„Silberjunge“ Thorsten Schulte über sein Buch „Fremdbestimmt“ auf der #Nichtohneuns – Demo in Dortmund. Wird er eine Partei gründen?

Jeden Sonnabendnachmittag treffen sich Kritiker der Corona-Einschränkungen in Dortmund hinter der Reinoldikirche im Zentrum der Stadt. Kürzlich hatten sie, wie es im „blick nach rechts“ geheißen hatte, „für ihre Versammlung am 4. Juli den AfD-nahen, verschwörungsideologischen Publizisten Thorsten Schulte“ angekündigt. Und in der Tat: am 4. Juli war er da und sprach vor laut Polizeiangaben 150 Menschen. Meines Erachtens waren es aber mehr – vielleicht um die 250 bis 300 Kundgebungsteilnehmer. Sei es drum. Veranstalter waren die Ortsgruppen von „Nicht ohne uns“ sowie „Querdenken 231“. Die lehnen nach eigenen Angaben „extremistische Links- und Rechtsradikalität […] kategorisch“ ab.

Journalist Andy Franke begrüßt die Kundgebungsteilnehmer.

An einer Lautsprecherbox oberhalb der Kirchentreppen angebracht, wehte ein kleines Deutschlandfähnchen. Daneben steckte eine Sonnenblume. Journalist Andy Franke (FREIES MEDIENPORTAL) begrüßte, wie er sagte, aus der Rolle des Journalisten heraustretend – „als einer von euch“ (hier das Video), die Kundgebungsteilnehmer. Er brachte noch einmal die Punkte und speziellen Bedenken zum Ausdruck, die den Kritikern der Corona-Einschränkungen auf den Nägeln brennen.

Thorsten Schulte vor der Reinoldikiche in Dortmund. Fotos: C. Stille

Dann war es soweit: „Silberjunge“ Thorsten Schulte, blaues Sakko, weißes Oberhemd. Jeans, aus dem Dortmund benachbarten Hamm betrat die Szene. Schon zuvor war er lautstark begrüßt worden. Einer hatte gerufen: „Ich will ein Kind von dir!“ und Schulte gab lachend zurück: „Lieber nicht!“

Zunächst sprach der Spiegel-Bestsellerautor über sich. Früher war der einstige Banker und Experte für Edelmetalle im öffentlichen Fernsehen präsent und ging nach eigenem Bekunden in der Berliner CDU-Zentrale ein und aus. Inzwischen ist er quasi ein Geächteter. Das hat mit seinem Buch „Kontrollverlust“ zu tun.

„Warum dieser Boykott? Was hat der Autor verbrochen?“, fragte Georg Meck in der F.A.Z. „Steht sein Buch etwa auf einem Index? Nein, nichts dergleichen. Der Verfassungsschutz wird nichts juristisch Verwertbares auf den 288 Seiten finden. Das Buch ist nicht verboten, allenfalls politisch provokant (das glauben die Fans) oder inhaltlich missraten, das sagt der Rest. Dem Handel genügt der Verdacht, Schulte sei irgendwie rechts, sein Verlag dubios, um das Buch zu sabotieren.

Tatsächlich schreibt er, was AfD-Anhänger gerne lesen, aber auch was CDU/CSU-Leute so schon formuliert haben. In Flüchtlings- wie Euro-Krise sei geltendes Recht gebrochen worden, lautet Schultes These. Der Maastricht-Vertrag sieht vor, dass kein Pleiteland von anderen Staaten rausgepaukt wird. Dublin steht dafür, dass Flüchtlinge in demjenigen EU-Staat aufgenommen werden, wo sie europäischen Boden betreten. Beide Male wurde gegen die Paragraphen verstoßen, sagt Schulte. „Staatsversagen“ ist der Kampfbegriff aller Merkel-Gegner in- und außerhalb der Union, Schulte spricht von Organversagen: „Und das Organ heißt Angela Merkel.““

Sein neuestes Buch trägt den Titel „Fremdbestimmt: 120 Jahre Lügen und Täuschung“. Hier das eingeSchenkt.tv-Interview mit Schulte zum Buch.

Er musste für das Buch eigens den „Verlag für Frieden, Freiheit & Wahrheit“ gründen. Ein anderer Verlag war im letzten Moment eingeknickt und hatte es nicht herausbringen wollen. Es konnte im Anschluss an die Rede Schultes käuflich erworben werden. Es bildete sich sofort eine Schlange.

Der Gastredner sprach über sich und seinen Werdegang über eine Stunde lang. Immer wieder von zustimmenden Applaus unterbrochen. Bereits mit 16 war er der Jungen Union beigetreten. Was mag da in seinem Kopf vor sich gegangen sein? Wenn ich von so einem frühen Eintritt in die JU etwas höre, da passiert immer etwas in meinem Kopf. Nun ja.

Womöglich hätte er eine tolle Karriere hinlegen können. Der einstige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer, dessen Mitarbeiter und Wahlkampfmanager er war, förderte ihn. Und nun sozusagen ein Outlaw!

