Die NATO-Führung und die USA mischen den Bundestagswahlkampf auf: Die BRD müsse mehr Geld ins Militär stecken, verlangen sie. Dem gehorchend, liefern sich deutsche Politiker und Parteien nun einen Überbietungswettbewerb. Das Zwei-Prozent-Ziel ist kaum erreicht – und schon Geschichte.
Von Susan Bonath
Um das „Zwei-Prozent-Ziel“ der NATO zu erfüllen, hat Deutschland seine Rüstungsausgaben innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Die nunmehr erreichten Gesamtausgaben von über 90 Milliarden Euro – fast ein Fünftel des Bundeshaushalts – genügen den Hardlinern längst nicht mehr. Die NATO-Führungsriege und US-Politiker mischen den deutschen Wahlkampf auf und fordern mehr. In Brüssel und München wird das schon diskutiert. Getreu folgend, betreiben deutsche Politiker einen regelrechten Überbietungswettbewerb in Sachen Aufrüstung.
Fünftel des Bundeshaushalts fließt in Rüstung
Endlich werde Deutschland ihr Ziel erfüllen, freute sich die NATO letzten Sommer. Auf 90,6 Milliarden Euro schätzte das imperialistische Militärbündnis des Westens den deutschen Beitrag für „Verteidigung“ für das damals noch laufende Jahr. Das ist mehr als doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor.
Damit hat Deutschland die NATO-Vorgabe sogar übererfüllt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Militarisierung auszugeben. Das deutsche BIP lag 2024 bei rund 4,3 Billionen Euro.
Im Vergleich zum gesamten Bundeshaushalt wird die aktuelle Dimension sehr deutlich: Fast jeder fünfte Euro der Staatsausgaben – also knapp 20 Prozent – floss demnach in Militär und Rüstung. Der Haushalt war für 2024 mit knapp 477 Milliarden Euro veranschlagt.
NATO und US-Politiker fordern mehr
Den NATO-Führern reicht das längst nicht mehr. Sie fordern von den Bündnismitgliedern in Europa inzwischen, ihre Militärhaushalte sogar auf 3,6 Prozent ihres BIP aufzustocken. Deutschland müsste danach 160 Milliarden Euro in das Rüstungs- und Kriegsgeschäft pumpen – ein Drittel des Bundeshaushalts.
Das neue Ziel von 3,6 Prozent des BIP wird auf der Münchner Sicherheitskonferenz schon ernsthaft diskutiert. Die neoliberale „Logik“ kann darin nur Positives sehen: Aufrüstung werde die Wirtschaftsleistung der NATO-Staaten steigern, so die Behauptung. Das Springer-Blatt WELT jubelte gar: „Megatrend Rüstung – die neue Wachstumschance für Europa“.
Die Trump-Regierung pokert bereits noch höher: Sie peilt Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Staaten von sogar fünf Prozent des BIP an. Der neue US-Verteidigungsminister Peter Hegseth schlug in Brüssel einen Stufenplan vor: Die Länder inklusive Deutschland sollten ihre Rüstungsausgaben zunächst auf drei, dann vier und schließlich auf fünf Prozent vom BIP steigern.
Bei Militärausgaben von fünf Prozent des BIP wäre die Bundesrepublik heute mit gut 215 Milliarden Euro dabei. Das wären 45 Prozent, somit fast die Hälfte des deutschen Gesamthaushalts. Ohne eine drastische Steigerung desselben müssten die Staatsausgaben für Soziales, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit weiter sinken – was den Verfall und die Verelendung verschärfen würde.
Für Arme und Kinder bleibt nichts übrig
Zum Vergleich dazu: Für die gesamten Bürgergeldleistungen waren vergangenes Jahr 26,5 Milliarden Euro eingeplant – weniger als ein Drittel der derzeitigen Militärausgaben. Dennoch suggeriert die Politik, vor allem CDU, CSU, FDP und AfD, der deutsche Sozialstaat platze wegen der Bürgergeldbezieher aus allen Nähten. Der mutmaßliche künftige CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz hat weitere Kürzungen schon angekündigt.
Um noch viel weniger Geld ging es bei der von SPD und Grünen im Wahlkampf 2021 verkündeten, aber gescheiterten Kindergrundsicherung. 7,5 Milliarden Euro sollten dafür ursprünglich ausgegeben werden. Nicht nur die FDP, sondern auch die CDU/CSU-Fraktion befand das für viel zu hoch. Nach endlosen Debatten und einem Gegenantrag aus der Union einigte sich die Ampel 2023 zunächst auf jährliche Ausgaben von nur noch 2,4 Milliarden Euro. Eine Kindergrundsicherung gibt es bis heute aber nicht.
Bis fünf Prozent: Deutsche Parteien im Rüstungswettstreit
Die Unionsparteien CDU und CSU halten in ihrem Wahlprogramm die Grenze für Rüstungsausgaben mit der Formulierung einer „Untergrenze von zwei Prozent“ nach oben offen. Deutschland müsse so viel ausgeben wie nötig. Sie wollen die Truppen modernisieren und personell aufstocken, unter anderem mittels Wehrpflicht. Wie viel das koste, „ob nun 2,5 oder fünf Prozent“, sei „zweitrangig“, erklärte CDU-Chef Merz im Januar.
Die für permanentes neoliberales Einknicken bekannte SPD spricht ebenfalls von mindestens zwei Prozent, genauso die FDP, die sich aber strikt „an den NATO-Vorgaben orientieren“ will. Die früher einmal friedenspolitisch, heute kriegspolitisch aktiven Grünen verlangen programmatisch „deutlich mehr als zwei Prozent“, Parteichef Robert Habeck trommelte im Januar für Ausgaben von 3,5 Prozent vom BIP.
Die AfD erklärt lediglich, Deutschland müsse „über viele Jahre“ mehr für die Bundeswehr ausgeben und auf jeden Fall die Wehrpflicht wieder vollumfänglich einsetzen. Gegenüber dem ZDF erläuterte Parteichefin Alice Weidel, sie sei dabei offen für das von US-Präsident Donald Trump propagierte Fünf-Prozent-Ziel, wenn dies nötig sei, betonte aber zugleich, ihre Partei lege den Fokus auf Verteidigungsfähigkeit.
Ein bisschen Friedenspolitik
Die Linkspartei betont zwar in ihrem Wahlprogramm, sie lehne eine Wehrpflicht ab und bekundet: „Frieden schaffen gelingt nicht über weitere Hochrüstung, sondern über eine aktive Sicherheitskooperation in Europa“, gibt aber keine Summen oder Prozente für die Militärausgaben an. Deutschland müsse die Bundeswehr zur Landesverteidigung befähigen, heißt es.
Ähnlich propagiert es das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Es befürworte keine Wehrpflicht, kein verpflichtendes Dienstjahr, wolle aber „freiwilliges soziales Engagement stärken“. Die Rüstungsausgaben möchte das BSW wieder unter die Zwei-Prozent-Marke senken, denn: „Mehr Aufrüstung macht die Welt nicht sicherer“.
Eine Abkehr Deutschlands von der NATO steht jedoch bei keiner der größeren Parteien im Programm. Lediglich die nicht in allen Bundesländern antretende linke Kleinpartei MERA25, ein deutscher Ableger der vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis gegründeten europäischen Linkspartei DiEM25, erklärt konkret, Deutschland müsse aus der NATO austreten. Perspektivisch sei ihr Ziel eine „weltweite nukleare und militärische Abrüstung“ und „ein blockfreies Europa ohne NATO“. Dem müsse Deutschland vorangehen.
Quelle: RT DE
Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.
IPPNW-Pressemitteilung vom 11. Juli 2024 NATO-Gipfel in Washington
Die ärztliche Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW kritisiert die Beschlüsse der NATO als weitere Stufe der Eskalation und brandgefährlich. Mit der Ankündigung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland sollen erstmals seit dem Abzug der atomaren Mittelstreckenraketen im Jahr 1991 im Zuge des INF-Abkommens wieder Raketen auf deutschem Boden stationiert werden. Tomahawks können mit konventionellen oder atomaren Sprengköpfen bestückt werden. Am 1. Februar 2019 hatten die USA das INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenrakten aufgekündigt. Zudem ist die Einrichtung eines neuen Ukraine-Kommandos in Wiesbaden ein weiterer Eskalationsschritt, der Deutschland tiefer in den Krieg hineinzieht.
„Der Konflikt um die Entwicklung der sowjetischen SS-20-Raketen und der NATO-Doppelbeschluss im Jahr 1979 hat die Welt an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Wer den Krieg verhindern will, muss den Frieden vorbereiten, statt weitere Schritte in Richtung atomarer Eskalation zu gehen“, erklärt die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen. Die IPPNW fordert als ersten Schritt eine Risikominderung: Die drei westlichen Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich sollten gemeinsam mit China auf Russland zuzugehen und eine Doktrin des Verzichts auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen erklären. Die Verhinderung eines Atomkrieges und die Beendigung des Ukrainekrieges gehören zusammen und müssen für die Bundesregierung oberste Priorität haben, so die IPPNW. Zur Vermittlung würden China und weitere Staaten des globalen Südens gebraucht. Die Bundesregierung könne beispielsweise den 6-Punkte-Plan von China und Brasilien vom 23. Mai 2024 unterstützen.
Die Zeichen einer atomaren Eskalation mehren sich. Weltweit werden laut dem schwedischen Friedensinstitut SIPRI die Atomarsenale aufgerüstet und Abkommen gekündigt: Neben dem INF-Vertrag kündigten die USA 2002 den Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr und im Jahr 2020 den Vertrag über den Offenen Himmel. Im Bereich der strategischen Nuklearwaffen gibt es nur noch den New-Start-Vertrag, der aber 2026 ausläuft und dessen Inspektionen Russland im Zuge des Ukrainekrieges eingestellt hat.
Derweil droht Russland mit Atomwaffen, die Ukraine greift russische Frühwarnsysteme an und die Bundesregierung erteilt der Ukraine die Erlaubnis, im Ukrainekrieg deutsche Waffen auch auf russischem Territorium einzusetzen. Der russische Politologe Dmitri Trenin empfiehlt in einem Text vom 21. Juni 2024 die russische Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken. Anstelle der „Bedrohung der Existenz des Staates“ sollte eine der Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen die „Bedrohung der lebenswichtigen Interessen des Landes“ sein. Ein ehemaliger nationaler Sicherheitsberater von Donald Trump fordert laut der New York Times, Washington müsse „neue Atomwaffen auf ihre Zuverlässigkeit und Sicherheit in der realen Welt testen.“
Mit Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der NATO begann an diesem Dienstag in der Hauptstadt der USA der dreitägige Gipfel des umstrittenen Militärbündnisses. Zahlreiche US-Friedensgruppen inklusive der „Veteranen für Frieden“ nahmen dies zum Anlass, um mit einem Gegengipfel unter dem Titel „No to Nato – Yes to peace“ und einer Demonstration vor dem Weißen Haus ihren Protest gegen den Kriegskurs der NATO zum Ausdruck zu bringen. Die BSW-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hielt am 6. Juli die Keynote-Rede zur Eröffnung des Gegengipfels. Die NachDenkSeitendokumentieren die Rede im Wortlaut:
Pünktlich zu ihrem 75. Geburtstag lässt die NATO die Maske fallen. Der Washingtoner NATO-Gipfel ist dabei ein aufklärerischer Geburtshelfer. Die Geschichte der Aufklärung lehrt uns, nie das Selbstbild einer Person oder auch einer Organisation für wahr zu nehmen. Das gilt auch für die frühe Aufklärung im alten Griechenland. Die alten Griechen hatten bereits diese Erkenntnis. Über dem Apollon-Tempel stand deshalb die Losung: Erkenne Dich selbst.
Wenn wir diese Aufforderung einmal nicht nur nehmen als zarten Hinweis auf die Begrenztheit menschlichen Denkens, sondern mit dem griechischen Philosophen Heraklit sagen: „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken“, dann sagen wir, dass die Selbsterkenntnis zum Wesensmerkmal eines Menschen gehört und vielleicht auch einer Organisation.
Bei der NATO aber scheint es genau andersherum zu sein. Hier gehört die Selbstverleugnung zum Wesenskern der Organisation. Oder, um es anders auszudrücken, eine geradezu meditative Versenkung in das eigene Selbstbild gehört zum Wesenskern des Militärpakts. Es ist umso erstaunlicher, dass in der westlichen Welt dieses Selbstbild tausendfach oft nur medial gespiegelt wird, ohne es zu hinterfragen oder auch dahin zu befragen, ob dieses Selbstbild der Realität standhält.
75 Jahre NATO sind eben auch 75 Jahre Selbstverleugnung, allerdings mit massiv steigender Tendenz in den letzten Jahren. Auch weil die drei großen Mythen der NATO verblassen.
Erstens: Ein zentraler Mythos der NATO ist der einer Verteidigungsgemeinschaft, die sich dem Völkerecht verpflichtet sieht. Die NATO ist eine Gemeinschaft der Rechtsstaaten, die sich an Recht und Gesetz halten und ihr Handeln dem internationalen Recht unterwerfen und ausschließlich das Gebiet ihrer Mitgliedsstaaten verteidigen.
Wenn wir die NATO aber nach ihrer wirklichen Politik befragen, so müssen wir feststellen:
Die NATO selbst hat 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführt. Zu den NATO-Kriegsverbrechen gehörten etwa die Bombardierung eines Fernsehsenders in Belgrad und die angeblich versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft, bei der drei chinesische Journalisten getötet wurden.
2011 wiederum überfiel die NATO Libyen. Unter Missbrauch einer Resolution des UN-Sicherheitsrates wurde ein Krieg zum Regime Change geführt, in dessen Folge Islamisten die Macht in einem Landesteil übernahmen. Das Land selbst wurde in furchtbares Elend gestürzt, bis hin zu einer Rückkehr der Sklaverei.
In Afghanistan wiederum beteiligte sich die NATO seit 2003 an einem Krieg fernab des Bündnisgebiets, nur um nach 20 Jahren die Macht an die Taliban zu übergeben, zu deren Beseitigung man eigentlich losgezogen war. Dieser zwanzigjährige Krieg in Afghanistan war geprägt von zahlreichen Kriegsverbrechen, die allesamt ungesühnt blieben.
Die NATO hat das Motto der Musketiere übernommen. Alle für einen und einer für alle. Deshalb gilt insbesondere, dass auch die Taten der einzelnen NATO-Mitglieder der Organisation selbst zugerechnet werden müssen. Die Brown-Universität spricht allein von 4,5 Millionen Toten in Folge der US-Kriege im Nahen Osten in den vergangenen 20 Jahren. Kriege wie im Irak, die auf einer Lüge beruhten und schlicht üble Völkerrechtsbrüche waren.
Das Selbstbild der NATO als eine Gemeinschaft der Verteidigung und des Völkerrechts stimmt eben einfach nicht mit der Realität überein. Wir müssen sogar sagen, dass das Gegenteil stimmt. Die NATO ist eine Gemeinschaft des Rechtsbruchs und der Völkerrechtsbrecher, die einzeln oder als Organisation Angriffskriege führt, wenn es ihr denn politisch opportun erscheint.
Zweitens: In der Öffentlichkeit am eindrücklichsten vorgetragen ist vielleicht der Mythos der NATO als einer Gemeinschaft der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Wenn wir aber in die Vergangenheit blicken, blamiert sich dieses Selbstbild geradezu. Portugal war bis 1974 eine faschistische Diktatur, die blutige Kolonialkriege in Angola und Mozambique führte. Wer sich gegen die koloniale Unterdrückung wehrte, wurde wie etwa in Tarafal auf den Kap Verden in Konzentrationslager gesperrt. Viele Menschen aus Angola oder Guinea-Bissau wurden dort zu Tode gequält. Selbstverständlich war das faschistische Portugal NATO-Mitglied. So wie Griechenland und die Türkei nach den Militärputschen.
Quelle: World Beyond War
In der NATO selbst gab es eine Geheimorganisation Gladio, wie wir heute wissen, die immer dann in Aktion trat, wenn es Gefahr gab, dass sich demokratische Mehrheiten bildeten, die gegen eine NATO-Mitgliedschaft votieren könnten. In Italien wurden etwa im Namen linksradikaler Gruppen Terroranschläge verübt, um eine Regierungsbeteiligung der Kommunistischen Partei Italiens zu diskreditieren. Aber so könnte man ja einwenden, das sei eine Zeit der Vergangenheit, jetzt aber stünde die NATO bereit für den globalen Kampf der Demokraten gegen Autokraten. Aber auch hier wird jeder ernstzunehmende Beobachter konstatieren müssen, dass dieses Selbstbild auch im 21. Jahrhundert schief ist.
Nehmen wir einmal die Türkei unter Präsident Erdogan, die wiederholt völkerrechtswidrige Kriege gegen den Irak und Syrien geführt hat und führt, die islamistische Terrorgruppen in Syrien unterstützt hat und die, so etwa die Einschätzung der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, eine Aktionsplattform für Islamisten ist – die Türkei war und ist immer ein willkommenes NATO-Mitglied.
Bilaterale Sicherheitsabkommen wie mit Franco-Spanien schließt man heute mit Ländern wie Saudi-Arabien oder Katar, im Bewusstsein, dass es sich erklärtermaßen nicht um Demokratien handelt. Es geht also allein um Geopolitik. Die NATO ist keine Gemeinschaft der Demokraten und sie verteidigt auch nicht die Demokratie.
Und drittens nun gibt es die Behauptung über sich selbst, die NATO schütze die Menschenrechte. Selbst wenn wir davon absehen, dass die NATO millionenfach das Recht auf Arbeit, das Recht auf Gesundheit oder auch das Recht auf eine angemessene Wohnung mit Füßen tritt aufgrund der zunehmenden Armut und der immer größeren Umverteilung von Reichtum von unten nach oben, stimmt dieses Bild eben auch nicht international.
Während wir hier diskutieren, sitzen immer noch Häftlinge im Lager in Guantanamo ein, seit über 20 Jahre ohne Prozess. Das ist die Realität der Menschenrechte. Und wenn es um Meinungs- und Pressefreiheit geht, haben die USA unterstützt von den anderen NATO-Staaten versucht, ein Exempel an Julian Assange zu statuieren. 14 Jahre lang haben sie ihn gequält. Sein Verbrechen war allein, dass er Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hatte. Man hat eine Schmutzkampagne gegen ihn losgetreten. Sowohl Clinton als auch Pompeo hatten überlegt, wie man ihn ermorden könnte. Das ist die Realität, wenn wir vom Verhältnis der NATO zu den Menschenrechten sprechen und ich bin überglücklich, sagen zu können, Julian Assange ist frei. Am Ende war die internationale Kampagne, waren die vertrauensvollen Gespräche erfolgreich. Aber wir müssen zugleich erkennen, der Kampf um Julian Assanges Freiheit ist der Kampf um die Freiheit selbst. Und dieser Kampf findet hier im Herzen der NATO statt.
Wenn man sich anschaut, wie dicht die Propaganda ist, diese Mythen der NATO Tag für Tag nimmermüde regelrecht zu zelebrieren, nimmt es sich geradezu wie ein Wunder aus, dass die Unterstützung für die NATO nicht nur weltweit bröckelt, sondern dass gerade die Menschen, die am stärksten der NATO-Propaganda in Vermittlung ihres Selbstbilds ausgesetzt sind, dem Militärpakt mit wachsender Skepsis gegenüberstehen. In den USA sinkt die Zustimmung zur NATO kontinuierlich in den letzten Jahren, in Deutschland stellt eine Mehrheit das Prinzip der Bündnisverteidigung infrage und ist nicht mehr bereit, sich zum Artikel 5 des NATO-Vertrages zu bekennen.
