sich denn überhaupt aus Presse und via anderer Medien erhebt – läuft ins Leere oder ist lediglich ein laues Lüftchen. Denn auch der Journalismus – Ausnahmen bestätigen die Regel – ist seit Jahren in bedenklich-grässlichem Zustand. Aber dies ist ein anderes Thema.

Ist BRD womöglich inzwischen zu einer Bananenrepublik verkommen? Oder nur auf dem Weg dahin? Zumindest müffelt es immer öfters faulig bananig. Wer ein Näschen dafür, der rieche. Neulich brabbelte jemand, Deutschland sei mindestens so korrupt wie Gambia. Nur ginge hierzulande freilich alles vornehmer, irgendwie galanter zu. Na ja, ich will Gambia nicht zu nahe treten…

Demokratie?

Mit der Demokratie ist es so eine Sache. Nehmen wir deren Definition, wonach diese Form Volksherrschaft bedeute, dann kommen wir schon ins Grübeln. Haben wir eine Demokratie? Hatten wir je eine? Fassadendemokratie ist da wohl eher die passendere Bezeichnung. Fakt ist: Die Wirtschaft hat mit der Demokratie ohnehin nicht viel am Hut. Nicht umsonst verweist Rainer Mausfeld auf Noam Chomsky: „Der Begriff kapitalistische Demokratie ist ein Widerspruch in sich. …. das ist eine Zwangsverbindung – beides passt nicht zusammen.“

Freilich weiß die Wirtschaft aber auf die Demokratie, auf die gewählten Regierenden sowie die Volksvertreter zu ihrem Nutzen Einfluss zu nehmen.

Der frühere SPD-Politiker Marco Bülow meldet sich mit neuem Buch zu Wort

Marco Bülow (geboren 1971), der frühere SPD-Bundesabgeordnete aus Dortmund, der nachdem er enttäuscht über die Entwicklung seiner Partei aus der SPD ausgetreten ist, hat sich wieder mit einem neuen Buch zu Wort gemeldet. Im September 2002 war er – in einem Brennpunktstadtteil aufgewachsen – das erste Mal mit sensationellen 57,8 Prozent der Wähler in seinem Dortmunder Wahlkreis direkt in den Bundestag gewählt geworden. Ende 2018 hatte Bülow nach 26 Jahren die SPD verlassen.

Seit seinem Austritt sitzt Bülow als fraktionsloser Abgeordneter im Parlament. Inzwischen er Mitglied der Partei Die PARTEI. Sein Buch darüber trägt den Titel: „Lobbyland“. Untertitel: „ Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“.

Gewidmet hat er es seiner Tochter:

„Für meine Tochter Kaya und die nachfolgende Generation:

Wir sind alle Vorfahren der Zukunft“

Das Vorwort zum Buch hat Bülows Parteikollege, der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Martin Sonneborn geschrieben:

(…)“Lobbyismus und Korruption. Abgeordnete, die sich bei ihrer Tätigkeit im Bundestag (oder im EU-Parlament) nicht mehr an den Interessen der Bürger orientieren, sondern an denen der Finanz- und Großindustrie, an denen der spendenfreudigen Firmen in ihrem Wahlkreis. Mitglieder des Bundestags, die in erster Linie ihre eigenen Nebenverdienste im Blick haben (wenn nicht in einigen Fällen sogar eher das Mandat die Nebentätigkeit bedeutet), das eigene Wohl anstelle des Gemeinwohls. Fraktionszwang. Zu viele Politiker lassen sich Schneid und Überzeugung abkaufen, in dem Moment, in dem sie in den Bundestag einziehen. Eigentlich nur ihrem Gewissen verpflichtet, unterwerfen sie sich aus Bequemlichkeit oder Karrieregründen einer Disziplin, die in unserer Verfassung so nicht vorgesehen ist. Intransparenz. Eben erst hat die Groko Haram zum wiederholten Male die Einführung eines »exekutiven Fußabdrucks« verhindert, den Organisationen wie Lobbycontrol schon lange fordern und der aufzeigen soll, welche Interessengruppen an der Verfassung von Gesetzestexten beteiligt sind.

Als Marco Bülow Kontakt zu uns aufnahm, habe ich mich sehr gefreut. Ich kannte ihn als ehrlichen, empathischen und empörten Kämpfer gegen Lobbyismus, Korruption, Fraktionsdisziplin und Intransparenz. Außerdem als unbestechlichen Kopf, der früh die Gefährlichkeit des Klimawandels und der katastrophalen Ungleichverteilung des Reichtums in Deutschland erkannt hat und politisch dagegen angeht. Ich habe Politikwissenschaften studiert, schaue mir in der Süddeutschen und der FAZ nicht nur die Bilder an und interessiere mich für die politischen Verhältnisse, in denen wir leben. Trotzdem kenne ich viele Zusammenhänge nicht. Wie konnten unter einer rot-grünen Regierung die asozialen Hartz-IV-Gesetze durch den Bundestag gehen? Wie kam es zur ersten deutschen Beteiligung an einem Krieg, nachdem wir den letzten doch recht deutlich verloren hatten? Gibt es wirklich eine realistische Chance auf eine rot-rot-grüne Regierung in Deutschland? Wer macht in diesem Lande eigentlich die Politik? Nach fast 20 Jahren im Bundestag kann Bülow diese Fragen beantworten.“

Und Sonneborn schließt sein Vorwort mit diesem Satz, dem man ohne Weiteres zustimmen kann: „Wenn es in der SPD mehr Menschen wie Marco Bülow gäbe, hätten wir Die PARTEI niemals gründen müssen.“

Der Prolog (S.15) hebt mit »Monopoly, Monopoly, wir sind nur die Randfiguren in einem schlechten Spiel …« Klaus Lage, Text Diether Dehm an.

DEM DEUTSCHEN VOLKE“ steht über dem Hauptportal des Reichstagsgebäudes. Die Glaskuppel verheißt Transparenz – Marco Bülow befindet nüchtern: „Eine Illusion. Viel Fassade und viel Schein. Es ist eine Glocke, eine abgeschottete Welt“

„ReichsTag

»DEM DEUTSCHEN VOLKE« – steht auf einer Länge von 16 Metern in großen Lettern über dem Hauptportal des Reichstagsgebäudes. Schon 1916 wurde diese Inschrift von der Berliner Bronzegießerei S. A. Loevy, einem jüdischen Familienunternehmen, hergestellt und angebracht. Seit 1999 krönt den Bundestag eine große gläserne Kuppel. 3000 Quadratmeter Glas, als Symbol für Transparenz und Offenheit. In der Kuppel stehend blickt die Bevölkerung ihren Abgeordneten symbolisch über die Schulter. Es gibt ein Gefühl von Nähe und Kontrolle. Direkt gegenüber: das Kanzleramt und drum herum ein Bienenschwarm von Menschen. Die Politik ist mittendrin. Eine Illusion. Viel Fassade und viel Schein. Es ist eine Glocke, eine abgeschottete Welt. Die Bevölkerung ist nur zu Besuch, so wie man eine entfernte Verwandte mal zum Kaffee einlädt. Der Widerspruch zwischen Darstellung und Handlung in der herrschenden Politik wächst. Einige ihrer Regeln und Strukturen sind so absurd, dass es mich überrascht, wie der Schein der Normalität überhaupt so lange gewahrt werden konnte. Risse in der Fassade gibt es. Einige Initiativen, einzelne Politikerinnen und Journalistinnen blicken immer wieder hinter die Kulissen und decken wahre Zustände auf. Aber ernsthafte Argumente und Kritik beeindrucken unter der Kuppel fast niemanden. Die Interessen der zukünftigen Generationen und der weniger privilegierten Menschen spielen hier im hohen Haus und in den Ministerien eine immer unwichtigere Rolle.“

Marco Bülow: „Die Bevölkerung ist meine Chefin“

Um so quasi das Kapitel „P-Day“ einzuleitend, schreibt Bülow:

„Können Satire, zugespitzte Darstellung, gnadenlose Aufklärung und vor allem Öffentlichkeit im Zusammenspiel die Fassade einreißen und das Fundament freilegen?“

Gelingt es mit seinem Eintritt in Die PARTEI an einem grauen Novembertag 2020 vor dem Reichstag?

„Die Bevölkerung ist mein Chef“, schrieb sich Marco Bülow schon eine Weile vor diesem Ereignis auf die Fahnen. Nachzulesen u.a. in meinem Beitrag über eine Veranstaltung in Dortmund.

Im Buch schreibt der Politiker: „Wir werden von der Bevölkerung gewählt und dafür bezahlt, dass wir sie vertreten. Deshalb möchte ich auch mit neuem Team, weiter »multiparteiisch« sein, übergreifend arbeiten, ohne die Scheuklappen der Parteitaktik. Denn: Die Bevölkerung ist die Chefin – nicht eine Partei- oder Fraktionsvorsitzende oder gar die Kanzlerin oder die Konzernchefin.“

Der Politiker ist ein Geerdeter

Diese Einstellung Bülows resultiert aus seinem Leben. Im Gegensatz selbst zu vielen Bundestagsabgeordneten der SPD entstammt er keinen Akademikerhaushalt. Auf Seite 18 lesen wird:

„Dagegen habe ich eine für das Ruhrgebiet typische Biografie. Mein Großvater hat unter Tage und dann als Stahlarbeiter gearbeitet, meine Eltern waren in der Pflege tätig. Ich bin derjenige, der von den Bildungsreformen und erpressten sozialen Zugeständnissen der siebziger und noch achtziger Jahre profitiert hat. So konnte ich mein Abi machen, durfte sogar studieren, auch wenn ich immer gejobbt habe.“ Das prägte den Dortmunder.