Zu seinem Buch liest man:

„Dieses Buch ist ein Warnruf an alle Europäer!
Kurt Tucholsky schrieb 1931: „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“
Immer mehr Menschen fühlen, dass die Zukunft Deutschlands und Europas in Gefahr ist, verstehen jedoch noch nicht die Ursachen. Deshalb muss das ganze Ausmaß von Täuschung und Fremdbestimmung offengelegt werden. Nur so können wir erkennen, was uns heute bedroht, warum gegen den Mehrheitswillen offenkundig regiert wird und was wir dagegen tun können. Thorsten Schulte demaskiert in diesem Buch die Geschichtsschreibung der Sieger, deckt Unwahrheiten, Halbwahrheiten und das Weglassen wichtiger Fakten in unseren Medien auf. Er entlarvt das verzerrte Geschichtsbild, das immer noch zu einem Schuldkomplex der Deutschen mit verheerenden Folgen führt. Erst dadurch wird seine Gefahrenanalyse in diesem Buch für das heutige Deutschland verständlich.“

Zum Buch selbst kann ich hier nichts schreiben. Ich habe es nicht gelesen. Vor einiger Zeit hatte ich mich an jemanden gewendet, welcher das Buch zu vertreiben half, um ein Rezensionsexemplar zu bekommen. Aber erhalten hab ich keines. Wer mag, kann sich ja selbst ein Bild über „Fremdbestimmt“ machen. Oder sich übers Internet – etwa bei Thorsten Schulte selbst – informieren.

Vieles was Schulte in seinem Vortrag kritisierte ist in der Tat kritikwürdig. In unserer Gesellschaft läuft vieles seit Jahrzehnten falsch. Und wahr: Bürger*innen werden auch belogen und über den Tisch gezogen. Thorsten Schulte brachte das berühmte Zitat von Jean-Claude Juncker, wo der einstige Präsident der Europäischen Kommission einfach mal offen die Wahrheit sprach:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Das die Gesellschaft – erst recht in Corona-Zeiten – so gespalten ist haben m.E. die etablierten Parteien zu verantworten. Dazu gehört auch die Entstehung und Erstarkung der AfD. Dass Menschen der Zustand unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, bitter aufstößt und zunehmend empört veranlasst auf die Straße zu gehen, darf uns nicht verwundern. Wohin es diese empörten und verunsicherten Menschen treibt, kann und muss uns nicht in jedem Falle gefallen. Aber es ist nun einmal ihr gutes Recht. Jedoch vor solchen Demos – speziell sogenannten „Hygienedemos“ generell zu warnen, wie es das Kampagne-Netzwerk Campact kürzlich tat, ist völlig neben der Kapp. Da macht man es sich zu einfach. Gefährlich einfach. Unsere Gesellschaft ist eh schon arg gespalten und wird mit jedem Tag mehr gespalten. Das kann zu nichts Gutem führen. Zu Campact mein Beitrag.

Inwiefern nun Thorsten Schulte zu einer Einung unserer von Spaltung erfasster Gesellschaft führen könnte, ist mir dagegen noch nicht klar geworden. Wenn ich ihn richtig verstehe, erwägt er womöglich eine Partei zu gründen – wenn sich genügend Mitstreiter*innen finden. Brauchen wir die? Ich denke nicht. So etwas kann man nicht aus dem Boden stampfen. Das war auch bei der Bewegung „Aufstehen“ zu beobachten, die großen Zuspruch hatte, aber hauptsächlich an sich selbst scheiterte. Oskar Lafontaine möchte nun Aufstehen wieder beleben.

Warnung sollten Schulte auch die Querelen um die von Dr. Bodo Schiffmann gegründete Partei “Widerstand 2020“ sein, die schon wieder am Ende ist und Schiffmann inzwischen ein neues Projekt im Auge hat.

Hinter so einem Projekt (fraglos muss etwas in diesem Land passieren, wenn wir die Demokratie wieder in die Puschen bringen wollen) muss ordentlich Dampf stehen und charismatische Leute werden auch gebraucht. Parteien, so sie wirklich Veränderung bewirken wollen und den wirklich Mächtigen gefährlich zu werden versprechen, werden im Laufe der Zeit vom System „rundgelutscht“ – die Grünen sind das beste Beispiel dafür. Und DIE LINKE braucht nicht schadenfroh zu schmunzeln: sie sind die Nächsten. Das Rundlutschen und noch viel schlimmer,weil vermeidbar: das Rundlutschenlassen ist bereits im Gange. Auch – habe ich den Eindruck werden Parteien gerne von bestimmten Kräften unterwandert und schließlich von innen heraus zerstört.

Wohin eine mögliche Schulte-Partei steuern würde, kann man nur mutmaßen. Ob das unserer Gesellschaft innenpolitisch wie außenpolitisch im Positiven zu Gute käme, möchte ich indes bezweifeln. Zwar tönte Schulte von Gerechtigkeit und Wahrheit und, dass er auch mit Linken, sogar der Antifa spreche.

Einige Punkte in dessen Dortmunder Rede stießen mir dann doch etwas bedenklich auf. Unter anderem das China- und Kommunisten-Bashing bezüglich der neuen Sicherheitsgesetze Hongkong betreffend. Da wie dort ist Thorsten Schulte offenbar noch in der alten CDU-Ideologie und dem Kalten Krieg verhaftet. Aber, liebe Leser*innen, machen Sie sich doch ein eigenes Bild: Hören Sie sich die Ansprache von Thorsten Schulte (Video via Vani Hobby TV; oben) gern an.

Fakt ist: Wir leben in Krisenzeiten, die einen letztlich unvermeidlichenUmbruch zumindest andeuten. Im Herbst dürfte eine Pleitewelle das Land erfassen mit den damit verbundenen Verwerfungen im Rahmen einer schweren Weltwirtschaftskrise wir werden lernen müssen umzugehen. Wohin wird dieser Umbruch ausschlagen? Zum Positiven oder zum Negativen? Wir haben keine Glaskugel und können es demzufolge nicht vorhersagen. Wir könnten uns, schlage ich vor, präparieren und zu diesem Behufe „Die Lehre vom Kollaps“ von Dmitriy Orlov lesen.

Friedlich wie sie begonnen hatte, endete die Kundgebung.