Warum ist das so? Warum fangen die Menschen an, an der NATO zu zweifeln? Trotz aller Propaganda?
Die Antwort ist denkbar einfach, Die NATO selbst ist es, die in die Krise stürzt und dies spüren die Menschen.
Während ihre Verteidiger von dem Militärpakt sprechen, als sei er für die Ewigkeit gebaut, unterhöhlt die Orientierung der NATO auf Eskalation in der Ukraine und Expansion nach Asien die Fundamente der Allianz selbst. Wie ein Reich geht die NATO in die eigene Falle der Überspannung. Die NATO ist dabei ein politischer Dinosaurier. Sie ist nicht bereit, von der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg zu lernen und scheint – nur jetzt auf einer globalen Ebene – die grotesken Fehleinschätzungen des Deutschen Kaiserreichs zu wiederholen.
Das Kaiserreich hielt einen Zweifrontenkrieg für führbar. Heute greift in der NATO die Überzeugung Raum, dass man sich sowohl gegen Russland und China als auch im Nahen Osten engagieren müsse. Ein globaler Hegemonieanspruch wird da formuliert. Welche Hybris! DIE NATO sieht sich in einem Dreifrontenkrieg. Wenn dies stimmte, ist die Niederlage schon programmiert.
So ist es nur folgerichtig, dass es auf dem NATO-Gipfel in dieser Woche drei Sitzungen geben soll. Zunächst einmal eine Arbeitssitzung, auf der man berät, wie die eigene Hochrüstungspolitik noch weiter gesteigert werden kann. Dann steht der Ukraine-NATO-Rat auf dem Programm. Dort soll es darum gehen, wie die üppigen Finanztransfers und Zusagen der NATO an die Ukraine weiter aufgefüllt werden können, um eine Steigerung der Waffenlieferungen und um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Als Drittes wird dann eine Sitzung mit den so genannten AP4-Staaten, den Asien-Pazifik-Partnern der NATO anvisiert, also mit Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea, wie auch ein Treffen mit den EU-Spitzen.
75 Jahre nach ihrer Gründung soll die NATO helfen, die Eskalation in der Ukraine weiter voranzutreiben, wie auch die Expansion nach Asien. Man will die NATOisierung Asiens vorantreiben und dort ein Konzept in Stellung bringen, dass man aus seiner Sicht bereits erfolgreich gegenüber Russland in Anschlag gebracht.
Dabei geht es vorerst nicht um einen direkten NATO-Beitritt asiatischer Staaten, sondern um eine Erweiterung der NATO-Einflusszone über bilaterale Sicherheitsabkommen, nicht nur mit den AP4, sondern auch mit den Philippinen, Taiwan und Singapur.
Wie die Ukraine zum antirussischen Frontstaat aufgebaut wurde, so setzt man darauf, Staaten in Asien wie die Philippinen zu Herausforderungsstaaten Chinas transformieren zu können. Vorerst mit dem Ziel, einen kalten Stellvertreterkrieg zu führen, aber zugleich alle Vorbereitungen für einen heißen Stellvertreterkrieg der USA und der NATO in Asien zu treffen.
So wie man gegenüber Russland bei der NATO-Erweiterung auf das „boiling frog“-Prinzip gesetzt und die Erweiterung scheibchenweise vorangetrieben hat, um Russlands Argwohn nicht zu erwecken, so setzt man jetzt gegenüber China darauf, nach und nach Staaten in eine mögliche Kriegsphalanx einzureihen. Ziel aber ist immer, den Krieg nicht selbst führen zu müssen, sondern auf die Ressourcen der Alliierten zurückgreifen zu können, um diese kalten und bald heißen Kriege führen zu können. Flankiert wird dies von Wirtschaftskriegen, die jetzt auch auf China übergreifen und deren Hauptlast die Ökonomien der Klientelstaaten tragen.
Die USA und die NATO setzen auf die Strategie des chinesischen Militärstrategen Sun Tsu, der den Krieg ohne den Einsatz eigener Ressourcen als den erstrebenswerten Krieg bezeichnet.
Das Problem der NATO-Strategen ist dabei nicht nur ihre Bereitschaft, eine ganze Welt anzuzünden, sondern durch ihren globalen Anspruch Allianzen von Staaten mit zu befördern, die nicht Teil ihrer Allianz sein wollen. Diese Politik hat den Aufstieg der BRICS stark mit befördert, denn für viele Staaten ist dieser Zusammenschluss das Mittel, die eigene Souveränität schützen zu können.
Wenn es denn Förderer einer multipolaren Welt gibt, so sind paradoxerweise die USA und ihre NATO-Alliierten an erster Stelle zu nennen. Selbst Staaten wie Indien und Vietnam weigern sich, sich der NATO-Strategie unterzuordnen. Und durch ihre bedingungslose Unterstützung für die in Teilen rechtsextreme Regierung Benjamin Netanyahus verliert die NATO im globalen Süden jede moralische Legitimität, da sie als Unterstützerin israelischer Kriegsverbrechen gesehen wird.
Wie gesagt, im Westen bröckelt die Unterstützung in der Bevölkerung für eine NATO der Eskalation und der Expansion. In Deutschland fordern 55 Prozent der Bevölkerung, es dürfe keinen NATO-Beitritt der Ukraine geben. Eine Mehrheit lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und fordert einen sofortigen Waffenstillstand. In den USA ist die Finanzhilfe von bisher 200 Milliarden Dollar an die Ukraine inzwischen äußerst unpopulär. Immer mehr Menschen wollen das Geld an ein korruptes System in Kiew stoppen, das zudem noch einem rechtsradikalen Staatskult um den Nazikollaborateur Stepan Bandera huldigt.
Die Mythen der NATO verblassen! Ihre imperialen Strategien gehen an der eigenen Überspannung zu Grunde. Es braucht dagegen einen sofortigen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und endlich einen Waffenstillstand. Und wer auf Frieden und Sicherheit für die eigene Bevölkerung setzt, muss den aggressiven Expansionskurs in Richtung Asien stoppen.
Und nicht zuletzt ist der Kampf gegen die NATO ein Kampf um die eigene Souveränität. Als Bündnis von Klientelstaaten gerät Europa in Gefahr, unterzugehen. Eine Emanzipation wie in Lateinamerika steht noch aus. Ein erster Schritt wäre, sich nicht mehr dumm machen zu lassen von einer Militärallianz, die ihre aggressive Strategie mit einem sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung finanziert.
«Die NATO», schreibt Sevim Dagdelen in der Einleitung zu ihrem Buch „Die NATO“, «begeht im Jahr 2024 ihren 75. Geburtstag und scheint auf dem Höhepunkt ihrer Macht.« Ein Grund zur Freude und zu Jubelgeschrei? Wohl kaum. Nicht bei Menschen jedenfalls, die genau hinschauen und gut informiert sind kann dies der Fall sein.
Dagdelens Buch trägt den Untertitel „Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“.
Darin wird auf gründlicher Analyse fußend ordentlich aufgeräumt mit den gängigen Mythen bezüglich des Militärbündnisses. Den Bürgern wird seitens Politik und der Medien die NATO von jeher als Verteidigungsbündnis verkauft. Die Leute nahmen und nehmen das im Grunde so hin. Nur wenige hinterfragen das. Zumal unsere Leitmedien und die öffentlich-rechtlichen Medien in der Regel eher NATO-freundlich berichten.
Friedensaktivisten wie beispielsweise Reiner Braun betrachten das Bündnis jedoch seit Jahrzehnten kritisch und klären auf.
Reiner Braun: NATO ist seit Gründung Aggressionsbündnis
Auf einer Friedenstagung im September 2019, welcher ich beiwohnte, unternahm Reiner Braun einen historischen Rückblick auf die 1949 von 12 Ländern gegründete NATO (1950 kam Westdeutschland, die Alt-BRD hinzu), welchen er mit damals aktuellen Fragestellungen der Zeit verband. Zu dieser Zeit waren 30 Länder Mitglied in der NATO. Der Counterpart, so Braun, die Sowjetunion, ist nicht mehr da. Doch die NATO habe sich dennoch gen Osten ausgeweitet. Heute sei die NATO kein Nordatlantisches Militärbündnis mehr, das vielleicht noch für die Zeit bis 1990 gestimmt habe. Braun: „Die NATO ist das Militärbündnis dieser Welt zur Sicherung von Ressourcen und Profiten.“ Es sei u.a. selbst mit Kolumbien, einem Bürgerkriegsland verbunden, wo NATO-Übungen stattfänden. Selbst mit Brasilien, dem größten Land Lateinamerikas buhlten der Faschist ((Bolsanaro) und die NATO um eine Zusammenarbeit.
Der entscheidende Erweiterungshorizont sei Asien. Es ginge fraglos dabei um den zweiten Hauptfeind der NATO, China, das eingekreist werden solle.
Dies werfe die Frage auf: „Ist eigentlich dieses Bündnis immer noch, oder war es jemals ein Verteidigungsbündnis?“ Er würde gerne behaupten, so Braun, dass die NATO schon seit ihrer Existenz ein Aggressionsbündnis war. Es sei immer gegen die Ergebnislage des Zweiten Weltkriegs vorgegangen.
Von Anfang an habe die NATO dazu gedient, die Sowjetunion wieder zu einem Russland zurückzudrängen. Auch, indem man die Länder des Ostblocks zu „befreien“ vorgab. Die NATO habe aktiv daran gearbeitet das die Linksregierungen in Frankreich und Italien beendet wurden. Auch habe die NATO in den 1950er und 1960er Jahren eine aggressive Atomwaffenstrategie (mit dem Ziel eines Ersteinsatzes (!) von Atomwaffen) verfolgt. Eine NATO-Direktive habe sogar den Titel „Atombombenziel Sowjetunion“ getragen. Eingezeichnet gewesen seien da auf einer Karte die 200 größten Städte und Orte der UdSSR. Der Vorwurf seitens der NATO betreffs einer atomaren Vorrüstung der Sowjetunion sei stets eine Lüge gewesen. Immer habe Moskau auf westliche Vorrüstung reagiert und nachgerüstet.
Nach 1990, so Reiner Braun, habe die NATO sehr schnell darauf gesetzt, das Feinbild Russland wiederzubeleben. Braun: „Heute geht es der Nato eindeutig darum Russland einzuzirkeln und einzugrenzen und China einzuzirkeln und einzugrenzen.“ Es gehe um nichts anderes als um eine westliche Dominanz in einer veränderten Welt zu bewahren. Das sei gefährlich, da sie zu einer Eskalationsspirale führe, zu der auch ein faktisch vertragsloser Zustand zwischen den großen Mächten gehöre. Das berge eine große Kriegsgefahr – sogar Atomkriegsgefahr – in sich. Dringend nötig sei ein Zurück zu „einer kooperativen Sicherheit, zu einer Politik der gemeinsamen Sicherheit, zu Abrüstung.“ (Aus meinem Beitrag „Friedensperspektive statt Kriegsplanung – Tagung in Essen“ von 2019)
Wir stehen ein paar Zoll näher am Abgrund
Inzwischen hat die NATO seit dem Beitritt von Finnland und Schweden bereits 32 Mitglieder. Und wir sind einen Schritt weiter. Zum Frieden? Ganz im Gegenteil! Wir stehen ein paar Zoll näher am Abgrund, in welchen wir bereits sehenden Auges zu) lange hineingeblickt haben. Und der schon (frei nach Friedrich Nietzsche) scharf und immer schärfer zurückblickt. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow gegenüber gegebene Zusicherungen (wenngleich leider nicht schriftlich fixiert) offensichtlich „vergessen“ und nicht eingehalten worden sind.
BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 31.1.1990:
«Die Veränderungen in Europa und der deutsche Einigungsprozess dürfen nicht zu einer Beschneidung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen. Daher sollte die NATO eine Gebietserweiterung nach Osten, d.h. ein Heranrücken an die sowjetischen Grenzen ausschließen.«
Genschers damaliger US-Amtskollege James Baker am 9.2.1990:
«Nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für andere europäische Länder ist es wichtig, Garantien zu haben, dass, wenn die Vereinigten Staaten ihre Präsenz in Deutschland im Rahmen der NATO beibehalten, sich der derzeitige militärische Hoheitsbereich der NATO keinen Zoll weit nach Osten ausweiten wird.«
Quelle: Zitiert aus dem Buch «Putin – Herr des Geschehens?« von Jacques Baud. Meine Rezension zu dessen Buch hier.
Wie die NATO funktionieren sollte
Daran wie die NATO funktionieren sollte erinnert Sevim Dagdelen hier: «Die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und die Deutschen am Boden«, so hatte einst Lord Hastings Lionel Ismay, der erste Generalsekretär des Militärpakts die zentralen Aufgaben sikzziert.
Im 21. Jahrhundert scheint diese Formel modernisiert worden zu sein. Jetzt ist die NATO dazu da, die Amerikaner oben zu halten, Russland und China herauszufordern und den Abstieg der Europäer zu begleiten.“ (S.47)
Vasallen Washingtons
Sevim Dagdelen: «Das Vasallenverhältnis in der NATO ist eine Mischung aus Washingtoner Diktat und voraus- oder nacheilender Umsetzung durch die Regierung der jeweiligen Staaten. Dieses Verhältnis von Herr und Knecht geht weit über das hinaus, was im NATO-Vertrag ohnehin an Bestimmungen zur Sicherung der US-Dominanz enthalten ist. So ist zum Beispiel vertraglich festgelegt, dass der Oberkommandierende über alle NATO-Operationen (Alliierter Oberkommandierender in Europa) immer ein US-Amerikaner sein muss, in Personalunion mit dem Posten des Oberkommandierenden der US-Truppen in Europa. Während man früher noch argumentieren konnte, dies sei gerechtfertigt, da die USA den höchsten Prozentsatz an den Gemeinschaftskosten leisteten, gilt seit 2021 selbst das nicht mehr. Denn auf Drängen von US-Präsident Trump hat Deutschland seinen Anteil an den NATO-Gemeinschaftskosten erheblich erhöht und zahlt seit 2021 den gleichen Beitrag wie die USA.“ (S.46)
Drastische Worte über die NATO fand vor einiger Zeit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron : «Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO“, sagte Macron in einem Interview mit dem englischen Magazin „The Economist“.
Frankreichs Präsident bezog sich dabei vor allem auf die Geschehnisse in Syrien: Dort hätten zwei NATO-Mitglieder, die USA und die Türkei, zuletzt ohne jede Absprache mit ihren Partnern gehandelt, obwohl deren Interessen auf dem Spiel stehen würden. Die Türkei zeige ein „unkoordiniertes, aggressives“ Vorgehen.
Auch zur Rolle der USA in der NATO äußerte sich Macron. „Wir finden uns das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten (gemeint war Donald Trump; C.S.) wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt“, sagte Macron weiter.
Sevim Dagdelen entkleidet die Mythen der NATO bis auf die bröselnden Knochen
Sachlich-argumentativ entkleidet Sevim Dagdelen die der NATO angehefteten Mythen. Zunächst: „Mythos Verteidigung und Völkerrecht“ (S.8). Und dann „Mythos Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ (S.12). Darin erfahren wir, wie die NATO neben Demokratien auch die faschistische Diktatur Salazars in Portugal, das sogar Gründungsmitglied des Militärbündnisses war, goutierte und „die USA Portugal in die Gemeinschaft der Demokraten ein“(reihte). „Mit dem faschistischen Diktator, Francisco Franco, schließen die USA bilaterale Sicherheitsabkommen“ (…)
Die Türkei darf auch nach dem Militärputsch von 1980, wo tausende politische Gefangene gefoltert und Menschen getötet wurden Mitglied der NATO bleiben.
Ebenso wird Griechenland nach dem Militärputsch von 1967 in der NATO. Dagdelen: «Einer Mitgliedschaft ist die Herrschaft der Generäle nicht abträglich.« (S.13)
Sevim Dagdelen befindet zu diesem Mythos: «Wie auf einem auf Lügen gebauten Reich lebt die NATO von dieser Mär. In Schulen und Universitäten sind diese Lügen Teil des Bildungsprogramms zur NATO.« (S.13/14)
Es folgt das Kapitel „Mythos Wertegemeinschaft und Menschenrecht“ (S.14)
Die Autorin zitiert: «Unsere gemeinsamen Werte – individuelle Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – verbinden uns.«
„So stellt sich die NATO in ihrem Strategischen Konzept 2022 als Wertegemeinschaft dar. Durch die Kriege der USA und ihrer Verbündeten sind allein in den vergangenen 20 Jahren viereinhalb Millionen Menschen gestorben, bilanzierten hingegen die renommierte Brown University in Rhode Island, USA,“
Werte Leserinnen und Lesen, machen Sie sich selbst ein Bild, indem Sie dieses wichtig Buch lesen. Was bleibt von all diesen Mythen über die NATO, die uns da postuliert werden, nach deren Entkleidung durch die Autorin übig? Doch kaum mehr als ein bröselndes Skelett!
Dagdelen: «Im Globalen Süden wird diese Doppelmoral des Westens immer stärker kritisiert. Die Menschenrechtsrhetorik von NATO-Staaten gilt dort als rein instrumentell, um eigene geopolitische Interessen zu verbergen oder durchzusetzen. Die NATO erscheint als Wächterorganisation einer zutiefst ungerechten Weltordnung mit neokolonialen Tendenzen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass NATO-Mitglieder beim Wirtschaftskrieg gegen Russland mit sogenannten Sekundärsanktionen Drittstaaten wie China, die Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten unter Verletzung von deren Souveränität die eigene Politik aufzuzwingen. Die Mythen der NATO verklären den Blick auf die Wirklichkeit. Um Auswege aus der gegenwärtigen Krise zu finden, bedarf es ihrer Enthüllung.« (S.17)
«Wir brauchen Frieden statt NATO«
Diese Enthüllung hat Sevim Dagdelen in ihrem Buch aufklärend betrieben. Sie hat die NATO und ihr Tun gründlich analysiert. Und mit Quellen untermauert. So erkennen wir das „Wertebündnis“ an dessen Taten.
Dennoch bleibt die Autorin realistisch: Auf eine Selbstauflösung der NATO solle keine Hoffnung gesetzt werden, schreibt sie. «Schließlich droht der Militärpakt im Fallen alles mit sich zu reißen. Umso dringender ist es, an Alternativen zu arbeiten, um eine Katastrophe zu verhindern. Eine wünschenswerte Auflösung der NATO bei Schaffung eines alternativen kollektiven Sicherheitssystems scheint gegenwärtig in weiter Ferne zu liegen.« (S.114)
Alle wesentlichen Kriege und Konflikte bis hin zum Krieg in Gaza sind berücksichtigt. Dagdelen meint abschließend: «Das Streben nach Alternativen zurNATO ist Widerstand zu einer Weltkriegspolitik. Wir brauchen Frieden statt NATO.« (S.118)
Unbedingte Leseempfehlung! Das Buch sollte Schullektüre werden.
Der Westend Verlag zum Buch
«75 Jahre nach ihrer Gründung scheint die NATO auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Eine blutige Spur sowie drei große Mythen ziehen sich durch die Geschichte des „Wertebündnisses“ von seiner Gründung bis in die Gegenwart. Heute fordern der Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine, soziale Verwerfungen durch exzessives Hochrüsten sowie die Einkreisung Chinas in Asien den Militärpakt in nie da gewesener Form heraus. Die NATO setzt auf Eskalation. Was mit der Lieferung von Helmen an die Ukraine begann, ist nun der Ruf nach Soldaten. Mit ihrer expansiven Geopolitik treibt die NATO die Welt näher an den Rand eines Dritten Weltkrieges als jemals zuvor. Es ist Zeit für eine Abrechnung, fordert Sevim Dagdelen.«
Sevim Dagdelen
Die NATO
Erscheinungstermin
07.04.2024
Einbandart
kartoniert
Seitenanzahl
128
ISBN
9783864894671
Preis inkl. MwSt.
