Westend Verlag setzt sich im Fall Guérot für die Wissenschaftsfreiheit ein
„Da aber sah ich, dass den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und dass sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.“
Goethe zu Eckermann, 15. Oktober 1825
Berlin, 13. November 2025.
Der Westend Verlag, der die letzten vier Bücher von Prof. Dr. Ulrike Guérot verlegt hat, nimmt zur Kündigungsschutzklage unserer Autorin gegen die Universität Bonn heute in folgender Pressemitteilung Stellung. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit als Grundlage von Publizistik und Verlagswesen liegen uns dabei besonders am Herzen.
Nach Auffassung zahlreicher Juristen sind die Urteile des Arbeitsgerichts Bonn (24. April 2024) und des Landesarbeitsgerichts Köln (30. September 2025) rechtlich angreifbar. Frau Prof. Dr. Guérot und ihre Rechtsanwälte Tobias Gall (Berlin) und Christian auf der Heiden (Karlsruhe) sehen sich daher veranlasst, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts überprüfen zu lassen. Gegen das Urteil wurde eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht eingelegt. Dabei geht es Frau Prof. Dr. Guérot vor allem darum, den Vorwurf einer angeblichen „arglistigen Täuschung“ gegenüber der Universität Bonn zurückzuweisen. Der Westend Verlag unterstützt Frau Prof. Dr. Guérot und ihre Rechtsvertretung in diesem Anliegen.
Die „Causa Guérot“ wurde bereits in nationalen und internationalen Medien ausführlich behandelt, unter anderem in einem Beitrag von Thomas Fazi: „Enemy of the State?“
In Reaktion darauf wurde die „Causa Guérot“ als Fallbeispiel in einen Bericht des Europarats aufgenommen. Das Committee on Political Affairs and Democracy in Straßburg bereitet derzeit eine Studie zum Thema „Strengthening freedom of expression: an imperative for the consolidation and development of democratic societies“ (AS/Pol (2025) 15, vom 19. Mai 2025) vor, die im Dezember 2025 veröffentlicht werden soll.
Eine Auswahl von Artikeln und Videos zum Fall Guérot findet sich unter www.ulrike-guerot.de in der Rubrik „Causa Guérot“. Dort wird auch ein Link bereitgestellt, der die als „Plagiate“ bezeichneten Zitierfehler transparent macht. Der Fall sollte im Sinne der Gleichbehandlung mit anderen bekannten Fällen verglichen werden, etwa mit dem von Prof. Frauke Brosius-Gersdorf. Entscheidend sollte dabei allein der rechtliche Maßstab sein, nicht die politische Haltung der Betroffenen.
Der Westend Verlag hat 2024 die empirische Studie Wer stört, muss weg von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel veröffentlicht. Sie untersucht Fälle, in denen Wissenschaftler in den letzten Jahren wegen vermeintlicher ideologischer Abweichungen von ihren Hochschulen entfernt wurden. Die Ergebnisse werfen grundlegende Fragen zur Freiheit von Forschung und Lehre in Deutschland auf. Der Verlag setzt sich gegen jede Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland ein – ein Anliegen, das durch aktuelle Studien gestützt wird. Laut dem Freiheitsindex 2023 (ZEIT/Allensbach) glauben nur rund 40 Prozent der Deutschen, ihre Meinung frei äußern zu können.
Der Westend Verlag möchte mit der Unterstützung der Nichtzulassungsbeschwerde von Frau Prof. Dr. Guérot ein Zeichen für Wissenschaftsfreiheit setzen und hofft, dass sich weitere Verlage diesem Anliegen anschließen. Markus J. Karsten erklärte dazu: „Wenn einzelne Zitierfehler, die weniger als zwei Prozent des Buchumfangs betreffen, bereits als Plagiate gewertet werden, müsste man den größten Teil populärwissenschaftlicher Literatur unter denselben Verdacht stellen.“
Markus J. Karsten Verleger Westend Verlag Die Rechtsanwälte von Prof. Dr. Ulrike Guérot äußern sich in folgender Pressemeldung ergänzend zu den juristischen Hintergründen:
Pressemitteilung Nr. 1 im Verfahren Professor Dr. Guérot gegen Uni Bonn der Rechtsanwälte auf der Heiden/Gall vom 13. November 2025 Embargo: Mittwoch, 13. November 2025, 14:00 Uhr
Wissenschaftsfreiheit in Gefahr: Prof. Dr. Ulrike Guérot legt Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht ein
Berlin/Karlsruhe. Die Politikwissenschaftlerin Universitätsprofessor Dr. Ulrike Guérot hat gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln vom 16. Mai 2025 (Az. 10 SLa 289/24) Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht (BAG) einlegen lassen. Die Mandantin der Rechtsanwälte Christian auf der Heiden und Tobias Gall hält die Zurückweisung ihrer Berufung für juristisch fehlerhaft und sieht darin auch einen schwerwiegenden Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit.
Das LAG Köln hatte die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Universität Bonn bestätigt und den Vorwurf des Plagiats im Bewerbungsverfahren als ausreichend für eine verhaltensbedingte Kündigung gewertet.
Die Rechtsanwälte von Prof. Guérot kritisieren, dass das LAG zentrale Fragen der akademischen Praxis und der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) völlig außer Acht gelassen habe. Stattdessen habe sich das Gericht ohne eigene Sachkunde als wissenschaftliches Fachgremium aufgespielt: Das LAG hat ohne Hinzuziehung externer Sachverständiger oder wissenschaftlicher Fachkunde selbst über die „Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis“ befunden.
Das Urteil des LAG stützt die Kündigung auf Plagiatsvorwürfe, deren tatsächlicher Anteil in den relevanten Werken – selbst nach den Feststellungen des LAG – weniger als 2 Prozent betrage. Die Anwälte von Prof. Guérot halten diese Schlussfolgerung, dass bereits eine derart geringe Quote eine Täuschung im Bewerbungsverfahren zur Professorin begründen soll, für juristisch unhaltbar und realitätsfern. Die Entscheidung ignoriere zudem, dass es sich bei den betroffenen Veröffentlichungen der renommierten Politikwissenschaftlerin nicht um klassische wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, sondern um für ein breites Publikum gedachte politische Essays gehandelt habe.
Tobias Gall, Rechtsanwalt von Prof. Dr. Guérot: „Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln ist in seinen Konsequenzen für die Wissenschaftsfreiheit hochproblematisch. Dass ein Gericht eine Kündigung einer Professorin für wirksam erachtet, allein auf Basis einer richterlichen Entscheidung, die sich ohne jede politologische Fachkunde in wissenschaftliche Bewertungsfragen einmischt und dabei die Verhältnismäßigkeit völlig aus dem Blick verliert, stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Wir werden die Rechte unserer Mandantin konsequent vor dem Bundesarbeitsgericht verteidigen, um die notwendige Trennung zwischen juristischer Bewertung und wissenschaftlicher Freiheit wiederherzustellen. Das ist nicht nur im Interesse von Prof. Dr. Guérot, sondern aller, denen die Meinungs- und die Wissenschaftsfreiheit noch etwas bedeutet.“
Mir graust es von Tag zu Tag mehr. Wir leben m.E. in schlimmen Zeiten. Egon Bahr mahnte einst gar: Wir leben in Vorkriegszeiten. Seit Jahren warnt Papst Franziskus vor einem „schrittweisen Dritten Weltkrieg“. (Quelle: Domradio.de) Läuft der gar schon? Sind wir bereits mittendrin?
Hetzen in den Krieg
Wieder einmal hetzen uns bestimmte deutsche Politiker und zusätzlich offenbar von allen guten Geistern verlassene Journalisten wie schon einmal vor dem Ersten Weltkrieg unablässig in einen Krieg gegen Russland. Man fasst sich ob so viel Dummheit und so offenbar zutage tretendender Geschichtsvergessenheit samt Bildungsdefiziten an den Kopf. Aus der Geschichte ist augenscheinlich nichts gelernt worden. Lesen diese Kriegshetzer keine Bücher? Beispielsweise empfehle ich Stefan Zweigs Roman „Die Welt von Gestern“. Aber es gibt ja viele Regalmeter weitere augenöffnender Bücher mehr! Darin schwarz auf weiß jede Menge Wissen und aufgeschriebene bittere Erlebnisse und daraus erwachsene Weisheiten! Aber all das – so zumindest hat es den Anschein – sind Perlen, die quasi vor die Säue geworfen sind. Oder täusche ich mich da?
Immer neue Ängste werden geschürt
Es wird mit Angst gearbeitet. Erst die Angst vor einem Virus, dann die Angst vor der Klimakatastrophe und nun die Angst abermals vor dem Russen, der schon bald in Brandenburg und sicher in Kürze am Brandenburger Tor steht.
Wer hier und da der Propaganda nicht auf den Leim geht, berechtigte Fragen stellt und Kritik übt, dem wird – bedroht er das ins Werk gesetzte, aus allen Rohren verbreitete Narrativ in den Augen der Mächtigen allzu stark und hat auch noch eine entsprechende Reichweite – wird versucht auszuschalten. Wir hören von Kontokündigungen, Kanallöschungen bei You Tube und dergleichen gesellschaftlichen Ausgrenzungen mehr. Bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Und der Reputation sowieso. Unter bestimmten Umständen wird eine solche Person sogar zum Staatsfeind erklärt.
Den Film „Plötzlich Staatsfeind“ wollte keine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt ausstrahlen
Der Filmemachers und Regisseur Imad Karim hat darüber einen sehenswerten, bewegenden Film gemacht. Den Film „Plötzlich Staatsfeind“ hat er mittels eigenem und durch Spenden erhaltenes Geld produziert und veröffentlicht. Trotz Anfrage an mehrere öffentlich-rechtliche Sendeanstalten wollte keiner der Sender diesen Film ausstrahlen. Ich empfehle diesen Film ausdrücklich. Hier lesen Sie gerne mehr darüber.
Dem Roman „Abkehr“ erging es ähnlich wir dem Film
Bereits einige Zeit bevor ich auf den Film von Imad Karim stieß, kam mir der Roman „Abkehr“ von Birk Meinhardt in die Hände. Auch Meinhardt hatte Probleme mit seinem Werk. Er fand keinen Verlag. Sein Buch, beschied man ihm zumeist, fänden man gut, es passe jedoch nicht so recht in die Linie des Verlages. Aha! Nachigall, ick hör dir trapsen.
Aber auch für Meinhardts Buch ergab sich eine Lösung, damit es seinen Weg zu den Lesern finden konnte: Es wurde am 1. Juli 2024 eigens der Verlag Vabanque gegründet, um Abkehr herauszubringen.