Rezension: „Angst und Macht“ von Rainer Mausfeld

Der Neoliberalismus ist m.E. die Krankheit unserer Zeit. Fast alle Bereiche unserer Gesellschaft – und es werden ständig neue davon erfasst – sind von dessen Geist, besser: Un-Geist, befallen. Das Perfide daran: Die mit dem Neoliberalismus in Verbindung stehenden Mechanismen, präziser: dessen Ideologie, wird den Menschen geradezu als Medizin verkauft, gepredigt, die uns vorgeblich voranbringt. Paradox: Eine Krankheit wird uns als Allheilmittel verordnet. Die zu Apologeten dieses „Allheilmittels“ gemachten oder gar – entsprechenden, wie auch immer gearteten Einflüssen erlegen – aus eigenem Antrieb dazu gekommenen Politiker sowie die ihnen kritiklos, liebedienernd zur Seite stehenden, ihnen nachplappernden, Papageienjournalisten – statt als Vierte Macht in der Demokratie zu handeln! – in unseren Mainstream- und „Leit“-Medien verkaufen diesen Neoliberalismus.

Wer es nicht schafft, ist selber schuld

Sie lassen die schon immer falsche „Volksweisheit“ aufscheinen: Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Und wer’s halt nicht schafft? Der ist nicht nur raus, hat Pech gehabt, sondern – stärker als nie zuvor wird ihm heute vermittelt: Du bist selber schuld. Hast dich eben nicht genug angestrengt. So jemand begehrt in den seltensten Fällen auf. Er ist förmlich erschlagen von den Verhältnissen. Wem sollte er die Schuld für sein Versagen geben? Er sieht ja keine.

Die Mächtigen – ich meine hier nicht die uns regierenden, sondern die wahrhaft Mächtigen, welche ja die Ideologie des Neoliberalismus immer weiter vorantreiben, sind ja weitgehend unsichtbar. Sie haben keine Adresse. In früheren Zeiten hatten etwa die Ausgebeuteten, wenn der Guts- oder Fabrikherr den Bogen in Sachen Ausbeutung überspannt hatte diese Adresse. Und dann zogen sie schon mal mit Mistforken vor die Villa des Ausbeuters.

Manchmal entschlüpft den anscheinend Mächtigen auch einmal die Wahrheit

Und unter den anscheinend Mächtigen gibt es sogar manchmal welche, denen auch mal die Wahrheit entschlüpft. Einer von ihnen sagte das dann sogar offen in der ARD-Satiresendung „Pelzig“ am 21. Mai 2010 in der ARD. Der damalige bayerische CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer sagte frank und frei von der Leber weg:

„Diejenigen die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden … und diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt.“

Oder der nun bald scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

WENIGE profitieren – VIELE verlieren

Freilich – das soll hier nicht verschwiegen werden – gibt es auch Menschen und Menschengruppen, welche vom Neoliberalismus profitieren – und das nicht zu knapp. Doch die Mehrheit – die Gesellschaft (etwas, von dem die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher zynisch behauptete, „There ist no such thing as society“ – „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) verliert dabei. Die Gesellschaft und mit ihr die Demokratie (oder was noch davon übriggeblieben ist) wird regelrecht zerbröselt – letztlich womöglich sogar zerstört. Und der Thatcherismus existiert unter verschiedenen Masken und unterschiedlichen manchmal auch grellbunten, auf den ersten Blick fröhlich scheinenden, Gewändern heute munter weiter.

Wenn doch aber von diesem Neoliberalismus nur so WENIGE profitieren, aber so VIELE verlieren – weshalb begehren die ins Hintertreffen gedrängten Menschen denn nicht dagegen auf? Ich schrieb es bereits: Die Adresse, wohin sie mit ihren „Mistforken“ ziehen könnten, haben sie nicht. Und sie haben Angst. Angst, die ihnen ständig gemacht, auch medial eingetrichtert wird. Angst – kein neues Mittel, wie Rainer Mausfeld („Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“; mehr auch hier, hier und hier) in seinem neuen Buch „Angst und Macht“ schreibt.

Rainer Mausfeld: Auf längere Sicht lässt „sich das neoliberale Projekt auf demokratischem Wege nicht ohne eine massive Manipulation des Bewusstseins durchsetzen“

Längerfristig, meint Rainer Mausfeld, „haben neoliberale Transformationsprozesse unmittelbar spürbare negative Folgen vor allem für diejenigen, die zum unteren Bereich der Einkommens- und Vermögensskala gehören; ihre längerfristigen Folgen betreffen uns alle, da diese Prozesse unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören.“

Auf längere Sicht ließe „sich das neoliberale Projekt auf demokratischem Wege nicht ohne eine massive Manipulation des Bewusstseins durchsetzen.“

Die systematische Erzeugung gesellschaftlicher Ängste spielt eine ganz besondere Rolle

Mausfeld hält auf Seite 11 fest: „Eine systematische Erzeugung gesellschaftlicher Ängste spielt dabei eine ganz besondere Rolle. Aus machttechnischer Sicht haben Ängste den Vorteil, dass sie leicht zu erzeugen sind und sehr viel tiefergehende psychische Auswirkungen auf unser Handel und unser Nichthandeln haben als beispielsweise Meinungen.“ Angst ließe sich so „auch manipulativ zur Sicherung von Herrschaft nutzen.“

„Jedoch müssen auch die Herrschenden Angst haben, durch Aufstände und Revolutionen ihrer Untertanen ihre Macht zu verlieren“ (S.14), gibt Rainer Mausfeld zu bedenken. Setzt dem allerdings entgegen, was David Hume, der Philosoph der Aufklärung bereits 1741 festgestellt hat: „Nichts ist überraschender als die Leichtigkeit, mit der sich die Vielen von den Wenigen regieren lassen, … denn die GEWALT ist immer auf der Seite der Regierten.“

Mausfeld weiter: „Dieses ‚Wunder‘ bedürfe einer Erklärung – und Hume sah sie in einer geeigneten Manipulation der Meinungen. Für die Zwecke einer Machterhaltung ist freilich ein anderes Mittel, das sehr viel tiefere Wirkungen im psychischen Gefüge hat, unvergleichlich wirksamer: die Erzeugung von Angst“ (S. 14 unten).