Im Bundestag angekommen – unter Rot-Grün – wird Bülow bald mit einer Realität konfrontiert, die ihn bald mehr und mehr irritiert und dann auch frustriert. Gerhard Schröder regiert nach Gutsherrenart. Marco Bülow erinnert sich: „Schröder führt damit eine Welle von selbsternannten Expertengremien und -runden ein. Ein sehr effizientes Mittel, gewählte Parlamente auszuschalten. Und da die Mehrheiten knapp sind, geht es bei Schröder mit der Drohung los, alles platzen zu lassen, wenn wir Abgeordnete nicht folgen. Damit wäre Rot-Grün am Ende, alle Möglichkeiten zu gestalten dahin. Es gäbe keine Energiewende und die Sozialpolitik dann wieder von Union und FDP.“

Die Abgeordneten sollen spuren, nicht viel fragen und schon gar nicht mit Kritik stören. Bülow schrieb vor Jahren über „Macht und Ohnmacht der Volksvertreter“ das viel beachtete Buch „Wir Abnicker“.

Schon damals machte er sich – wie man sich denken kann – damit keine Freunde. Schon gar nicht in bestimmten Kreisen der Partei. Auf Seite 36 seines aktuellen Buches zitiert Bülow aus dem 2010 erschienen Buch:

»Eine Demokratie muss wachsen, sie muss sich auf den Rückhalt der Menschen stützen und – vor allem – auf deren aktive Beteiligung. Denn selbst, wenn mancherorts irgendwann formal alle Kriterien für eine Demokratie erfüllt sind, verfügen in der Praxis häufig doch nur wenige Personen über die politische Macht – ein Problem, das sich immer öfter aber auch in gewachsenen Demokratien zeigt. (…) Demokratie lebt nur dann, wenn sich das Volk nicht darauf beschränkt, bei der Wahl die Stimme abzugeben. Zur Verantwortung jedes Einzelnen gehört es auch, die Repräsentanten und ihre Arbeit kritisch zu begleiten und sie auf

Ungerechtigkeiten und sinnvolle Änderungsmöglichkeiten hinzuweisen. Außerdem ist es wesentlich, die Demokratie weiterzuentwickeln. Eine Demokratie, die ihren Namen wirklich verdient, benötigt Mitbestimmung, Einmischung, Diskussionen.«

Die Postdemokratie lässt grüßen

Demokratie? Fassadendemokratie. Colin Crouch hat früh beschrieben wohin die Reise geht: Richtung Postdemokratie nämlich. Sind wir schon angekommen?

„Das Werk des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch ist in dieser Frage schon fast zum Klassiker geworden“ führt Marco Bülow auf den Seiten 39/40 seines Buches aus. „Er benennt im Jahr 2000 die Phase und damit den Zustand der westlichen liberalen Demokratien erstmals als »Postdemokratie« (Crouch 2008). Dies lässt sich kurz so zusammenfassen: Die parlamentarische Demokratie mit geheimen Wahlen, Regierungsbildungen, der Gewaltenteilung, Parteienkonkurrenz und freien Medien ist noch völlig intakt. Doch hinter dieser funktionierenden Fassade entwickelte sich eine Machtstruktur, die sich vom eigentlichen demokratischen System entfernt hat. Eine kleine Gruppe oder Elite beherrscht und kontrolliert weitgehend die politischen Entscheidungen. Wahlkämpfe sind zu einem auch in den Medien personalisierten Spektakel verkommen. Politische Entscheidung werden hinter geschlossenen Türen und dort von wenigen und meist nicht demokratisch legitimierten Personen getroffen. Die Regierungen handeln Gesetze mit Lobbyisten und nicht mit den Parlamenten oder gar der Bevölkerung aus. Die Bevölkerung spielt dabei hauptsächlich eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle. Eine Ohnmacht hat sie ergriffen, die zwar spürbar ist, aber deren Ursache von den betroffenen gesellschaftlichen Kräften nicht genau identifiziert wird. Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt dagegen zu. Die Demokratie erleidet einen Substanzverlust. Crouch beschreibt diese Entwicklung sehr eindrücklich. Parteien tragen laut seiner Auffassung eine Hauptverantwortung, da sie sich diesem System angepasst, es sogar dahingehend beeinflusst hätten. An die Stelle von Programmdebatten, des Wettstreits von politischen Zielen und Visionen, treten seiner Ansicht nach immer mehr Personenkult, Richtlinienkompetenz und von Beratern und Marketing-Agenturen ritualisierte Diskussionen. Parteien degenerieren zu Dienstleistern, Klientelvertretungen und Kanzlerwahlvereinen. Auch die Medien und der Journalismus gehen diesen Weg mit. Statt seriöser Berichterstattung gibt es Infotainment, statt der großen politischen Auseinandersetzung zelebrieren sie Personaldebatten, beschäftigen sich mit Nebenschauplätzen und dem Streit um Nuancen.“

Hauptsache es sieht demokratisch aus? Nicht einmal das ist inzwischen m. E. mehr gegeben. Gut, dass Bülow das Buch geschrieben hat. Die Menschen sollten sich wirklich damit auseinandersetzen. Denn es pressiert!

Harter Tobak. Aber es ist doch Realität! Das Bülow gut erkannt und in der Wirklichkeit persönlich mitbekommen. Richard von Weizsäcker hatte früh gewarnt. Klar. Crouch beschrieb die bedenkliche immer klarer sichtbar werdende Realität. Bülow hat erlebt, wie ihm die Lobbyisten sein Bundestagsbüro einrannten. Immerhin führte er bald Buch, über die „netten“ Gäste. Andere Abgeordnete ließen ihre Kontakte im Dunkeln.

Marco Bülow stellt fest: „Doch mir wurde immer klarer, dass die Realität Crouch & Co. längst einholt“

„Der dêmos, des Volkes Herrschaft oder modern gesagt: die Beteiligung der Bevölkerung, wird ausgeschaltet“, beklagt Bülow.

Einfluss zu nehmen, so der Politiker bliebe nur noch die Wahl. Doch selbst die verliere an Wert.

Längst herrsche ein „DemokratieFrust“ (S.41). Zunächst habe er, Bülow, noch an neue Politiker, Reformen und eine erneuerte Sozialdemokratie und eine Kehrtwende geglaubt. Dann aber sah zunehmend realistischer: „Doch mir wurde immer klarer, dass die Realität Crouch & Co. längst einholt.“

Der kritische Bundestagsabgeordnete hat gut erkannt:

„Der Kapitalismus ist in der westlichen Welt eine Zweckgemeinschaft mit der Demokratie eingegangen, ein von Beginn an spannungsgeladenes, aber für den Kapitalismus anfangs notwendiges Bündnis. Im ansehnlichen Gewand einer sozialen Marktwirtschaft, die zeitweise auch in Ansätzen zu erkennen war – gerade als Kontrapunkt zum sogenannten realexistierenden Sozialismus autoritärer Prägung. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks konnte diese Ausrichtung nach und nach verschwinden. Die soziale Marktwirtschaft wird immer mehr zu einem Mythos, einem Titel, der sich beruhigend anfühlt. Damit wird aber auch spürbar, dass die einst so zweckdienliche Demokratie an Profitabilität verliert – um gleich mal den passenden Jargon zu benutzen. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche quetscht weiteren Profit aus uns heraus, der angesichts des so notwendigen Wachstums immer spärlicher ausfällt. Angela Merkel bringt es mit ihrem Begriff der »marktkonformen Demokratie« sehr schön selbst auf den Punkt. Und genau diese Verformung ist sicher eine ganz wichtige Säule, wahrscheinlich sogar Basis für die Entwicklung zur Postdemokratie. So wichtig, dass ich dieser Entwicklung noch ein eigenes Kapitel widmen werde.“

Nach dem Anschluss der DDR fielen im neuen Deutschland die Masken

Wichtig, dass Marco Bülow auf den Zusammenbruch des Sozialismus hinweist und die sich daraus sicher ergeben habende Tatsache (die vielen Menschen sicher gar nicht klar ist), dass die BRD, ergänzt durch die einverleibte DDR, dann soziale Absicherungen der Arbeiternehmer gewissermaßen getrost fahren lassen konnte. Ich erinnere mich an den Ausspruch eines Gewerkschafters, wonach bei Tarifverhandlungen in Westdeutschland die DDR (und das Bild von ihren sozialen Errungenschaften) sozusagen imaginär immer mit am Tisch gesessen hätte, was den Verhandlern aufseiten der Gewerkschaften immer etwas in die Hände gespielt habe. Der Kapitalismus konnte im neuen Deutschland quasi sein wahres Gesicht allmählich enthüllen und Kurs auf den Raubtierkapitalismus (Oskar Lafontaine) nehmen. Um dann mit dem Ritt in den brutalen Neoliberalismus schließlich die Maske ganz fallen zu lassen. Die Regierenden hatte man entsprechend eingelullt. Und Leute wie Schröder, der Genosse der Bosse – nomen est omen – nahmen diesen Ball ohne zu mucken auf. Apropos Mythos „soziale Marktwirtschaft“: Heiner Geißler sagte einmal in einem Interview, die habe es doch in Wirklichkeit nie gegeben.