Zum Buch informiert der Verlag:
«Erik Werchow findet sich plötzlich inhaftiert, obwohl er nichts getan hat. Nichts? Schreibend erkundet er seinen Weg in die Anstalt hinein, und während er jeden Tag intensiver Persönliches und Politisches notiert und während er lernt, sich im rauhen Gefängnisalltag zu behaupten, wird die Lage im Lande immer dramatischer. Zu seiner Überraschung erlangt er, der Isolierte, draußen Bekanntheit. Menschen beginnen, sich auf ihn zu beziehen. Bald wird er für die Oberen zur ernsten Gefahr … «
Eine Geschichte, so wahr, wie eine Geschichte sein kann, die in naher Zukunft spielt.«
Man fühlt sich Kafkas „Der Prozeß“ erinnert.
Und auf der Buchrückseite lesen wir:
«Niemand kommt ins Gefängnis, nur weil er seine Meinung geäußert hat? Das mag vor ein paar Jahren noch gegolten haben, aber heute? Ich sitze doch. Und ich hab noch nichtmal meine Meinung geäußert. Hab ich nicht, aber man hat es schon als Meinungsäußerung genommen, was ich mit meinem Gesicht gemacht hab, und hat mich deswegen und aus keinem Grund sonst in die hiesige Anstalt verbracht, so war es doch, oder!«
Als erste Rezension zum Buch traf ich auf die von Oskar Lafontaine auf den NachDenkSeiten:
«Meinhardt hatte das Buch vorher Verlagen angeboten. Die fanden es auch gut, aber kamen zu dem Ergebnis, dass es nicht so recht in die Linie des Verlages passe. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Held seines Buches, Erik Werchow, sein Alter Ego, vom menschenverachtenden Kapitalismus spricht und von sich behauptet, er rieche jede Propaganda meilenweit gegen den Wind. Weil das so ist, stinkt es ihm in einer Gesellschaft, in der selbsternannte Demokratiewächter alle verfolgen wollen, die den Staat verhöhnen. Ein solch aufmüpfiger Ossi landet im Roman im Gefängnis, und der Held kommentiert das entsprechend:„Niemand kommt ins Gefängnis, nur weil er seine Meinung geäußert hat? Das mag vor ein paar Jahren noch gegolten haben, aber heute? Ich sitze doch.“
Die Ostdeutschen haben gelernt, dass man sich gegen Enteignung wehren muss, und das gilt für Werchow nicht nur, wenn es um Häuser oder Grundstücke geht, sondern auch, wenn einem die eigene Sprache genommen wird: „Viel zu bereitwillig haben wir eure Bezeichnungen sogar für die uns vertrauten Stätten unserer Kindheit und Jugend verwendet, und wer sich wie wir fremde Wörter zur Beschreibung des eigenen Lebens nimmt, der übernimmt, ohne dass er’s recht begreift, fremde Gedanken und ist bald kein bisschen mehr eigen“.
Dieser Ostdeutsche hat wirklich merkwürdige eigene Gedanken und fragt, warum wir die Amis Freunde und Verbündete nennen, „wenn doch ihre Truppen seit Jahrzehnten in andere Länder einfallen, in Länder, die nicht einmal einen kleinen Krieg vom Zaun gebrochen haben? Die Aggressoren sind seit längerem sie, korrekt?“
Wer so unangepasst denkt, kann auch in seinem Beruf nicht zurechtkommen. Der Held des Romans war Angestellter in der Werbeabteilung eines Pharma-Konzerns und hält das nicht lange aus: „Ich konnte nicht länger verdrängen, was geschah. Wir erfanden eine Krankheit, um ein Mittel gegen sie zu verkaufen und auf die Art Kohle zu machen“.
In der Coronakrise gehört er zu den Ungeimpften und liest, dass er ein gefährlicher Sozialschädling ist, der die Gesellschaft in Geiselhaft nimmt. Die gesamte Gesellschaft solle mit dem Finger auf ihn zeigen. Was drückt sich in diesen Schmähungen aus, fragt er. „Niedertracht, Hass, Menschenverachtung, Lust an Unterwerfung, übergehend in den Wunsch nach Vernichtung, mit einem Wort – faschistoides Denken.“
Ein Ostdeutscher, der faschistoides Denken entlarvt, wo doch fast jeder dritte Ostdeutsche AfD wählt, wie kann man das zusammenbringen? Ganz einfach, indem man begreift, in welchem Umfang das faschistoide Denken nicht nur bei einschlägig bekannten Rechtsextremen, sondern längst in der selbsternannten demokratischen Mitte angekommen ist. Dieser lesenswerte Roman zeigt, wohin sich unsere instabile Gesellschaft entwickeln kann und ist eine Fundgrube für alle Unangepassten, die das eigene Denken noch nicht verlernt haben.«
Spannend und fesselnd ist der Roman, aber auch alarmierend
Kurzerhand bestellte ich mir das Buch vor fast einem Jahr. Und las es mit großem Interesse. Es packte mich. Spannend! Fesselnd! Und alarmierte mich. Trotzdem die mir darin behandelte Thematik nichts Neues war. Wie schrieb ich doch eingangs den Buches: Wir leben m.E. in schlimmen Zeiten. Und zwar in vielfacher Hinsicht. Und es wird meiner Meinung nach immer noch schlimmer.
Muss man inzwischen einen Bademantel parat haben?
So mancher getraut sich inzwischen seine Meinung nicht mehr offen zu sagen. Und wer es dennoch tut, dem wird nicht selten scherzhaft entgegnet: „Ich hoffe, du hast einen Bademantel parat!“ Aber zum Lachen ist einem nicht so recht zumute. Den die Sache mit dem Bademantel hat einem ernsten Grund. Denn das Bundesinnenminsterium (BMI), Innenministerin Nancy höchstselbst, hatte am 16. Juli 2024 den angeblich rechtsextremistischen Verein „COMPACT-Magazin GmbH“ nebst seiner Teilorganisation „CONSPECT FILM GmbH“ verboten. Nebenbei bemerkt handelt es sich gar nicht um einen Verein.
Ein Skandal: Ein journalistisches Medium wurde verboten! Das BMI erklärt auf seiner Seite später: „Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ist am 14. August 2024 dem Antrag der „COMPACT-Magazin GmbH“ gefolgt und hat die aufschiebende Wirkung der Klage des Vereins gegen sein Vereinsverbot bis zur Entscheidung in der Hauptsache wiederhergestellt.“
Im Morgengrauen war damals COMPACT-Chefredakteur Jürgen Elsässer von vermummten Polizisten herausgeklingelt worden. Er öffnete im Bademantel. Inzwischen lässt das COMPACT-Magazin diesen Bademantel nachschneidern. Er kann dann von Interessenten erworben werden, die bei einer möglichen Razzia entsprechend angezogen sein wollen.
Meinhardts Roman geht gesellschaftlichen Fehlentwicklungen nach
Meinhardts Roman spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen und Fehlentwicklungen seit dem Ende der DDR von 1989 und der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands. Nebenbei: Der Journalist Ralph T. Niemeyer spricht (vielleicht treffender und ehrlicher?) von einer der „Niedervereinigung“. Dazu u.a. hier erwähnt.
Die Handlung des Buches ist in der Zukunft angelegt. Ein dystopischer Roman. Doch Leser, die wach durchs Leben gehen, bemerken mit vielleicht mit steigendem Unbehagen: Eine Dystopie, welche durchaus inzwischen nahe am Heute ist. Meinhardt erzählt die Geschichte eines einstigen Werbemaklers und Trauerredners, der aufgrund seiner Betätigung in einem literarischen Zirkel und von öffentlichen Auftritten mit einer Gesichtsmaske ins Visier der Polizei und bald darauf in Untersuchungshaft gerät.
Ich empfehle heute – etwas verspätet – den Roman „Abkehr“. Es lohnt sich ihn zu lesen, versprochen.
Abkehr
Herausgeber : Vabanque Verlag (5. August 2024)
22,00€
Über den Autor und weitere Mitwirkende
Birk Meinhardt, geboren 1959 in Berlin-Pankow. Nach dem Mauerfall Reporter bei der „Süddeutschen Zeitung“. Erhielt zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Seit 2012 Schriftsteller. Sein Roman „Brüder und Schwestern“ (Hanser, 2013) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, sein Erfahrungsbericht „Wie ich meine Zeitung verlor“ (Das Neue Berlin, 2020) wurde zum Bestseller. Letzte Veröffentlichung: „Mein Bornholm“ (mare, 2022).
Hintangesetzt und zur Lektüre empfohlen
Abschließend ist es mir ein Bedürfnis noch ein paar andere Buchempfehlungen hintanzusetzen und zur Lektüre empfehlen, die sowohl zum erwähnten Film „Staatsfeind“ von Imad Karim sowie dem Roman „Abkehr“ betreffs einer beängstigenden Entwicklung nahe kommen
Genial nannte ich Rudolph Bauers Idee, ein «Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus« ins Werk zu setzen. Ich halte das wirklich nicht für übertrieben.
Die Rede ist von Bauers im pad-Verlag herausgekommenes Wörterbuch obigen Titels.
Das erste Heft umfasste zunächst die Wörter und Begriffe mit den Anfangsbuchstaben A bis H. (1)
Rudolph Bauer übertreibt m. E. nicht, wenn er über sein Werk sagt:
„Das Wörterbuch kann das Lesen vieler Bücher überflüssig machen. Die Beiträge und das Literaturverzeichnis können aber auch zum Anlass genommen werden, sich eingehender mit der jeweiligen Thematik zu beschäftigen. Überhaupt mögen die Stichwort-Artikel dazu anregen, sich mit dem einen oder anderen Gegenstand gründlicher auseinanderzusetzen, selbst zu recherchieren und vertieft in die Thematik einzudringen.“
Nach Lektüre des ersten Bandes rief ich beeindruckt in Richtung Leserschaft aus: Lesen! Weitersagen! Dieses begrüßenswerte, weil hilfreiche Wörterbuch sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, stets griffbereit parat haben. Bei mir hat das Wörterbuch seinen Platz auf meinem Schreibtisch. Nun gesellte sich der zweite Band (Heft 2: I bis N) zum ersten Teil hinzu. Nachbarn auf diesem Platz sind Victor Klemperers «LTI« (2) sowie ein «Kleines Politisches Wörterbuch« (3) noch aus DDR-Zeiten.
Im Klappentext zum Heft 2 lesen wir: «Die Artikel zu den Stichwörtern geben in knapper Form den aktuellen Stand des Wissens und der Forschung wieder. Auf diese Weise ist es möglich, die verschiedenen, auch sich überschneidenden Verbindungslinien begrifflicher, institutioneller und personeller Art in der gesamten Breite und Komplexität des Geschehens zu erfassen – und in ihrer Ungeheuerlichkeit, nicht zuletzt was die offenen und untergründigen Bezüge zum geschichtlichen Nationalsozialismus und Faschismus betrifft.«
Das Wörterbuch kommt in brisanten, täglich brisanter – ja: immer irrer – werdenden Zeiten (hoffentlich) noch zur rechten Zeit.