Noam Chomsky: „Der Begriff kapitalistische Demokratie ist ein Widerspruch in sich

Mausfeld weist daraufhin (S. 15), dass gerade, „um eine radikale zivilisatorische Einhegung von Macht“ (…) ins Werk zu setzten, die Idee der Demokratie“ erwachsen sei.

Demokratie wurde aber dann bald schon als Risiko ausgemacht. Auf Seite 20 zitiert Mausfeld aus „Taking the Risk out of Democracy“ des Sozialpsychologen Alex Carey: „Das zwanzigste Jahrhundert war durch drei Entwicklungen von großer politischer Bedeutung gekennzeichnet: das Wachstum der Demokratie, das Wachstum der Unternehmensmacht und das Wachstum der Unternehmenspropaganda als Mittel zum Schutz der Unternehmensmacht vor der Demokratie.“

Nicht umsonst verweist Rainer Mausfeld auf Noam Chomsky: „Der Begriff kapitalistische Demokratie ist ein Widerspruch in sich. …. das ist eine Zwangsverbindung – beides passt nicht zusammen.“

Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien

Ab Seite 25 seines Buches beschreibt Mausfeld ausführlich „Traditionelle Wege der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien“. Die da wären: „1. die Entformalisierung des Rechts durch systematische Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe“ (’nach pflichtgemäßem Ermessen’„Verwendung unbestimmte Rechtsbegriffe – wie beispielsweise ‚Befürwortung von Gewalt‘, ‚öffentliche Sicherheit‘, ‚Gefährder‘),

die Ideologie der Meritokratie (was wörtlich bedeute: „dass diejenigen zur Ausübung von Macht legitimiert sind, die sich durch Leistungen ein Verdienst erworben haben – also die Besitzenden und herrschenden – welcher Verdienst könnte größer sein? sowie

die Psychotechnik der propagandistischen Erzeugung von vorgeblichen Bedrohungen. (aktuell etwa der Aufbau eines russischen Feindbildes)

Auch der sogenannte „Kampf gegen den Terror“ (ab S. 57), schreibt Mausfeld, habe immer wieder dazu gedient, „das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu verdecken: „Seit jeher richtet sich dieser ‚Kampf gegen den Terror‘ innenpolitisch gegen jede Art fundamentaler Opposition und außenpolitisch gegen praktizierte Alternativen zum US-Kapitalismus.“

Dass eine „Systematische Erzeugung gesellschaftlicher Angst im Neoliberalismus“ statt hat, erfahren wir Leserinnen ab Seite 64. Übrigens findet Mausfeld, dass der Begriff „Neoliberalismus“ „weder eine kohärente ökonomische Theorie noch ein klar bestimmbares System von politischen Praktiken“ bezeichne. „Für eine Beschreibung und für ein theoretisches Verständnis tatsächlicher neoliberaler Transformationsprozesse ist es sinnvoller, vom ‚real existierenden Neoliberalismus‘ zu sprechen.“ (S. 65 oben). Der Autor erklärt: „Der real existierende Neoliberalismus ist ein äußerst wirkmächtiges Transformationsprojekt öknomischer Eliten, das seit mehreren Jahrzehnten global das Beziehungsgeflecht von Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum grundlegend neu gestaltet.“

Angst werde, so Mausfeld, durch „systematische Erzeugung von Gefühlen der gesellschaftlichen Undurchschaubarkeit und Unbebeeinflussbarkeit“ (S.77) erzeugt. Und durch Prekarisierung. Man denke nur an die „3,38 Millionen Arbeitnehmer die trotz Vollzeitjob einen Verdienst von weniger als 2000 Euro brutto im Monat“ haben, welche Mausfeld auf Seite 79 ins Feld führt.

Allein „mehr als 13 Millionen Menschen müssen nach dem jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu den Armen gezählt werden (…)“

Man denke sich nur noch Angst der Menschen – erst recht die im Alter – hinzu, die fürchten ihre Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen zu können.

Mausfeld: „Die neoliberale Ideologie führt dazu, dass die Verlierer des Neoliberalismus Scham über ihre eigene Situation empfinden“

Über „Die Traumatisierungsspirale für die Opfer neoliberaler Transformationsprozesse“ wird exakt ab Seite 88 referiert. Mausfeld: „Die neoliberale Ideologie führt dazu, dass die Verlierer des Neoliberalismus Scham über ihre eigene Situation empfinden. Dies erzeugt bei ihnen innerpsychische Spannungen, die ihren äußeren Ausdruck darin finden, dass die Betroffenen eine verstärkte Neigung aufweisen, sich mit den Erfolgreichen und Mächtigen zu identifizieren und sich zugleich zu Lasten derjenigen, die sozial noch niedriger stehen, psychisch zu stabilisieren.“

Rainer Mausfeld geht auf Wilhelm Heitmeyer ein, „der von ihm erfassten ‚rohen Bürgerlichkeit‘ den ‚Nährboden für eine elitäre Menschenfeindlichkeit‘ sieht. Mausfeld: „Diese Menschenfeindlichkeit wohnt freilich, wie das dem Neoliberalismus zugrunde liegende Menschenbild bereits erkennen lässt, dem Neoliberalismus wesenhaft und konstitutiv inne. (S. 95)“

Der Neoliberalismus hat es vermocht, auf den dunklen Seiten des Menschen eine ganze Gesellschaft zu errichten“, stellt Rainer Mausfeld nüchtern fest

Im letzten Kapitel von „Angst und Macht“, das mit „Wie kann eine größtmögliche Freiheit von gesellschaftlicher Angst gewonnen werden“, stellt Rainer Mausfeld nüchtern urteilend fest: „Der Neoliberalismus hat es vermocht, auf den dunklen Seiten des Menschen eine ganze Gesellschaft zu errichten.“

Und er verweist zugleich, wenn wir auf Veränderung des schlimmen Zustandes unserer Gesellschaft aus sind, auf Noam Chomsky.