Demokratie fällt nicht vom Himmel“

„Demokratie fällt nicht vom Himmel“, schreibt Marco Bülow (S.45) vollkommen richtig. „Sie verformt sich, entfernt sich vom dêmos, wenn sie einigen wenigen überlassen wird. Demokratie muss sich erden, immer neu erkämpft und gewagt werden. Es war mehr als der schon so bedeutungsvolle Satz, als Willy Brandt 1969 von »mehr Demokratie wagen« sprach (Erste Regierungserklärung, SWR Archivradio 1969). Es war ein Bekenntnis und eine Verpflichtung. Die Demokratie mag den Menschen. Sie ist ein Vertrauensbeweis. Sie schenkt uns die Freiheit zur Selbstbestimmung. Häufig mussten sich die Menschen überall auf der Welt ihre demokratischen Rechte teuer erkämpfen, manchmal Leib und Leben riskieren. Wir haben die Demokratie geschenkt bekommen. Sie sollte dazu anregen, sich zu beteiligen, die Freiheit zu genießen und zu nutzen.“

Die Parteien bluteten aus, konstatiert Bülow, ihnen fehle es an Nachwuchs. Allerdings, wendet er ein: „Die alte Leier von den desinteressierten jungen Leuten stimmt auch heute nicht.“ Vor der Pandemie seien die Straßen voll gewesen mit jungen Leuten. Da dürfte er auf Fridays for Future anspielen. Gewiss, das Engagement war überragend gut und machte Mut. Nur hat der Autor außer Acht gelassen, dass es sich bei den Fridays-Demonstranten vielfach um solche handeln dürfte, die aus Gymnasien und bildungsnahen Elternhäusern kommen. Wo ohnehin schon ein gewisses politisch-gesellschaftliches Interesse vorhanden ist und gelebt wird. Nur was ist mit den anderen, den Hauptschülern u.s.w.? Und warum gehen die „Fridays“ nicht zusammen mit der Friedensbewegung zusammen auch die Straße, wie es sich beispielsweise der gestandene Dortmunder Friedensaktivist Willi Hoffmeister – begeistert von dem Engagement der jungen Leute – wünscht? Schließlich ist weltweit das Militär – vorneweg die US-Army – der schlimmste Umweltverschmutzer!

Überhaupt auch im Kampf gegen die über die Jahrzehnte angestiegenen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten wären da nicht jede Menge Synergieeffekte zu generieren? Nur brauchte es da Vermittler zwischen den einzelnen engagierten Menschen. Es ist ja stets immer alles so zersplittert. Und wir wissen auch: die Herrschenden zusammen mit den Medien fördern das. Aus gutem Grund ist Juno rund, sagte man früher einmal. Gerade Marco Bülow wäre derjenige, der den Vielen ohne Rückhalt im Parlament – hoffentlich mit Unterstützung der Partei Die PARTEI ein guter Koordinator sein könnte. Nicht zuletzt in Dortmund, bei der schon erwähnten Versammlung, bekannte er, Sprachrohr sein zu wollen, für die, die keine Lobby haben. Sofern er wieder in den Bundestag gewählt würde. Die Chancen dafür stehen vielleicht gar nicht so schlecht.

Wahlaufrufe – gut und schön: „Wo aber sind diese Stimmen, wenn die Demokratie untergraben und ausgehöhlt wird, wenn wir zu einer Lobbyrepublik verkommen? Und was ist mit denen die sich nicht mehr vertreten fühlen?

Wir stehen nun wieder vor einer Bundestagswahl. Politiker und Medien rufen zum Wohle der Demokratie zum Urnengang auf. Bülow dazu: „Vor einer Wahl – da sind sich alle Demokratinnen einig – ruft man mit voller Überzeugung auf, unbedingt wählen zu gehen. Alles andere ist zweitrangig. An diesem Aufruf beteiligen sich nicht nur Politikerinnen, sondern Prominente, Journalistinnen und alle, die zeigen wollen, was für aufrechte Demokratinnen sie sind.“ Gut und schön. Dann legt der Autor aber den Finger auf die Wunde (S.48): „Wo aber sind diese Stimmen, wenn die Demokratie untergraben und ausgehöhlt wird, wenn wir zu einer Lobbyrepublik verkommen? Und was ist mit denen die sich nicht mehr vertreten fühlen? Denen, die den Versprechungen von Politikerinnen grundsätzlichen nicht mehr glauben?“

Im Kapitel „Wahl oder Übel“ (S.48ff) macht sich der Autor darüber Gedanken:

Wenn die Wahl so verehrt wird, die Wählenden und die zu Wählenden sich aber gegenseitig immer mehr misstrauen und ignorieren, dann müssen alle Alarmglocken schrillen. Der Ethnologe, Historiker und Autor David Van Reybrouck formuliert es provozierend: »Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demokratie, die sich darauf reduziert, ist dem Tode geweiht.« (Van Reybrouck 2016) Er nennt seinen Bestseller: »Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist«. Am Ende ist Van Reybrouck nicht gegen freie Wahlen, aber er listet hart und ernüchternd auf, wie sehr wir die Wahl in den westlichen Demokratien fetischisiert haben und damit den Einfluss der Bevölkerung und alle anderen Beteiligungsmöglichkeiten ausschalten. So absurd es klingen mag: Wahlen, wenn sie zum Ritual und Spektakel verkommen sind, fördern die Aushöhlung der Demokratie.“

Elitendemokratie“

Mein Einschub: Zur sehr demokratisch sollte es wohl ohnehin nie zugehen. Da erinnere ich mich an einen früheren Chef, der mal in irgendeiner Diskussion einwarf: „Das wird mir aber zu demokratisch hier.“ So dachte man schon in den Entstehungszeiten der Demokratie etwa in Amerika. Im Grunde hatte man es da mit einer, wie es Rainer Mausfeld nennt „Elitendemokratie“ zu tun. In „Warum schweigen die Lämmer?“ macht Mausfeld deutlich, dass Demokratie von vornherein so angelegt war, dass sie an den bestehenden Verhältnissen nichts zu ändern vermochte.

Bei Bülow lesen wird: „Gerade nach den Revolutionen in Frankreich und den USA hat man sich bewusst für ein gewähltes repräsentatives System entschieden. Dazu der französische Politologe Bernard Manin: »Das Repräsentativsystem errichtete man im vollen Bewusstsein, dass die gewählten Vertreter angesehene Bürger sein würden und sein sollten, die sich sozial von ihren Wählern abhoben.« Er setzt sogar noch einen drauf: »Gegenwärtige demokratische Systeme sind aus einer politischen Ordnung hervorgegangen, die von ihren Begründern als Gegenentwurf zur Demokratie gedacht war.« (Spiegel Online, 25. 01. 2018)

Eine kleine Bombe. Die Bevölkerung hatte sich Mitbestimmung und Demokratie erkämpft, dennoch wollte man klare Unterscheidungen vor allem bei den Positionen, die diese Macht ausüben. Der arme und ungebildete Pöbel sollte weiter rausgehalten werden.“

Zu Mausfelds Buch notierte ich:

„Demokratie bedeutet also, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so? Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon im Mutterland der Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, war sie von vornherein so angelegt, dass sich durch sie nichts an den Machtverhältnissen ändern konnte. Das Mehrheit des Volkes mochte wählen wie es wollte, die Interessen der (Minderheit) der Reichen, der Oligarchen konnten nicht angetastet werden. Auch heute, auch bei uns, das im Grunde genommen so. Die repräsentative Demokratie hat gravierende Mängel. Das fängt ja schon bei der Auswahl und Aufstellung der KandidatInnen der einzelnen Parteien an. Auf die wir Wähler – und nicht einmal alle Mitglieder einer Partei – keinerlei Einfluss haben.“

Marco Bülow befasst sich mit Wählerverhalten, mit Protestwählern und Gruppen, die enttäuscht darüber, dass sich keine der Parteien ihrer Probleme annimmt, überhaupt nicht mehr wählen.