Wer noch selber zu denken pflegt und halbwegs noch Tassen im Schranke hat, verspürt, wie man immer mehr den Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Und wie uns die Herrschenden, sich fälschlicherweise als Eliten begreifend, nahezu wahnhaft weiter daran festhalten, uns des Bodens, auf welchen wir glaubten, halbwegs fest zu stehen, zu berauben. Der vermutlich noch zu große Rest der Menschen, lässt sich von Regierungspropaganda, welche – zu allem Unglück auch noch durch einen Journalismus, welchen der Journalist und Autor Patrik Baab, krass, aber völlig zu Recht als „verkommen“ bezeichnet, noch verstärkt, desinformierend trommelnd, mit Weglassungen Geschichte klittert – einlullen und einseifen. Wie heißt des doch so treffend in Bertolt Brechts «Der Kälbermarsch«:
„Hinter der Trommel her Trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber. Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen Marschiern im Geist in seinen Reihen mit. [1. Strophe, Quelle: (4))]
Wenn wir nicht spätestens jetzt aufwachen, müssen wir gewärtig sein, alsbald in den Abgrund zu stürzen – frei nach Friedrich Nietzsche (5) – in welchen schon lange geblickt worden ist und dieser auch immer bärbeißiger in uns hineinblickt. Was wird dieser Abgrund sein: Der Dritte Weltkrieg oder der die Menschheit vernichtende Atomkrieg? Die Weltuntergangsuhr steht inzwischen bereits auf 90 Sekunden vor Mitternacht! Freilich sollten wir uns der bedrohlichen Entwicklung entgegenstemmen. Müssen jedoch dabei auch einpreisen, was uns Nietzsche gleichzeitig zu bedenken gibt: “Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ […]
Befinden wir uns zwischen Skylla und Charybdis? (6)
Wir sehen uns zumindest im Zustand einer gefährlichen Verwirrung und Verirrung. Der „Journalist und Islamexperte, der Gott und die Welt kennt“, wie ein Interview von Ramon Schack mit Peter Scholl-Latour (der uns heute so sehr fehlt!) auf Telepolis eingeleitet wird, drückte es klar und und unmissverständlich aus: „Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung“. (7)
Was ist heute Links, was Rechts? Die Ordinate ist verschoben. Sind wir Männchen oder Weibchen? Können wir tatsächlich ganz und gar auf dem Amt unser Geschlecht ändern und im nächsten Jahr wieder zurück? Kaum etwas ist noch an seinem Platz. Soll an seinem Platz bleiben? Wir patschen mehr oder weniger orientierungslos in einem allgemeinen Brei herum, welcher aus Ingredienzien zusammengerührt ist, die sich im Einzelnen nicht mehr identifizieren lassen. Alles muss woke sein. Die Sprache wird verhunzt. Wo finden wir noch Halt? An was können wir uns orientieren?
Beispielsweise, wie ich finde, am beziehungsweise mittels des Kritischen Wörterbuchs des bunten Totalitarismus von Rudolph Bauer!
Seit Immanuel Kant wissen wir: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Bauers Lexikon kann uns als Werkzeug dafür dienen, diese Aufklärung zu erlangen oder ihr uns wenigstens Stück für Stück zu nähern.
Das Heft 2 dieses Wörterbuchs beginnt mit dem Buchstaben I und mit dem Begriff Idealverein(S.12)
«Ideal den Herrschaftsbedingungen angepasste Organisationsform, die das Assoziationsrecht, sich zusammenzuschließen und gemeinsam Ideelle Zwecke zu verfolgen, gesetzlich regelt und obrigkeitlich kontrollierbar macht. Ziel der staatlichen Einflussnahme ist es, das Bürgerschaftliche Engagement in eine Richtung zu lenken, welche zum einen fehlende oder unzureichende öffentliche Leistungen und gesellschaftliche Defizite in Selbstverwaltung kompensiert (z. B. in Form von Hilfen und Fördermaßnahmen) und andererseits die bestehenden politischen Kräfteverhältnisse nicht zu gefährden droht. Als typische und häufigste Form des in das amtliche Vereinsregister eingetragenen Vereins weist der sog. Idealverein formelle Statuten auf; vor der amtlichen Registrierung als eingetragener Verein ist die Satzung bei Gericht zu genehmigen; über den Antrag auf Gemeinnützigkeit (→ Gemeinnützigkeit als Steuerungs- und Disziplinierungsinstrument) entscheidet in regelmäßigem Abstand die zuständige Finanzbehörde. Als nicht wirtschaftlicher Verein gemäß S 21 BGB darf der Idealverein nicht die Erzielung von Gewinn als Hauptzweck haben. – Vom Idealverein zu unterscheiden sind der wirtschaftliche Verein gemäß S 22 BGB und der Verein gemäß Vereinsgesetz. Die Vereinsarten Wirtschaftlicher Verein und Idealverein gelten nach deutschem Recht als juristische Personen mit entsprechenden Rechten und Pflichten: ,,Bei der Rechtsform der juristischen Person sind im Gesetz eine oder mehrere Verfügungs- und Verwaltungsberechtigte nach innen und außen und damit eine hierarchische Struktur vorgeschrieben. Da aufgrund dieser Struktur eine gleichberechtigte Mitarbeit aller Mitglieder nicht möglich ist, können sie im begrenzten Rahmen der Mitgliederversammlung nur unvollständige Informationen erhalten, wodurch eine umfassende Meinungsbildung verunmöglicht wird. … faktisch (wird) eine Scheindemokratie praktiziert.“ (Bauer 1978: 42 f) → Vereine ohne Rechtspersönlichkeit.
Das Heft 2 schließt mit dem Begriff Null-Emissionen (S.90):
«Gauklertrick; bedeutet, dass bei Produktions- oder anderen Prozessen (Tätigkeiten, Verrichtungen) keine ,,klimaschädlichen Emissionen“ entstehen, berücksichtigt aber nicht, dass die „emissionsfreie“ Energieproduktion durch Windenergieanlagen, Photovoltaik oder Wasserstoff, die Emissionskosten“ ausklammert, welche bei der Herstellung, beim Transport oder beim Recycling und der Wiederverwertung entstehen.Auch ein Kinderroller oder ein Fahrrad sind ,,Nullemissionsfahrzeuge“, ihre Produktion, Reparatur und Entsorgung sind jedoch nicht ,,emissionsfrei“. → Klima, Klimaneutralität.
Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich bei der Lektüre und gelegentlichen Nutzung der beiden inzwischen zu erwerbenden zwei Hefte des Kritischen Wörterbuchs erbauliche Erkenntnisse und Lichtblicke, die weiterbringen. Der dritte Band ist in Arbeit und kommt demnächst heraus.
Rudolph Bauer: Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus, Heft 2: I-N
Illustration #bundesverfassungsgericht nach #grundgesetzänderung; Bildmontage von Rudolph Bauer.
Pad- Verlag Bergkamen, Am Schlehdorn; 99 Seiten, 7.– Euro
ISBN: 3-978-88851-370-2
pad-Verlag@gmx.net
Schriftenreihe des Forums Gesellschaft und Politik e.V.; Redaktion: Peter Rath-Sangkhkorn
INHALT: Statt eines Vorwortes / Stichworte: I bis N / Abkürzungen / Literatur / Über den Autor
Links:
(1) Meine Rezension zu «Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus (Heft 1: A – H) von Rudolph Bauer
(6) Zwischen Skylla und Charybdis sein – Bedeutung, Herkunft
(7) Scholl-Latour: „Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung“; das Interview führte Ramon Schack mit ihm
Über den Autor:
Rudolph Bauer ist Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Einer der wenigen, die sich in Bild und Schrift auch künstlerischer Ausdrucksmittel bedienen, um ihr fachliches Wissen mit politisch-kritischem und gesellschaftlichem Engagement zu verbinden. Er war Professor für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen. Geboren 1939 in Amberg/Oberpfalz, studierte er nach dem Abitur u. a. die Fächer Politologie, Soziologie und Philosophie an den Universitäten in München, Erlangen, Frankfurt am Main und Konstanz. Berufliche Erfahrungen sammelte er u. a. als freier Mitarbeiter und Journalist bei Tageszeitungen und Zeitschriften, bei „konkret“ und der Frankfurter Studentenzeitung „Diskus“; als freiberuflicher Sozialforscher in Offenbach/Main; als Forschungsassistent und Vertretungsprofessor an der Universität Gießen; als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für das Chinesisch-Deutsche Lexikon am Fremdspracheninstitut Nr. 1 der Universität in Beijing in der VR China; als Fellow in Philanthropy am Institute for Policy Studies der Johns Hopkins University in Baltimore/Mass. in den USA.
Bauer ist Autor bzw. Herausgeber einer Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationenin Form von
Selbst erst nach einem längeren Aufenthalt vor Kurzem aus der Türkei zurückgekommen, hatte ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass die Journalistin und Autorin Çiğdem Akyol in die Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund würde. Im Mai 2015 war sie schon einmal dort zu Gast, um aus ihrem Buch „Generation Erdoğan“ zu lesen (mein damaliger Bericht dazu).
Çiğdem Akyol ist ein Kind Ruhrgebiets
Dortmund ist Çiğdem Akyol nicht nur aus diesem Grund kein fremdes Terrain. Ist sie doch ein Kind der Ruhrgebietsstadt Herne – eine aus dem Pott also. Sie zählt sich zur „Generation Kohl“. Will heißen: Der CDU-Bundeskanzler war über viele Jahre allgegenwärtig. Man kannte nichts anderes. Cigdem Akyol, das Herner Kind von einst, war also damals zu Gast in Dortmund, nahegelegene Großstadt, in die zwecks Freizeitgestaltung gefahren gerne wurde, um Herne – das für Jugendliche schnell zu klein wurde – für einige Stunden zu entfliehen.
2006 begann Akyol als Redakteurin bei der taz in Berlin.
Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie schrieb u.a. für den Standard, die Presse, die österreichische Nachrichtenagentur APA, die NZZ, die WOZ, die Zeit online und die FAZ.
Inzwischen lebt sie in der Schweiz.
Sie sträubte sich lange ein neues Buch zu schreiben
Der Präsident der Auslandsgesellschaft NRW, Klaus Wegener (Foto) und Nevzat Izci, Deutsch-Türkische Gesellschaft, (Foto unten) begrüßten Çiğdem Akyol herzlich.
Im Anschluss daran erklärte die Autorin, dass sie einige Anfragen, ein neues Buch zu schreiben zunächst immer abgelehnt hatte. Als allerdings der 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik (ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk) heranrückte, gebar sie die Idee zum neuen Buch. Akyol fand, es gebe ja so viel über die Türkei, dass in Deutschland noch nicht erzählt worden war.