„Wenn wir uns aus den Fesseln systematisch erzeugter gesellschaftlicher Angst befreien und emanzipatorische Fortschritte in Richtung einer menschenwürdigeren Gesellschaft ermöglichen wollen, so müssen wir, wir Noam Chomsky nicht müde wird uns zu ermahnen, entschlossen an die Wurzeln der Machtverhältnisse gehen, die einem solchen Ziel im Wege stehen:

‚Solange die Wirtschaft unter privater Kontrolle steht, ist es egal, welche Formen das System annimmt, weil sich mit der Form nichts erreichen lässt. Selbst wenn es politische Parteien gäbe, an denen sich die Bürger engagiert beteiligen und Programme ausarbeiten, von denen sie überzeugt sind, hätte das bestenfalls marginalen Einfluss auf die Politik, weil die Macht anderswo verortet ist.’“

Ein kleines Pflänzchen Hoffnung

Dennoch pflanzt uns Rainer Mausfeld am Ende seines Buches doch ein kleines Pflänzchen Hoffnung:

„Ein wirksames zivilisatorisches Gegenmittel kann nur von unten kommen und muss von unserer Entschlossenheit und unserer unbeirrbaren Überzeugung geleitet sein, dass es keine Form gesellschaftlicher Macht geben darf, die nicht demokratisch legitimiert ist.

Ein Projekt, das die „mit dem Neoliberalismus zum Extrem getriebene soziale Fragmentierung und Atomisierung“ überwinde, müsse „auf der Grundlage eines egalitären Humanismus – also einer Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche ungeachtet ihrer faktischen Differenzen – Solidarität und Gemeinschaftssinn als Fundamente gesellschaftlichen Handelns zurückzugewinnen.“

Das Einfache, das schwer zu machen ist.

Ein wichtiges Buch, das ich von Herzen empfehle!

Anbei gegeben: Ein Interview zu Mausfeld Buch, das Chefredakteur Pascal Luig für Weltnetz.TV mit dem Autoren geführt hat

Rainer Mausfeld

Angst und Macht

Erscheinungstermin: 02.07.2019
Seitenzahl: 128
Ausstattung: Klappenbroschur
Artikelnummer: 9783864892813

In Dortmund diskutiert: „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa – gegen die Europäische Union durchsetzen!“

Bekommen wir ein soziale und demokratischere EU hin, oder fliegt und das Ding um die Ohren?; Foto: lupo via pixelio.de

Bekommen wir ein soziale und demokratischere EU hin, oder fliegt und das Ding um die Ohren?; Foto: lupo via pixelio.de

Europa, genauer: die Europäische Union, ist nach der Finanzmarktkrise und erst richtig betreffs der Reaktionen auf die große Zahl der Geflüchteten und dem unterschiedlichen Umgang mit ihnen in schwerer Krise befindlich. Zornig über den erpresserischen Umgang der „Institutionen“ mit der im letzten Jahr gewählten griechischen Regierung unter Führung von Alexis Tsipras – erst recht, nachdem die Griechen in einem Referendum „Oxi“, nein, zu den europäischen „Reformen“ gesagt hatten und darob noch schlimmer gedemütigt worden waren, schrieb ich: Europa ist gestorben. Tot. Aber eigentlich begann der Sterbeprozess des oft als das großes Europäische Projekt, gar als Garant eines immer währenden Friedens in Europa bezeichnet ward, bereits vor längerer Zeit. Was natürlich auch mit der Fehlkonstruktion des Euros sowie mit den konkreten Auswirkungen dessen in Zusammenhang steht. Tot oder nicht tot oder nur weiter dahinsiechend – wie also weiter mit der EU?

Diskussion in Dortmund: Wie zu einem sozialen und demokratischen Europa kommen?

Die Partei DIE LINKE Dortmund hatte am vergangenen Freitag zu einer Diskussionsveranstaltung ins Dietrich-Keuning-Haus eingeladen, wobei es genau um dieses Thema gehen sollte. Die Veranstaltung trug den Titel „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa – gegen die Europäische Union durchsetzen!“

Hierzu trugen ihre Standpunkte vor und diskutierten Andrej Hunko (MdB DIE LINKE),
Michael Aggelidis, Alexis Passadakis (Attac) sowie Anja Böttcher (Hellas-Solidarität). Katharina Schwabedissen (Blockupy), Martin Nees (ver.di Landesbezirk NRW) und Christian Leye (Mitglied des Landesvorstandes DIE LINKE NRW) hatten leider absagen müssen.