16,00 €
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Nur 20 Menschen waren bei dieser Geburtstagsfeier zu 75 Jahren NATO in Wien dabei. Aber diese kleine Gruppe – alles „geladene Gäste“ – wurde von mehr Menschen wahrgenommen als es 2.000 Menschen auf dem Ring oder eine Standkundgebung am Heldenplatz erreicht hätten. Das Anliegen der Veranstalter – Kritik an der NATO sichtbar zu machen und ein Zeichen gegen die NATO-Kontakte Österreichs zu setzen – wurde definitiv erreicht.
Diese Veranstaltung war in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen brandaktuell, nachdem US-Außenminister Antony Blinken vorgeschlagen hatte, einen „Fahrplan für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu erstellen“ und NATO-Generalsekretär Stoltenberg wohl der Ansicht ist, dass „es notwendig ist, militärische Lieferungen von NATO-Staaten an die Ukraine nicht freiwillig, sondern verpflichtend zu machen.“
Eskortiert von vier Polizisten einer Einsatzeinheit, die den Marsch auch anführten, zog eine Trauerkundgebung vom Westbahnhof ausgehend die Mariahilfer Straße herunter, kreuz und quer durch die Innenstadt über den Heldenplatz, Verfassungsgerichtshof, Stephansdom, OSZE, Außenministerium bis hin zur Botschaft der USA. Die kleine Gruppe, die dank der Polizei problemlos durch die Stadt gehen konnte, zog reges Interesse unzähliger Passanten auf sich, denn strahlender Sonnenschein und angenehme Temperaturen sorgten dafür, dass viele die Straßen Wiens bevölkerten.
Bereits der Banner, mit dem der Trauermarsch angeführt wurde, machte den Passanten deutlich, worum es den Teilnehmern ging. Denn auf die „Gratulation zu 75 Jahren Frieden durch die NATO“ folgte die Frage „Mehr als 6 Millionen Tote – wie viele noch?“. Wobei die Zahl 6 Millionen das historisch abgesicherte Minimum darstellt, wie von Dr. Daniele Ganser bestätigt wurde.
Dieser offensichtliche Widerspruch erreichte die Passanten offensichtlich, denn das Interesse war groß – und die Resonanz überwiegend positiv. Die 1000 Flyer, die entlang der Trauerkundgebung verteilt wurden, fanden reißenden Absatz.
Bei der OSZE und der US-Botschaft wurden das Ganze in Englisch abgespielt. Audio-Player
An der Stelle der Dank seitens der Organisatoren den professionellen Sprechern, die das ganze eingesprochen haben.
Zu den Teilnehmern des Trauermarsches gehörte u.a. Robert Glaubauf, MFG Landessprecher Wien. „Die NATO und NATO-Staaten haben Millionen Menschen in illegalen Kriegen getötet und die Öffentlichkeit darüber belogen. Die heutige Aktion habe ich unterstützt um aufzuzeigen, dass die Wahrheit darüber trotzdem bekannt ist. Außerdem liegt darin auch die Hoffnung, den einen oder anderen Bürger zum Nachdenken – und auch Nachrecherchieren – anzuregen. Es sind genug Menschen in Kriegen gestoben, und wir sollten lernen, Probleme ohne den Einsatz von Waffen, also auf friedlichen Weg zu lösen„, begründet er seine Teilnahme.
Ortwin Rosner geht selbst ironisch auf den ironischen Zugang des Trauerzuges ein: „Die NATO hat Geburtstag, das wollten wir gebührlich feiern, und das haben wir mit viel Tamtam auf der Straße gemacht, um auch die Leute außerhalb der Blase, die das noch nicht mitbekommen haben, zu erreichen und sie – falls sie das vergessen haben sollten – darauf aufmerksam zu machen, was das für ein tolles Bündnis ist, das seit 75 Jahren rund um den Globus für idyllischen Frieden sorgt, so dass es sicherlich wert ist, dass Österreich dafür die Neutralität wegwirft und ebenfalls dem Verein beitritt. Um das zu veranschaulichen, haben wir all die vielen Kriege aufgezählt, mit denen die NATO wie keine andere Institution in den vergangenen Jahrzehnten auf der Erde für „Frieden“ gesorgt hat und immer noch sorgt.“
Eva war dabei, „weil ich gegen Krieg bin und die NATO fördert Krieg. Ich bin froh, dass Menschen versuchen, da etwas zu machen.“ Josef war u.a. Teilnehmer, weil er seine Freunde, die das organisiert hatten, unterstützen wollte und da „ich absolut für den Frieden und gegen die NATO bin„. Für Martin, überzeugter Anhänger österreichischer Neutralität, wäre ein „NATO-Beitritt Österreichs eine Katastrophe, darum bin ich von Oberösterreich nach Wien gekommen„. Elisabeth hat am Trauermarsch teilgenommen, weil „ich für Frieden stehe und einen NATO-Beitritt Österreichs auf jeden Fall verhindern möchte.“
Erika fand die Veranstaltung sehr positiv und freute sich, bei dieser guten Sache dabei gewesen zu sein. Für Ingeborg war die Veranstaltung sehr eigenartig. Die Reaktionen der Passanten hat sie unterschiedlich wahrgenommen. Manche waren positiv, manche waren negativ. Ihr Eindruck ist, dass sich „alle miteinander nicht bewusst sind, um was es geht. Und das es den meisten schlichtweg wurscht ist.“ Eine andere Teilnehmerin fasst ihre Erfahrung vom Marsch so zusammen: „Es war beeindruckend, ergreifend, berührend … und es hat in meiner Wahrnehmung bei vielen Berührung ausgelöst. Es war wertvoll und hat Sinn gemacht! Danke uns allen Beteiligten dafür.“
Bernhard Schlager, der die Veranstaltung für das Bündnis für Neutralität angemeldet hat, freut sich über die enorm positive Resonanz: „Wir haben die Gruppe bewusst klein gehalten und im Vorfeld nicht über die geplante Aktion informiert, denn wir wollten auf jeden Fall vermeiden, dass Störer oder ungebetene Gäste dazu stoßen, durch die sich die Veranstaltung als „Spinner“ oder „rechts“framen hätte lassen.
Wir wollten Menschen außerhalb der Filterblase von Telegram, Facebook, aber auch jenseits der bekannten Demonstrationen erreichen. Und das ist uns definitiv gelungen. Die Anzahl „Daumen hoch“ aus den Gastgärten – sobald die Menschen die eigentliche Botschaft für Neutralität und gegen eine NATO-Beitrag Österreich – erkannt hatten, war kaum zu zählen. Eine derart positive Resonanz wie am 4.4.2024 habe ich noch bei keiner Veranstaltung erlebt.
Wir waren auch wahrscheinlich die am häufigsten fotografierte Veranstaltung außerhalb der „Blase“, was dank vieler Touristen auch international gesehen wird. Für mich haben sich damit die Umfrage-Werte, was die breite Zustimmung der Österreicher für Neutralität angeht, in der Realität eindeutig bestätigt. Die Flyer wurden uns teilweise aktiv aus den Händen genommen. Wir hatten zuwenig dabei, obwohl wir eigentlich befürchtet hatten, dass 1000 Stück zu viel sind.“
Abschließend hebt Bernhard Schlager auch die kooperative Haltung seitens der Polizei hervor: „Zum wiederholten Mal habe ich die Erfahrung machen dürfen, dass bei korrekter Vorgehensweise eine positive Zusammenarbeit möglich ist. Dass wir unseren Marsch bis kurz vor der US-Botschaft durchführen konnten, wo dann mit Gittern abgesperrt war, hatte ich nicht erwartet. So konnten wir den US-Verantwortlichen in Österreich unsere Botschaft laut und deutlich kommunizieren. Sie sollen erfahren, dass viele Menschen in Österreich nicht mit den US-geführten Nato-Kriegen einverstanden sind und die absolute Mehrheit der Bürger einen möglichen Nato-Beitritt des neutralen Österreichs strickt ablehenen.“
Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.
Superprofite dank Hochrüstung: Der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall expandiert gemeinsam mit der NATO gen Osten. In Rumänien verleibte er sich nun einen Hersteller von Militärfahrzeugen ein, bis 2026 will er seinen Umsatz verdoppeln. Verlierer ist die Bevölkerung.
Von Susan Bonath
Der westliche Imperialismus gerät militärisch außer Rand und Band. Während in Deutschland die öffentliche Daseinsvorsorge politisch schuldengebremst – neben vielen mittelständischen Unternehmen ebenso – am Boden liegt, expandiert der militärische Komplex. Der vom kriegerischen Rüstungswahn bestens profitierende größte deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall tut es dabei der NATO gleich: Er weitet seine Ostflanke aus.
„Fußabdrücke“ in Osteuropa
Die Düsseldorfer Waffenschmiede kaufte sich jüngst nach eigenen Angaben erstmals in Rumänien ein. Mit 72,5 Prozent erwarb Rheinmetall demnach den größten Anteil des dort ansässigen Herstellers von Militärfahrzeugen Automecanica SRL. Dieser habe ein „jährliches Umsatzpotenzial von rund 300 Millionen Euro“, heißt es. Der Konzern frohlockt weiter:
„Rheinmetall stärkt mit dieser Akquisition seinen Footprint in Zentraleuropa und erschließt sich erheblichen Umsatzzuwachs und neue, aussichtsreiche Kundenländer in der Region.“
Eindeutiger Wachstumsmotor für den Rüstungsgiganten ist somit das imperialistische Bestreben der NATO, westliche Dominanz über die osteuropäischen Märkte zu erlangen. Stramm marschieren die Truppen seines Militärbündnisses in diesem Sinne in Richtung Russland. Im „östlichen Bündnisbereich der NATO“, wie es Rheinmetall denn auch formuliert, sei man nun neben Ungarn und Litauen auch in Rumänien präsent.
Ukraine-Krieg kurbelt Profite an
Ein Hauptinteresse des deutschen Konzerns ist es daher, den Krieg in der Ukraine so lange wie möglich am Kochen zu halten. An dem Gemetzel, das bereits Hunderttausende meist junger ukrainischer Soldaten als Kanonenfutter in den Tod trieb, verdient Rheinmetall prächtig. Entsprechend groß ist dort die Freude über jeden weiteren Tag des Krieges:
„Der Standort in Mediaș, Rumänien, wird eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft der in der Ukraine eingesetzten westlichen Kampfsysteme und deren logistischer Betreuung erhalten.“
Das übernommene Unternehmen „Rheinmetall Automecanica“ werde so „Teil des weltweiten Produktionsnetzwerks“ des Düsseldorfer Rüstungskonzerns, teilte dieser weiter mit. Man werde dort unter anderem Militärfahrzeuge aller Art und Fahrgestelle für Flak-Geschütze instand setzen und die Rolle als „leistungsfähiger Partner der rumänischen Streitkräfte“ übernehmen und ausbauen.
Rheinmetalls Vorstandschef Armin Papperger freut sich in ebenso blumigen Worthülsen über einen damit gelungenen „bedeutenden Meilenstein für unsere strategische Ausrichtung“. Sein Konzern wolle „die Erwartungen, die Politik und Militär an uns haben, bestmöglich erfüllen“. Er fügte an:
„Das wird dazu beitragen, die Verteidigungsfähigkeit von EU und NATO an der Ostflanke weiter zu stärken.“
Aufrüstung statt Armutsbekämpfung
Erst vor knapp zwei Monaten hatte sich Rheinmetall beim rumänischen Verteidigungsministerium einen Großauftrag an Land gezogen. Für fast 330 Millionen Euro soll der deutsche Konzern die Flugabwehr-Artilleriesysteme von Rumäniens Armee vom Typ Oerlikon GDF 103 modernisieren. Dabei ist Rumänien das EU-Land mit der größten Armutsquote von offiziell über 34 Prozent – Tendenz mit Zunahme der Inflation steigend. Vor allem Roma und Sinti leiden in Rumänien unter massiver sozialer Ausgrenzung, viele leben in menschenunwürdigen Slums.
Doch Aufrüstung ist den Herrschenden wichtiger, als etwa Armut zu bekämpfen – darin unterscheidet sich die rumänische Regierung nicht von den politischen Führungen der anderen NATO-Mitgliedstaaten. Auch dort nehmen die sozialen Verwerfungen seit Jahren tendenziell zu, begleitet von einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise. Die politische Antwort ist überall gleich: Sozialabbau.
Rheinmetalls Umsatz-Höhenflug
Damit das Kriegsgeschäft brummt, hat die NATO ihren Mitgliedstaaten das Ziel vorgegeben, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in den Militärhaushalt zu pumpen. Deutschland wird die Vorgabe mit rund 85 Milliarden Euro in diesem Jahr wohl sogar übererfüllen. Das Volumen des bundesdeutschen Militärhaushalts hat sich damit seit 2017 etwa verdoppelt.
Und Rheinmetall profitiert prächtig von der Militarisierung auf Kosten der Steuerzahler. Zuletzt frohlockte der Konzern über zahlreiche Großaufträge. In Ungarn baut er dafür beispielsweise seine Munitionssparte massiv aus. Bauteile für Panzerfahrzeuge und Munition für Puma-Panzer spülen jeweils höhere dreistellige Millionenbeträge in die Konzernkassen. Viele weitere Millionenaufträge kommen hinzu.
Der neue, nicht mehr ganz so kalte Krieg gegen Russland und seine praktischen Folgen in der Ukraine beschleunigt die Monopolisierung des NATO-Militärkomplexes. Als bisher fünfgrößter europäischer Rüstungskonzern hat Rheinmetall dabei die Nase weit vorn. 2020 lag sein Jahresumsatz bei rund 5,4 Milliarden Euro, für letztes Jahr hatte der Konzern einen Umsatz von bis zu 7,6 Milliarden anvisiert, dürfte aber die Acht-Milliarden-Marke knacken. Bis 2026 rechnet Rheinmetall sogar mit einem Anstieg seines Jahresumsatzes auf 13 bis 14 Milliarden Euro.
Der Rheinmetall-Vorstandschef Papperger sah seine Kriegsprofitmaschine schon Ende letzten Jahres auf „gutem Kurs“. Er sprach von „ehrgeizigen Jahreszielen“ für ein „nachhaltiges profitables Wachstum“. Sein Unternehmen werde „gebraucht, wenn es darum geht, den dramatisch gestiegenen Bedarf vieler Länder an militärischer Ausrüstung zu decken“, jubelte er. Dramatisch könnte das allerdings tatsächlich auch für die Normalbevölkerung in Deutschland enden.
Afghanistan. Ich war sofort angetriggert. Das Land trat – wenn ich mich richtig erinnere – 1979 in mein Bewusstsein. Was in erster Linie damit zu tun hatte, dass die Sowjetunion im Dezember 1979 militärisch in einen innerafghanischen Konflikt intervenierte. Was mich und viele andere in der DDR damals schockierte. (1)
Über Afghanistan wussten wir damals bis dato praktisch nichts.
Was sich ändern sollte. Nicht nur über Nachrichten, die man dann zu sehen bekam. Ein für uns zunächst quasi weißer Fleck auf der inneren Weltkarte bekam nach und nach Konturen. Für mich nicht zuletzt deshalb, weil ein junger Afghane an meinem Theater als Beleuchter anfangen sollte. Farid war mit seiner Frau Nagiba in die DDR gekommen, um zu studieren. Mit ihm hatte es im Gegensatz zu seiner Frau an der Uni nicht geklappt. Nun hatte man ihn – der in Kabul beim Fernsehen gearbeitet hatte – in ein Praktikum in die Beleuchtungsabteilung des Theaters vermittelt, mit der Aussicht im Anschluss seinen Beleuchtungsmeister zu machen. Was er übrigens dann auch wurde.
Farid brachte uns sein Heimatland über Bildbänder (mit herrlichen Natur- und anderen Bildern) sowie über Erzählungen nahe. Farid tat das mit einer sehr leisen Stimme. Öfters wurden wir, seine Kollegen, ins Studentenheim, wo er mit seinen Landsleuten wohnte, eingeladen. Sie musizierten mit ihm. Wir tranken Tee zusammen.
Wir lernten, dass Afghanistan ein Land mit schöner Natur, aber teils auch ein karges Land mit hohen Bergen, mit vielen Ethnien und freundlichen, gastfreundlichen Menschen ist. Welches jedoch auch eines der ärmsten Länder der Erde ist, dass seit Jahrzehnten keinen Frieden kannte.
Afghanistan erlebte bis heute 40 Jahre Krieg.
Dass Dr. med. Reinhard Erös, welcher für vergangenen Donnerstag von der Auslandsgesellschaft in Dortmund angekündigt worden war, um zum Thema „Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime“ zu referieren, versprach interessant zu werden.
Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. Und er hatte in der Tat viel Interessantes zu erzählen.
Quo vadis Afghanistan?
Der studierte Arzt übersetzte das erst einmal aufs Medizinische. Brach die Frage auf das Verhältnis Arzt – Patient herunter. Und fragt somit bezüglich Afghanistan: Wie geht es dir? Wo gehst du hin? Wohin entwickelst du dich? Und er musste sich demzufolge zunächst fragen, wie kamst du dahin, wo du jetzt stehst?
Erös hält die Berichterstattung über Afghanistan für eine Katastrophe. Demnächst käme wieder so ein Artikel eines FAZ-Journalisten, der das Land kürzlich besucht hatte. Eine Katastrophe seien etwa 95 Prozent der Artikel über das Land. „Nicht weil die dumm sind, die Journalisten oder gar bösartig. Sondern weil sie halt überhaupt keine Ahnung haben vom Land. Ihnen fehlen die Sprachkenntnisse und Sprachführungskenntnisse, wie sie für Afghanistan unabdingbar wären. „Und natürlich die generelle Kulturkompetenz.“ Das betreffe auch Politiker und Bundeswehrgeneräle. Sie könnten sich eben so kein reales Bild vom Land zu machen. „Sie sind halt dann blind, taub und stumm.“
Wichtig zu wissen: Afghanistan war nie eine Kolonie und hat sich nie domestizieren lassen.
Erös hat in den 1970er Jahren Medizin und Politik studiert. Und er war fünf Jahre bei der Bundeswehr und dort bei den Fallschirmjägern. Er war für Hilfsorganisationen, u.a. die Nato, die EU, die WHO, das IKRK und das Auswärtige Amt in Sachen Entwicklungshilfe in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs.
Warum der Afghanistan-Einsatz nicht nur für die Bundeswehr in die Hose ging
Warum sind also die letzten zwanzig Jahre in Afghanistan nicht nur für die Bundeswehr in die Hose gegangen? Reinhard Erös: „Die Bundeswehr wurde rausgeschmissen!“
„Diese Barfußsoldaten, diese Taliban mit Waffen aus dem Mittelalter haben die größte Militärmacht der Welt, das größte Militärbündnis der Welt, mit den bestens ausgebildetsten Soldaten, mit dem besten Material der Welt, vernichtend geschlagen und vertrieben!“
Das sei bei uns auch nicht so richtig in die Köpfe reingegangen, was damals passiert ist.
Da hätten bei den ganzen Islamisten der Welt sozusagen „überall die Sektkorken geknallt“.
Bei unseren Medien sei das damals auch nicht so richtig dargestellt worden.