Der Arbeitstitel zum geplanten Buch war „Biografie eines Landes“. Sie wollte nicht wieder den Namen Erdoğan im Titel haben. Schließlich sei ja Erdoğan, obwohl er „absolut eine historische Figur – wenn gleich eine „umstrittene historische Figur“ – sei nicht die Türkei. Journalisten jedoch würden seinen Namen gerne im Titel ihrer Artikel haben. Im Journalismus nenne man so etwas Clickmonster. So generiere man halt mehr Aufmerksamkeit.
Auch ihr Verlag dachte wohl so. Er schlug einen anderen Titel vor.
So heißt das Buch nun: „Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan“.
Foto: Çiğdem Akyol
Akyol fing im Buch mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik durch Atatürk an
Ihre Schwierigkeit bei dem Buch zunächst: „Wo anfangen, wo aufhören?“ Sie entschloss sich mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik bzw. mit Atatürk anzufangen. Hätte sie mit Osmanischen Reich begonnen, wäre das Buch zu sehr ausgeufert. Womöglich hätte sie den Leser auch „unterwegs“ verloren.
So habe sie chronologisch gearbeitet. Das in fünfzig Seiten zu erzählen sei eine Herausforderung – „fast schon eine Unmöglichkeit“ – gewesen.
Im Buch gebe es immer wieder Einschübe über gesellschaftspolitische Themen . Auch über türkische Schriftsteller, wovon es in der Türkei interessante Figuren gibt bzw. gab – um nur einige zu nennen: Yasar Kemal, Nazim Hikmet – die Weltliteratur geschrieben haben.
Des Weiteren habe sie die „Kopftuchfrage“ behandelt. Die laizistische Türkei habe ja das Kopftuchverbot am restriktivsten durchgesetzt. Man muss wissen, dass dieses Kopftuchverbot auch in den Universitäten betroffen hatte. Wächter ließen keine Studentinnen mit Kopftuch ein. Erst Recep Tayyip Erdoğan kippte dieses Verbot. Was wiederum Çiğdem Akyol – egal, ob man das Kopftuch nun mag oder nicht – für richtig erachtet.
Der Putsch
Auch über den Putschversuch 2015 hat Çiğdem Akyol ein Kapitel geschrieben. Damals, erzählte sie eine Anekdote, habe sie ja noch in Istanbul – nahe dem Taksim-Platz – gelebt und zunächst gar nichts davon mitbekommen. Am Abend hatte sie in einem Café ein paar Straßen weiter einen Tee getrunken. Und keines ihrer zwei Handys dabei gehabt. Wieder zuhause sah sie, dass ihre Mutter aus Deutschland mehrfach angerufen hatte. Sie rief zurück und die Mutter sagte ihr: „Bei euch gibt es einen Putsch.“ Zwar hatte sie zuvor Düsenjäger wahrgenommen, die die Schallmauer durchbrachen – dies aber, so Akyol, sei eigentlich öfters vorgekommen und war für gewöhnlich kein Grund zur Beunruhigung. Ungläubig zunächst habe sie letztlich in den Medien die Bestätigung dafür gefunden und dann darüber geschrieben.
Das Militär
Ein weiteres wichtiges Thema in ihrem Buch: das einst so mächtige türkische Militär. Erdoğan hatte es auf Wunsch der EU – der ja die Türkei beitreten wollte – wesentlich entmachtet. Was, so Akyol, auch Erdoğan in die Hände spielte.
Interviewpartner zu finden war nicht schwer: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen“
Weiters, berichtete die Autorin, habe es ziemlicher Anstrengungen bedurft, Interviewpartner zu finden: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen.“ Da habe man über E-Mails selten Erfolg. Für ihr Buch hat sie ungefähr hundert E-Mails geschrieben. Antworten dagegen bekam sie wenige. Auch Anrufe führen da kaum zum Erfolg. Kenne man jemanden, der eine Begegnung befördern, liefe es schon besser. Schließlich sei sie den Menschen nicht bekannt. Wenn dann ein Treffen zustande kam, lerne man sich erst einmal vorsichtig kennen. Dann werde einfach erst mal ein Tee zusammen getrunken. „Dann kriegt man später ein Statement. Oder auch nicht.“
Viele Menschen hätten auch einfach Angst, sich kritisch zu äußern.
Es sei ja für Interviewte fatal, wenn sie Fehler gemacht habe und der Text gedruckt erscheint.
„Das freie Wort steht unter großem Druck.“
Dass deshalb Leute vorsichtig seien, dafür hat Akyol Verständnis geäußert. Wobei sie in der Türkei lebende Menschen aber nun wiederum auch brauchte. Sie wollte ja keine Reportage schreiben, die lediglich auf den Blick durch die eigene Brille fuße. Sie meinte, zwanzig Interviews geführt zu haben, was „wahnsinnig anstrengend“ gewesen sei.
Probleme der Türkei
Bedenklich nannte Akyol den Braindrain, welcher derzeit in der Türkei zu registrieren ist. Die wirtschaftliche Situation, die Inflation, nahezu täglich steigende Preise und fehlende Arbeitsplätze mache vor allem den jungen Menschen zu schaffen, die um ihre Zukunft fürchten. Die Arbeitslosenquote steigt. Zur Info: Als Erdoğan 2003 an die Macht kam waren für ein Euro 5,3 Türkische Lira zu bekommen. Momentan ist das Verhältnis 1 zu 29.
Die Landeswährung verliere immer mehr an Wert. Ständig senke die Zentralbank auf Druck Erdoğans die Leitzinsen, wo sie doch eigentlich erhöht werden müssten, liest die Autorin aus ihrem Buch.
Erdoğan scheine all das nicht zu schaden. Letztes gewann er sogar die Wahlen wieder. Er überstand bisher eine Gefängnisstrafe (wegen Zitat eines Gedichts), Drohungen des Militärs, die Gezi-Demonstrationen, den Putschversuch und den Kampf mit der Gülen-Bewegung. Allerdings brächten ihn die anhaltenden Wirtschaftskrise sowie die innenpolitischen Probleme in Bedrängnis.
Die Berichterstattung der Medien in Deutschland, gab Akyol zu bedenken, finde sie „manchmal sehr einseitig“.
Als die Autorin mit einem AKP-Politiker spricht, kritisierte dieser die EU. Sie spiele bestimmte Vorwürfe hoch. Etwa die, welche sie der Türkei in puncto Menschenrechten mache. Es gebe Länder in der EU, die in Sachen Menschenrechte schlechter dran seien oder zumindest auf der gleichen Stufe wie die Türkei stünden. Die EU habe die Türkei fallenlassen und die ganze Zeit immer nur betrogen. Das sage nicht nur er, sondern die Kritik teile die öffentliche Meinung im Lande.
Die Opposition hat seit Jahren keinen Erfolg die Regierung abzulösen
Akyol stellte fest, seit zwanzig Jahren habe es die Opposition nicht geschafft gegenüber der AKP-Regierung (zusammen mit der nationalistischen rechten MHP) eine Alternative darzustellen. Zuletzt war Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) im Bunde mit sechs verschiedenen Parteien (der „Sechsertisch“) damit gescheitert die Regierung abzulösen. Çiğdem Akyol vermutet, das habe neben Anderem daran gelegen, dass Kılıçdaroğlu noch nie ein Ministeramt bekleidet habe und vielleicht auch daran, dass er sich kurz vor der Wahl in sozialen Netzwerken als Alewit geoutet habe. Alewiten (in der Türkei leben etwa 15% von ihnen). Alewiten wird in der Türkei nicht selten mit Misstrauen und alten Vorbehalten begegnet.
Erdoğan ist immer für eine Überraschung gut
Auf eine Zuhörerfrage hin wollte Akyol in ihrer Antwort nicht über die Zukunft spekulieren und darüber, ob mit Erdoğan noch länger zu rechnen sei. Sie vergaß nicht zu erwähnen, dass dieser in den ersten Jahren der AKP-Regierung durchaus vieles in der Türkei erreicht hatte. Er habe ja zwar nun angekündigt in fünf Jahren nicht wieder anzutreten. Doch der Mann sei immer wieder für Überraschungen gut gewesen zu sein. Es sei denn, gesundheitliche Gründen stünden dagegen.
Ein wirklich informativer Abend mit einer sympathischen Autorin, die offenbar mit einem weiteren, auf Kenntnisreichtum zurückgreifend und über behutsam geführte Interviews zustande gekommen Buch aufwartet.
Çiğdem Akyol bedankte sich herzlich bei der Auslandsgesellschaft und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für die Einladung an sie. Sie verlieh ihrer Freude Ausdruck, dass so viele Menschen gekommen waren, um der Lesung beizuwohnen und sich mit Interesse an der Diskussion beteiligt hätten.
Spannend und voller Empathie für das Land erzählt Çiğdem Akyol die Geschichte derTürkischen Republik, ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk. Er schuf auf den Trümmern des Osmanischen Reiches seine Vision einer modernen Türkei. Die Schattenseiten der verordneten Modernisierung sind bis in die Gegenwart spürbar: So erlebte das Land nach Atatürk mehrere Militärputsche und eine brutale Minderheitenpolitik. Doch die Entwicklung der Republik ist auch eine Erfolgsgeschichte: Die heutige Türkei ist ein aktiver außenpolitischer Gestalter in der Weltpolitik – und eine starke Volkswirtschaft. Çiğdem Akyol beleuchtet die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hinter der Geschichte – das ideologisch geprägte Justizsystem, die Macht des Militärs, die Verfolgung von Schriftstellern und die Debatte um Religion und Säkularismus. Zu Wort kommen dabei auch Menschen aus der Türkei, die persönliche Eindrücke schildern, unter anderen die Journalisten Bülent Mumay und Can Dündar, die Feministin Büşra Cebeci und der ehemaligen Außenminister Yaşar Yakış. Überdies kommen ehemalige AKP-Mitglieder und -Mitarbeiter mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen zu Wort. Eine umfassende, lebendige Geschichte der Republik, die uns auch die Gegenwart nahebringt und die jüngsten Entwicklungen nachvollziehbar macht. Die Lesung hat sozusagen Appetit auf das neue Buch von Akyol gemacht
Bücher von Gabriele Krone-Schmalz demnächst im Westend Verlag Der Westend Verlag übernimmt die Bücher „Russland verstehen?“ und „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz in sein Sachbuchprogramm und bringt beide Spiegel-Bestseller als erweiterte Neuausgaben heraus. Westend-Verleger Markus J. Karsten: „Dass wichtige Bücher einer hochverdienten und erfahrenen Journalistin wie Gabriele Krone-Schmalz derzeit nicht lieferbar sind und deren wissensgesättigte Inhalte nicht in die öffentliche Diskussion gelangen, ist nicht gut für die Demokratie. Daher füllen wir diese Lücke.“ Die vielfach ausgezeichnete, ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau kennt das Land wie wenige andere und ist eine Stimme, die in dem russlandpolitischen Dialog nicht fehlen dürfe. „Wir finden es sehr bedenklich, wenn unbequeme Stimmen aus den politischen Diskursen verbannt werden sollen“, so Karsten.