Input 1: Fragen also über Fragen

Dr. Bernd Tenbensel (Mitglied des Kreisvorstandes DIE LINKE, Dortmund) eröffnete den Reigen mit dem ersten Inputreferat. „Für viele“, so hub er an, „sei die EU ja zum Synonym geworden für Beschneidung von sozialen und demokratischen Rechten, für viele auch für Verelendung.“ Womit er auf die Situation der Menschen in Griechenland anspielte. Welche Alternative stelle sich? Die zwischen rechtspopulistischer Abschottung und autoritären Neoliberalismus? „Brauchen wir gegen diese Tendenzen nicht ganz offensichtlich eine transnationale Antwort? Muss die gesellschaftliche Linke nicht internationalistischer handeln als bisher?“ Alternativen gebe es, doch es fehle an einer gesellschaftlichen Dynamik für eine Linkswende, so Dr. Tenbensel. Die Bedingungen seien „von starken nationalen Ungleichzeitigkeiten geprägt“. Unterschiedliche Initiativen versuchten eine europäischen Demokratiebewegung anzustoßen. Tenbensel nannte die bekanntesten DiEM25 (Gallionsfigur ist Yanis Varoufakis), Alter Summit und Blockupy. Die Frage: Wie können sie sich verknüpfen? Wie könnte eine Massenbewegung daraus werden.

Also: „Was tun?“ Keinesfalls, stellte Tenbensel klar, könne es um einen „nationalistischen Rückfall“ gehen.

Könnten Dezentralisierung und Europäisierung in Einklang gebracht werden? Wie könnte es gelingen, demokratischen Gegeninstitutionen aufzubauen? Wäre eine Organisation in räteähnlichen Versammlungen vom Vierteln bis hin zur europäischen Ebene aufzubauen?

Fragen also über Fragen.

Input 2: Mit basisdemokratischen Gegenstrukturen zur EU arbeiten

Ein zweiter Input kam von Wolf Stammnitz (DIE LINKE Dortmund, Sachkundiger Bürger im Dortmunder Stadtrat und europapolitischer Sprecher). Stammnitz: wie die Verursacher der Eurokrise sie überwinden wollen oder können, sei derzeit nicht absehbar – eine Illusion darüber müsse man sich aber nicht machen. Da die „europäischen Eliten die Folgen der Krise nicht selber auslöffeln wollten, sei also nur mit einer weiteren Flucht nach vorne „in noch autoritäreres Durchregieren von Brüssel aus in die Nationalstaaten – wie das z. B. die es im Fünf-Präsidenten-Bericht skizziert ist und die Verschärfung des Standortwettbewerbs – zu rechnen. Der Zerfall der EU in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten (Schäuble-Lamers-Papier) sei quasi schon länger miteinkalkuliert. Das bedeutet ein Kerneuropa unter Führung von Deutschland. Keine erfreulichen Aussichten also, befürchtet Stammnitz, für ein „sozialeres und demokratischeres Europa“.

Es hieße für die Völker Europas entweder „diese reaktionäre Krisenlösung passiv zu erdulden oder aber die Krise auszunutzen, um an allen möglichen Ecken und Fronten um unsere Rechte und Lebensbedingungen zu kämpfen“.

„ Um zur möglichst breiten Mobilisierung für das Europa der Menschen und nicht der Banken zu kommen, wollen wir LINKE in Dortmund und der Region und wohl auch im Land die bestehenden Initiativen und Bewegungen für ein Europa von unten unterstützen und stärken, sowie soweit möglich auf eine Vernetzung zu arbeiten.“ Erstrebenswert wäre seiner Meinung auch der Ausbau der Genossenschaftsbewegung. Es gehe „politisch um basisdemokratischen Gegenstrukturen“ zur EU. Auch um „zivilen Ungehorsam gegen staatliche Überwachung“. Sowie gegen Privatisierung der Stadträume (Stichwort: PPP). Und u.a. gegen Sozialabbau und Rentenkürzungen.

Hellas-Solidarität

Anja Böttcher berichtete über die Arbeit der Hellas-Solidarität Bochum. Inzwischen, konstatierte sie, regiere die Tsipras-Regierung eigentlich gar nicht mehr. Sie setzte sozusagen nur durch, was die Troika und die Bundesregierung Athen „reindiktiert“. Man mache zusammen mit vielen Menschen aus Griechenland Öffentlichkeitsarbeit, um die deutsche Bevölkerung darüber ins Bild zu setzen, was eigentlich in Griechenland los sei. Griechenland stecke tief in einem Prozess in welchen „wir noch nicht ganz so weit sind“. Eine Abwicklung „sozialer Demokratie“ finde statt.

Andrej Hunko: Selbst die EU-Eliten haben große Sorge, der Laden könnte auseinander fliegen

Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE, schärfte den Blick auf Europa. Zunächst einmal müsse man definieren, was das sei, die EU. „Die EU ist ein Zusammenschluss von 28 Staaten mit einem bestimmten Institutionengefüge (Europäische Kommission, Europäischer Rat, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof, Europäische Zentralbank) basierend auf bestimmten Grundlagenverträgen.“

All das sei weder die europäische Integration noch Europa. So wie EU sich neoliberal entwickelt habe es immer Kritik gegeben. Die LINKE (vorher die PDS) „hatte immer recht gehabt“ (in ihrer Breite). Die Kritik Maastricher Verträge, an der Einführung des Euro (Gregor Gysi hatte seinerzeit im Bundestag dargelegt, warum der Euro nicht funktionieren werde können) habe sachlich gestimmt. Die Volksabstimmungen über einen europäischen Verfassungsvertrag mit Ablehnungen in Frankreich und den Niederlanden wegen dessen neoliberalen Charakters. Die Linken (die PDS, Attac) hätten dieses Nein damals unterstützt. Die EU-Eliten hätten das ignoriert und den gleichen Vertrag textgleich nur ohne Verfassungssymbolik (unter maßgeblichen Druck der BRD) umgewandelt in den Lissabon-Vertrag.

Jetzt sei man an in der EU einer Stelle, wo die inneren Widersprüche zu ganz großen Problemen führen. Auch herrschenden Eliten in der EU hätten mittlerweile große Sorge, ob das Projekt überhaupt noch „sozusagen zusammenhaltbar ist“. Hunko erwähnte, vor zwei Monaten mit Jean-Claude Juncker gesprochen zu haben, der ihm gesagt habe, wenn wir nicht endlich eine soziale Säule aufbauen, dann fliegt uns der Laden auseinander.