Dankenswerterweise schreibt der Autor auch über die skandalöse Missachtung es Bundestags betreffs Pandemiemaßnahmen und damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen im Kapitel „Exekutierte Legislative“ (S.66) nachdem er über einen jungen Grünen-Abgeordneten geschrieben hat, der im Netz über das Abstimmungsverhalten und Gewissensentscheidungen informierte:

„Ein knappes Jahr später beschließt der Bundestag, dass die Regierung in Bezug auf die Corona-Pandemie und in Absprache mit den Ministerpräsidentinnen ohne die Parlamente weitreichende Entscheidungen allein treffen kann. Fühlt sich fast an wie im Kriegszustand. Kein Aufschrei, zarte Einsprüche der Opposition, volle Zustimmung natürlich bei Union und SPD. Mal eben wird das Parlament seines Grundrechts beraubt. Wofür? Alle Entscheidungen bei Corona wurden immer im Prozess und mit Vorbereitung getroffen, an der Dringlichkeit kann es also nicht liegen. Es wurde keine einzige Maßnahme wegen einer außerordentlichen Situation innerhalb kürzester Zeit beschlossen. Auch ein Parlament kann jederzeit sehr schnell auch außerregulär zusammengerufen werden. Das ist bei anderen, wesentlich unwichtigeren Angelegenheiten immer wieder geschehen.“

Wir erinnern uns? Heribert Prantl forderte damals in seiner SZ-Kolomne: „Der Bundestag muss seine Selbstverzwergung beenden. Und verdeutlichte: „Solange Corona-Politik ohne rechte parlamentarische Beteiligung gemacht wird, bleibt sie verfassungsrechtlich zweifelhaft und gesellschaftlich angreifbar. Der Deutsche Bundestag hat am 25. März den Löffel abgegeben.“

Wir erfahren, dass heute viele jüngere Politiker äußerst stromlinienförmig auch im Parlament agieren. Sie haben rasch verinnerlicht, was ihnen droht, wenn in ihrer Fraktion abweichende Meinungen vertreten und gar auch noch vom eigenem Gewissen getragenen Abstimmungen zum Ausdruck bringen. Um meinerseits hier eine Redewendung eines mir bekannten Professors hier zur Kenntlichmachung zu verwenden, die er damals auf die Grünen benutzte: Sie sind rundgelutscht. Womöglich gar im Vergleich zu früher war das nicht einmal nötig gewesen: Sie merken früh wie der Hase läuft. Was sicher auch damit im Zusammenhang steht, wie Marco Bülow an anderer Stelle schon kritisierte: Sie haben nie im Leben richtig und wenn, dann schon gar nicht lange, gearbeitet. Und somit so gut wie keine Lebenserfahrung. Berufspolitiker, die abgeschottet vom Volk, das sie zu vertreten vorgeben, unter der Glaskuppel des Reichstagsgebäudes Entscheidung mit treffen, die am Großteil des Volkes vorbeigehen.

Ich frage mich, wen wir denn noch vertreten“

Marco Bülow ist nachdenklich geworden (S.103): „Ich frage mich, wen wir denn noch vertreten. Sauber geordnet sitzen die Landesverbände zusammen. Völlig dominant ist vor allem eine Alterskohorte: die 50- bis 60-Jährigen. Ein anderes Missverhältnis ist noch größer, auch wenn es nicht gleich ins Auge springt: In der Fraktion sitzen nur vier Abgeordnete mit Hauptschulabschluss. Sehr viele haben einen Uni-Abschluss, bei den Jüngeren sind es nahezu alle. Als ich 2002 neu in den Bundestag kam, war es schon auffällig, dass echte Arbeitnehmer rar gesät waren. Es wirkte noch anders, weil sich auch mehrere aktive Gewerkschaftsvertreter in der Fraktion wiederfanden, einige den zweiten Bildungsweg eingeschlagen hatten. Vor allem kannten viele die anderen Lebenswirklichkeiten, weil häufig die Eltern noch zur Arbeiterklasse gehört oder einen Lehrberuf ausgeübt hatten. Davon ist fast nichts geblieben. Ein ähnliches Bild ergibt sich sicherlich längst bei den Landesvorständen und dem Bundesvorstand.“

Marco Bülow verweist auf Hildgard Hamm-Brücher: „Die meisten Abgeordneten verstehen sich als Funktionäre ihrer Partei und gucken nicht über den Tellerrand. Sie können gar nicht mehr frei denken und handeln und vergessen dabei den Bürger“

Der Autor verweist auf eine großartige Politikerin. Leute wie sie finden sich eigentlich gar nicht mehr in der Politik: „Die liberale Vordenkerin Hildegard Hamm-Brücher sagte über Parteien: »Die meisten Abgeordneten verstehen sich als Funktionäre ihrer Partei und gucken nicht über den Tellerrand. Sie können gar nicht mehr frei denken und handeln und vergessen dabei den Bürger. Die Parteien haben den Machtanspruch über alles bis in die Kommunalpolitik. Außerdem wird kein Grundgesetzartikel so verhöhnt wie das Gebot, was ein Abgeordneter eigentlich soll. (…) Er ist nur seinem Gewissen verantwortlich.« (Cicero, 4/2007) Dem kann ich in Bezug auf den Machtanspruch und das Gewissen nur zustimmen. Aber sind Parteien wirklich so übermächtig, oder werden sie genau wie die Parlamente nur durch einzelne Personen bestimmt?“

Wenn man bei Bülow liest wie es auf Parteitagen zugeht und wie schwierig es ist mit Vorschlägen in Parteigremien und auch in der Fraktion durchzudringen, fragt man sich, wie er überhaupt solange in der SPD hat durchhalten können bei all dem Gegenwind. Da wird von Oben Druck ausgeübt, dass ja die „richtige“ Entscheidung fällt. Ein Olaf Scholz – der nun, sich dabei höchstwahrscheinlich völlig überhebend dabei – Kanzler werden will, muss da eine unrühmliche Rolle gespielt haben.

Im Hauptkapitel „II. Es ist die Lobby, Baby!“ unter „1. Die Lobbyvertretung“ zitiert der Autor abermals Colin Crouch, der auch damit richtig lag:

» In einer Postdemokratie, in der immer mehr Macht an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen. Bei diesem Konzept der Demokratie stehen folgende Aspekte im Vordergrund: die Wahlbeteiligung als wichtigster Modus der Partizipation der Massen, große Spielräume für Lobbyisten – wobei darunter vor allem die Lobbys der Wirtschaft verstanden werden – und eine Form der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie möglichst weitgehend verzichtet. Für die wirkliche, umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organisationen außerhalb des Wirtschaftssektors interessieren sich die Befürworter dieses Modells allenfalls am Rande.«

Marco Bülow nimmt kein Blatt vor dem Mund. Im Grunde kann man sagen, in diesem Lande setzten sich Interessen der Wohlhabenden und Konzerne durch, die über eine starke Lobby verfügen. Bülow bringt es auf den Punkt: „Eine Reihe von Entscheidungen, die im Sinne der oberen Klassen waren, wurden gegen jene der unteren Klassen durchgesetzt.“

Marco Bülow setzt weiter nach (S.109): „Es passt ins Bild, dass Anfang 2021 ein Buch der investigativen Journalistin und Bestsellerautorin Julia Friedrichs mit dem Titel »Working Class« erschienen ist. Die Klassen sind zurück. Eigentlich waren sie nie ganz weg, nur aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt. Friedrichs beschreibt anhand von Beispielen den langfristigen Prozess in Deutschland, dass trotz Jobs, trotz der Wohlstandsjahre immer mehr Menschen kaum von ihrer Arbeit leben können, kein Vermögen besitzen und für Krisenzeiten keine Rücklagen haben. Sie haben nicht von den langen Wachstumszeiten profitiert. Der Spiegel (26. 02. 2021) greift die Frage auf und macht daraus einen Artikel mit Julia Friedrichs und Olaf Scholz mit der Hauptfrage: Vertritt die SPD noch die Arbeiterklasse? Eine rhetorische Frage. Die Antwort darauf gibt auch die Studie von Elsässer und Schäfer, aber ebenso die Arbeiter selbst. Bei den Europawahlen wählten von ihnen nur 15 Prozent die SPD. Gleichauf mit den Grünen und hinter der Union und der AfD (»Tagesschau«, ARD, 26. 05. 2 019). Dieser Punkt ist wichtig, denn die Menschen, die sich von Wahlen, Parteien und teilweise der Demokratie abwenden, haben von den konservativen und liberalen Parteien sicher nicht so viel erwartet wie von den sozialeren Parteien. Sie mussten feststellen, dass sie über keine wirkliche Alternative mehr verfügen.“

Ein kleiner Lese-Tipp von mir am Rande: „Gibt es überhaupt noch eine Arbeiterklasse“ von Werner Seppmann.

Im Unterkapitel „2. Die Lobbyrepublik“ (S.110) lässt der Autor den Schriftsteller Günter Grass zu Wort kommen:

„» Ob es die Pharmaindustrie, die Banken oder die Autoindustrie sind, ihre geballte Macht, die weder von der Verfassung noch vom Volk, dem eigentlichen Souverän, legitimiert ist, bestimmt mehr und mehr bis in die Gesetzgebung hinein die Politik. (…) Sie sind der Staat im Staate.« Günter Grass 2008 vor der SPD-Bundestagsfraktion.“

Bülow befasst sich auch mit der Entstehung von Lobbyismus und damit, ob es auch guten Lobbyismus gibt. Man müsse immer genau schauen, so Bülow wer dahinter stecke und wer davon profitiere. Momentan, informiert der Bundestagsabgeordnete (S.114), gebe (…) „6000 Lobbyisten in Berlin, also bald zehnmal so viele wie Parlamentarier. Den absolut größten Teil bilden sicherlich die profitorientierten Lobbyisten“.