Überhaupt kenne er keinen einzigen Journalisten in Deutschland, der vom Militär eine Ahnung hat. Der letzte sei Peter Scholl-Latour gewesen.
Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“
Erös selbst habe zu Studentenzeiten auch nichts über Afghanistan gewusst. Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“. Erös selbst habe das Kraut nie konsumiert: „Ich komme aus Bayern, das raucht man nicht.“ Das Kraut war teuer hierzulande. Weshalb damals zehntausende junge Leute aus Europa nach Afghanistan sich auf den sogenannten Hippie Trail begaben. Dort habe das Kraut so gut wie nichts gekostet.
In der Sterbehäusern von Kalkutta bei Mutter Teresa
Erös` erster Einsatz sei in Kalkutta in Slums des Molochs von Stadt bei Mutter Teresa gewesen. Wo er in den sogenannten „Sterbehäusern“ als Arzt gearbeitet habe. Jeden Tag seien dort bis zu vierhundert Kranke gekommen, weil bei man bei den „Sisters of Charity“ kostenlos behandelt wurde. Das wäre kaum zu bewältigen gewesen. Etwa sechzig Patienten habe er da am Tag zu behandeln geschafft. Wenn er abends nach Hause ging seien dort zehn, zwanzig Tote vor der Tür gelegen.
Thema der nächsten Jahrzehnte: Massenmigration
Damals hatten die Leute ja kein Internet und Fernsehen vielleicht auch nicht. Inzwischen fragten sich die Leute in der Dritten Welt, warum sie in ihrer Not bleiben sollten. Erös: „Die sind doch nicht bescheuert!“ Und so käme es massenweise zu Flucht. Das Migrationsthema werde das beherrschende Thema der nächsten Jahrzehnte sein. Ein britischer Migrationsforscher habe veröffentlicht: Wir müssen damit rechnen, dass wir in Europa – allein wegen der Probleme, die der Klimawandel verursacht – in den nächsten 30 Jahren bis zu 150 Millionen aus diesen Ländern an Migranten bekommen. Das werde er, so Erös, auch am nächsten Tag den Schülerinnen und Schülern an einem Dortmunder Gymnasium sagen und anmahnen: „Interessiert euch für Politik. Mischt euch ein!“
Afghanistan lässt sich nicht domestizieren
Nun wieder zu Afghanistan. Dort können man so momentan so sicher und frei wie vermutlich nirgends auf der Welt bewegen.
Das Ausland interessiere die Taliban überhaupt nicht. Da hätten sie keine Interessen.
Erös: „Es sei denn, das Ausland mischt sich wieder in Afghanistan ein.
Das britische Imperium hat das 1842 spüren müssen. Ihre Armee von 18.000 Mann sei damals in einer Schlucht in einen Hinterhalt geraten und von den Paschtunen aufgerieben und vernichtend geschlagen worden. Übrig seien nur ein Offizier, ein Arzt, sowie ein Hund des Bataillions wieder lebend aus Afghanistan herausgekomme. Der Hund wurde später von den Briten zusammen mit dem Major ausgezeichnet. Erös: „Das war das Stalingrad der britischen Armee.“ Theodor Fontane hat dazu das Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“ geschrieben.
Auch die Sowjetunion habe 1989 schmählich abziehen müssen.
Und auch die USA und die Nato hätten diese Erfahrung am 31. August 2021 machen müssen. Die „Barfußsoldaten“ hätten sie aus dem Land geworfen.
9/11 als Kriegsgrund – dabei hatte kein Afghane etwas mit dem Anschlag zu tun
Hätten die USA mal nach 9/11, machte Erös klar, daran gedacht! Stattdessen habe man sich von dem „dummen Bush“ in dieses Fiasko führen lassen. Den Briten war durch ihre fürchterliche Niederlage 1842 klar: In solche Länder geht man besser nicht. Ich erinnere mich auch, dass einstige Offiziere der Sowjetunion die USA damals warnten, als sie in Afghanistan einfielen.
Die Taliban hätten überhaupt nichts gewusst von dem Anschlag, meinte Reinhard Erös. Kein Afghane sei an dem Anschlag beteiligt gewesen. Keine Polizei der Welt und die CIA hätten einen einzigen Afghanen ermittelt, der an 9/11 beteiligt gewesen wäre. Aber Afghanistan musste herhalten!
Auch ein deutscher Bundeskanzler habe dann da mitgemacht und die Bundeswehr geschickt, sprach von „uneingeschränkter Solidarität“ mit Washington, kritisierte der Referent. „Uneingeschränkt heißt auf Deutsch, egal was du machst, ich mache mit.“ Etwa 60 Bundeswehrsoldaten ließen ihr Leben in Afghanistan.
Am Ende hätten auch die Deutschen abziehen müssen. Ein deutscher General hätte vorher noch gesagt, die afghanische Armee sei nun gut aufgestellt und könne das Land selbst verteidigen. Der Einsatz des Westens sei erfolgreich gewesen! Da rief Erös die Zeitung an, wo dieser Sager des Generals erschienen war. Der Mann war nüchtern gewesen, versicherte der Chefredakteur.
Ähnliches hätte nämlich ein General der sowjetischen Armee gesagt, obwohl der Einsatz Moskaus am Hindukusch ein einziger GAU gewesen sei. Eine Lüge. Nun log ein Bundeswehrgeneral in gleicher Weise.
Immerhin habe ein US-General ehrlich gesagt, ihre Erfolgsbilanz Afghanistan sei „beschissen“. Ungefähr 3500 US-Soldaten starben für Bushs Abenteuer.
Wie viele Afghanen getötet worden, könne nicht gesagt werden.
Auch nicht wie viele Kinder ums Leben gebracht wurden.
Allerdogs die Nachrichtenagentur AP recherchierte vor Ort über getötete Kinder und fand heraus: 346 in einem Jahr!
In keiner deutschen Zeitung habe das gestanden, skandalisierte Erös dies. Als er selbst das veröffentlichte, wurde er angegriffen.
Afghanistan wurde der Bayer Erös zur zweiten Heimat
Dem Bayer Erös ist Afghanistan zur zweiten Heimat geworden. Gründe: das Land geografisch, topografisch und historisch betrachtet. Und die Menschen.
In Afghanistan in vielerlei Beziehung komplex. Allein 50 ethnische Gruppen gibt es. Die sich untereinander nicht verstehen, so sie nicht die Sprache des anderen sprechen. Beziehungsweise wenn sie kein Paschtun (dem Persischen verwandt) sprechen.
Die Mehrheit der Afghanen sind Sunniten aber es gibt auch eine Minderheiten von Schiiten.
Das höchste Rechtsgut der Afghanen ist die Gastfreundschaft
Erös: Das höchste Rechtsgut in Afghanistan ist die Gastfreundschaft. „Wenn ich Gast eines Afghanen bin und er mich als solcher deklariert hat, dann tut der alles, damit es mir gut geht. Dann tut er alles, damit mir kein Leid geschieht.“ So wird auch niemand, der als Gast deklariert ist an eine andere Macht ausgeliefert.“ Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass die Taliban Osama bin Laden seinerzeit nicht an George Bush ausgeliefert wollten.
Das zwei höchste Rechtsgut ist die Blutrache
Habe man etwa jemand in einem Dorf einen Mensch umgebracht, oder die Tochter einer anderen Familie vergewaltigt, gelte die Blutrache. Ein Gericht wie bei uns, gebe es in Afghanistan nicht. Dann käme bei den Paschtunen die Dorf-Schura, der Rat des Dorfes, mit dem Verdächtigen zusammen. Irgendwann werde ein Urteil gefällt. In der Schura hat das letzte Wort – so es noch lebt – das Opfer oder die Familie des vergewaltigten Opfers. Die könnte sagen: den Täter müsse man eigentlich aufhängen. „Aber wir kennen seine Familie. Vielleicht seit Jahrzehnten. Eigentlich sind das anständige Leute.“ Sie könnten sagen, der Täter müsse der Opferfamilie zehn Kühe und zehn Schafe geben. Und er muss die hässlichste Tochter dieser Familie heiraten. „Dann gilt dieses Urteil.“
Außerhalb des Hauses spielen nur die Männer eine Rolle
Ob es uns das nun gefalle, bei den Taliban sei es halt so, dass die Frau außerhalb des Hauses keine Rolle spielen. Das ist den Männern vorbehalten.
Unter den Taliban gibt es – wie vorher durch die Besatzer eingeführt – nun keine Berufe für Frauen wie beispielsweise TV-Moderatorinnen oder andere Tätigkeitsfelder und schon gar nicht in Machtpositionen – wie das von der Sowjetunion und der westlichen Besatzung gefördert worden war – mehr.
Verstoßen Frauen gegen die islamischen Kleidungsvorschriften, würden die nicht etwa wie im Iran ausgepeitscht oder ins Gefängnis gesteckt. Nein, in Afghanistan werden die männlichen Verantwortlichen, die Väter oder Brüder zunächst wegen des falschen Verhaltens der Ehefrauen oder Schwestern „zur Brust genommen“, verwarnt und bei Wiederholung mit Knast bestraft.
Was nicht heiße, so Reinhard Erös, dass die Taliban die Frauen mögen – nein: Sie hielten sie halt wie Kinder einfach für zu dumm, um diese Vorschriften zu befolgen.
Allerdings, so der Referent, habe er letztens in Kabul auf der Straße neunzig Prozent der Frauen gesehen, die kein Kopftuch trugen. Und schon gar keine mit einer Burka. Was freilich auf den Lande anders sei. Da sei das schon sei 500 Jahren so.
Korruption ist eine westliche Erscheinung
Was interessant ist: Afghanistan ist in puncto Korruption auf Platz 15 – 20 heruntergegangen. Erös: „Korruption ist eine westliche Erscheinung.“
Der Afghanistan-Krieg ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit
Von den vielen Milliarden Dollar bzw. Euro, die nach Afghanistan gegangen seien, sei viel versickert, jedenfalls wäre es nicht den Afghanen zugute gekommen. Tausendzweihundert Milliarden Dollar habe der Westen in zwanzig Jahren in Afghanistan ausgegeben. Für Militär! „Es ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit“, sagte der Referent. Nicht einmal zehn Prozent seien für zivile Infrastruktur ausgegeben worden.
Während „unserer Präsenz“ wurden 9000 Tonnen Opium produziert
Opium-Produktion habe es in Afghanistan immer schon gegeben. In 2001 habe die Produktion von Rohopium 180 Tonnen betragen. In „unseren Präsenz“, so Reinhard Erös, waren daraus 9000 Tonnen geworden. Wie Heroin hergestellt wird, hätten die USA in 1980er Jahren den Afghanen in ihrer Botschaft in Kabul erst beigebracht. Damit könne viel Geld verdient werden, sagte sie ihnen, dass man im Kampf gegen die Sowjets verwenden könne.
Unter den neuen Taliban sei der Anbau von Opium seit anderthalb Jahren wieder verboten worden. Alle Drogen einschließlich Alkohol sind laut deren Interpretation des Korans verboten.
Das Hauptziel der Taliban sei in den Himmel, respektive ins Paradies zu kommen. Ansonsten interessiere sie nichts. Erös bezeichnete sie als „strohdumm“. Sie lernten das, was Erös in seinem Religionsunterricht einst lernte: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher kommt ins Himmelreich.
Ein hochinteressanter Vortrag!
Kompakt
Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime
Der Referent, Dr. med. Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. In den 80 er Jahren, während der sowjetischen Besatzung des Landes, hat er über fünf Jahre unter Kriegsbedingungen die Bevölkerung in den Bergdörfern ärztlich versorgt. Nach dem Sturz der Taliban gründete er 2001 mit seiner siebenköpfigen Familie die Stiftung Kinderhilfe Afghanistan. (2) Seither wurden in ehemaligen Taliban-Hochburgen im Osten des Landes und im Westen Pakistans u.a. 30 Schulen mit ca. 60.000 Schüler*innen, drei Berufsschulen, eine Universität, zwei Waisenhäuser und drei Mutter-Kind-Kliniken gebaut und ausgestattet. Alle Projekte werden ausschließlich mit privaten Spenden, unter Verzicht auf öffentliche Mittel, finanziert. Mehr als 2.000 Afghanen finden dort Arbeit und Lohn. Erös lebt und arbeitet die Hälfte des Jahres vor Ort. Er spricht die Sprache der Menschen und begegnet ihnen mit Respekt und auf Augenhöhe. Seit seiner Pensionierung 2002 hat Erös Polizeibeamte, Offiziere der NATO, Hilfsorganisationen und Journalisten für ihren Einsatz in Afghanistan ausgebildet. Er hat das Auswärtige Amt und den Bundestagsausschuss „Entwicklungshilfe“ beraten und in mehr als 3.000 Veranstaltungen im In- und Ausland zu Afghanistan vorgetragen. Für seine Arbeit wurde Erös u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, dem Bayerischen Verdienstorden, sowie dem Theodor Heuss- und dem Europäischen Sozial-Preis ausgezeichnet. In seinen beiden Bestsellern „Tee mit dem Teufel – als Arzt in Afghanistan“ und „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ erklärt Erös Kultur und die jüngste Geschichte und schildert seine persönlichen Erfahrungen aus einem noch immer archaisch geprägten Land.
Reiner Brauns Arbeit ist seit Jahrzehnten intensiv in der Friedensbewegung aktiv. Nicht zuletzt versteht er sich als Brückenbauer, um auch widerstreitende Positionen in der Sache zusammenzuführen. Willy Brandts Worte sind ihm Verpflichtung: «Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.« Braun hat seinerzeit den „Krefelder Appell“ wesentlich mit initiiert.
Diese Woche hielt Braun, der einst in Dortmund studierte, am 25. April in der Dortmunder Pauluskirche einen sachlichen, in der Sache des Friedens aber entschlossen zum Handeln in Sachen Frieden auffordernden Vortrag unter dem Titel „Wie ist Frieden in der Ukraine möglich?“. Er traf damit im Wesentlichen auf Zustimmung im Publikum. Jedoch erfuhr Braun auch Widerspruch und ideologisch-fragwürdige Kritik seitens eines Besuchers während der Diskussion nach dem Vortrag.
Alles in allem ein interessanter Abend, an welchem im Wesentlichen respektvoll miteinander umgegangen wurde welcher nachdenklich machte und zum Mittun in Sachen Frieden aufrüttelte.
Wer heute für Frieden eintritt hat es dieser Tage nicht leicht
Wer sich heutzutage betreffs des Ukraine-Kriegs für den Frieden einsetzt hat es dieser Tage schwer. Als „Friedensschwurbler“, „Putinknecht“ oder „Lumpenpazifist“ mussten sich schon so einige friedensengagierte Menschen beschimpfen lassen. Dagegen sorgen herrschende Politik (vornweg Mitglieder der gewesenen Friedenspartei Die Grünen, welche heutzutage die größten Kriegstreiber sind) und in diesem Sinn gleichtönende Mainstream-Medien dafür, dass der Krieg durch immer mehr Waffenlieferungen an Kiew mehr und mehr befördert wird. Einen Krieg in welchen unser Land droht immer weiter hineingezogen zu werden.
Fragwürdige Haltung der Kirche
Selbst die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, befürwortete westliche Waffenlieferungen. Sie hoffe, dass diese Waffen „die Not wenden können“, sagte Kurschus vor einiger Zeit in einem Deutschlandfuk-Interview.
Der Einsatz von Waffen müsse aber „zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen“. Welch Logik! Ist das christlich? Loderndes Feuer mit Öl löschen?
Das gefällt auch Pfarrer Friedrich Laker, dem Hausherrn der evangelischen Dortmunder Pauluskirche nicht, der die einführende Worte zur Veranstaltung und zum Referenten sprach.
Der Vortrag von Reiner Braun sorgte im Vorfeld für Aufregung
Pfarrer Laker ist es zu verdanken, dass der Vortrag von Reiner Braun zustande kam. Der Vortrag, so Pfarrer Laker, habe schon im Vorfeld für Aufregung gesorgt. Die Idee zu dieser Veranstaltung habe von der Partei dieBasis gestammt. Die Einstellung Reiner Brauns, betonte Laker, habe er verantworten können. Zumal er in der Evangelischen Kirche eine Vielfalt der Diskussion zum Thema Ukraine-Krieg sowie pazifistische Positionen vermisse. Ihn habe es sehr erschrocken, das Thomas de Maizière, der frühere Innenminister und diesjährige Präsident des Evangelischen Kirchentages in Nürnberg, gesagt habe, Freiheit gehe immer vor Frieden. Eine „sehr steile Aussage“, nannte Pfarrer Laker (Foto) diese Äußerung de Maizières. Noch dazu in dessen exponierter Stelle. Was Laker „bedenklich“ nannte.
Sich der großen Friedenskundgebung 1981 im Bonner Hofgarten erinnernd, meinte Pfarrer Laker: „Wir bräuchten eigentlich eine solche Friedensbewegung heute wieder“
Friedrich Laker erinnerte sich, dass er 1981 mit seiner Frau als Theologiestudent an der legendären großen Kundgebung im Bonner Hofgarten gegen die atomare Bedrohung teilgenommen hatte. Damals habe es eine ganz große Friedensbewegung, die sich eingemischt habe, gegeben. Sie habe wesentlich dazu beigetragen, dass der NATO-Doppelbeschluss kippte. Laker: „Wir bräuchten eigentlich eine solche Friedensbewegung heute wieder.“
Er findet es bedenklich, „dass die militarisierte, aufgeheizte Stimmungweitergeht, die sich in immer mehr Waffen äußert“.
Reiner Braun hat kein Patentrezept für den Frieden in der Ukraine, jedoch analysierte er, wie Friedensprozesse möglich seien
Reiner Braun sagte später, auf einem Schlachtfeld könne es letztlich keine Sieger geben.
Zehntausend weitere Tote könnte der Krieg – wird er nicht gestoppt – fordern.
Trotzdem solle diese menschliche Katastrophe offenbar weiter befeuert werden.
Die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs bedenken!
Reiner Braun, sagte, von ihm könne keiner erwarten zu sagen, wie der Frieden in der Ukraine herzustellen sei. Jedoch wolle er analysieren, wie Friedensprozesse möglich seien. Braun bemühte sich um eine analytische und geopolitische Einordnung.
Diesbezüglich kam Braun auf die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs zu sprechen. Wichtig, um zu verstehen, zumal heute Politik und Medien leider nichts (mehr) darüber verlauten lassen.
Zur Vorgeschichte des heutigen Krieges gehöre die Charta von Paris (November 1990), wo man sich auf ein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa verständigt habe. Die Tinte unter diesem Dokument sei noch nicht trocken gewesen, als bereits im Frühjahr 1991 die Pläne der NATO-Osterweiterung auf der Agenda standen und betreffs der Umsetzung an Fahrt gewannen. Weiter gehöre dazu, dass man die Ukraine mit viel Druck versuchte hat in das westliche System zu ziehen. Im Zuge dessen hatte es den Maidan-Putsch gegen die gewählte Regierung in Kiew gegeben. Proteste gegen Vorhaben der Putschregierung im Donbass wurden von der ukrainischen Armee gewaltsam bekämpft.