Die Neuausgabe von „Russland verstehen?“ erscheint am kommenden Montag, den 4. September, mit einer aktuellen, einordnenden Einleitung, Anfang Oktober folgt dann die Neuausgabe von „Eiszeit“. Gabriele Krone-Schmalz dazu, dass ihre Bücher dann wieder regulär im Buchhandel erhältlich sind: „Auf meinen Veranstaltungen gibt es eine rege Nachfrage nach diesen Titeln, da das Bedürfnis nach Informationen rund um diesen Krieg enorm ist.“ Der konzernunabhängige Westend Verlag feiert im Januar 2024 seinen 20. Geburtstag und belegt mit prominenten Autorinnen und Autoren seit Jahren vordere Plätze auf den einschlägigen Bestsellerlisten: Aktuell stehen die Bücher von Jacques Baud, Jonas Tögel und Sven Plöger auf der Bestellerliste Sachbuch Paperback.
Frankfurt, der 31.8.2023
Rüdiger Grünhagen
Geschäftsleitung Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Quelle: Westend Verlag GmbH
Beitragsbild: Claus Stille; Gabriele Krone-Schmalz auf einer Medientagung der IALANA in Kassel.
Auf einer Hybridveranstaltung wurde am gestrigen Abend im „Goldenen Saal“ der Villa Ichon in Bremen das Buch „20 Jahre Whistleblower-Preis. Was wurde aus den Preisträger:innen und ihren Enthüllungen?“ (Hrsg. Gerhard Baisch, Hartmut Graßl, Bernd Hahnfeld und Angelika Hilbeck) vorgestellt.
Der Whistleblower-Preis
«Zur Ehrung mutiger WhistleblowerInnen wird seit 1999 alle zwei Jahre der Whistleblower-Preis gemeinsam von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. (VDW) und der IALANA Deutschland – Vereinigung für Friedensrecht gestiftet. Der Preis wird vergeben an Persönlichkeiten, die – häufig unter Inkaufnahme beträchtlicher Risiken für Arbeitsplatz und Karriere – Missstände aufdecken und nach außen bekannt machen, welche ihnen in ihrer dienstlichen oder amtlichen Tätigkeit bekannt geworden sind. Der Whistleblower-Preis soll eine Form des Zuspruchs, der Anerkennung, der Ermutigung und der Solidarität zum Ausdruck bringen, die Bürgerinnen und Bürger mit großer Zivilcourage brauchen, wenn sie die zahlreichen Belastungen und Schwierigkeiten im privaten und beruflichen Umfeld sowie die Anfeindungen und Zumutungen im öffentlichen Raum nicht nur auf sich nehmen, sondern auch aushalten und ohne dauerhafte Beschädigung durchstehen wollen.« (Quelle: Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)
Die Whistleblower-Preisträger finden Sie hier, liebe Leser.
Nach den einleitenden Worten von Gerhard Baisch wurde an den 2019 verstorbenen Juristen Dr. Dieter Deiseroth erinnert, ohne den es sicher denn Whistleblower-Preis nicht gegeben hätte. Aus dem Nachruf des VDW seinerzeit: «Als engagiertes VDW-Mitglied, Initiator und Treiber des Whistleblower-Preises sowie der Whistleblower-Publikationen bleibt Dieter Deiseroth uns in lebendiger Erinnerung. Seine Expertise, Präzision und Aufrichtigkeit haben dem Whistleblower-Preis das Format der unantastbar gültigen Entscheidung geschenkt.«
Vorgestellt wurde das Buch von Prof. Wolfgang Däublerunter dem Thema „Whistleblower – Helden oder Verräter?“.Anschließend fand eine Diskussion mit den Herausgebern statt.
Die Veranstaltung von IALANA Deutschland e.V. – Vereinigung für Friedensrecht, deutsche Sektion der IALANA – International Association of Lawyers against Nuclear Arms – gemeinsam mit der VDW – Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. wurde unterstützt vom Bremer Friedensforum.
Seit 1999 haben IALANA und VDW jeweils alle zwei Jahre herausragende Whistleblowern mit dem Whistleblower-Preis geehrt. Dadurch sollte ihnen öffentlich Anerkennung für ihr mutiges Handeln ausgesprochen und gezeigt werden, dass die Gesellschaft auf Menschen wie sie angewiesen ist, um geheim gehaltene Fehlentwicklungen und Missstände zu erkennen und um deren Behebung einzufordern oder anzugehen. Geehrt wurden insgesamt 18 Whistleblowern, u.a. Alexander Nikitin (nukleare Verseuchung des Nordmeers), Margrit Herbst (BSE-Skandal), Daniel Ellsberg (Pentagon-Papiere zum Vietnam-Krieg), Brigitte Heinisch (Altenpflegemängel), Liv Bode (Borna-Virus), Rainer Moormann (Kugelhaufen-Reaktor), Chelsea Manning (US-Kriegsverbrechen), Gilles-Eric Seralini (Gesundheitsgefahr durch Glyphosat), Edward J. Snowden (Prism), Can Dündar (Erdoğan unterstützt IS mit Waffen) und Martin Porwoll (Krebsmedikamente ohne Wirkstoff).
Anbei mein Bericht über die Whistleblower-Preisverleihung 2017.
Das Buch enthält selbständige Beiträge zu den einzelnen Preisträgern, meist mit Interviews und ergänzenden Darstellungen der Folgen ihres Whistleblowings. Es folgt eine Genese des Hinweisgeberschutz-Gesetzes, das Anfang Juli 2023 in Kraft getreten ist.
Wolfgang Däubler legte in Bremen dar, ob und inwieweit die neuen Regelungen Whistleblower tatsächlich schützen können. Er und seine Mitdiskutanten waren sich allerdings darin einig, dass das Hinweisgeberschutz-Gesetz in seiner derzeitigen Fassung nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
Nichtsdestotrotz machte Wolfgang Däubler potentiellen Whistleblowern Mut sich mit aller Vorsicht bemerkbar zu machen.
Er schlug etwa vor sich an zuverlässige und vertrauensvoll agierende Journalisten zu wenden, welche den Whistleblowern Anonymität und Schutz zusichern. Eigentlich für Journalisten ein Muss. Diese Journalisten könne man noch immer finden.
Allerdings ließen andere Wortmeldungen auf der Veranstaltung gewisse Zweifel daran aufkommen. Zumindest kommen die einen eingedenk des Zustands des heutigen Journalismus (der Vierten Gewalt!) und der sogenannten „Qualitätsmedien“.
Das Buch eröffnet insbesondere durch die Interviews einen Blick auf die oft schweren Schicksale, welche die geehrten Whistleblower:innen nach ihrem Alarmgeben erlitten haben. Bewundernswert ist, dass fast alle ihr Handeln nicht bereuen, sondern wieder so handeln würden. Ihre Schilderungen legen auch bloß, an welchen Punkten der nötige Schutz erweitert werden muss.
Hier die Videos von der Veranstaltung
Teil 1
Teil 2
Zum Buch
20 Jahre Whistleblower-Preis
Was wurde aus den Preisträger:innen und ihren Enthüllungen? Herausgeber: Baisch, Gerhard; Hilbeck, Angelika; Hahnfeld, Bernd; Graßl, Hartmut
Machen Mitarbeiter:innen Fehlverhalten in Betrieben, Behörden und Regierungen öffentlich, ist das oft ein Wendepunkt in ihrem Leben. Diese Whistleblower oder Hinweisgeber, seit 1999 im zweijährigen Rhythmus mit dem Whistleblower-Preis vom deutschen Flügel der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) und der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) ausgezeichnet, berichten in Interviews über ihr Leben nach der Preisverleihung. Was ist aus den weltweiten Plänen für Kugelhaufenreaktoren geworden, sind Maßnahmen zur besseren Kontrolle von Apotheken für Krebsmedikamenteergriffen worden, ist Glyphosat verboten, die unkontrollierte Überwachung durch Geheimdienste gestoppt, der Pflegenotstand gemildert worden? In den Interviews durch Jurymitglieder sagen fast alle Preisträger:innen, dass sie sich trotz der oft andauernden Anfeindungen wieder so verhalten würden. Das Buch schließt mit einer kritischen Beurteilung des Weges hin zu einem Hinweisgeberschutzgesetz in Deutschland und ist dem Initiator des Whistleblower-Preises, Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, gewidmet.
Der Autor und Journalist Ulrich Heyden hat die international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk seit 2014 mehrmals besucht. Er analysiert in seinem neuen Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945“, warum der Konflikt in der Südostukraine entstand und warum das Waffenstillstandsabkommen “Minsk 2” immer wieder gebrochen wurde. Das Fazit des Autors: Die Ukraine könnte als neutrales Land zwischen Russland und dem Westen in Frieden leben. Jeder Versuch, das Land auf eine Seite zu ziehen, wird es zerreißen. Hier die Einleitung des Buches.
Dass es in der Ost-Ukraine seit April 2014 einen Krieg gibt, darüber hatten die großen Medien in Deutschland, die letzten Jahren nur spärlich berichtet. So war die Öffentlichkeit in Deutschland schockiert, als Russlands Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 den Beginn einer „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine bekanntgab. Das Ziel dieser Operation sei – so der Kreml-Chef – „der Schutz der Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ und die „Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“.
Diese Begründung war nach Meinung der deutschen Medien hanebüchen. Im Grunde gehe es Wladimir Putin nur um den Wiederaufbau eines russischen Imperiums. Auch andere osteuropäische Länder könnten jetzt Opfer russischer Aggression werden. Dass Russland monatelang erfolglos mit Vertretern der USA, Frankreich, Deutschland und der NATO über Sicherheitsgarantien und eine Absage bezüglich eines NATO-Beitritts der Ukraine verhandelt hatten, war plötzlich vergessen. Ob es richtig war, Russland Sicherheitsgarantien zu verweigern, stand weder vor noch nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zur Debatte.
Die Öffentlichkeit im Westen hatte nicht mit dem russischen Einmarsch gerechnet. Zwar hatte die Bild-Zeitung schon 4. Dezember 2021 getitelt [1] „Putins geheimer Angriffsplan für die Ukraine“ und eine Grafik veröffentlicht, die faktisch das zeigte, was dann am 24. Februar 2022 wirklich begann, aber die Drohungen des US-Präsidenten mit „nie dagewesenen Sanktionen“ gegen Russland im Falle eines Angriffes auf die Ukraine, hatten wohl viele Menschen glauben lassen, dass der Kreml dieses Risiko nicht eingehen werde.