Die Gruppe der „Lobbytarier“

„Wie eng verzahnt sind die Lobbyisten mit der Politik?“, fragt Bülow. Und referiert: „Profitlobbyisten haben oft die besseren Kontakte, weil sie schon lange in Wechselbeziehung zu den wichtigsten Politikern stehen. Es gibt immer mehr Politiker, die ihr Mandat als Sprungbrett nutzen, um dann als Lobbyist in die Wirtschaft zu gehen. Häufig dienen sie schon während des Mandats willfährig einer oder mehreren Lobbys, um dort in Zukunft eventuell unterzukommen. Und logischerweise kommen dafür am ehesten die Lobbys in Frage, die einflussreich und lukrativ sind, und nicht die gemeinwohlorientierten Gruppen, die deutlich schlechter bezahlen. Ich nenne diese wachsende Gruppe der Politiker »Lobbytarier«.“

Dem Kapitel über die „Die Lobbytarier“ hat Bülow ein Zitat von Upton Sinclair vorangesetzt:

» Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, eine Sache zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er sie nicht versteht. «

Legale Sauereien und saftige Skandale

Bülow weiter: „Die Politik wird privatisiert, sie wird ökonomisiert. Wenn Mann und Frau immer weniger Politik gestalten können, Argumente immer weniger ausrichten, dann bleiben die kreativen und idealistischen Köpfe zunehmend weg, dann muss sich Politik anders auszahlen. So werden die Parteien und Parlamente immer mehr von Machtpolitikerinnen und Opportunistinnen beherrscht. Ökonomische Interessen gehen dann vor Inhalte, Karriere vor Kodex. Wir züchten uns längst eine Generation Amthor, die zwar Moral und Wasser predigt, aber Schampus und Unmoral lebt. Eine Kaste, die vielleicht noch mit Werten startet, aber dann mehr auf Eigennutz als auf Gemeinwohl getrimmt wird. Kein Wunder, dass die Grenzen zwischen Interessenvertretung, Lobbyismus und Korruption verschwimmen. Man macht, was man darf.“ In der Tat: vieles, was wir Bürger als Sauerei empfinden ist ja legal!

Viele uns bekannte Skandale bearbeitet Marco Bülow im Buch. Ob es nun Cum Ex und Cum-Cum ist. Wirecard natürlich u.sw. Wirkliche Konsequenzen für die Schuldigen? Fehlanzeige. Alles zulasten der Steuerzahler. Und freilich der Dreh-Tür-Effekt. Wo Politiker ihr im Amt erlangtes Wissen in den Dienst von Konzernen oder Banken stellen.

Für welche Pille entscheiden wir uns?

Bülow schreibt auch von der „Lobby-Matrix“ und zitierte aus dem Film „Matrix“: » Die Matrix ist allgegenwärtig, sie umgibt uns. (…) Es ist eine Scheinwelt, die man dir vorgaukelt, um dich von der Wahrheit abzulenken.«

Es passiert ja so vieles vor unseren Augen. Doch wir sehen nichts.

Wer den Film kennt, wird sich auskennen von was Bülow hier schreibt (S.142): „Wollen wir die bittere Pille schlucken und hinter die Kulissen schauen, unsere Naivität abstreifen und nicht mehr länger verdrängen? Uns ist klar, dass wir nicht auf das Paradies blicken werden. Oder werfen wir die blaue Pille ein und hoffen weiter darauf, dass andere es schon für uns richten werden?“

Unbedingte Lese- und Handlungsempfehlung!

Ein Buch, das alle lesen sollten, die sich als Bürger für die Demokratie interessieren. Eine Demokratie, die schon ziemlich angeknackst ist. Marco Bülow berichtet über seine Erfahrung als Politiker und Mitglied des Bundestages. Er hat uns die Augen geöffnet. Über Skandalöses Kunde gegeben. Aber auch Hoffnung in uns geweckt. Geben wir es doch zu: Wir fühlen doch längst mehr oder weniger alle ein Bauchgrummeln, wenn wir an den Zustand unserer Demokratie und unser Land denken. Ohne, dass jeder von uns etwas – und sei es noch so wenig und anscheinend unbedeutend (wir hören ja oft den Spruch: Da kann man doch sowieso nichts machen) – etwas unternimmt, wird sich nichts ändern und alles eher noch schlimmer werden. Marco Bülow hat sich nichts weniger vorgenommen, als die schon lange nicht mehr hinnehmbaren Verhältnisse umzustoßen. Dazu gehört es, den Parlamentarismus zu demokratisieren, aber auch Bürgerräte zu befördern, um auch die außerparlamentarische Demokratie zu stärken. Kurz: Er möchte im Verein mit möglichst vielen das scheinbar Unmögliche ins Werk zu setzen.

Marco Bülow ist fest entschlossen, weshalb er im Buch sicher auch Bertold Brecht zitiert: »Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen«

Das Bekenntnis des Marco Bülow

„Ich würde mich als einen radikalen Realisten, einen idealistischen Demokraten ohne Illusionen beschreiben. Aber ich bleibe auch Sozialdemokrat, egal wo ich mich engagiere. Damit kann man hadern, wie auch mit meiner neuen Partei. Da komme ich auf Martin Sonneborn zurück, der gern darauf hinweist, dass es Die PARTEI gar nicht geben müsste, wenn die SPD und die anderen Parteien ihre Arbeit machen würden. Oder sie könnte wirklich mit ein wenig Spaß und Satire einige Debatten beleben und eine Randerscheinung bleiben. Die PARTEI zeigt auf, wie absurd die herrschende Politik ist und welche Missstände es gibt. Mit ihren Mitteln. Es gibt weitere Wege und andere Mittel, also let’s do it. Klar ist, das Alte zerfällt, und das Neue muss in die Welt. Dafür brauchen wir Ideale, Aktivismus, die Bewegungen auf der Straße. Der Widerstand muss vielfältig sein. Wir brauchen auch die Satire und die Disruptoren. Im Zusammenspiel kann es gelingen, die Fassade einzureißen, die Parlamente zu hacken und die unfairen Spielregeln zu ändern. Ich habe Fehler gemacht, bin Irrwege gegangen, kenne meine Grenzen, aber ich will einfach mit Herz und Power weitermachen. Der Informatiker und Künstler Jaron Lanier schreibt in seinem Buch »Wem gehört die Zukunft«: »Ich erhoffe mir für die Zukunft, dass sie auf radikale Art wunderbarer sein wird, als wir sie uns jetzt vorstellen können, bewohnt von Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand

nehmen« (Lanier 2013). Also denke groß, sei mutig, lebe wunderbar. Mache neue Spielregeln. Zieh aber vielleicht auch die Argumente in Erwägung, die dir erst mal nicht gefallen. Und hab Spaß an und in der Politik – das ist immer noch nicht verboten.

Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Profitlobbyismus zerstört werden soll.“ (S.195)

Das Buch

Marco Bülow

Marco Bülow. Foto: Claus Stille

Lobbyland

Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft

192 Seiten, 12,5 x 21 cm, brosch.
mit Abbildungen

Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Buch 15,– €

ISBN 978-3-360-01378-1

eBook 9,99 €

ISBN 978-3-360-50173-8

Der Verlag zum Buch

»Dem deutschen Volke« lautet die Inschrift über dem Portal des Reichstagsgebäudes in Berlin. Doch die Bevölkerung ist in unserer heutigen Form der Demokratie ein Akteur ohne besonders großen Einfluss. Abgeordnete, die die Interessen der Menschen vertreten? Pustekuchen! Lobbykontakte und elitäre Netzwerke sind entscheidend. Monopoly ist ein extrem gerechtes Spiel dagegen. – Wir müssen die Spielregeln unserer Demokratie ändern! Wir brauchen mehr Basis, mehr außerparlamentarische Bewegungen, brauchen Volksvertreter, die nicht ihrem korrumpierten Gewissen verpflichtet sind. Dann haben wir auch die Möglichkeit, die Corona-Krise als Chance zu nutzen und die Millionen Menschen von Fridays for Future, die für eine bessere Politik demonstrieren, nicht der Klimaschutzlobby zum Fraß vorzuwerfen.

Marco Bülow

Marco Bülow, geboren 1971 in Dortmund, ist Journalist und Politiker. Er hat Journalistik, Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Dortmund studiert, wo er 1992 die Juso-Hochschulgruppe neu gründete. Seit 2002 ist er direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages. Hier war er von 2002 bis 2005 stellvertretender Sprecher der Gruppe der jungen Abgeordneten in der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2005 bis 2009 war Bülow umweltpolitischer Sprecher und von 2009-2013 stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde er erneut direkt gewählt.
Im November 2018 trat Bülow nach 27 Jahren aus der SPD aus. Er nutzt seitdem seine Möglichkeiten als fraktionsloser Abgeordneter, um auch Bewegungen in den Bundestag zu holen. Seit Herbst 2019 lädt Marco Bülow regelmäßig Mitglieder der Klimabewegung und Parlamentarier*innen unter dem Motto »Re:claim the House« in den Bundestag ein, um den Dialog zwischen Bevölkerung und Politik zu fördern. Er ist Mitgründer der gemeinnützigen Progressiven Sozialen Plattform »plattform.PRO«, einem überparteilichen Zusammenschluss von engagierten Menschen, die eine progressive, zukunftsfähige Politik befördern wollen.
Seit Herbst 2020 ist Marco Bülow Mitglied der PARTEI und damit ihr erster Abgeordneter im Bundestag. Im Zentrum seiner Politik stehen neben der Umweltpolitik vor allem sein Engagement gegen einseitigen Profitlobbyismus, für mehr Transparenz und eine Sozialwende.