Überdies sei der Minsk-Vertrag (I und II), der zu Frieden in der Ukraine führen sollte, nie wirklich mit Leben erfüllt worden. Und wie wir heute durch Äußerungen des damaligen Präsidenten Hollande und der seinerzeitigen Bundeskanzlerin Merkel – die diesen Vertrag maßgeblich mit ausgehandelt hatten – sowie des einstigen ukrainischen Präsidenten Poroschenko wissen, habe man diesen Vertrag vorsätzlich zur gemacht, damit die Ukraine Zeit bekam, um aufzurüsten. Minsk 2 sei vom UN-Sicherheitsrat als völkerrechtliches Dokument anerkannt worden, so Braun: „Damit ist das Verhalten von Frau Merkel völkerrechtswidrig – Völkerrechtsbruch.“ Braun bezeichnet Merkels Tun als „verwerflich“
Ebenso sei der Einmarsch Russlands in die Ukraine völkerrechtswidrig. Braun: „Trotzdem geht es nicht um Rechtfertigung. Es geht um Verstehen und Begreifen der Zusammenhänge.“
Die geostrategischen und die tektonischen internationalen Kräfteverschiebungen bedenken
Man müsse, betonte Reiner Braun, sich ebenfalls mit den geostrategischen Verschiebungen dieser Welt beschäftigen.
Eigentlich habe man es mit drei Kriegen zu tun: „Das ist ein Krieg Ukraine-Russland, ein Bürgerkrieg zwischen zwei Teilen der Ukraine und es ist ein Stellvertreterkrieg zwischen NATO und Russland.“
Der Krieg habe nicht zuletzt mit den tektonischen internationalen Kräfteverschiebungen zu tun. „Der stärker werdenden und der schwächer werdenden Mächte und Machtblöcke.“
Braun: „Der große Verlierer diesen Krieges ist Europa.“
Europa habe seine minimalen Ansätze, seine gewisse Selbstständigkeit vollständig aufgegeben zu Gunsten der Unterordnung unter die USA.
Verlierer sei aber gewissermaßen auch die USA, weil deren Einfluss international deutlich zurückgehe. Vor fünf Jahren machten die USA beim Welthandel noch neunzehn Prozent aus, heute seien es nur noch zwölf Prozent.
China dagegen erlebe einen Aufstieg. Wie auch immer man zum chinesischen System stehe, müsse anerkannt und gewürdigt werden, dass es dort in den letzten dreißig Jahren gelungen sei 800 Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Demgegenüber sei die Armut in der gleichen Zeit in Afrika und in anderen Teilen Erde eher gestiegen. (Anbei empfehle ich zur Entwicklung der Volksrepublik China diesen Beitrag von mir.)
China sei im Grunde dabei, seine einstige Handelsmacht und Stellung in der Welt wieder zurückzugewinnen, die es durch Kolonialisierung einst verloren hatte.
Gleichzeitig sei „der Einfluss des alten weißen Mannes mit seinen Kolonialsystemen im Hintergrund deutlich zurückgegangen“. Die Verschiebungen der Kräftekonzentrationen führe auch zu neuen Machtzentren auf der Welt. Als Beispiel nannten Reiner Braun die BRICS-Staaten mit einer eigenen Bank, die die De-Dollarisierung eines Handelsvertragssystems weltweit massiv vorantreiben. Die Welt sei im Wandel begriffen.
Ex-Militärs: Ein Siegfrieden im Ukraine-Krieg ist unrealistisch
Geleakte Dokumente sowie Analysen von Militärs in den USA, des Thinktanks RAND-Corporation und hierzulande Einschätzungen von Ex-Militärs wie Harald Kujat und Erich Vad deuteten darauf hin, dass ein Siegfrieden im Ukraine-Krieg unrealistisch sei. Noch sei jedoch die Bereitschaft zum Stoppen des Kriegs und zu Frieden nicht zu erkennen.
Wie in der Kuba-Krise ist bei der Zuspitzung des Konflikts in der Ukraine die Gefahr eines Atomkriegs reell. Die „Weltuntergangsuhr“ steht auf 90 Sekunden vor Mitternacht.
Braun erinnerte an die Kuba-Krise und die damals aufgekommene Angst vor einem Atomkrieg und dem Ausbruch eines dritten Weltkriegs.
Auch jetzt wieder sei eine solche Gefahr durchaus reell.
Reiner Braun erinnerte daran, dass „Bulletin of the Atomic Scientists“ (besetzt von Nobelpreisträgern) u.a. wegen des Ukraine-Kriegs und der Zuspitzung des Konflikts mit Russland die Zeiger der „Weltuntergangsuhr“ auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt habe.
Wir müssten überlegen wie wir aus dieser Eskalationssituation herauskommen, mahnte Braun.
Die Notwendigkeit sei deshalb zu sagen: „Die Waffen müssen schweigen.“
Das heiße: „Waffenstillstand.“
Der Vorwurf, wenn man Verhandlungen fordere, laute immer: Mit Putin könne man nicht verhandeln. Dabei würde doch bereits mit Putin verhandelt. Etwa das Getreideabkommen sei ausgehandelt und verlängert worden. Gefangenenaustausche seien verhandelt worden.
Außerdem habe es ein fast fertiges Friedensabkommen („Vertrag von Istanbul“) zwischen der Ukraine und Russland gegeben. Der Vertrag sei nie unterzeichnet worden. Der damalige Premierminister Boris Johnson und US-Verteidigungsminister Austen haben es in Kiew verhindert.
Nebenbei bemerkt vergaß Reiner Braun zu erwähnen, dass der ukrainische Präsident Selenskij per Dekret verboten hat, mit Russland zu verhandeln.
Erst könnte es noch viel mehr Opfer geben, dann sich aber ein Window of Opportunity öffnen
Die Friedensbewegung müsse nun Verhandlungen und einen Vertrag in den Mittelpunkt ihres Bemühens stellen.
Positiv und als hoffnungsvoll bewertete Reiner Braun Friedensinitiativen, des globalen Südens (Brasilien, Mexiko), des Vatikan sowie Chinas.
Braun schätzte ein, dass das Massenschlachten in der Ukraine in den Frühjahrsoffensiven nicht zu verhindern sei. „Das wird wahrscheinlich ausgehen – böse gesagt – wie das Hornberger Schießen. Keine Seite wird groß gewinnen. Außer viele Opfer haben. Danach könnte sich allerdings ein Window of Opportunity öffnen für Verhandlungen.“ So zynisch das vielleicht auch klinge.
Auch in den USA, schätzte Braun ein, gebe es durchaus auf Grund sozialer Verwerfungen und bestimmten Interessen Bewegung, Druck, um diesen Krieg zu beenden.
Friedensbemühungen mit Kompromissen
Die Ukraine sollte als ein souveräner neutraler Staat nicht in die NATO aufgenommen werden, völkerrechtliche Sicherheitsgarantien erhalten, durchaus aber eingebunden werden, in beide Wirtschaftsvereinigungen, der EU und der Eurasischen Union. Des Weiteren solle ein Rückzug der russischen Truppen erfolgen. Bezüglich der Krim müsse man sich auf längerfristigen Lösung vertagen. Der Jetzt-Zustand solle akzeptiert und später eine erneute Volksabstimmung der Krimbewohner erfolgen. Eine Übergangslösung solle es auch für die Oblaste Donezk und Lugansk geben – vergleichbar etwa mit dem damaligen Vorgehens betreffs des Saarlands.
Die Stationierung von Blauhelmsoldaten aus neutralen Staaten solle angestrebt werden. Selbstverständlich müsse es Sicherheitsgarantien für Russland geben, sowie keine weitere NATO-Osterweiterung.
Außerdem werde eine neue Sicherheitsgarantie in Europa auf der Basis der gemeinsamen Sicherheit gebraucht, so Braun.
Was der Friedensbewegung zukommt zu tun
Die Friedensbewegung müsse massiv dazu beitragen, dass die Bundesregierung gezwungen werde, diplomatische Initiativen mit zu ergreifen bzw. zumindest zu unterstützen.
Frankreich und Deutschland könnten in der EU eine positive Rolle einnehmen, um dazu beitragen, dass „den kriegstreiberischen Fanatikern aus Polen und den baltischen Ländern endlich“ etwas entgegengesetzt wird.
Im Sinne von Verhandlungen.
Dies zu fordern und befördern sei die Aufgabe der Friedensbewegung. Mit entsprechenden Partnern müsse man zusammen und auch auf der Straße sich zusammen engagieren.
Er, Braun, wisse sehr wohl um die Schwierigkeiten das zu bewirken und die Kontroversen in den eigenen Reihen. Diese Kontroversen müsse und könne man ein bisschen zurückstellen.
Es gehe nicht nur um diesen schrecklichen Krieg, sondern um kollektiv anzugehende Herangehenslösungen zu erreichen, damit die globale Herausforderungen der Menschheit gemeistert würden. Wir müssen Verhandlungen für Abrüstung und für Frieden auf die Tagesordnung setzen, so Braun.
Dafür sei die Friedensbewegung unabdingbar nötig.
Reiner Braun schloss seinen Vortrag so: „Ich möchte euch hier und heute ermuntern dazu, mit allen zusammen einen Beitrag zu leisten.“
Diskussion
Im Anschluss des sehr interessanten Vortrags fand eine nicht weniger interessante Fragerunde statt. Ein Zuhörer bekannte sich dazu in puncto Vertrauensbildung keinerlei Vertrauen in die USA zu haben. Schließlich habe man seinerzeit Moskau versprochen mit der NATO keinen Inch nach Osten zu rücken. Das Gegenteil sei gemacht worden. Darüber hinaus hätten die USA alle Abrüstungs- und Kontrollverträge einseitig gekündigt. Reiner Braun gab darauf zu bedenken, dass es in den USA viele gesellschaftliche Gruppen gebe, die für Frieden engagiert seien. Auch sei es weltpolitisch heute so, dass nicht wenige Länder auf der Erde längst nicht mehr auf der Linie der USA sind.
Dazu sollte nicht vergessen werden, dass die USA alle die vom Frager erwähnten Kriege letztlich verloren habe. Zuletzt geschehen in Afghanistan.
Ein anderer Herr mochte in die auch von Reiner Braun genannten Umfragewerte, betreffs der Menschen, die jetzt für Frieden einträten. Er sehe nämlich, dass die Kriegspropaganda hierzulande das alles niedertrampele. Am Zustand der Friedensbewegung – im Vergleich zur Friedensbewegung in den 1980er Jahren verzweifele er heute.
Braun sagte, man müsse in der Tat realisieren, dass die Friedensbewegung derzeit so schwach ist wie lange nicht. Er leide wohl am Allermeisten darunter. Trotzdem gebe es immer noch viele Menschen, die sich für Frieden engagieren. „Mit denen muss ich versuchen das Beste zu machen“, so Braun. „Am Liebsten, so der Friedensaktivist weiter, „würde ich morgen gleich den Bonner Hofgarten mieten und das Brandenburger Tor mit. Aber wir müssen es vorbereiten, sonst wird es nichts.“
Die Frage eines anderen Herrn nach der Einschätzung der Initiative des Querdenken-Gründers Michael Ballweg, der angab, mit der Letzten Generation zusammenzuarbeiten zu wollen, beantwortete Braun vorsichtig und ausweichend. Die Aktionen der Letzten Generation wolle er nicht kriminalisieren. Er sieht sie aber nicht in der Lage Mehrheiten in der Bevölkerung zu gewinnen und Vorurteile abzubauen. Er sei wohl eher das Gegenteil der Fall.
Eine Dame kritisierte Situationen an Universitäten, wo aufklärende Lehrende fast nicht mehr da seien. Man müsse fast von „Säuberungen“ sprechen. Eine von ihr aufgehängte Karte pro Ostermarsch sei vom ASTA wieder abgehängt worden.
Leider, so Braun darauf, gebe es bei jungen Menschen Defizite in friedenspolitischem Engagement. Dennoch gebe es auch junge Leute, die sich der Friedensarbeit widmeten.
Eine frühere von ihm Behauptung, wie hätten pluralistische linke Hegemonie an den Unis, sei allerdings heute „hops“.
Ein jüngerer Herr (im Gespräch mit dem Autor nach der Veranstaltung verortete jemand aus dem Publikum den Mann in der links-grünen Szene bzw. der sogenannten Antifa, auch „Transatlantifa“ genannt; C.S.) trat dann mit harter Kritik an den Ausführungen von Reiner Braun, aber auch zur bisherigen Diskussion auf. An Brauns Vortrag fehlte es ihm „Ausgwogenheit“ Sehr einseitig sei das alles gewesen. „Nicht ein Wort zu Putin, nicht ein Wort zu Lawrow, nicht ein Wort zu Kadyrow und den Söldnertruppen und deren Tätigkeit. Für mich steht Putin in einer Reihe mit Hitler …“ Es würde von Braun alles als Schuld der Amerikaner dargestellt. „Die Schuld der Deutschen als Kriegstreiber. Alle Verbrechen Putins seien mit keinem Wort erwähnt worden. Tatsachen hätte der Referent weggelassen. Murren im Publikum.
Für Reiner Braun war die Antwort auf den kritischen Einwurf nicht einfach. Er fand jedoch, dass es gut wäre, wenn sich auch der Diskutant für Waffenstillstand und Verhandlungen einsetzen würde.
Dann könne man über Vieles diskutieren.
Braun (Foto am Pult) fand, das, was ihm vorgeworfen wurde, sei „ein bisschen einfach“ gewesen. Hart wies er den Vergleich zwischen Putin und Hitler zurück. Was auf Beifall traf. Dieser Vergleich X und Y mit Hitler, zöge sich durch den letzten dreißig Jahre. „Der erste Vergleich mit Hitler war Milosevic, dann war es Saddam Hussein, dann Gaddafi und dann war es Assad. Das sei eine Politform, die meines Erachtens nicht geht.“
Freilich aber müsse über russische Politik, russische Opposition, über russische Deserteure gesprochen werden usw.
Braun wies daraufhin, dass vergangenen November noch einmal in Moskau gewesen sei und vielen ganz unterschiedlichen Leuten gesprochen habe. (Lesen Sie gerne Reiner Brauns Bericht zu seiner Reise auf den NachDenkSeiten.)
Braun stellte klar, dass die Friedensbewegung weder auf der Seite der Ukraine noch der Russlands stehe. Wir sind auf der Seite des Friedens.
Übrigens, so Braun, sei der Putin von heute nicht mehr der Putin, der 2001 im Deutschen Bundestag sprach und stehende Ovationen für seine in Deutsch gehaltene Rede bekam.
Letztlich enttäuschte ihn der Westen betreffs seiner ausgestreckten Hände. Stichwort: NATO-Osterweiterung Raketenstationierung an der Ostgrenze. Daraus eine Konfrontation erwachsen. „Das hat zu dem Putin des Jahres 2022 und 2023 geführt“, merkte Braun an.
Rundum fand Reiner Brauns Vortrag durchaus viel Zustimmung im Publikum. Durch die Fragen aus dem Publikum wurden Brauns Ausführungen in bestimmten Punkten über dessen Antworten darauf noch zusätzlich ergänzt und gewiss so mancher Denkprozess ausgelöst.
Eine interessante Anmerkung von Reiner Braun sei noch: „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die gesamte politische Entwicklung immer eine Entwicklung von Widersprüchen ist. Es gibt keine monokausale Entwicklung. In den politischen Entwicklungen sind immer Widersprüche. Das gilt für die deutsche Politik. Das gilt für die russische Politik. Und auch für die ukrainische Politik. Wenn wir nicht erkennen, dass immer ganz unterschiedliche Tendenzen sich in der politischen Gesamtlage finden, dogmatisieren wir Politik. Und das ist der falscheste Weg, Lösungen zu finden.“
Wir müssten auch wieder mehr nach Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen und Ländern suchen. Braun: „Seid offen im Zugehen auf Menschen, die nicht unbedingt ihrer, unserer, auch meiner Meinung sind. Offen dafür, die Diskussion mit ihnen zu suchen. Vielleicht ein bisschen genauer zuzuhören. Und zu überlegen, können nicht an seinen Überlegungen auch etwas dran sein, dass ich noch nicht berücksichtigt habe. So könne man zu einer besseren zu einer gemeinsamen Lösung, die uns insgesamt bestärkt.
Ausstellung „Krieg&Kinder“
In der Kirche war eine eindrucksvolle, von Mark Brill und einer Freundin gemeinsam auf privater Basis zusammengestellte organisierte Ausstellung zu sehen.
Die Ausstellung bot eine unterstützende Kulisse für den Vortrag von Reiner Braun. Mehr Informationen über die Ausstellung
erfahren Sie auf dem Telegram-Kanal Krieg&Kinder.
Zu Reiner Braun
Braun hat jahrzehntelange Erfahrung in der Friedensbewegung. Seit 1982 ist er bei den „Naturwissenschaftlern für den Frieden“ aktiv, im Zeitraum von 1987 bis 2001 auch als Geschäftsführer. Außerdem ist er Co-Präsident des International Peace Bureau (IPB) Er ist Autor und Herausgeber verschiedener Bücher über Frieden und Nachhaltigkeit.
Die Veranstalter waren
Zu dem Abend mit Reiner Braun hatten das Friedensforum, attac und IPPNW, Vereinigung der Ärztinnen und Ärzte gegen den Atomkrieg eingeladen. Alle drei Organisationen sind Mitglieder des Klimabündnisses Dortmund.
Als ich kürzlich einem Freund kundtat, dass ich das neue Buch von Oskar Lafontaine mit dem Titel „Ami, it’s time to go“ rezensieren würde, entgegnete er mir: „Ja, mein Gott, das haben wir doch schon in den 1970er Jahren und früher gerufen! Es stand an mancher Wand.“
Ja, und nun sind sie noch immer da. Während die Russen uns nicht nur die deutsche Einheit möglich machten sondern gutgläubig auch ihre Truppen aus dem einstigen Gebiet der DDR abzogen. Die USA führen ihre Kriege u.a. über die Air Base Ramstein (also geht Krieg von deutschem Boden aus) und diktieren nicht nur den EU-Staaten, nicht zuletzt Deutschland, wie und wo sie nach ihre Pfeife zu tanzen haben. Zu allem Unglück haben wir Deutschen nun auch noch die Ampel-Regierung, wohl die schlimmste und schlechteste Bundesregierung seit Gründung der BRD. Zu allem Überfluss sind die Grünen Teil dieser Bundesregierung! Die einstige Friedenspartei (man fasst es nicht) ist zu einer kriegstreiberischen, olivgrün zu nennenden Partei geworden. Bessere Einflussagenten als Annalena Baerbock und Robert Habeck – beide absolute Fehlbesetzungen betreffs der von ihnen geführten Ressorts – könnte Washington sich in Berlin nicht wünschen. Das passt wie die Faust aufs Auge, gerade jetzt im Ukraine-Krieg, welcher nicht zuletzt ein Stellvertreterkrieg auf den Rücken der ukrainischen Bevölkerung gegen Russland ist. Lange geplant. Wir sollten nicht vergessen, dass der Maidan-Putsch 2014 in Kiew von den USA mit 5 Milliarden Dollar und entsprechenden Personal ins Werk gesetzt wurde.
Und natürlich – da gibt es auch bei Oskar Lafontaine kein Vertun – ist der Krieg Russland in Ukraine ein völkerrechtswidriger. Allerdings darf darob nicht vergessen werden, dass dieser Krieg eine blutige achtjährige Vorgeschichte hat. In dieser Zeit beschoss das ukrainische Regime die eigenen (vorwiegend) russischstämmige Bürgerinnen und Bürger im Donbass. 14 000 Menschen starben so in den Oblasten Lugansk und Donezk. Renten wurden nicht gezahlt etc.
Unsere Beziehung zu den USA ist längst keine Freundschaft mehr und nicht einmal mehr eine Partnerschaft. Zunehmend schaden die USA uns. Denn das Imperium USA bröckelt zunehmend. Dieses sich überheblich als „God’s own country“ verstehende Land denkt nur an eigene Interessen. Und der Rest der Welt hat sich diesen Interessen unterzuordnen. Tun das Länder nicht, dann wird ihnen schon einmal der Arm umgedreht. Sagte das nicht einmal sogar der einst hierzulande in den Himmel gehobene „Friedhofsnobelpreisträger“ (Mathias Bröckers) und Drohnenmörder Obama?