Ratlose Russland-Freunde
Wladimir Putin, sein Sprecher, Dmitri Peskow und der russische Außenminister Sergej Lawrow, hatten in den Monaten vor dem 24. Februar 2022 immer wieder erklärt, Russland werde nicht – wie von westlichen Geheimdiensten und Medien behauptet – in die Ukraine einmarschieren.
Als dann der Kreml-Chef am 24. Februar 2022 die „Spezialoperation“ bekanntgab, fühlten sich nicht wenige Russland-Freunde in Deutschland getäuscht und ratlos. Sie erklärten, sie müssten jetzt ihr Verhältnis zur russischen Politik überprüfen oder sie zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Doch war es wirklich eine Täuschung? Der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialverwaltung, Dmitri Kosak, hatte bereits am 8. April 2021 erklärt, dass wenn Kiew Kriegshandlungen im Donbass aufnehme, sei das „der Anfang vom Ende“ für die Ukraine. Russland sei in diesem Fall gezwungen, seine Bürger zu schützen. 600.000 Bewohner des Donbass hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen russischen Pass.
Am 21. April 2021 erklärte Wladimir Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung, dass wenn in Ukraine „eine rote Linie überschritten wird, die wir selbst festlegen, wird die Antwort asymmetrisch, schnell und hart sein“.
Am 21. Dezember 2021 erklärte der Kreml-Chef, „natürlich, werden wir, wie ich schon bemerkt habe, in dem Fall, dass die westlichen Kollegen eine klare aggressive Linie fortsetzen, adäquate militär-technische Maßnahmen ergreifen, auf unfreundliche Schritte werden wir hart reagieren.“ [2]
Dass die Russland-Freunde in Deutschland in Debatten ausschließlich Russlands friedliche Absichten hervorhoben, war angesichts der antirussischen Kriegshysterie in den deutschen Medien verständlich, aber nicht weitsichtig. Russland hatte schon 1999 im Tschetschenienkrieg gezeigt, dass es bei Gefahr für seine staatliche Souveränität – damals ging es um von arabischen Staaten finanzierten islamischen Fundamentalismus in Tschetschenien und eine Ausbreitung des Separatismus in Russland – militärisch zuschlägt.
Statt Fakten, Stimmungsmache
Nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine spielten die großen Medien in Deutschland keine gute Rolle. Sie heizten die Stimmung gegen Russland weiter auf, indem sie unterstellten, Russland werde möglicherweise weitere osteuropäische Länder überfallen. Von Diplomatie war keine Rede mehr, nur noch von Aufrüstung. In Deutschland lebende Russen waren das erste Mal seit dem Kalten Krieg wieder mit verächtlichen Äußerungen im Alltag konfrontiert.
Die Situation wurde von den Medien auch falsch gewichtet. Es wurde behauptet, in der Ukraine habe der „erste Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“ begonnen. Tatsächlich war es die NATO – unter Beteiligung der deutschen Luftwaffe – die 1999 im Kosovo-Krieg Ziele in Serbien bombardierte. Das war der erste Krieg in Europa seit 1945.
Auch verschwiegen die deutschen Politiker und großen Medien, dass der Krieg in der Ukraine 2022 begann, sondern bereits 2014. Im Februar 2014 fand in Kiew – angeführt von rechtsradikalen, militanten Gruppen – ein Staatsstreich statt. Der amtierende Präsident Viktor Janukowitsch wurde unter Morddrohungen aus Kiew verjagt.
Zwei Monate später, am 14. April 2014, schickte der geschäftsführende nicht-gewählte ukrainische Präsident Aleksandr Turtschinow Truppen in den Donbass. Sie sollten im Rahmen einer „Antiterroristischen Operation“ die Separatisten aus Regierungsgebäuden in Donezk und Lugansk vertreiben.
Diese „Operation“ kostete bis heute 14.000 Menschen das Leben. 5.000 Menschen starben in der Volksrepublik Donezk, 4.000 in der Volksrepublik Lugansk [3] und 5.000 Menschen in dem von Kiew kontrollierten Teil des Donbass.
Ich habe mit den Menschen im Donbass gesprochen
Dieses Buch handelt von dem nun schon acht Jahre andauernden Krieg im Donbass. Es handelt von Menschen, deren Dörfer und Städte von der ukrainischen Armee und rechtsradikalen Freiwilligen-Bataillonen beschossen wurden, von Kindern, die am Geräusch erkennen, um was für eine Granate oder Rakete es sich handelt und woher geschossen wird, von freiwilligen Kämpfern, die sich an der „Kontaktlinie“ zur Zentralukraine tief in die Erde eingegraben haben und gelegentlich auch zurückschießen. Mein Buch handelt auch von Ärzten, die direkt an der Demarkationslinie in einem Krankenhaus arbeiten, ungeachtet des Geschützdonner, der immer wieder von der ukrainischen Seite herüberhallt.
Ich habe den Bewohnern der Volksrepubliken zugehört, wo sie sich auch gerade befanden, in Schulen und Kindergärten, auf Straßen, in von Geschossen zerlöcherten Häusern, an den Grenzübergängen zur Ukraine oder in den Amtsstuben von Lugansk und Donezk.
Warum ich dieses Buch geschrieben habe? Weil die großen deutschen Medien über den Krieg im Donbass nur aus der Sichtweise Kiews berichten.
Im vorliegenden Buch habe ich meine Reportagen, Interviews und Analysen aus dem Donbass zusammengefasst. Einige davon sind bereits bei Telepolis, Nachdenkseiten, der Freitag, Rubikon, Neues Deutschland, Die Wochenzeitung und RT DE veröffentlicht. Einiges liegt das erste Mal in gedruckter Form vor. Die schon veröffentlichten Texte wurden vom Autor zum Teil gekürzt.
Niemand, der aus den Volksrepubliken berichtet
In Deutschland ist es seit 2014 auf Grund einer einseitigen Medienberichterstattung nicht mehr möglich, sich eine auf Fakten beruhende, eigene Meinung über den Konflikt im Donbass zu bilden. Es fehlt die Fakten-Basis.
Die deutschen Chefredakteure schicken seit 2014 keine Journalisten mehr in die Volksrepubliken. Nur bei den Wahlen im November 2018 waren deutsche Fernsehjournalisten in Donezk und Lugansk. Deutsche Journalisten und Politiker besuchten im Donbass immer nur die ukrainische Seite vor der „Kontaktlinie“. Von dort schauten sie hinüber in „feindliches Gebiet“, in das Gebiet „der von Russland unterstützten Separatisten“. Das erinnert an die Zeit der deutschen Teilung, wo man von Aussichtsplattformen in Westberlin nach Ostberlin schauen konnte.
Man schaut, versteht aber nichts. Denn man weiß nicht, wie die Menschen in den Volksrepubliken leben. Bis auf die beiden Bundestagsabgeordneten der Partei Die LINKE, Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko, sowie Gunnar Lindemann von der AfD hat kein einziger deutscher Politiker der großen deutschen Parteien hat jemals die Volksrepubliken besucht und dort mit den Menschen gesprochen.
Die Menschen in den Volksrepubliken scheinen so etwas wie Aussätzige zu sein. Denn es ist von Seiten des Auswärtigen Amtes noch nicht mal erwünscht, dass humanitäre Hilfe aus Deutschland über Russland an die Volksrepubliken geliefert wird. Durch die Ukraine wollen deutsche Bürgerinitiativen wie „Zukunft Donbass“ und „Friedensbrücke e.V.“ ihre humanitäre Hilfe mit Lastwagen nicht schicken. Das ist ihnen wegen der ukrainischen Nationalisten, die schon mal Transporte anhalten, zu gefährlich.
Hysterische Reaktionen auf humanitärer Hilfe
Als die Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE, Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko, im Februar 2015 mit einem Kleinbus und vier Kleinlastern humanitäre Hilfe für Krankenhäuser in die Volksrepublik Donezk brachten [4] verurteilte [5] der Berliner „Tagesspiegel“ die Reise in scharfem Ton. Die Abgeordneten – so das Blatt – hätten sich mit dem „Warlord“ Aleksandr Sachartschenko – damals Leiter der Volksrepublik Donezk – fotografieren lassen. Sachartschenko habe sich schlecht über Juden geäußert, behauptete der Tagesspiegel ohne stichhaltigen Beweis.
Während viele Menschen in den Volksrepubliken in von ukrainischen Geschossen beschädigten Häusern leben, hatten deutsche Intellektuelle, die sich der Post-Maidan-Regierung verbunden fühlen, seit 2014 nichts Besseres zu tun, als jeden Deutschen, der aus den Volksrepubliken berichtete, Hilfe dorthin organisierte oder die Kiewer Regierung kritisierte, im Internet und Medien als „Putin-Freund“, „Nationalisten“ und „Antisemiten“ zu brandmarken.
Lebenslanger Bann für Kiew-Kritiker
Die „Beweise“ für diese Behauptungen hatten die Anhänger der ukrainischen Regierung mühsam aus zum Teil viele Jahre alten Internet-Beiträgen zusammengeklaubt. Richtigstellungen und ein Fehlereingeständnis von Seiten des wegen „Antisemitismus“ beschuldigten ukrainischen Journalisten Ruslan Kotsaba wurden von den Anhängern der Kiewer Regierung in Deutschland ins Lächerliche gezogen. Es wurde schnell klar: Linksgrüne Ukraine-Freunde in Deutschland versuchten die Kritiker der Kiewer Regierung in Deutschland mit einem lebenslangen Bann zu belegen.
Ein Lichtblick in dieser aufgeheizten Stimmung war eine am 11. Juni 2018 von der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE 2018 in Berlin organisierte Konferenz mit dem Titel „Menschenrechte und Medienfreiheit in der Ukraine“. Auf dieser Konferenz wurde sachlich und anhand von Fakten diskutiert. Die fast vier Stunden dauernde Konferenz tagte mit über hundert Teilnehmern im Paul-Löbe-Haus, einem Nebengebäude des Bundestages.
Es sprachen die Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, Andrej Hunko, Heike Hänsel, Zaklin Nastic und Stefan Liebich, die ukrainische Aktivistin Jelena Bondarenko, der ukrainische Journalist Ruslan Kotsaba, der Kiewer Menschenrechtsanwalt Walentin Rybin und viele andere. Sie berichteten mit konkreten Beispielen über die Repressionen gegen Andersdenkende in der Ukraine. Ich hielt einen Beitrag zur Verfolgung von Journalisten in der Ukraine. [6]
Die großen deutschen Medien berichteten trotz hochkarätiger Besetzung nicht über die Veranstaltung. Berichte gab es aber bei RT DE, Telepolis [7] und der Verdi-Journalisten-Zeitung „Menschen machen Medien“ [8]. Die Junge Welt interviewte [9] den Konferenz-Teilnehmer, Leonid Koschara, der bis zum Staatsstreich 2014 Außenminister der Ukraine war.