Vera Lengsfeld im Corona-Ausschuss mit treffenden politisch-gesellschaftlichen Analysen

Seit Mitte Juli 2020 untersucht der Corona-Ausschuss in jeweils mehrstündigen Live-Sitzungen, warum die Bundes- und Landesregierungen im Rahmen des Coronavirus-Geschehens beispiellose Beschränkungen verhängt haben und welche Folgen diese für die Menschen hatten und weiter haben. Der Corona Ausschuss wurde von vier Rechtsanwält*innen gegründet. Er führt eine Beweisaufnahme zur Corona-Krise und den Maßnahmen durch. 

Von den Rechtsanwält*inn angehört werden u.a. Mediziner, Journalisten, Juristen und von Anti-Corona-Maßnahmen Betroffene.

Wer die zumeist sehr interessanten und erkenntnisreichen Sitzungen des Ausschusses noch nicht gesehen hat, kann sie gerne (sh. oben) oder auf dem You Tube – Kanal von OVALmedia Ausschuss nachsehen und sich über dessen Arbeit so ein eigenes Bild verschaffen.

Ein Höhepunkt der Sitzung 41 „Troja Allenthalben“: Vera Lengsfeld im Gespräch

Am Freitag, dem 26. Februar 2021 fand abermals eine Tagung des Corona-Ausschusses statt. Wieder über die Maßen und nahezu durch die Bank interessant. Ich möchte Ihr Interesse, liebe Leserin, lieber Leser, speziell auf einen Part im Video lenken. Nämlich dem, welcher dem Gast Vera Lengsfeld vorbehalten war.

Sie war 1981 Mitbegründerin einer der ersten halblegalen Oppositionskreise der DDR, des Pankower Friedenskreises, seitdem Mitorganisatorin aller wichtigen Veranstaltungen der Friedens-und Umweltbewegung der DDR. Heute wird sie samt Mitstreiter*innen zumeist unter dem Rubrum „Bürgerrechtler der DDR“ geführt. Ich habe Vera Lengsfeld stets zugegebenermaßen kritisch beäugt oft hart kritisiert. Am Freitag, da sie Gast des Corona-Ausschusses war, gewann ich einen ganz anderen Eindruck von mir. Und ich fand, ich müsste ihr Abbitte für meine harte Kritik damals an ihr tun.

Vera Lengsfeld mit treffenden politisch-gesellschaftlichen Analysen

Wie dem auch sei, ihr Auftritt beim Ausschuss war jedenfalls äußerst informativ, ihre Aussagen sachlich und ihre politisch-gesellschaftltichen Analysen treffend und im höchsten Maße bedenkenswert. Lengsfeld, die auch einst einmal Mitglied der Grünen war, ist noch immer CDU-Mitglied, allerdings mittlerweile bei der Werteunion verortet.

Eingangs beklagt sie das, was wir alle tagtäglich – soweit wir noch Medien konsumieren – von früh bis abends über die Medien geradezu bombardiert werden: mit den Corona-Zahlen aller Couleur: den Zahlen der Getesteten, Erkrankten, Toten etc. Treffend bezeichnet Lengsfeld das als Propaganda. Denn mit seriösen Journalismus hat das wahrlich nichts zu tun. Auf Lengsfelds Webseite steht zu lesen:

„Lange, viel zu lange haben die Bürger den Ausnahmezustand mit Geduld ertragen. Das ist zweifellos ein Erfolg der Corona-Propaganda, die täglich auf die Bevölkerung niederprasselt. Von morgens bis abends Infektions- und Totenzahlen, garniert mit Warnungen vor einem zusammenbrechenden Gesundheitssystem, vor Mutanten, zweiten und dritten Wellen. Die damit erzeugte Angst und Panik hat die von den Corona-Maßnahmen wirtschaftlich Betroffenen stumm auf Staatshilfe zu warten lassen, statt kritische Fragen zu stellen.“

Vera Lengsfeld fordert „ Nicht nur klagen, öffnen!“

„MediaMarktSaturn, die Baumarktkette Obi, sowie die Textilketten Peek&Cloppenburg (Düsseldorf) und Breuninger ziehen jetzt vor Gericht. „Wir haben Klagen vor den Verwaltungsgerichtshöfen in Baden-Württemberg, in Hessen, in Nordrhein-Westfalen, in Thüringen und Sachsen eingereicht – überall dort, wo wir Häuser haben. Ziel ist die sofortige Aussetzung der Lockdown-Maßnahmen, weil sie nicht verhältnismäßig sind und eine Ungleichbehandlung gegenüber dem Lebensmittelhandel bedeuten“, sagte, wie NWZ online berichtete, ein Breuninger-Sprecher. Alternativ fordere das Unternehmen Entschädigungen. Zweiteres sehe ich als Fehler. Die Unternehmer sollten Staatshilfe ablehnen und konsequent ihr Recht auf freien Handel einfordern. Nicht nur klagen, sondern einfach öffnen. Wenn an einem bestimmten Tag, zum Beispiel am 1. März das alle tun würden und genügend Kunden kämen, wäre der Corona-Spuk von einem Tag auf den anderen vorbei.“

Den (noch) Ängstlichen macht sie Mut:

„ In Corona-Deutschland regiert noch die Angst. Was bewirkt werden kann, wenn man die Angst überwindet, zeigt die Friedliche Revolution der DDR. Als genügend Menschen auf die Straße gingen, war das SED-Regime bald Geschichte.“

Bei Politikersprech hört Lengsfeld genau hin

Lengsfeld hört ganz offenbar – was stets ratsam erscheint – bei Politikersprech sehr genau hin. So auch bei dem Merkels. Im März 2020 habe die Bundeskanzlerin gesagt, man sei sich über das Problem Einschränkung der Grundrechtes bewusst, werde aber sehr verantwortungsvoll damit umgehen und jederzeit prüfen, ob das alles weiter nötig ist. Lengsfeld:

„Das ist nicht nur nicht passiert. Sondern inzwischen hat sich das Narrativ gewandelt, inzwischen sind die Grundrechte neue Freiheiten. Die gewährt werden, wenn man sich impfen lässt oder wenn die Regierung meint, es ist soweit. Die jederzeit wieder zurückgenommen werden können.“

Lengsfeld erzählte, sie habe sich von Anfang mit dem Buch von Klaus Schwab, „COVID 19: The Great Reset“ von Schwab/Malleret beschäftigt. Und sie habe nach der Lektüre des Buches festgestellt, „das ist die Blaupause, das ist tatsächlich die Blaupause dessen, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt“.

Angela Merkel sage eigentlich alles, was man vorhabe, so Lengsfeld. Getreu dem Spruch, des alten Fuchses Jean-Claude Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Die Corona-Maßnahmen, meint Vera Lengsfeld, seien für sie ein Testfall, für das, was die Bevölkerung zu ertragen bereit ist.

Lengsfeld meint: Überzeugungen sind der Kanzlerin fremd

Vera Lengsfeld kennt Angela Merkel seit 1990. Sowie aus 16 Jahren Bundestagstätigkeit. Auch aus Privatgesprächen. Ehrlich bekennt sie, sie sei sogar Merkel-Unterstützerin gewesen, als sie sich zu Zeiten des Leipziger Parteitages diese sich als Reformerin gegeben habe. Allerdings habe Lengsfeld, sofort als Merkel Kanzlerin geworden war, gemerkt, dass sie sich in Merkel getäuscht habe. Lengsfeld meint, „dass so was wie Überzeugungen“ der Kanzlerin fremd seien: „Wenn sie überhaupt einen Kompass hat, dass ist der grün bis linksextremistisch.“

Lengsfeld beklagte, dass die Akten der vermutlich 10.000 bis 30.000 Informellen Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit im Westen – die sehr die bundesdeutsche Geschichte beeinflusst hätten – und wahrscheinlich auf den sogenannten Rosenholz-Dateien gespeichert sind, die die CIA aus der DDR fortgeschafft hatte und von US-Präsident Clinton später wieder in die BRD zurückgeschickt worden waren (in der Amtszeit von Innenminister Otto Schily) bis heute weggeschlossen sind.

Heutige Politiker haben fast keinerlei Erfahrungen im wirklichen Leben gemacht

Den bedenklichen Zustand unserer Demokratie erklärt sich Lengsfeld, dass wir inzwischen eine Politikergeneration haben, die einen typischen politischen Prozess durchgemacht hätten: bei der CDU etwa lauf der über die Schülerunion bis hin in den Bundestag. Solche Politiker hätten fast keinerlei Erfahrungen im wirklichen Leben gemacht. Solche Politiker stelle inzwischen die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag, so Vera Lengsfeld. Als sie 1990 in den Bundestag gekommen ist, sei deren Mischung noch viel bunter gewesen.