Nun gab es Anschläge auf die Nord Stream Pipeline. Wer dahintersteckt ist nicht bekannt. Wurde noch nicht ermittelt. Wird es je herauskommen? Darf es je herauskommen? Doch wenn man die Frage Cui bono – Wem nützt es – stellt, kann man eigentlich nur auf eine Antwort kommen.
Uns, Deutschland, jedenfalls nutzt es nicht nur nicht, sondern schadet uns betreffs unserer Energieversorgung erheblich. Stattdessen wollen (müssen?) wir schmutziges US-Frackinggas für teuer Geld über den großen Teich nach Deutschland schippern lassen! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Auch Sanktionen gegen Russland, die die USA auch Deutschland und den EU-Ländern sozusagen dekretierten, schaden. Für Deutschland kann man sagen: sie schaden uns mehr als Russland. Kriegen wir nicht rechtzeitig die Kurve, dann sinkt unsere Wirtschaftskraft und damit der in Jahrzehnten fleißig erarbeitete Wohlstand. Laut Amtseid sollen Minister der Bundesregierung nebst Bundeskanzler Schaden vom deutschen Volke abwenden und dessen Nutzen mehren. Diese Bundesregierung verstößt gegen diesen Amtseid. Und hakt man nach, so erfährt man, dieser Amtseid ist offenbar nicht mehr als eine Floskel. Ihn einklagen? Fehlanzeige.
Nun aber zu Oskar Lafontaine!
Offenbar sieht er Licht am Ende des Tunnels. Hoffnung auf einen zugegeben dringend notwendigen Wandel, um nicht zu sagen: Eine Wende zum Besseren, zur Vernunft. Allein, mir fehlt – so sehr ich es doch selbst wünsche – der Glaube an eine baldiges Aufwachen, das zu entsprechenden Taten führt. Doch lesen Sie selbst und machen sich ihre eigenen Gedanken, liebe Leserinnen und Leser:
„Langsam, aber sicher kippt die Stimmung in der Bundesrepublik. Von Tag zu Tag sind immer weniger Leute bereit, die anhaltende Kriegshetze so ohne Weiteres mitzumachen. Sie erfahren von dem großen Leid, das in der Ukraine verursacht wird, und hören die täglichen Forderungen des CDU-Vorsitzenden Merz, der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann oder des Grünen-Abgeordneten Hofreiter, immer mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. Leider gibt der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz nach anfänglichem Zögern immer wieder klein bei und liefert. Den Vogel abgeschossen hat erneut unsere Außenministerin Annalena Baerbock, die ihre Forderung, die Ukraine mit weiteren Waffen und Leopard-Panzern auszustatten, damit begründete, dass deutsche Waffen Leben retten würden. Da fehlen einem die Worte.
Die Älteren erinnern sich noch daran, dass Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 27 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, darunter viele Millionen Russen und Ukrainer. Am 27. Januar 2014 hatte der 95-jährige Überlebende der Belagerung Leningrads, Daniil Granin, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages an die Inschrift eines russischen Soldaten an den Wänden des Reichstages erinnert: »Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst.«1Und jetzt sollen wir wieder Waffen liefern, damit das Morden in der Ukraine endlos weitergeht, mit deutschen Waffen Russen getötet werden und die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt?
Die Belesenen glauben ohnehin nicht an die Alleinschuld Russlands. Sie erinnern sich an das Gorbatschow gegebene Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Sie wissen, dass die USA 2014 einen Putsch auf dem Maidan organisiert und finanziert haben, um eine Marionettenregierung einzusetzen, die die endgültige Aufnahme der Ukraine in die NATO vorantreiben würde. Zu verlockend war für die Hardliner in Washington die Vorstellung, nach den Raketenbasen in Polen und Rumänien jetzt auch Raketen an der ukrainisch-russischen Grenze aufstellen zu können. Unvergessen ist in diesem Zusammenhang das schamlose Märchen der USA, die Raketen in den osteuropäischen Staaten würden stationiert, um iranische Raketen abzufangen. Und selbstverständlich druckte die westliche Propagandapresse diese dämlichen Erklärungen ab, ohne sie infrage zu stellen, geschweige denn zu kritisieren. Das Pentagon kann jede Lüge verbreiten – die westlichen Medien werden sie schlucken. Raketen ohne Vorwarnzeiten sind so etwas wie das Messer am Hals des jeweiligen Gegners. Sie sind die glaubwürdige Drohung, mit einem Schlag die politische Führung und die militärischen Kommandozentralen des Gegners auszuschalten. »Nicht wer zuerst zu den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt«, schrieb schon vor 500 Jahren der Florentiner Nicolo Machiavelli.
Die von Willy Brandt geprägte Entspannungspolitik, die uns jahrzehntelang Frieden und Sicherheit gebracht hat, wurde Zug um Zug aufgegeben.2Die Ampel-Regierung unterstützt seit ihrem Regierungsantritt vorbehaltlos die aggressive Politik der USA. Ein Sanktionspaket nach dem anderen wurde beschlossen, um Putin zu bestrafen. Der mit Sanktionen geführte Wirtschaftskrieg gegen Russland begann spätestens 2017, lange vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Senat und Kongress in Washington beschlossen ein Gesetz, das zum Ziel hatte, den russischen Einfluss in Europa und Eurasien zurückzudrängen. 2018 nahmen die USA Nordstream 2 in den Fokus.3Gesetzlich wurde festgelegt, dass die Sanktionsbeschlüsse der USA in Zukunft internationales Recht seien und Verstöße dagegen zivilrechtlich und strafrechtlich in den USA verfolgt würden. In der Klausel 257 dieses Gesetzes wurde bestimmt, dass es das Ziel dieses Gesetzes sei, dem Export von US-Energieressourcen Vorrang vor anderen Exportströmen zu verschaffen, um in den USA neue Jobs entstehen zu lassen. Schon im Dezember 2017 hatten Demokraten und Republikaner der Schweizer Firma Allsees, die die Rohre für Nordstream 2 verlegte, mit der Vernichtung gedroht, wenn sie nicht binnen 48 Stunden die Arbeit an der Pipeline einstellen würde. Die Firma gab nach. Immerhin hatte der damalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern den Mut, diese US-Gesetze als einen »eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht« zu brandmarken.4Ein mutiger deutscher Bundeskanzler hätte die Sprengung von Nordstream 2 jetzt eine Kriegserklärung an Deutschland genannt. Mittlerweile merken viele Bundesbürger: Diese Sanktionen sind vor allem ein Schuss ins eigene Knie. Sicher, die Russische Wirtschaft leidet und hat zunehmend Schwierigkeiten, aber hierzulande schießen die Energiepreise durch die Decke. Viele Leute können ihre Heizungskosten und die Strompreise nicht mehr bezahlen und wissennicht, wie es weitergehen soll. Die deutsche Wirtschaft befürchtet eine Pleitewelle und fordert die Regierungauf eine Lösung zu finden. Aber – und das trauen sich die wenigsten auszusprechen: Ohne russische Rohstoffe und Energielieferungen werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Immer mehr Menschen werden verarmen und zahlloseBetriebe werden schließen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Sehenden Auges fährt die Ampel-Koalition die deutsche Wirtschaft an die Wand. Deshalb ist diese Regierung die dümmste, die wir hatten Seiten Bestehen der Bundesrepublik.“
(Aus dem Kapitel: „Kein Nuklearkrieg in Europa! Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien“; ab S.7
Oskar Lafontaine erinnert an die erfolgreiche Entspannungspolitik und die hervorragenden Erfolge in der Ostpolitik Willy Brandts. Er kritisiert, dass diese Entspannungspolitik durch eine Politik der Konfrontation ersetzt wurde. Da hat Lafontaine Recht. Wie viel Porzellan in den Beziehungen zu Russland ist in letzten Jahren zerschlagen worden. Er erinnert daran, was Viele womöglich gar nicht mehr erinnern, bzw. überhaupt nicht bemerkt haben: Die Abkehr von der Entspannungspolitik hat bereits vor 30 Jahren begonnen, da Michael Gorbatschow die politische Bühne verlassen hatte. Da hätten die Hardliner in Washington geglaubt, „jetzt könne man die Früchte des Zusammenbruchs der Sowjetunion ernten“. „Die USA brachen alle Versprechungen und weiteten die NATO nach Osten aus, obwohl US-Politiker wie George Kennan diese Osterweiterung den größten Fehler der US-Außenpolitik nach dem Kriege nannten. Die Osterweiterung werde zu Militarismus und Nationalismus führen. Selten wurden die Folgen einer falschen Politik so präzise vorausgesagt.“ (S.11) Wie richtig Kennan (aber auch andere Politiker, selbst der Hardliner Kissinger) mit diesen Warnungen lag, sehen wir nun heute im Jahre 2022. Nicht nur in der Ukraine. Ringsum brechen alte Wunden wieder auf, schon drohen weitere Konflikte (etwa in Moldawien) Europa zu erschüttern. Als wenn eine Büchse der Pandora geöffnet worden wäre! Wenn uns das um die Ohren fliegt, dann gnade uns Gott, oder wer auch immer!
Erschreckend, wie wenig wir als Menschheit aus früheren Konflikten und Weltkriegen gelernt haben. Erst recht Politiker wie Habeck und Baerbock. Wo waren die im Geschichtsunterricht? Ich lese gerade Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ und kann nur empfehlen dieses Buch zu lesen. Vornweg Habeck und Baerbock – und ja: auch Scholz lege ich es ans Herz!
Oskar Lafontaine hat es auf den Punkt gebracht: Wir – das trifft für ganz Europa zu! – müssen uns der Vormundschaft der USA dringend – bei ansonsten drohendem Untergang im nuklearen Inferno – entziehen. Wir müssen gute Beziehungen zu Russland zu beiderseitige Wohl aufbauen, und Handel und Wandel treiben. Und kulturellen Austausch. Lafontaine skandalisiert die Tatsache, dass heute russische Künstler ausgeladen werden, ihr Engagement verlieren und selbst russische Literatur gecancelt wird, wie das heutzutage heißt. Dazu gehört freilich auch, dass Russland eine Sicherheit zugestanden und garantiert wird, die wir selbstverständlich ebenfalls für uns wünschen. Lafontaine bringt auch den einstigen großen Präsidenten Frankreichs, Charles de Gaulle ins Gespräch. Der bekanntlich für mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von den USA stand. Zu diesem Behufe ließ er seinerzeit die militärische Zusammenarbeit mit der NATO ruhen. Der gestandene General gedachte sich nicht unter die Knute der USA zu begeben.
Lafontaines Buch schließt mit dem Kapitel „Gedanken zum Krieg“ (S.45). Da wird er sehr persönlich, was auch seine Haltung gegen jedweden Krieg erklärt, welche er sich bis heute bewahrt hat. Der Onkel, dessen Vornamen ihm seine Eltern gaben, fiel 1941 200 Kilometer vor Moskau. Sein Vater ist im April 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem US-Soldaten erschossen worden, als er auf dem Weg seiner Familie war.
Diese kleine Buch ruft Wichtiges in Erinnerung. Es ist ein Buch, das sagt, was ist. Sowie was sein könnte, ja sein müsste. Und ist ein Plädoyer für die Einkehr von Vernunft und Arbeit am Frieden. Oskar Lafontaine erinnert hat seinen politischen Ziehvater Willy Brandt, der in seiner berühmten Nobelpreisrede festgestellt habe: „Krieg ist die Ultima Irratio“. Und der zusammen mit seinem Freund Egon Bahr die Deutschen immer wieder gemahnt habe: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Daran er jetzt. Aber auch an Michael Gorbatschow, den der die Freude gehabt habe kennenzulernen. Die Deutschen hätte ihm viel zu verdanken. Weshalb wir die Russen nicht zu Feinden erklären dürften.
Jetzt, so Lafontaine, müsse alles dafür getan werden, dass die Waffen schweigen: „Der Waffenstillstand, der Frieden“, schließt dieses Buch, „hat höchste Priorität. „Jeder sollte versuchen, dazu seinen Beitrag zu leisten.“
Eine englische Zeitung erschien zur Zeit als Oskar Lafontaine Bundesfinanzminster in der rot-grünen Koalition war mit einer deutschen Titelseite. Die „Sun“ fragte ihre Leser: „Ist dies der gefährlichste Mann Europas?“ und konkretisierte: „Oskar Lafontaine stellt die größte Bedrohung für die britische Lebensart seit 1945 dar.“ Der Grund dafür seien seine Thesen zur europäischen Währungspolitik. Wie Recht Oskar Lafontaine seinerzeit in Sachen einer vernünftigen Finanzpolitik hatte, zeigte Jahre danach die Finanzkrise 2007/2008.
Wird Oskar Lafontaine mit seinem Buchtitel wieder als gefährlicher Mann – gar als Antiamerikaner gelten? Ihn wird es nicht jucken. Denn er hat ja Recht. Und was juckt es die gestandene (politische) Eiche aus dem Saarland …
Aus der Ferne, gemütlich auf der Couch sitzend, geht man oft oberflächlich mit Zahlen von Opfern um, die uns vom Nachrichtensprecher aus einem Krisengebiet überbracht werden. Zu viele Meldungen sind es geworden, zu viele Krisen. Das an sich ist schon sehr tragisch. Und dann gibt es Orte, in denen Krieg geführt wird, von denen in den öffentlichen Medien kaum bis nichts zu hören ist. Ich beobachtete die unterschiedlichsten diffusen Situationsbeschreibungen zur Ukraine im Fernsehen und im Internet bis 2017 und hatte zunehmend Zweifel, ob die deutsche Berichterstattung stimmte. Kämpfen im Osten des Landes, bei Donezk, tatsächlich Ganoven, die als „prorussische Separatisten“ oder „Terroristen“ von den Medien für den Konflikt verantwortlich gemacht werden, welche Rolle spielt Russland und werden dort wirklich Kinder umgebracht?
Ich entschied mich, mit einer privaten Gruppe von Sicherheitskräften, einem caritativ täti- gen Verein, Journalisten und Kulturschaffenden in den Donbass zu reisen. Wir wollten uns persönlich ein Bild machen, da uns die Stimmen der Opfer, Kinder in den Waisenhäusern, über Freunde aus Moskau erreichten. Wir hatten keinen Grund, unseren Freunden nicht zu vertrauen, uns verband ein langer respektvoller Austausch, trotz großer Propaganda des westlichen Mainstreams. Bricht sich die Wahrheit doch irgendwann ihren Weg, dachten wir. So flogen wir vom 26. bis 30. April 2018 ins 2600 Kilometer entfernte „Neurussland!, genauer nach Donezk. Der Weg führte uns über Moskau und das russische Rostow am Don, die Partnerstadt von Dortmund, wie wir von Igor und Wadim erzählt bekamen. Die jungen Männer hatten uns mitten in der Nacht vom Flughafen abgeholt. Sie erinner- ten sich noch gut an das ‚Duell der Reviermannschaften”#in Donezk 2013. Schachtjor Donezk hatte sich damals zu einer europäischen Spitzenmannschaft entwickelt. Die hochmoderne Donbass-Arena als Spielort der Europameisterschaft 2012, ließ sich der damalige Clubchef Rinat Achmetow, einer der wohlhabendsten Oligarchen Europas, rund 175 Millionen Euro kosten.
Im Februar 2013 spielte das Team aus dem ukrainischen Bergbauge- biet gegen die Borussen im Viertelfinale der Champions League. Mein Mann fachsimpelte als bekennender BVB-Fan mit den Jungs über das spannende Spiel, in dem die Mann- schaften mit dem Ergebnis 2:2 auseinander gingen. Die fortgeschrittene Zeit machte uns in dieser Nacht nichts aus, wir waren neugierig. Auf dem Weg in ein kleines Dörfchen, in dem wir in der Datscha von Nikolai Werbnitzkij übernachteten, der sich im Innenministerium der Stadt Rostow um die Verwaltung von Waisenhäusern und Internaten in der Stadt Nowotscherkassk kümmerte und uns in den nächsten Tagen begleitete, machten wir noch kurz eine kleine Stadtrundfahrt und hielten an einer der schönsten Kathedralen, in der die Donkosaken oft sangen. Im Ort, es war bestimmt schon 2 Uhr morgens, empfing uns der andere Teil der Gruppe, die aus allen Landesteilen Deutschlands und Österreichs gekommen waren. Wir grillten und keinen Nachbarn schien zu stören, dass wir Draußen laut sangen, redeten oder lachten. Am nächsten Morgen fuhren wir dann Richtung Nord-Westen drei Stunden in einem Kleinbus weiter, über den Grenzposten der neu gegründeten Volksrepublik Donezk, direkt ins Stadtzentrum.
Die Gespräche im Bus verstummten zusehends, denn wir sahen aus der Ferne Blitze, die von Granatangriffen stammten. Nervosität machte sich breit und wir beobachteten die Umgebung genauestens. Die Donbass-Region wird hier eingekesselt. Und gleich vorweg will ich den Irrglauben aufheben, dass es in Europa derzeit keinen Krieg gibt. Der Krieg ist seit 2014 da. Unaufhörlich. Wir Deutschen sehen ihn nur nicht, weil wir ihn durch unsere Medien nicht gezeigt bekommen.
Stellen Sie sich die ehemalige Grenze der östlich gelegenen DDR vor 1989 und den da- zwischen befindlichen „Todesstreifen“ zwischen der westdeutschen Republik (BRD) vor. So ist in etwa die geografische Situation im Donbass, der Ostukraine und der Kiewseitigen Ukraine, zu verstehen. Der „Todesstreifen“ ist eine etwa 50 bis 140 Kilometer breite und etwa 450 lange Demarkationslinie, um eine Art Pufferzone zwischen den kontrahierenden Regionen zu bilden und kriegerische Handlungen zu vermeiden. Das gefährliche Gebiet wird von den Einwohnern Donezks „Grauzone“ genannt. Die kriegerischen Handlungen finden dort statt. Mindestens dreimal täglich beobachteten wir die Angriffe mit Mörsergranaten. Sie finden jedoch einseitig statt: Durch die Westukraine, die an Kiew (etwa 700 Kilometer von Donezk entfernt) gebunden ist und massgeblich von der NATO und der EU finanziert wird. Ziel der Beschüsse ist die Ostukraine mit ihren separat gegründeten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese Länder werden seit 2014 einem, im wahrsten Sinn des Wortes, gezielten Psychoterror ausgesetzt. Ich war direkt an dieser Demarkationslinie, die Angriffe habe ich persönlich beobachtet. Deshalb kann mir niemand mehr erzählen, „wir müssen dafür sorgen, dass es keinen Krieg gibt.“ Nein, wir müssen mit unseren Mitteln dafür sorgen, dass die NATO mit ihrer Propaganda entlarvt wird. Der Krieg ist da.