Andrej Hunko schätzt das freilich zwar auch „zum Teil als Rhetorik“ ein. Dennoch sei mit Händen zu greifen, dass es in der EU Kräfte gibt, die eine soziale Dimension für geboten halten. Ansonsten würde die EU in Südeuropa und auch im Osten eher zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Die Meinungsverschiedenheiten der EU-Länder in der Flüchtlingskrise, die mangelnde Solidarität untereinander sind für Hunko eher ein Symptom als die Ursache der gegenwärtigen Krise. Und Ausdruck dafür, dass es schon lange keine Kooperation mehr gebe. Auch der EU-Türkei-Deal sei kein Projekt der europäischen Staatschefs gewesen, sondern ein Merkel-Erdogan-Deal.

Hunkos Fazit: Die emanzipatorischen Kräfte und die Linken in Europa sollten an den konkreten Widersprüchen ansetzen, die offen zutage liegen.

Konkrete Druckpunkte ermöglichen Mobilisierung. Die EU neu begründen – aber wie?

Alexis Passadakis erinnerte aus Sicht von Attac daran, dass die Begriffe, wenn z.B. wenn von Europa gesprochen , aber die EU gemeint werde, „unscharf sind“. Für Attac, von Gründung an global engagiert, gebe es „keine eindeutige, festgelegte Positionierung betreffs der Zukunft des europäischen Integrationsprozesses. Allerdings hält Passadakis „eine Flexibilisierung und Dezentralisierung, verbunden mit einer Demokratisierung“ für sinnvoll. Wenn man sich anschaue, welche Druckpunkte es gegen diesen Institutionenapparat gibt, dann ist der Druckpunkt eigentlich die Handelspolitik: TTIP, CETA und TiSA. Die europäisch organisierte Kampagne dagegen sei beispiellos.

Einige Ansichten von Netzwerken findet Passadakis allerdings etwas naiv. Manche meinten, die EU müsse demokratisch nur so aufgestellt werden wie in den Nationalstaaten üblich. Dies nannte Passadakis, anspielend auf Texte des Philosophen Jürgen Habermas, „habermasianisch“. Alexis Passadakis hält das nicht für möglich. Was in den europäischen Nationalstaaten in zirka 200 Jahren entstanden ist, dürfte seines Erachtens nicht einfach Richtung Brüssel und einen Raum von 500 Millionen Menschen „hochskalierbar“ sein. Es brauche ganz andere, neue Modelle. „Deshalb“, so der Attacie weiter, „die EU neu begründen!“ Was natürlich sehr, sehr schwierig sei: „Und wer soll das tun und wie?“

Protest gegen TTIP und auch gegen TiSA gibt es. Wie aber kann man die Proteste zusammenführen? Foto: C.-D.Stille

Protest gegen TTIP und auch gegen TiSA gibt es. Wie aber kann man die Proteste zusammenführen? Foto: C.-D.Stille

Kein Ansatzpunkt sei allerdings „darauf zu warten“. Das Phänomen der Ungleichzeitigkeit, so glaubt Passadakis, werde immer da sein. „Es wird kein Moment geben in einem Raum von 500 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten, wo alle, die sozial bewegt sind, aufstehen und sagen wir wollen jetzt etwas anderes.“ Die Mitgliedsstaaten blieben halt weiter das Terrain, wo sich die Leute organisieren. Es habe die Bewegungen Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland gegeben und jetzt gebe es eben jetzt die grandiose Bewegung „Nuit debout“ in Frankreich. Auf eine Gleichzeitigkeit dürfe nicht gewartet werden. Man müsse seine Strategien angesichts der Ungleichzeitigkeit auswählen, dennoch aber versuchen, Dinge zu koordinieren. Wie bei TTIP. „Wir sind momentan in einer Phase der autoritären Transformation.“ Wie weit die gehen kann sei noch nicht absehbar. Positiv stimmt ihn in Bezug auf die BRD, dass in den letzten Jahren sehr viele Menschen auf der Straße waren – so viele nicht wie in den letzten 25 Jahren. Es könne davon ausgehen werden, dass letztlich eine Million Leute in Deutschland irgendwie in diese Protestbewegungen involviert sind. Zuletzt hätten immerhin 5000 Menschen gegen den Drohnenkrieg in Ramstein protestiert. Andere gingen gegen Nazis und „komische Vereine wie PEGIDA und HOGESA“ auf die Straße.

Das Problem sei, dass all das sich bislang nicht zusammenfüge zu einem gemeinsamen antineoliberalen – oder überhaupt einem politischen – Projekt. „Dennoch“, machte der Aktivist Mut, „lassen sich gesellschaftliche Koordinaten verschieben.“

Und gab er bedenken: „Die deutsche Frage ist wieder aufgeworfen“. Nicht etwa wie 1914 oder 1933. Die deutschen Eliten wollten in Europa die dominierende Rolle spielen.

Fazit: Konkrete Druckpunkte gebe es. Dann könne auch mobilisiert werden. Eigentlich gehe es darum die Leute zu mobilisieren, die eigentlich schon zusammen sind. Verstünde man es diese konkreten Druckkampagnen zu einem antineoliberalen Projekt zu verbinden, dann wäre man schon sehr weit. Allerdings fehle es der gesellschaftliche Linken EU-weit an Kraft und Möglichkeiten, um auch in „subalterne Schichten“ vorzudringen, um eben auch ein solidarische Ökonomie auf die Beine zu stellen.