Solcher Erfahrungen hat später übrigens auch der Dortmunder Bundestagsabgeordneter (früher SPD, jetzt fraktionslos und Mitglied der Partei Die Partei) gemacht (hier und hier).

Heute hätten diese Abgeordneten mit innerparteilichen Kungeleien zu schaffen. Tanze man aus der Reihe, werde man nicht wieder als Kandidat für Landtage oder Bundestag aufgestellt. Weshalb viele auch keinerlei Rückgrat mehr hätten.

Marco Bülow aus seiner Sicht: Bülow erklärte, woher das Nichtwahrnehmen sozialer Probleme vieler Abgeordneten rühre: „84 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, 16 Prozent Nichtakademiker. In der Gesellschaft ist es andersrum: Lediglich 20 Prozent der Menschen Akademiker.“ Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst allein in der SPD-Fraktion fast alle Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und Umfeld waren es nicht. Heute sehe es anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nichtakademikerfamilien überhaupt nicht, komme ja mit ihnen nicht in Berührung. Diese Bundestagsabgeordneten bekämen nichts von gravierenden sozialen Problemen mit. In Berlin lebe man unter der Reichstagskuppel und somit in einer Blase. Marco Bülow: „Die Journalisten mit denn man es zu tun hat, die Lobbyisten mit denen man zu tun hat und die Kollegen mit denen man zu tun hat, die haben alle ein sehr gutes Auskommen und ihr Umfeld auch.“ Weshalb deren Fokus weg von den sozialen Problemen sei

Quelle: Claus Stille

Verkehrte Welt im Bundestag: Die Nase läuft, die Füße riechen

Wie Marco Bülow kritisiert übrigens wie auch Vera Lengsfeld, dass im Bundestag die Demokratie sozusagen auf den Kopf gestellt wird. Denn schließlich hätten ja Gesetzesvorschläge aus dem Bundestag zu kommen. Und Regierung als Exekutive hätte sie entsprechend umzusetzen.

Inzwischen laufe es aber umgekehrt, ja geradezu verkehrt (ein Kollege pflegt stets zu sagen: Verkehrte Welt. Die Nase läuft, die Füße riechen.)

Die Bundesregierung kaspert Gesetze aus und die Bundestagsabgeordnete nicken sie ab. Oftmals kennen sie nicht mal die Inhalte richtig. Darüber hat Marco Bülow ein Buch mit dem Titel „Die Abnicker“ geschrieben (hier und hier).

Soweit mein „Appetizer“, wie das heute neudeutsch heißt. Schauen sie das interessante Gespräch mit Vera Lengsfeld. Gerne auch die wirklich empfehlenswerte gesamte Sitzung 41.

Beitragsbild: Screenshot Claus Stille

Friseurmeisterin Bianka Bergler aus Dortmund droht durch „Corona-Lockdown“ die Zerstörung der Existenz: „Meine Zündschnur ist abgelaufen“

https://www.youtube.com/watch?v=_SeXmL6v4t4

Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche: hunderttausende Existenzen hierzulande sind von den diversen Anti-Corona-Maßnahmen (deren Wirksamkeit wissenschaftlich nicht einmal bewiesen sind) betroffen. Viele werden pleite gehen. Und auch privat dürften sie gewaltig ins schlingern kommen. Wie die Miete aufbringen, Strom und Gas zahlen etc.?

Eine dieser Existenzen ist die Dortmunder Friseurmeisterin Bianka Bergler, die den Salon CUTFACTORY betreibt. Betrieb, muss ja richtigerweise angemerkt werden, denn der momentane Lockdown zwingt sie und ihre Mitarbeiter*innen zur Untätigkeit. Nervlich und finanziell ist die Frau dem Ende nah. „Meine Zündschnur ist abgelaufen“, sagt sie in einem tief bewegendem Video, nachdem sie mit der Dortmunder Agentur für Arbeit telefoniert hatte. Sehen Sie, lieber Leser*innen das Video auf dem Kanal von Wolfgang Schütt und lesen Sie den dazugehörigen Text:

 

Die Dortmunder Friseurmeisterin Bianka Bergler (https://cut-factory.de​) kann nicht mehr. Geschäftskonto im Minus mit -5.000 Euro, das Privatkonto leer. Alles nur, weil die Corona-„Lockdown“-Politik von Merkel, Söder, Laschet & Co. ihre Existenz zerstört. Die von den Politikern vollmundig versprochenen Überbrückungshilfen kommen bei ihr nicht an. Die Agentur für Arbeit macht Dienst nach Vorschrift und läßt sie im Regen stehen. Ihr seit Jahren erfolgreiches fünfköpfiges Friseurunternehmen ist nun am Boden. Das Geld fehlt vorne und hinten. In einem sehr emotionalen, dramatischen Appell aus ihrer Privatwohnung zeigt Bianka Bergler, was hier wirklich im Lande abgeht. Die Corona-Politik zerstört wirtschaftliche Existenzen, vor allem der Selbständigen und kleineren Unternehmen. Bianka Bergler ist nicht nur nervlich am Ende. Sie kann einfach nicht mehr.“

 

Frau Bergler ist empört: „Es reicht, Herr Laschet! Es reicht, Frau Merkel!“

Die Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit in Dortmund fertigt die Friseurmeisterin in Not ab, lässt dabei jegliche Empathie vermissen. Angeblich wäre der Antrag falsch ausgefüllt worden. Ein Antrag der 60 Seiten umfasst. Den der Steuerberater ausfüllen muss. Viele Leute denken wahrscheinlich, die Hilfen würden völlig unbürokratisch beantragt und bewilligt. Fehlanzeige!

 

„Da müssen Sie sich bei der Politik beschweren“, sagt die Mitarbeiterin vom Amt. Das haben die Friseurin und ihre Kollegen aber doch längst getan. Ein offener Brief der Friseure an Ministerpräsident Laschet (CDU) und einer an die Kanzlerin.

Der Friseurmeisterin aus Dortmund geht es ums pure Überleben: „Es geht nicht darum, mir neue Schuhe zu kaufen. Ich habe kein Geld für Lebensmittel, für Wasser, für Brot.“ Jetzt bittet sie alle Friseure um Unterstützung. „Zeigt Eure Gesichter. Erzählt von Euren Problemen in diesem Lockdown!“ Friseurin Bianka appelliert weinend an ihre Kollegen: „Schließt euch an!“

Das Geschäftskonto ist 5.000 EUR im Minus. Keine Hilfsgelder in Sicht. Der Vermieter hat die Miete vorerst kulant erlassen. „Ich kann sie eh‘ nicht zahlen“, so die Friseurin. Die Rentenversicherung bucht 300 EUR vom Privatkonto ab. Jetzt kann sie auch ihr Zimmer nicht mehr bezahlen.

Hunderttausenden Menschen dürfte es in dieser Zeit genauso ergehen. Freischaffend arbeitende, Künstler und Musiker ohne festes Engagement. Und ja: auch Sexarbeiter*nnen – die Liste ließ sich fortsetzen.

Bianka Bergler ist nur eine von ihnen. Ein Einzelfall. Ja, aber sie will mit ihrem Aufruf aufrütteln. Nach einem Interview beim Lokalradio 91,2 gab es viele Reaktionen. Auf der Website des Senders heißt es:

Bianka Bergler hat einen Friseursalon und schon seit Wochen keine Einnahmen mehr. Inzwischen geht es um die Existenz. Ihr Friseursalon in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße ist seit Mitte Dezember geschlossen wegen des Corona-Lockdowns und keine Einnahmen. Aber die Hilfen sind auch eher Hürden für sie. Auch deshalb hat einen Aufruf über Instagram gestartet. Da beschreibt sie ihre Situation. Die Reaktionen sind überwältigend.“

Sogar Geld wollten Menschen Frau Bergler spenden. Doch das will sie nicht. Sie will aufmerksam machen auf die bedrohliche Lage so vieler unschuldig in eine schwere Notlage geratener Menschen. Durch die Schuld der durch Bundesregierung und Ministerpräsidenten angeordneten Lockdowns (deren Nutzen fragwürdig ist). Wann werden die Menschen aufwachen? Vielleicht dann, wenn es in den kommenden Monaten immer mehr Pleiten hageln wird, die Tausende in die Arbeitslosigkeit stoßen werden. Der Hut brennt bereits!

Über den speziellen Fall von Bianka Bergler habe ich den Dortmunder fraktionslosen Bundestagsabgeordneten Marco Bülow (Die PARTEI) informiert. Eine Politikerin der Partei DIE LINKE hat bereits angekündigt sich des Falls anzunehmen.

Auf den verzweifelten Aufruf von Bianka Bergler gab es viele mediale Aufmerksamkeit.