Am 30. April 2018, das war ein Montag, mussten wir umgehend – einen Tag früher, als geplant – aus Donezk abreisen, denn Kiew hatte die „kriegerische Okkupation des Don- bass“ erlassen. Das bedeutete, die Westukraine wollte den Donbass stürmen. Damals war Pedro Poroschenko noch Präsident der Ukraine. An der Seite des ukrainischen Militärs, kämpfen unter anderem das Asowsche Bataillon, das unter Kommandantschaft des 43jährigen Neonazi Andrij Bilezkyj steht und eines von etwa 80 paramilitärischen Freiwilligen Bataillonen ist, die im Ukraine-Konflikt eingesetzt sind. Es untersteht dem Innenministerium der Ukraine. Schauen Sie sich die Embleme der Uniformen an. Bis August 2015 erkennt man deutlich die Schwarze Sonne und die schwarze Wolfangel (N mit Strich). Es ist das Zeichen einer Division der deutschen Waffen-SS unter Adolf Hitler. Das Emblem wurde danach überarbeitet. Wie ist das Phänomen des Nazikultes in der Ukraine, einem ehemaligen Sowjetstaat zu erklären, der unter hohem Einsatz und 28 Millionen Todesopfer gegen deutsche Faschisten kämpfte? Ich erfuhr, dass einige Regionen im Westen des Landes, nahe Polens, wie etwa Vinuytska, Ternopil oder Kiew gegen Josef Stalin aufbegehrten und sich daher den Nazis anschlossen.
Der Hass gegenüber Stalin ist nachvollziehbar, doch bis heute ist auch die radikal nationalistische Ideologie geblieben, gepaart mit einer blutrünstigen Russophobie. Das deckt sich mit der Gesinnung der NATO-Führer und geopolitischen Zielen des militärischen Bündnisses. Ein Gast geht diesem Thema möglichst aus dem Weg, höre ich von Freunden, die in der Ukraine aufgewachsen sind, auch wenn nicht alle Menschen in dieser Region so denken. Im Einsatz am Donbass sind auch eine Reihe von Söldnern aus dem Ausland, die für die „Jagd auf Menschen“ bezahlt werden. Wir wissen, dass sie durch die NATO bezahlt werden. Die Regierung Deutschlands sieht also bis zur Stunde nicht nur beim Völkermord am Donbass zu, mehr noch, sie unterstützt ein nazistisches Regime. Wir hören natürlich nichts davon in den Medien, nur, dass im Donbass die separaten Republiken die Aggressoren wären. Das ist falsch. Die Menschen in den Donbassrepubliken fragen sich jedoch, weshalb wir die europäischen Regierungen nicht darauf aufmerksam machen.
Der Donbass wird nunmehr seit acht Jahren aggressiv ethnisch gesäubert, weil die im Donbass lebende russische Bevölkerung, es sind etwa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung, die westliche Anbindung nicht befürwortet und ihr Land nicht verlassen möchte. Trotz todbringender Attacken durch Mörsergranaten bleibt sie in ihren Häusern, pflegt ihre Gärten und versucht, ein normales Leben weiterzuführen. Wir sahen die verminten Wälder bei der Hinfahrt, die durchlöcherten Türen und Gartentore, zerbrochene Fenster, ausgebrannte und eingefallene Dachstühle, überall fanden wir Bruchstücke aus Holz und Beton und unzählige Gräber von Kindern. Die Kinder starben durch Scharfschützen und willkürliche Schießmanöver. Die, die überlebten, wohnen in Waisenhäusern. Sie brauchen besonders unsere Unterstützung. Eine russische Tradition ist es, solange noch ein Verwandter am Leben ist, werden Kinder in deren Familien aufgenommen. Etwa bei einer Tante, Großmutter oder Cousine. Die Kinder hier haben niemanden mehr. So ist dann die Inschrift auf den ukrainischen Raketen mit „Ich liebe dich“ kaum eine romantische Nach- richt eines Soldaten, der gern nicht geschossen hätte, es jedoch auf Befehl tat, sondern eine bösartige und sarkastische Wesensart der nazistisch unterstützten Führung in Kiew. Teuflisch.
Der innere Frieden in den Volksrepubliken hat einen hohen Preis, stellten wir bei dem Besuch fest. Unsere Gruppe interessiert sich für die Belange der Menschen und die Umstände, unter denen sie leben. Wir wollen Kontakte knüpfen und uns orientieren. Erst wenn man vor Ort ist, wird man sich der Schicksale jedes einzelnen Menschen spürbar bewusst. Wir stellten fest, allesamt sind es Opfer, auch wenn Menschen überlebt haben, denn jeder von ihnen hat bereits etwas verloren oder zu beklagen. Entweder einen lieben Familien- angehörigen, was an Tragik kaum zu ertragen scheint oder einen freundlichen Nachbarn. Jeder der Überlebenden muss sich von heute auf morgen neu ausrichten, sich abfinden. Als wir die beiden Kinderheime der Volksrepublik Donezk besuchten, wurden wir demütig. Da stehen die quirligen Mädchen und Buben in bunten Tupfen-Kleidchen, weißen Haarschleifen oder schicken Hemden freudestrahlend in Reih und Glied und empfangen uns mit ihren Liedern. Wir verstehen sie zunächst nicht, sie klingen fröhlich. Das zweite ist in Moll geschrieben, die Tonfolgen treffen ins Herz, stimmen melancholisch. Unser russischer Begleiter Artjom fängt plötzlich an zu weinen. Erst später weiß ich warum: Die Kinder singen, „Soldaten beschützt uns!. Der gelernte Tischler ist selbst Vater. Die Liedtexte wirken tief in ihm, machen ihn vermutlich ein Stück hilflos. Gern hätte auch er sie davor bewahrt, Mutter und Vater zu verlieren.
Ich habe dort Gelegenheit in die Augen der Kinder zu schauen. Es ist im Grunde nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Sie verhalten sich wie unsere Kinder. Offenbar schaffen diese Erzieherinnen und Lehrerinnen es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Kin- der aufgehoben fühlen. Sie haben nur noch sie. In das Herz kann man freilich nicht schauen, ihre Mütter und Väter sind tot, werden keinen Geburtstag mit ihnen feiern, eine ge- lungene Theatervorstellung bejubeln oder ihre Tränen trocknen, wenn sie einmal traurig sind. Das schnürt mir wirklich die Kehle zu. Dieses Gefühl begleitet uns auf jeder unserer Stationen. Wir sehen ältere Damen, die in einem Ort übrig geblieben sind. Der Bus, in dem ihre Männer saßen, wurde auf dem Weg zur Arbeit bombardiert. Die Lehrerinnen in Gorlovka wünschen sich für ihre Schüler einfach nur Kindheit, denn sie spielen nicht mehr. Das sagt mir die Lehrerin unter Tränen. Später sehen wir auch die restlichen Überbleibsel an Ziegelsteinen des Hauses eines älteren Mannes. Er sagt: „Sechzig Jahre meines Lebens sind zerstört“ und zeigt uns die Mörsergranaten, die überall herumliegen im halb zertrümmerten Haus. Mit Eisenstangen sicherte er heute Morgen wenigstens den Dachstuhl. Stepan, so ist der Name des Mannes, schläft nun im Keller. Er und seine Frau könnten auch bei einigen Nachbarn unterkommen, erfahren wir, aber er winkt ab, „ich habe noch meinen Garten!, sagt er. Der ist ihm geblieben und irgendwie werden sie es schon schaffen.
Krieg hat ein bizarres Gesicht. Die Empfindung ist für Friedensstaatler wie uns irgendwie surreal, scheint unwirklich und nicht greifbar zu sein. Das Gefühl kennt die Nachkriegsgeneration in dieser Form nicht, und uns ist nicht annähernd bewusst was es bedeutet, mit einer anhaltend quälenden Angst vor einem neuen Granatenangriff zu leben, mit den klaffenden Löchern in den Straßen, den durchschossenen Wänden zerbrochenen Fensterscheiben in der Wohnung und mit verminten Wäldern. Wir sahen zwar nie die abgetrennten Gliedmaßen und die um Luft ringenden Menschen, die blutüberströmt und vor Schmerzen schreiend oder gar tot auf dem Gehweg lagen, aber wir sehen es in jeder Straße. Wir gehen an unzähligen Gräbern und Gedenktafeln vorbei, die dort täglich mit Blumen bedacht werden. Und wir trafen Menschen, die den Tod sahen. Ich konnte es in ihren Augen sehen, die eine Melange von bitterster Trauer und mutiger Entschlossenheit ausstrahlen, sich nicht mürbe machen zu lassen – bei all dem Horror.
Alexander Sachartschenko treffen wir, es war eher ein Zufall. Er ist der Präsident der Volksrepublik, 42 Jahre alt, Sohn eines Bergmannes, Ingenieur, verheiratet, er hat drei Söhne. Sachartschenko nahm 2014 in Donezk an den Kämpfen teil, wurde mehrere Male verletzt. Danach führt er das Land mit 2,4 Millionen Einwohnern. Sein Haar ist ergraut nach vier Jahren Krieg. Ich kannte ihn bis dahin nur aus den Pressekonferenzen im russischen Fern- sehen. Auch Sachartschenko hat dieses Leid gesehen, unzählige tote Frauen und Kinder. Makaber ist die Schilderung zu einem Mord der ukrainischen Soldaten an einer schwangeren Frau. Er erzählt mir, ihr Bauch war aufgeschlitzt und ihr Körper wurde mit Bauschaum überzogen. Andere Einwohner wurden vom ukrainischen Militär in große Löcher geworfen und einfach verscharrt, fügt er in bitterem Ton hinzu. Ich würde gerne weghören.
Es ist furchtbar, was ich höre, aber diese Details müssen erzählt werden, gehören sie doch zur unsäglichen Tragik dieser ekelhaften Ereignisse dieser Sadisten. Darf ich so et- was später erzählen, frage ich mich. Ja, ich muss. Der Krieg hat auch Arme und Beine, hübsche Gesichter, ein Herz. Es sind Menschen, die nichts mit Krieg im Sinn haben. Die Donezker Einwohner haben die Opfer alle freigelegt und in ihren Heimatorten begraben. Es sind über 13.000 dieser traurigen Orte. Für uns ist es eine unverständliche Parallelwelt in Anbetracht der schlimmen Situation. Der Geist flüchtet sich in eine Art Kokon hinein, weil man sich vor dem Leid zu schützen versucht. Es ist doch sehr bitter, zu behaupten, ausschließlich durch Betrachtung vor Ort, durch das Berühren der verschossenen Munition und den Blick auf die tausenden Gräber mit den Geburtsdaten, sich der Gefahr, der Gräueltaten und des Terrors bewusst zu sein. Aber wir spüren die Anspannung, an keinem Tag spürst du Entspannung. An keinem. Du liegst im Bett in deinem Hotel und siehst von weitem Granateinschläge, Blitze, Feuer und Qualm. Es dröhnt und ich frage mich manchmal, ob die nächste Granate möglicherweise das Hotel trifft oder irgendeinen anderen Platz, auf dem wir uns am Tag bewegen. Nur ein Kilometer von der Demarkations- linie entfernt, befinden wir uns im Stadtzentrum von Donezk. Hier ist quirliges Leben. Elegante Frauen in schönen Sommerkleidern und Absatzschuhen spazieren da, Schüler sitzen auf einer Bank und lesen ein Buch, ein Wasserspiel plätschert um eine eiserne Kugel, ein Hochzeitspaar beobachte ich. Es trifft sich unter den Bäumen im Park, um Fotos zu machen und trinkt Sekt. Sie haben sichtlich Spaß, lachen ausgelassen und wir freuen uns mit ihnen.
Wir besuchen die Kinder vor Ort in einigen Waisenhäusern. Begleitet werden wir von Wladimir Fedorowitsch. Er ist Präsident des SDM-Hilfsfonds (www.sdm-fond.ru), der aus dem 200 Kilometer entfernten Russland regelmäßig für über 500 Kinder, Behinderte und etwa eintausend psychisch Erkrankte, Hilfskonvois in das Krisengebiet schickt. Er fuhr uns persönlich mit einem Bus von Rostow am Don ins Grenzgebiet um Donezk und begleitete uns bei allen Stationen dieser Mission. Was fanden wir vor? Es war kein Film auf irgendeiner Kinoleinwand oder ein „Ballerspiel!, zu dem Jungs Chips essen. Es gab keinen Moment, indem du über einen Friseurtermin oder die Kneipe nachdenkst. Dort drüben, auf der anderen Seite der Menschheitsfamilie, wird scharf geschossen. Ich weiß heute, wie sich Granaten anhören, ich habe sie gesehen, aus welcher Richtung sie kamen und aus welcher Entfernung geschossen wurde. Die Bürgerwehr in Donezk schoss nicht zurück. Sie hatten strengen Befehl nicht zu schießen. Das hörten wir an verschiedenen Stellen, bei denen wir nachfragten. Sie dürfen nicht zurückschießen, um eine Eskalation zu vermeiden. Am Nachmittag waren wir eingeladen zu Kaffee und Kuchen. Die zwitschernde Frühlingsidylle wurde durch Mörsergranaten gestört. Ich lauschte im Schulraum, bis der Beschuss in der Nähe vorbei war. Ich war schockiert und zuckte zusammen, konnte vom selbst gebackenen Kuchen nicht mehr essen, den mir die Kinder gebracht hatten. Die Kinder blieben still und ruhig. Ich erfuhr, sie haben sich an diese Situation bereits gewöhnt. Unglaublich, nicht? Nach solch einem Beschuss macht man in Donezk im Takt seines Miteinanders weiter, klebt die Fenster mit Papier ab, nagelt sie mit Brettern zu. „Eine Reparatur lohnt erst, wenn keine Granate mehr fliegt!, das erzählt ein älterer Herr von der örtlichen Miliz und lächelt. Das fühlt sich alles sehr skurril an. Die nackte Realität gibt ihm recht. Manchmal werden sarkastisch Scherze darüber gemacht, dass die Frauen schon wissen, mit welcher Munition geschossen wird.
Ihre Sinne sind nunmehr über vier Jahre geschärft, ausgerichtet auf dieses Pfeifen und Zischen, auf Lichtblitze und Erschütterung, dumpf schallende Töne, die vom Einschlag der Granaten rühren. Wir nehmen uns die Zeit für die Ruhe, sind einfach nur müde und versuchen, für einige Stunden die Gefahr zu vergessen, weil wir sonst verrückt werden, vor Sorge und, weil wir sonst unserem Körper schaden würden. Die Gesamtsituation hat nichts mehr mit weniger oder mehr Hab und Gut zu tun. Auf alles würdest du verzichten, wenn du kräftezehrende Anspannung spürst, den anhaltenden Druck und oft die nackte Angst, dass jeden Moment eine Granate einschlägt. Du möchtest es einfach nicht mehr spüren. Ruhe soll sein. Einfach nur Ruhe.
Das hören wir auch von den Kindern in der Schule, die unlängst in ihrem Schulbus beschossen wurden. Am Nachmittag im Waisenhaus bangt man um eine wichtige Wasserzis- terne in der Nähe. Die droht, zerstört zu werden. „Die halbe Stadt wird damit versorgt,“ erzählt uns die ältere Dame am Tisch. Auch sie trägt die grünliche Uniform der Miliz, wie ihr Ehemann. Sie ist dezent geschminkt und hat ein freundliches Gesicht. Wir lauschen ein wenig, bis irgendwann ein dumpfer Ton die gesellige Atmosphäre stört. Die Stromleitung funktioniert noch, vielleicht wurde eine Mauer getroffen. In den kleinen Orten um Gorlovka, die anderen Ortsnamen sind etwas kompliziert auszusprechen, bewahren die Menschen ihre gewohnten Rituale, säubern Straßen und Plätze direkt nach Angriffen. Es blühen rote und gelbe Tulpen in den Gärten, obwohl oftmals keiner mehr dort wohnt. Dachstühle sind schwarz, vollkommen ausgebrannt oder zusammengefallen. In einem Haus kocht man in der noch vorhandenen Küche das Mittagessen, gibt Kindern Unterricht, die Musiklehrerin spielt Klavier, der Bürgermeister sitzt an seinem Schreibtisch – über ihm hängen an der Wand die Porträts von Alexander Sachartschenko und Wladimir Putin -, üben die Kinder Lieder und Gedichte, putzen sich die Mädchen bei Besuchen mit hübschen Kleidchen heraus und frisieren sie sich gegenseitig. Das nennen sie, Hygiene für den Geist. Nur einen halben Kilometer weiter stadteinwärts wird nicht geschossen, weil lediglich die Pufferrandgebiete von Artilleriebeschuss betroffen sind. Wir beobachteten stinknormales Leben, geöffnete Supermärkte, Boutiquen, Blumenläden, gut besuchte Restaurants.
Das gepflegte Shakhtar Plaza Hotel, in dem wir untergebracht sind, ganz in der Nähe des Lenin-Parks und dem überwältigenden Sport-Stadion, ist dieser Tage sehr günstig. Es ist exklusiv ausgestattet und befindet sich nur 1,5 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Der Massagesalon und die Hochzeitssuite werden trotzdem genutzt, der Barbetrieb funktio- niert und die Küche zaubert ein leckeres Essen. Trotzdem, die Menschen brauchen Hilfe durch Friedensbemühungen. Sie sind müde, die Kraft schwindet und es ist genug Blut geflossen. Viele Menschen bleiben trotz der massiven Demütigungen in ihren Orten woh- nen, die Geisterorte geworden sind. Die Regierung der Donezker Region hat sie um Umzug gebeten, aber die Menschen möchten dem Terror trotzen. „Es ist unser Grund und Boden, unser Haus. Wir werden es nicht verlassen,“ sagen sie. Manche sind auch zu alt, um irgendwo neu zu beginnen, einige zu arm.
„Die finanziellen Hilfen der EU sind in den Volksrepubliken nicht angekommen!, hören wir vom Berater des Präsidenten, Alexander Kasakow, mit dem wir uns etwa zweieinhalb
Stunden in der Hotellobby unterhalten. „Das Geld ist nach Kiew überwiesen, von dort aber nicht weitergereicht worden.“ Pedro Poroschenko lässt die Region am langen Arm verelenden, deshalb half Russland mit Zuwendungen aus. Das hat sich unter Präsident Wolodomir Selensky, dem freundlich lächelnden Fernsehstar, nicht geändert. Das Kalkül Kiews ist Erpressung. Aber acht Jahre aushalten unter diesen widrigen Bedingungen, sind wohl Beweis genug, dass dieses stolze Volk sich nicht in die Knie zwingen lässt. Kasakow erzählt uns, dass sie Sanktionen ausgesetzt sind und dringend Hilfe benötigen. Wir hören, es gibt aus dem Ausland, etwa aus Italien, sehr gute Kontakte und man bemüht sich in der Region auch eigene Produkte zu schaffen. Uns wurde klar, was es bedeutete, Sanktionen hinnehmen zu müssen, und unser Respekt war groß, dass mit dem, was vorhanden war, gut umgegangen wurde.