Eine komplette Video-Aufzeichnung der Konferenz ist bis heute im Internet abrufbar. [10] Aber leider gibt es keine schriftliche Broschüre mit den Konferenz-Beiträgen. Und es gibt auch bis heute keine deutschsprachige Dokumentation über alle Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Medienfreiheit in der Ukraine. So ist es für Menschen, die weder Russisch noch Ukrainisch können, enorm schwer, sich ein Bild von den wirklichen Zuständen in der Ukraine zu machen und sich mit Faktenwissen an Diskussionen zu beteiligen.
Man muss kein Anhänger von Wladimir Putin sein, um festzustellen, dass Rechtsextremismus und Ultranationalismus in der Ukraine von staatlichen Stellen gefördert werden und einen starken Einfluss auf die Gesellschaft haben. Es gibt viele Beispiele mit denen man diese These belegen kann. Die für mich eindeutigsten Beispiele sind der bis heute nicht von staatlichen ukrainischen Stellen geahndete Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014 und die schon acht Jahre dauernde „Anti-Terror-Operation“ im Donbass.
Ukraine verhängt Informationssperre
Erschwert wird der Informationszugang auch dadurch, dass die ukrainische Regierung 2014 eine Informationssperre über die Volksrepubliken verhängte. Man kann von der Ukraine aus zwar in die Volksrepubliken fahren, muss sich dann aber darauf gefasst machen, dass man auf der ukrainischen Website „Mirotworets“ (Friedensstifter) gelistet wird.
Die Website „Mirotworets“ wurde auf Initiative von Anton Geraschenko – seit 2019 stellvertretender Innenminister der Ukraine – geschaffen, um Journalisten, denen man eine Nähe zu den Separatisten unterstellt, als „Feinde der Ukraine“ an den Pranger zu stellen. Auf „Mirotworets“ sind Tausende Journalisten, Politiker und einfache Bürger mit Adressen gelistet.
Ich war seit 2014 oft in den Volksrepubliken. Bei meinen Reisen in den Donbass habe ich nicht nach russischen Panzern und russischen Militärberatern gesucht. Aber natürlich habe ich immer dann, wenn ich einen Panzer oder anderes militärisches Gerät sah, meine Begleiter gefragt, woher das Gerät ist. Und sie sagten immer, „das ist von den Ukrainern erbeutet“. Ich hatte keinen Grund an dieser Aussage zu zweifeln. Dass es im Donbass russische Militärberater gibt, ist vorstellbar, lässt sich aber nicht beweisen.
Dass 2014/15 viele Russen als Freiwillige mit der Waffe in der Hand die Volksrepubliken mit verteidigten, hat selbst der russische Präsident Wladimir Putin nicht bestritten. Diese Freiwilligen seien „dem Ruf ihres Herzens gefolgt“, so der Kreml-Chef. Es handele sich nicht um russische Truppen. Nichtsdestotrotz behaupteten deutsche Medien und Politiker seit 2014 immer wieder ohne Belege, in den Volksrepubliken seien offizielle russische Truppen stationiert.
Die Falschdarstellungen deutscher Medien
Die wichtigsten Falschdarstellungen über die Ukraine in den deutschen Medien sind meiner Meinung nach Folgende:
Von den deutschen Medien wird konsequent verschwiegen, dass die Ukraine ein multinationaler Staat ist. Bei der Volkszählung 2001 nannten 67 Prozent Ukrainisch und 29 Prozent der Befragten Russisch ihre Muttersprache [11].
Verschwiegen wird auch die Zwangsukrainisierung der russischen Bevölkerung in der Ukraine nach 2014. Seit Januar 2021 darf in der Ukraine im öffentlichen Raum nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Russisch-Unterricht gibt es nur noch bis zur vierten Klasse.
Die deutschen Medien und Politiker übernehmen immer mehr die neue ukrainische Geschichtsschreibung, nach der die Hungersnot (ukrainisch: Holodomor) in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre ein Mittel von Stalin war, die ukrainische Bevölkerung wie bei einem Völkermord zu vernichten. Im Februar 2022 legte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Blumen am Holodomor-Denkmal in Kiew ab. Dabei ist in der Geschichtswissenschaft allgemein bekannt, dass es in der Zeit nach der Zwangskollektivierung schwere Hungersnöte nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Südrussland und im sowjetischen Kasachstan gab.
Warum, so frage ich, hat bis heute kein einziger deutscher Politiker Blumen am Gewerkschaftshaus von Odessa niedergelegt, wo am 2. Mai 2014, nachdem ukrainische Ultranationalisten Feuer gelegt hatten, 42 Regierungskritiker starben?
Der einzige Bundestagsabgeordnete, der in Odessa mit Angehörigen der im Gewerkschaftshaus Umgekommen gesprochen hat, war Andrej Hunko von der Partei Die LINKE, der Odessa 2014 mehrmals besuchte [12]. Warum wurde er von keinem deutschen Fernsehsender eingeladen, um als Augenzeuge über seine Gespräche mit den Angehörigen und die schleppenden Untersuchungen zum Brand zu berichten?
Frank-Walter Steinmeier, der Odessa Ende Mai 2014 – damals als Außenminister – besuchte, und angeblich einen Kranz am Gewerkschaftshaus niederlegen wollte [13], nahm von seinem Vorhaben Abstand, nachdem Igor Paliza, der Vorsitzende der Gebietsverwaltung von Odessa, ihm davon abgeraten hatte. Eine Kranzniederlegung könne neue Unruhen auslösen, hatte Paliza gewarnt.
Sowjetführer vergrößerten die Ukraine
Deutsche Medien und Politiker verschwiegen, dass der Ukraine, die bis zur Oktoberrevolution zum russischen Kaiserreich gehörte, von sowjetischen Führern Territorien angegliedert wurden. 1922 wurden vom sowjetischen Russland auf Initiative von Lenin der sowjetischen ukrainischen Republik Teile des Donbass abgetreten, die früher zum russischen Zarenreich gehörten.
Im Westen bekam die Ukraine 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt von Polen die Gebiete, Lwiv, Iwano-Frankiwsk und Ternopil. Im Süden bekam die Ukraine 1954 – auf Anweisung von Sowjet-Führer Chruschtschow – die Krim geschenkt.
Als die Post-Maidan-Regierung im Februar 2014, einen Tag nach dem Staatsstreich, der russischen Sprache – in den Gebieten mit hohem russischen Bevölkerungsanteil – den Status einer zweiten offiziellen Sprache – neben dem Ukrainischen – entzog, war das der Auslöser für den „russischen Frühling“ in der Südostukraine.
Im russischsprachigen Südosten der Ukraine hatte sich schon seit der orangenen Revolution 2005 und den Zwangsukrainisierungs-Maßnahmen unter Präsident Viktor Juschtschenko Unzufriedenheit unter den russischsprachigen Ukrainern angestaut. Während des „russischen Frühlings“ wurden dann in Charkow, Donezk und Lugansk offizielle Gebäude besetzt. Doch den Grund für diese Besetzungen verschwiegen die großen deutschen Medien.
Der Donbass als Bindeglied zwischen Sowjetrussland und bäuerlicher Ukraine
Dass es am 7. April 2014 zur Gründung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk kam, hatte nicht nur aktuelle politische Gründe, sondern auch historische Wurzeln. Der Donbass war seit Beginn des 17. Jahrhunderts das zentrale russische Industrie- und Bergbaugebiet. Aus ganz Russland – und später der Sowjetunion – kamen Arbeitskräfte verschiedener Nationalitäten in den Donbass. Russisch war die Sprache, welche die verschiedenen Nationalitäten im Donbass – Russen, Ukrainer, Tataren, Griechen und Moldauer – verband.
Die Ukraine – bzw. ihre politische Führung – wollte sich nach der Oktoberrevolution 1917 aus dem russischen Staat lösen und schloss mit Deutschland und Österreich-Ungarn am 9. Februar 1918 einen Separatfrieden ab, den sogenannten „Brotfrieden“. Deutschland und Österreich hofften, dass man in der Ukraine dringend benötigte Lebensmittel eintreiben könne.
Eine Woche nach Abschluss des Separatfriedens zogen deutsche und österreichische Truppen – insgesamt 500.000 Mann – in die Ukraine ein. Doch wegen der politisch und wirtschaftlich chaotischen Zustände in der Ukraine konnte nur ein Teil der erhofften Lebensmittellieferungen eingetrieben werden. Ende 1918 zogen die deutschen Truppen aus der Ukraine wieder ab.
Bereits vor dem deutschen Einmarsch wurde am 28. Januar 1918 in der ostukrainischen Stadt Charkow als Gegengewicht gegen eine anti-sowjetische Ukraine die sowjetische „Donezk-Kriworosch-Republik“ gegründet. Das Gebiet dieser Republik umfasste große Teile der Ost-Ukraine, wie Charkow, Donezk, Lugansk und Cherson.
Im Februar 1919 wurde die Donezk-Kriworosch-Republik auf Initiative Lenins aufgelöst. Die Sowjetmacht in der Ukraine werde – so offenbar das Kalkül von Lenin – nur auf sicheren Beinen stehen, wenn das Industriezentrum Donbass, dass sprachlich und wirtschaftlich mit Russland eng verbunden war, zur „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ gehört. Der proletarische-prorussische Donbass sollte – so offenbar der Plan von Lenin – Bindeglied zwischen der bäuerlichen Ukraine und Sowjetrussland werden.
Bundeswehr sitzt im ukrainischen Verteidigungsministerium
Bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde überdeutlich: Deutschland ist im ukrainischen Bürgerkrieg Konfliktpartei. Die großen deutschen Medien und die deutsche Politik schweigen zur Verfolgung der Opposition in der Ukraine, zum Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa, zu den Morden an Oppositionellen und zur Abschaltung von vier oppositionellen ukrainischen Fernsehkanälen 2021.
Berlin schickte massiv Finanzhilfe in die Ukraine, ohne diese an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen. Seit 2014 wurden von Deutschland 1,8 Milliarden US-Dollar an Wirtschaftshilfen bereitgestellt und „Programme zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Korruptionsbekämpfung in der Ukraine unterstützt“, wie es in einer Stellungnahme der Bundesregierung heißt. „Als Mitglied der Europäischen Union und als deren größter Beitragszahler hat Deutschland die ukrainische Regierung seit 2014 mit 17 Milliarden Euro finanziell unterstützt.“
Weit fortgeschritten ist die Verzahnung zwischen der Bundeswehr und dem ukrainischen Militär. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrej Melnik, erklärte am 6. Februar 2022 in der ARD-Sendung ‘Anne Will’ überraschend: “Das deutsche Verteidigungsministerium hat seine strategischen Berater in unserem Verteidigungsministerium seit Jahren sitzen und arbeiten und die deutsche Seite ist bestens informiert, was wir brauchen und was wir nicht brauchen.”