Auch auf Reitschuster.de. Dort ist u.a. zu lesen:

Ich bin nicht die einzige Unternehmerin, die mit dem Rücken an der Wand steht“ – jahrelang gehen wir hart arbeiten, kümmern uns um Mitarbeiter und machen keinen Urlaub und jetzt werden wir im Stich gelassen. Friseurin Bianca ist wütend, verzweifelt, am Ende. Bianka ist nicht allein. Über 80.000 Friseurbetriebe gab es laut „Statista“ mit rund 240.000 Beschäftigten 2019 in Deutschland. Genauso leiden Dienstleistungsbetriebe ähnlicher Branchen wie der der 65.000 Kosmetikstudios mit 225.000 Beschäftigten in Deutschland. Unternehmer und Mitarbeiter, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient haben bei durchschnittlich 25 bis 30.000 EUR brutto Jahresumsatz pro Betrieb in der Kosmetikbranche. Sie haben kaum Rücklagen.

Es gibt keine Perspektive zur Wiedereröffnung der Geschäfte. Die Volksvertreter(innen) dagegen zeigen sich nach wie vor unbeeindruckt. Sie sind auch im Lockdown bestens frisiert. Fußballprofis ebenfalls, wie sich die Friseurinnung in einem offenen Brief an den Deutschen Fußballbund empört. Anderen Bürgern sind Hausbesuche von Friseuren untersagt. Die Lockdown-Verteidiger der Regierungen von Bayern bis Schleswig-Holstein haben dagegen die Haare schön, ein finanzielles Polster und ein „dickes Fell“.“

Hinweis auf Reitschuster.de für andere Betroffene: „Wer aus seinem beruflichen oder privaten Leben einen „Kollateralschaden“ melden möchte: Vertraulich und persönlich, per E-Mail an wahlig@reitschuster.de

Die PARTEI hat nun mit dem Dortmunder Marco Bülow ihren ersten Bundestagsabgeordneten

Bereits vor dem gestrigen traurigen Tag für die Demokratie an welchem das 3. Bevölkerungsschutzgesetz gleich an einem Tage durch Bundestag und Bundesrat durchgepeitscht und anschließend per Unterschrift des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Kraft gesetzt wurde, stand fest: „Wir brauchen echte Demokratie, nicht nur ein Update“. Diese Feststellung stammt von Marco Bülow, dem partei- und fraktionslosen Bundestagsabgeordneten aus Dortmund. Marco Bülow moniert, dass wir zu einer Fassadendemokratie verkommen, die immer stärker von wenigen Profitlobbyist*innen dominiert wird. Die soziale Marktwirtschaft sei längst zu einem Mythos geworden. „Wir stehen an einem Wendepunkt“, sagte er vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung (mein Bericht) in Dortmund. Das Vertrauen in die Parteien nehme weiter ab, konstatiert er. Und zwar schon seit Langem. Bülow hat sich entschlossen – bei entsprechender Unterstützung – wieder für den nächsten Bundestag zu kandidieren. Seine Bewerbung richtet er, sagte Bülow auf dieser Veranstaltung im Union-Gewerbehof in Dortmund, richte sich betreffs der Bundestagswahl 2021 nicht wie üblich an eine Partei, sondern an die Bevölkerung, welche sein „Chef“ sein solle. Der parteilose Marco Bülow zeigte sich gewiss, nicht nur wieder in den Bundestag zu wollen, sondern versprach ihn zu „hacken“ und den Menschen ohne Lobby eine Stimme zu geben. Sein Credo: „Die Bevölkerung ist mein Chef.“

Marco Bülow. Foto: Claus Stille

Wenn er damals von „den Menschen ohne Lobby“ sprach, meinte der ehemalige Sozialdemokrat u.a. die Fridays-For-Future-Bewegung und andere Interessengruppen, die sich für einen gesellschaftlichen Wandel einsetzen und deren Stimmen im Bundestag Gehör verschaffen.

Am vergangenen Dienstag nun überraschte Marco Bülow einmal mehr: Vor dem Reichstagsgebäude in Berlin, dem Sitz des Deutschen Bundestags, nahm Bülow während einer Pressekonferenz einen überdimensionalen Mitgliedsausweis der Partei „Die PARTEI“, überreicht von derem Vorsitzenden Martin Sonneborn (MdEP), entgegen. Ein Coup der Satirepartei: denn mit Bülow hat sie nun ihren ersten Bundestagsabgeordneten! Marco Bülow war auch im Podcast halbzehn.fm zu vernehmen.

Im Folgenden erklärt Marco Bülow dazu:

Marco Bülow. Repro: Claus Stille

„Die PARTEI hat ihren ersten Bundestagsabgeordneten … oder warum ich da jetzt mitmache

17. November 2020


„Die Krise besteht gerade in der Tatsache,
dass das Alte stirbt
und das Neue nicht zur Welt kommen kann:
in diesem Interregnum kommt es zu den
unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“
Antonio Gramsci

Seit Jahren hält die PARTEI der Gesellschaft und der Politik den Spiegel vor. Mit ihren satirischen Analysen und Kommentaren offenbart sie, wie starr und absurd die herrschende Politik und ihr etabliertes System geworden sind. Eine Politik, die immer mehr zu einer reinen Show verkommen ist. Die PARTEI hat ihren eigenen Weg gefunden, hierzulande und in Europa die herrschenden Missstände aufzudecken. Abgesehen von einigen Dokus findet ernsthafte Auseinandersetzung mit der Politik im heutigen TV nur noch in der Satire statt. Und das ist kein Zufall.

Die PARTEI und das Neue

Aus einer geballten Satireaktion der Titanic wurde eine Partei mit über 50.000 Mitgliedern! Immer mehr Menschen, die sich scharenweise von den etablierten Parteien und Politiker*innen abwenden, sind auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat. Eine immer größer werdende Zahl an Menschen – vor allem Jüngere – unterstützt die PARTEI oder sympathisiert mit ihr. Daraus entsteht eine eigene Bewegung. Die PARTEI wird zum Disrupteur, zu einem Keil gegen verkrustete Politik, gegen die Lobbyrepublik, die keine wirklichen Alternativen mehr bietet. Sie kommt an einen Punkt, wo sie über ihre bisherige Rolle hinauswächst. Sie weckt Hoffnung und könnte die Chance erhalten, die Parlamente zu hacken.

Video von der Pressekonferenz am Dienstag in Berlin vorm Reichstag via die PARTEI

Neue Bewegung

Das alte System wird sich weiter destabilisieren und wir werden neue Arten von Parteien brauchen, die sich von den klassischen Parteien unterscheiden. Die PARTEI braucht mehr aktive Unterstützung von Bewegungen, Kultur, Wissenschaft und den bisher Passiven. Dafür muss sie noch mehr konstruktive Angebote machen und weitergehende Forderungen aufstellen. Die Partei wird seriös? Nein, sie muss so weiter machen wie bisher: bissig, satirisch, überzeichnend, spottend. Denn, so sagte es ein Parteimitglied nach seinem Einzug in das Dortmunder Stadtparlament treffend: „Satire ist kein Klamauk, sie muss auch mal wehtun.“ Und sie kann auch Menschen erreichen, die sich sonst von der Politik abgewendet hätten.

Raus aus der Starre

Ich sehe für mich persönlich keine Perspektive mehr bei den etablierten Parteien, auch wenn es dort weiterhin gute Leute gibt. Ich habe mich Jahre lang für ein Rot-Rot-Grünes Bündnis engagiert. Doch die Parteiführungen haben diese Versuche immer ignoriert oder bekämpft. Heute weiß ich: Ein solches Bündnis wird es niemals geben. Es taugt nur als „Hoffnungsdieb“ vor Wahlen, um noch einige Unzufriedene zur Stimmabgabe zu bewegen. Und so wird es auch bei der nächsten Wahl nur darum gehen, ob die SPD oder die Grünen die Juniorpartner der Union werden, mit denen dann alles beim Alten bleiben wird.

Ich bekämpfe jedoch mit aller Kraft diese Verkrustung und den beherrschenden Profitlobbyismus. Gerade dort sehe ich mich im Einklang mit der PARTEI und mit Martin Sonnebor.

Meine Unterstützung

Das Neue muss in die Welt. Dafür brauchen wir Aktivismus, die Bewegungen auf der Straße. Wir brauchen die Satire und die Disrupteure, denn nur gemeinsam kann es uns gelingen, die Parlamente zu hacken und die Spielregeln zu ändern.

Ich habe eine spannende Zeit als fraktions- und parteiloser Abgeordneter erlebt. In dieser Rolle konnte ich einiges anstoßen und bewegen. Mir ist klar: Es gibt in fast allen Parteien noch die engagierten, bündnisfähigen Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht nur dem angeblichen Sach- und Fraktionszwang beugen. Ich erlebe aber, wie weit sich die übliche Profipolitik von immer mehr Menschen entfernt. Sie sehnen aber eine wirkliche Veränderung herbei. Genauso geht es mir auch.

Ich möchte in einem wachsenden Team Neues auf die Beine stellen. Macht doch mit! Denn Die PARTEI ist sehr gut.“

Quelle: Marco Bülow (MdB)

Nun hängt alles vom Kreisverband Dortmund der Partei „Die PARTEI“ ab, der Marco Bülow als Bundestagskandidaten aufstellen muss.