Was uns besonders beeindruckte, war eine Einladung des Präsidenten Sachartschenko. Wir aßen mit ihm, sprachen mit ihm über unsere Eindrücke, über Sichtweisen, und er scherzte. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt, die er uns erzählte. Wir sollten ein selbstgebrautes Bier, ein – wie er sagte – altes Rezept probieren. Er erzählte uns, diese Brauerei hatte einst Stalin bauen lassen für die Bergarbeiter. Denn sie hatten sich die gewünscht. Das Bier schmeckte lecker und wir aßen an einer langen gedeckten Tafel Schinken und Früchte. Etwas bizarr, so empfanden wir, inmitten von seinen Beratern und Soldaten zu sitzen, die ihn mit Maschinengewehren bewachten. Bei einer Begebenheit schien der Präsident allerdings etwas die Verhältnismäßigkeit verloren zu haben. Ich hatte, bevor wir zu diesem Termin gefahren waren, Blumen in einem Geschäft gekauft. Von zu Hause mitgebracht hatte ich noch einen Bildband aus dem Rheinland, mit den Burgen und Schlössern, in russischer und französischer Sprache, und wollte es eigentlich an unseren Begleiter Artjom verschenken. Aber ich dachte mir, beim Präsidenten wäre es genauso gut aufgehoben und für Artjom könnte ich später noch ein anderes Exemplar besorgen. Dass ich Sachartschenko Blumen schenkte, muss bei ihm ungewöhnlich angekommen sein, wie ich später erfuhr. Während wir so plauderten und uns miteinander bekannt machten, Geschichten erzählten und Geschenke tauschten, kamen zwei Soldaten in den Raum. Der eine hatte einen großen cremefarbenen und der andere einen tiefroten Strauß Baccara-Rosen im Arm. „Baccaras!, staunte ich und machte mir sonst keine weiteren Ge- danken. Ich hatte das gerade wahrgenommen, da steht Sachartchenko in diesem Moment auf und geht zu den Soldaten. Er nimmt zuerst die roten Baccara-Rosen und schenkt diesen Strauß Biggy, einer Frau aus unserer Gruppe, die sich schon viele Jahre mit dem Konflikt im Donbass beschäftigte. Und dann kam er zu mir und übergab mir den cremefarbenen Strauß. Ein großes langes Bündel, so dass ich beide Arme ausstrecken musste, um diesen Strauß überhaupt zu umfassen. Viel zu schwer für mich, ihn später zu tragen und überhaupt, wir wollten ja in zwei Tagen wieder abreisen. Was macht man mit so vielen wunderschönen Rosen und: ist es verhältnismäßig? Das fragte ich mich, verwundert und geschmeichelt. Ich nahm an, dass ich seine männliche Ehre ein wenig gekitzelt hatte. Vermutlich deshalb musste es ein übergroßer Strauß sein, damit ich das verstand.
Ich überlegte, vielleicht könnte ich die Rosen an einem passenden Platz ablegen. An dem Ort, den wir am Vortag besucht hatten. Auch da hatten wir Blumen niedergelegt. Die „Allee der Engel“ ist eine Gedenkstätte. Dort besuchten wir Kinder, deren Namen und Alter
in eine Tafel graviert sind. Wir lesen uns durch Namen und Alter der Kinder. Sie waren 1, 5 oder 16 Jahre jung. Für mich als Mutter ist das ein furchtbar beklemmendes Gefühl. Es machte mich tief traurig. Einige Zeit verharrte ich schweigend an der eisernen Tafel mit den unzähligen Namen. Mir erscheinen die Bilder, die ich aus den Videos kenne. Bilder blutverschmierter, von Granatsplittern zerrissene Gesichter sind es, an vielen Körpern fehlen Gliedmaßen. Niemand soll das verschrecken, daher hält man sie im Netz zurück. Wie kann man nur Kindern dieses Schicksal angedeihen lassen? Sie sind doch gerade geboren worden, von frohem, unbeschwerten Gemüt und ihre Seelen sind rein, und sie wollten die Welt doch erst entdecken! Nun liegen die kleinen Körper im Donbass begraben. Über die Gedenktafel rankt ein Meer aus Blumen. Metallene Rosen sind es, die im zarten Licht des Tages kupfern glänzen, ein Teil der Pflanze ist in tiefes Schwarz getaucht. Ich schaue genauer hin und erkenne, es sind Granathülsen, deren Schaft hälftig eine Vase versinnbildlicht und aus der kerzengrade ein langer fester Stiel ohne Dornen herausragt. Daran haften gefiederte Blätter, mindestens drei an jedem Stiel, die nach ihrem natürlichen Vorbild bearbeitet wurden, obenauf sitzt jeweils eine gefüllte Blüte. „Es ist Munition, die hier im Donbass gefunden worden ist!, erklärt mir Victor Mikhalev. Der Kunst- und Metallschmied Mikhalev hat in Tausenden von Stunden die Instrumentarien des Bösen in die Symbolik des Paradieses und der Liebe verwandelt. Seine Werkstatt befindet sich ganz in der Nähe. Es ist eine aufwendige Handarbeit und ich freue mich über ein Exemplar, das er mir schenkt. Die Rose begleitet mich jeden Tag zu Hause und erinnert mich an diesen Besuch. Mikhalev ist Mitglied der Akademie der Künste. Er hat für seine Installationen viele Preise bekommen. Seine Kunstwerke zieren in Donezk die meisten Gräber. Die gesamte Region ist gespickt mit Kriegsgräbern, wo man nur hinschaut.
Wie die Landkarte, in der der Bürgermeister von Gorlowka die Angriffe auf sein Dorf dokumentiert. Und beinahe hätte mein Mann wohl eine Detonation selbst ausgelöst. An ei- ner völlig zerbombten Bushaltestelle stiegen wir aus dem alten rostigen Bus aus. Rostig, damit wir nicht auffallen in der „Grauzone!, denn neue Busse waren oft Ziel der Scharfschützen, die sich, wie wir erfuhren, hinter den Häusern versteckten. Und plötzlich rief unser Sicherheitsmann Anton ungewohnt und bitterernst, „Vorsicht, bleib stehen!“ Zwanzig Zentimeter neben dem Fuß meines Mannes hatte sich eine Mörsergranate in den Boden gebohrt, vermutlich ein Blindgänger. Wir begriffen die Gefährlichkeit, durch solch ein Gebiet zu gehen. Einen fünfjährigen Jungen hatte es das Leben gekostet. Trotz der vielen Warntafeln in der Schule, griff er auf der Straße, er wollte spielen, nach einer solchen Granate und es zerfetzte seinen Leib.
Nachdem wir bei Präsident Sachartschenko noch einen Meerrettich-Schnaps getrunken hatten, der wirklich sehr sehr eigenartig schmeckte, was mir Sachartschenko deutlich im Gesicht ablas (er lächelte dabei), weil ich schreckliche Grimassen zog, bemerkte ich, dass die Berater von Sachartschenko plötzlich nervös an ihn herantraten, sie sprachen leise. Wenige Momente später erfuhren wir, dass wir umgehend die Stadt verlassen müssten, denn die Westukraine, so seine Informationen, würde einen Frontalangriff planen. Wir waren überrascht und wurden von Artjom gebeten, Ruhe zu bewahren, ins Hotel zu fahren und in fünfzehn Minuten unsere Taschen zu packen. Im Bus hörten wir den russischen Chanson „Wladimirskij Zentral“ von Michail Krug etwas leiser als sonst und beobachteten
die Umgebung. Wir hofften, dass wir noch rechtzeitig die Grenze erreichen würden. Ich machte mir Gedanken während der Fahrt zur gesellschaftlichen Situation. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Donezk und Lugansk ist russischstämmig. 187 verschiedene Nationalitäten lebten in der Ukraine vorwiegend friedlich miteinander, mit unterschiedlichen Bräuchen und Traditionen. Der ukrainische Präsident Poroschenko wollte den Russen die russische Sprache verbieten und es sollte nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Das brachte letztlich das Fass zum Überlaufen, nach dem Putsch am Maidan und dem Massaker im Gewerkschaftshaus in Odessa. Damit begann der heiße Krieg im Donbass, es folgte eine Schlichtung über Minsk 1 und 2, Waffenstillstand wurde verordnet. Doch die West-Ukraine hielt sich nicht daran, provozierte. Sie wollte über die Donbassrepubliken die Konfrontation mit Russland erzwingen und deshalb nannte sie ihren kriegerischen Plan „Anti-Terror-Operation!, der ein einseitiger Terror von westukrainischer Seite ist. Dieser endete am 30. April 2018 und wird nun auf eine neue aggressivere Stufe gestellt, die sich die „Operation der Vereinten Kräfte“ nennt. Das bedeutet nichts anderes als eine militärische Frontaloffensive, um die Regionen Donezk und Lugansk zurückzuerobern, was die Bevölkerung in den Donbass-Regionen gar nicht will. Alexander Sachartschenko meinte eben noch, „wir streben lediglich Frieden an und den gilt es zu gewinnen, um unsere Städte so bauen zu können, wie es sich unsere Bürger vorstellen.“ Der letzte Satz, den ich von ihm höre, bevor wir uns verabschieden, ist, „es wird der letzte Krieg in der Ukraine sein, wir sind vorbereitet.“
Es gibt viele Gründe, und wir hörten es in Donezk immer wieder, sich gegen die westliche Politik zu entscheiden. Donezk und Lugansk spalteten sich ab, es ist ihr Recht auf Selbstbestimmung, so empfindet es die Bevölkerung. Die internationale Gemeinschaft sollte ihnen diese Freiheit zugestehen. Alexander Sachartschenko lebt gerade noch vier Monate. Durch einen Sprengstoffanschlag in der Stadt Donezk, vermutlich von Mitarbeitern des ukrainischen Geheimdienstes, werden er und einer seiner Berater umgebracht. Der Sprengstoff befand sich in der Deckenleuchte des Clubs Separ, den er regelmäßig be- suchte, um sich mit seinen Kameraden abzustimmen. Eine Überwachungskamera filmt noch den Eintritt Sachartschenko in den Club und den Beginn einer heftigen Detonation. Ich sehe die Bilder nach dem Sprengstoffattentat vom 31. August 2018 ….Entsetzlich.
Als wir an der Grenze ankommen, ist sie schon geschlossen. Unser Begleiter Artjom hat die Mobiltelefonnummer von Sachartschenko. Ihn ruft er an. Währenddessen er telefoniert, beobachten wir am Knotenpunkt viele junge Männer, die mit Rucksäcken gekommen sind. Später erfahre ich von Artjom, das sind junge Männer, Russen, die aus der ganzen Welt nach Donezk gekommen sind. Sie wollen sich hier ausbilden lassen oder haben sich vom russischen Militär beurlauben lassen. Sie sind gekommen, um eine Waffe in die Hand zu nehmen, und sie führt etwas nach Donezk, was für eine Reihe von Menschen in der westlichen Welt schlichtweg nicht begreifbar oder nachvollziehbar ist. Für mich als Ostdeutsche schon. Sie haben einen Bezug zu den Menschen, fühlen sich verbunden, haben selbst Verwandte oder Freunde von Bekannten im Donbass verloren, die seit Jahren beschossen werden. Es bedeutet für Russischstämmige Patriotismus in der Art, für ihre Landsleute einzustehen, wenn sie sich in bedrohlichen Situationen befinden. Und auch nur deshalb sind diese jungen Männer hier nach Donezk gekommen, um die Miliz zu unterstützen.
Nachdem Artjom alle Formalitäten mit dem Grenzposten geklärt und der Präsident am Telefon mit dem Leiter der Dienststelle gesprochen hatte, können wir weiterfahren. Über 200 Kilometer nach Rostov am Don. Dieses Mal fahren wir direkt zum Flughafen und machen keinen Stopp.
Ich habe auf der Heimreise viel zu tragen. Dieses Mal gleich zwei Taschen. Mein Mann hat sich entschieden, den riesigen Blumenstrauß für mich zu tragen. Durch die verfrühte Abreise konnte ich ihn nicht mehr zu den Kindergräbern bringen. Ins Flugzeug möchte ich ihn nicht nehmen, er würde einfach zu viel Raum beanspruchen. Deshalb entscheiden wir uns am Flughafen direkt am Eingang, da wo die Taschen kontrolliert werden, allen Frauen die dort passieren, eine Rose zu schenken. Wir haben viel Zeit in der Nacht, müssen am Flughafen einige Stunden auf den Flug warten und kommen sogar mit der einen oder anderen Frau ins Gespräch. Sie freuen sich und die Männer haben so viel Spaß an der Freude dieser Frauen, dass sie mir einige von den gefühlt hundert Blumen abnehmen. Kräftige große Männer, gestandene Familienväter stehen da im Eingang des Flughafens in Rostow am Don und beweisen sich als Rosenkavaliere. Wir genießen das alle.
Die Propaganda ist ein Problem im Westen, auch gut informierte Menschen merken es kaum noch, wie vermutlich ich vor über dreißig Jahren, als ich als junge Frau aus der DDR in den Westen kam und einige Gewohnheiten oder destruktiven Strukturen eines anderen Gesellschaftskonzepts nur schwer erkannte. Heute weiß ich, wir tragen West, wie Ost, eine Bürde, und das ist Erkennen. Es ist wichtig, sich damit zu befassen, Fehler anzuerkennen. Zurückgekommen in Deutschland schreibe ich meine Geschichte auf und versuche beim öffentlich-rechtlichen Sender SWR Gehör zu finden. Niemand scheint die Fronten genau zu kennen. Ja, dort schießen Ukrainer gegen Ukrainer, gegen ihre Landsleute. Kein Redakteur erwähnt, dass dieser Beschuss die Minsker Verträge verletzt, dass die Minsker Verträge sagen, dass niemand die Demarkationslinie übertreten darf. Die Minsker Verträge sagen auch, dass nicht geschossen werden darf und, dass die „Rebellengebiete im Osten einen Sonderstatus erhalten“ sollten. Ein entsprechendes Gesetz sollte das Parlament der Ukraine spätestens 30 Tage nach Unterzeichnung des Abkommens verabschieden, also bis zum 13. März 2015. Geschehen ist dies bis heute nicht. Die Regierung in Kiew weigerte sich den Sonderstatus für eine gewisse Autonomie im Osten des Landes zu erlauben, obwohl es im Abkommen festgelegt wurde. Und auch dieser Fakt hat sich bis heute nicht geändert. Obwohl Kiew behauptet, für die Einheit der Ukraine zu kämpfen, hält Kiew bis heute eine Hungerblockade gegen die „eigene“ Bevölkerung im Osten des Landes aufrecht. Es lohnt, den Text des Minsker Abkommens zu lesen. Russland wird darin nicht einmal erwähnt, soll aber das Abkommen umsetzen? Ich versuche das zu vermitteln und werde immer wieder nach Mainz, von Mainz nach Koblenz von Koblenz wie- der nach Mainz und zurück verbunden, bis sich meine Wut und mein Unverständnis in Tränen auflöste. Ich schluchzte am Telefon und eine Redakteurin hört mir endlich zu. Ich empfehle ihr genau hinzuschauen, wer hier gegen wen kämpft und wen Deutschland dort unterstützt, wie es den Menschen geht und wie viele Gräber ich gesehen hatte. Sie notiert, so sagt sie, einige Argumente und verspricht mir, in der Redaktion das Thema anzusprechen.
Wir haben Januar 2022 und wieder hören wir im öffentlich – rechtlichen Radio eine Lüge, nämlich, dass Russland eine „Invasion auf die Ukraine plant!
Russlands Armee steht Rostow am Don, viele Kilometer von Donezk entfernt. Und auch heute bemerke ich, viele Menschen wissen nicht einmal, wo der Donbass liegt, viele Menschen wissen gar nicht, welche Republiken sich aus welchem Grund abspalteten und von wo die Gefahr lauert. Russland ist nicht die Gefahr. Wem nutzt das im Donbass? Wem nutzt das auf der anderen Seite der Ukraine? Und wann begann wirklich die Krise, die im Donbass zum Krieg führte? Westlich eingenordete Politiker prusten in jedes nur verfügbare mediale Rohr, bösartig und blind. Auch die Unterstellung, dass Präsident Putin ein neues Sowjetreich schaffen wolle, ist sachlich falsch. Denn tatsächlich sagte er, „dass der Zerfall der Sowjetunion eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts war.“ Er begründete die Aussage, dass dieser Zerfall die Kriege und instabilen Verhältnisse in vielen Teilen der Welt heute maßgeblich begünstigt oder gar mitverursacht hat. Den angeblichen Wunsch von einem neuen Sowjetimperium muss der Ex-Profiboxer Vitali Klitschko, heute Bürgermeister in Kiew, offensichtlich in den deutschen Medien aufgeschnappt haben, obwohl er das original Zitat Putins doch auf Russisch verstehen müsste, er hat diese Sprache in der Schule gelernt. Das Betteln für Waffen in Deutschland steht ihm nicht. Wie ich von Freunden aus der Ukraine hörte, lachen selbst die Kiewer über ihn, weil er die neue Sprache Ukrainisch nicht richtig aussprechen kann. Das ist übrigens auch bei Poroschenko so, der Ukrainisch als Amtssprache einführte und damit alle Russischstämmigen vor den Kopf stiess. Ukrainisch wurde bis dahin meist nur auf dem Land gesprochen, oft auch nur ein Art Kauderwelsch, da in der Ukraine sehr viele Ethnien zusammenleben. In den Städten schrieben und sprachen die Menschen jedoch Russisch.
Minsk Zwei ist offenbar die zu Papier gebrachte militärische Niederlage eines US-Mario- nettenregimes in Kiew, die der Westen nicht anerkennen will. Das kriegerische Zündeln der Westmächte gehört in den größeren Allmachts-Expansionsplan der NATO, nachdem US-Außenminister James Baker Michail Gorbatschow 1990 in die Hand versprach, das „auf den Pelzrücken“ zu unterlassen, rückte die NATO auf den Pelz. Russland hat Anspruch auf Integrität und Schutzraum. Die USA braucht den militärischen Konflikt der Ukraine im Donbass, damit es einen Vorwand gibt, um gegen Russland weitere Sanktionen verhängen zu können und ihre Waffengeschäfte zu machen. Alle bisherigen Sanktionen gegen Russland sind verpufft und sie schützen nunmehr ihre eigenen Grenzen. Gibt es gesichtswahrende diplomatische Lösungen? Vielleicht behält Alexander Sachartschenko damit recht, dass es „der letzte Krieg in der Ukraine sein wird!. Es ist einzig die Entscheidung der NATO, ob und wann endlich Frieden einkehrt.
Nachtrag: Ich schreibe die letzten Zeilen meines Beitrages und höre, dass heute in Berlin die Kontaktgruppe des Minsker Friedensabkommens im sogenannten “Normandie-Format“ neun Stunden lang mit der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland verhandelt hat. “Kein Ergebnis, keine Einigung zu nichts!, vermeldet der Unterhändler Russlands Dmitri Kozak, Vize-Ministerpräsident der Regierung Russlands, der dazu meint, dass die Ukraine gar keine Kompromiss-Lösung eingehen will und sich weigert “zentrale Punkte” des Minsker Friedensabkommens anzuerkennen, geschweige denn zu erfüllen. Laut Kozak
habe Russland alles und bis zuletzt versucht, einen Kompromiss zu erzielen – aber die Ukraine wollte und will keinen. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Scharfschützen aus dem Kiew-seitigen Lager, das ich 2021 in einem Magazin las. Serhiy Varakin, sein Kurzname ist „Smile!, gab in den Block des Reporters seine Absichten bekannt: „Ich brauche keinen Frieden, ich brauche Sieg…Meine Aufgabe ist es, Feinde zu eliminieren, so viele wie möglich.“
Der Journalist Dirk Pohlmann hat in wenigen Worten skizziert, wie Deutschland in Sachen Ukraine, Russland, Nordstream 2 usw. an der Nase herumgeführt werden und was uns droht. „Nordstream 2 gibt es, weil die deutsche Regierung es wollte, nicht weil die russische es wollte. Deutschland braucht Gaslieferungen, um sicher Grundlast-Strom produzieren zu können, nachdem die Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Die USA versuchen die Pipeline zu stoppen, seit vielen Jahren, mit vielen Mitteln und aus vielen Gründen: aus geopolitischen, aber auch aus simplen wirtschaftlichen Interessen.“ Frackinggaslieferungen aus den USA wären beides, ein Geschäft und erpressungsfähiger Einfluss auf Deutschland. Es gibt einen Interessenkonflikt zwischen den USA und seinem nicht-souveränen Vasallen Deutschland. Die NATO existiert, um die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten, sagte ihr erster Generalsekretär Lord Ismay bereits in den 50er Jahren. Und das gilt immer noch.
Beitragsbild: Sabiene Jahn
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Presseportal „Frische Sicht“.
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung der Autorin Sabiene Jahn. Besten Dank dafür.
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