Demokratische Souveränität und nach dem Prinzip zwei Schritte vor, einen zurück

Michael Aggelidis hatte kürzlich die letzte große Demonstration mit etwa einer Million beteiligten Menschen in Paris gegen die Arbeitsmarkt“reformen“ besucht und berichtete davon. Das Medienecho in Deutschland darauf kritisierte Aggelidis scharf. So hatte etwa die Tagesschau von gerade einmal 75.000 Demonstrationsteilnehmerin gesprochen. Aus welchen Gründen auch immer, die deutschen Medien berichteten nicht korrekt. Die Stimmung dort sei unbeschreiblich gewesen.

Betreffs Griechenlands kritisierte Aggelidis die (erpresste) Umschwenkpolitik der Regierung Tsipras. Längst unterstütze die NRW-LINKE die Linksabspaltung von Syriza. Giorgos Chondros, für welchen Aggelidis kurz arbeitete, hält er für einen anständigen Genossen. Doch momentan schicke ihn Athen verstärkt nach Deutschland um die jetzige Politik „gutzuerklären“. Aber wie könnte man das – wo sogar der Präsidentenpalast auf der Privatisierungsliste der Institutionen stehen?!

Auch Michael Aggelidis erkenne diese Ungleichzeitigkeit in der EU. Allerdings könnten diese Institutionen mit Spanien (wo es bald Wahlen gibt) und die linke Podemos gute Chancen habe und in Portugal, wo bereits linke Kräfte in der Regierung sind, nicht so umspringen wie mit Griechenland. Die Leisetreterei dieser Institutionen gegenüber den beiden Ländern habe mit der schweren Krise der EU zu tun und sei deshalb einfach Kalkül. „Die müssen einfach befürchten, dass ihnen der Laden auseinander fliegt.“

Aggelidis sieht Deutschland als der Hegemon, ein Begriff mit dem zuvor Alexis Passadakis noch gehadert hatte, in Europa. Allein schon durch die deutsche exzessive Exportpolitik und die dabei entstehenden Ungleichgewichte zum Schaden anderer Länder. Problematisch sei es, dass es da „ein Amalgam“ mit Gewerkschaften wie etwa der IG Metall gebe, die ja sich ja nicht zu Unrecht von dieser Exportpolitik den Erhalt der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder versprechen. Wie solle man die in Proteste einbeziehen, wo die die verwandt und verschwägert mit dieser Exportindustrie sind? Von ihnen sei keine Solidarität mit Kollegen in Portugal und Spanien zu erwarten. Ein Dilemma.

In Italien gebe es Investmentbanker, die sagten: ihr müsst den Euro verlassen, sonst habt ihr in zehn Jahren keine verarbeitenden Industrie mehr und seid die verlängerte Werkbank der Deutschen. Aggelidis empfiehlt Griechenland den Austritt aus Euro und EU. Das führe nicht zum Weltuntergang. Hier in Deutschland müsse die Debatte aber anders geführt werden.

Er sprach von einer „demokratischen Souveränität“. Da sei kein reaktionärer Vorgang, beschwor Aggelidis. Als Linke wolle man nicht zurück zum Nationalstaat. In Deutschland sei das anders. In Spanien oder Portugal jedoch sei es aber nicht schlimm, demokratische Legitimationen wieder zurück auf den Nationalstaat zu bekommen. Aggelidis beharrte darauf, kein Antieuropäer zu sein. Gegen die EU in ihrer jetzigen Verfasstheit, wo die europäischen „Völker versklavt“ werden und gegen die Fehlkonstruktion Euro aber ist er. Es müsse werde nach dem Prinzip zwei Schritte vor, einen zurück gearbeitet werden müssen. „Wie müssen wieder zurück zum Nationalstaat. Das ist keine reaktionäre Diskussion die wir führen. Das müssen wir klarmachen.“

Diese letzte Formulierung stieß allerdings bei den Mitdiskutanten auf Kritik.

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Die interessante Podiumsdiskussion in Dortmund und die Fragen der Anwesenden Gäste legte die momentane Krise in welcher sich die EU befindet schmerzlich offen. Problemen wurden benannt. Lösungsansätze versucht zu skizzieren. Konkrete Lösungen hatte gewiss niemand aus der Diskussion erwartet. Aber eines wurde klar: Es steht schlecht um Europa und die EU. Wenngleich beides freilich nicht das Gleiche ist. Wir brauchen mehr Trennschärfe. Sowie Mut, etwas anzustoßen. Und es müssen die Menschen, die sich jetzt schon vielfältig, kritisch geworden, engagieren, zusammenbracht werden. Nichts anderes im Prinzip riet kürzlich in Dortmund wenige Gehminuten vom Dietrich-Keuning-Haus entfernt in der Auslandsgesellschaft NRW Fabian Scheidler („Das Ende der Megamaschine“): Es gelte die ausgebeuteten Menschen dieser Welt zusammenzubringen. Beispielsweise die Arbeiter in den Koltanminen des Kongo und die prekär bezahlten und was den Arbeitsaufwand angeht, die gestressten Menschen in unseren Krankenhäusern. Das im Grunde Einfache, das schwer zu machen ist.

Wie hieß gleich noch der Titel der Diskussionsveranstaltung: „Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa- gegen die Europäische Union durchsetzen!“ Diese Wege sind zum Teil und auf vielen Blättern skizziert. Sie müssen jedoch gegangen werden. Denn, dass die Krise sich noch zuspitzen wird – niemand weiß zwar genau wie – steht zu befürchten. Mit jedem Tag des Zuwartens wird ein Eingreifen schwieriger bis es eines Tages vielleicht fast unmöglich sein wird. Ein Eric Hobsbawm konnte einmal im Stern sagen: „Es wird Blut fließen, viel Blut“.