Mit seiner Äußerung wollte Melnik klarstellen, dass Deutschland sehr genau wisse, was die Ukraine außer Helmen an militärischem Gerät brauche. Melnik zeigte mit seiner provokativen Äußerung, dass er nicht nur als Diplomat unterwegs ist, sondern auch als Antreiber, welcher der Bundesregierung Nachhilfeunterricht in anti-russischer Politik gibt.
Bisher galt es als offenes Geheimnis, dass Berater aus den USA und Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienst CIA in den ukrainischen Regierungsinstitutionen sitzen. Dass aber die Bundeswehr „strategische Berater“ im ukrainischen Verteidigungsministerium sitzen hat, ist eine Neuigkeit, welche die Bundesregierung wohl gerne unter den Teppich gekehrt hätte.
Werden Asow-Kämpfer in deutschen Krankenhäusern gesund gepflegt?
Wie weit die militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr und der ukrainischen Streitkräfte bis zum Einmarsch der russischen Truppen schon gediehen war, konnte man auf der Website der Bundesregierung nachlesen [14]:
„Innerhalb der militärischen Unterstützung leistet auch die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag zur militärischen Ausbildung und Beratung in der Ukraine. Diese Form der Unterstützung ermöglicht einen intensiven Erfahrungsaustausch. Bisher konnten insgesamt 551 ukrainische Soldaten und Soldatinnen ihre Ausbildung in Deutschland erfolgreich beenden.“
Von dem intensiven Erfahrungsaustausch profitiert auch die strategische Planung der Bundeswehr. Die Erfahrungen der ukrainischen Soldaten, die gegen Separatisten kämpfen, die vermutlich russische Berater haben, sind für die Strategen der Bundeswehr und der Nato von höchstem Wert.
Weiter heißt es in einer Mitteilung der Bundesregierung: „Weitere militärische Unterstützung leistet Deutschland in Form von Sanitätsleistungen.“ Exakte Zahlen nannte [15] das Internet-Portal ntv. „Seit 2019 unterstützt Deutschland daneben den Ausbau des ukrainischen Sanitätsdienstes. Derzeit finanziert Berlin ein Feldlazarett im Wert von 5,3 Millionen Euro. Zudem wurden seit 2014 insgesamt 149 verletzte Sicherheitskräfte aus der Ukraine in deutschen Krankenhäusern behandelt.“
Die aufwendige Verlegung von ukrainischen Soldaten mit einem hochmodernen Lazarett-Flugzeug der Bundeswehr nach Deutschland und die Weiterverteilung der verwundeten Ukrainer auf deutsche Krankenhäuser stieß 2018 zu Recht auf Kritik des Bundestagsabgeordneten der Partei Die LINKE, Alexander Neu, damals Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestages.
Neu fragte 2018 in einem Gespräch mit der Deutschen Welle, ob die Hilfe für die ukrainischen Soldaten unparteiisch ist „oder stellt sie eine Solidarmaßnahme für das Putsch-Regime in Kiew dar? Warum werden keine verletzten ostukrainischen Zivilisten, die es zu Tausenden gibt, behandelt?”
Neu wollte in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung unter anderem wissen, welche der nach Deutschland ausgeflogenen Ukrainer, “in den offiziellen Streitkräften” dienten und “wie viele in den paramilitärischen Bataillonen wie dem faschistischen Asow-Bataillon”. Nach Recherchen [16] des Fernseh-Magazins FAKT waren in den vergangenen Jahren unter den ausgeflogenen Verletzten auch Kämpfer des rechtsradikalen Regiments Asow.
Keine großen deutschen Hilfsorganisationen in den „Volksrepubliken“
Auch finanzielle Hilfen für die Infrastruktur im Donbass strich die Bundesregierung vor dem russischen Einmarsch gerne groß heraus. Doch es wird verschwiegen, dass diese Hilfen nur dem von der Ukraine kontrollierten Nordteil des Donbass zu Gute kam.
Im Dezember 2017 meldeten deutsche Medien, Deutschland unterstütze die Ostukraine mit 2,5 Millionen Euro „Weihnachts-Hilfe“. Die deutsche Botschaft in Kiew teilte auf ihrer Website mit, dass das Geld an die „Caritas Ukraine“ gehen soll, die dann „in den Gebieten Donezk und Lugansk“ humanitäre Hilfe leisten soll. Doch damit war nur der Nordteil der Gebiete Donezk und Lugansk gemeint, die unter Kontrolle von Kiew stehen.
Keine der großen deutschen Hilfsorganisation – weder der deutsche Caritasverband noch das Deutsche Rote Kreuz – sind in Donezk und Lugansk tätig. Die Menschen in dem Teil der „Ostukraine“, der nicht unter Kontrolle von Kiew steht, bekommen auch keinerlei humanitäre Hilfe vom deutschen Staat. Nur einige deutsche privat organisierte Hilfsorganisationen, wie die Berliner „Friedensbrücke Kriegsopferhilfe e.V.“ und das Thüringer Aktionsbündnis „Zukunft Donbass“ organisieren seit 2014 humanitäre Hilfslieferungen in die Volksrepubliken.
Das deutsche Außenministerium sieht diese mit deutschen Spendengeldern finanzierten Hilfslieferungen äußerst kritisch. Raissa Steinigk vom Aktionsbündnis „Zukunft Donbass“ berichtete mir 2017, sie sei vom deutschen Außenministerium angerufen worden. Man habe ihr gesagt, dass sich die ukrainische Botschaft beim deutschen Außenministerium beschwert hat. Das, was „Zukunft Donbass“ tue, sei “illegal”, so die Anruferin aus dem deutschen Außenministerium.
Deutsche Parlamentarier gegen humanitäre Hilfe für Lugansk und Donezk
Jeder Transport mit einem Zwanzig-Tonner, der, organisiert von der Initiative „Zukunft Donbass“, ausrangierte Krankenhausausrüstung aus Deutschland nach Lugansk bringt, kostet 4.000 Euro.
Um die humanitäre Aktion bekannter zu machen und mehr Spender zu gewinnen, hatte Frau Steinigk 2017 Thüringer Bundestagsabgeordnete angeschrieben. Doch keiner der Angeschriebenen machte eine Hilfszusage. Einige Bundestagsabgeordnete hätten ihr ungeschminkt erklärt, sie würden die Hilfsaktion nach Lugansk nicht unterstützen, da Russland der Urheber des Krieges im Donbass sei. Andere Abgeordnete reagierten mit Ausflüchten.
In ihrem Brief an den Thüringer CDU-Bundestagsabgeordnete Albert Weiler bat Raissa Steinigk nicht nur um Unterstützung. Sie äußerte auch Kritik. “Wir, das Aktionsbündnis ‘Zukunft Donbass’ und die Mitstreiter sind satt über Lippenbekenntnisse und die ‘Unmacht’ der deutschen Politiker und freuen uns über die wachsenden Aktivitäten der Kirche in Deutschland.”
Weiler reagierte verärgert. Er antwortete Steinigk: “In Ihrem Schreiben vom 23. Januar 2017 treffen Sie widersprüchliche Aussagen. Auf der einen Seite üben Sie scharfe Kritik an den politisch Verantwortlichen. Andererseits stellen Sie mit Nachdruck Forderungen an mich und meine Kollegen. Ich möchte Sie daher darauf hinweisen, dass ich in dieser Region nicht untätig bin. Ich leiste einen Beitrag zum Friedenserhalt im Baltikum und Osteuropa und werde mich auch in Zukunft weiter stark für die Verbesserung der dortigen Situation einsetzen.” Worin dieser “Beitrag zum Friedenserhalt in Osteuropa” besteht, schrieb Weiler nicht.
Christian Hirte, ebenfalls CDU-Bundestagsabgeordneter aus Thüringen, antwortete auf die Unterstützungs-Anfrage der Initiative „Zukunft Donbass“: “Leider kann ich nicht überall – auch wenn ich die Arbeit und das Ansinnen mit großem Respekt betrachte – eingreifen.” Der Abgeordnete versprach die Anfrage an den Kollegen Karl-Georg Wellmann, Leiter der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe, weiterzugeben.
Doch von Wellmann hat Raissa Steinigk seitdem nichts gehört. Wellmann ist gegenüber Russland als Hardliner bekannt und vermutlich ist ihm die Initiative „Zukunft Donbass“ aus Thüringen suspekt. Im ZDF-Morgenmagazin hatte der Abgeordnete die “Separatisten” in Lugansk und Donezk im Februar 2015 als “Werkzeuge der Russen” bezeichnet. Es gäbe einen “permanenten Zufluss von Munition, von Waffen, von Kämpfern, von Logistik aus Russland.”
Am 24. April 2017 schrieb Raissa Steinigk alle Abgeordneten des Thüringer Landtags, auch Ministerpräsident Bodo Ramelow an. Keiner der Abgeordneten habe geantwortet.
2014 wurden die deutschen Korrespondenten aus dem Donbass abgezogen
Schon 2014 zeichnete sich ab: Je mehr sich die Macht der Separatisten im Donbass festigte, desto weniger waren die Chefredakteure großer deutscher Medien daran interessiert, den faktischen Sieg der Separatisten auch noch durch eigene Berichte zu bestätigen. So verlegte man sich auf das Totschweigen des Donbass. Man wollte offenbar vermeiden, dass es Mitleid für die Menschen in den Volksrepubliken gibt, die unter dem Beschuss ukrainischer Artillerie leiden.
Ein deutscher Mainstream-Journalist hatte immerhin den Mut, die Abwesenheit deutscher Korrespondenten im Donbass öffentlich zu problematisieren. Im Juni 2014 schrieb [17] der damalige Spiegel-Reporter Moritz Gathmann – heute Ressortchef beim Magazin „Cicero“ – im Internet-Portal „Ostpol“, dass die deutschen Korrespondenten das Kriegsgebiet Donbass verlassen hätten. „Nachrichten aus der Ostukraine sind auf die hinteren Zeitungsseiten gerückt, deutsche Korrespondenten sind abgereist.“ Doch lassen wir den Reporter selbst zu Wort kommen:
„Ein lauer Sommerabend auf der Veranda des „Ramada Donezk“ unweit der seit Monaten von Separatisten besetzten Gebietsverwaltung. Man speist T-Bone-Steaks und trinkt Cocktails, aus den Lautsprechern kommt Lounge-Musik.
Auf der Terrasse sitzen polnische Journalisten, Franzosen, Amerikaner und Spanier. Bemerkenswert abwesend sind die deutschen Journalisten: Neben mir sitzt dort Ende vergangener Woche nur noch Stefan Scholl, langjähriger Moskau-Korrespondent für deutsche Regionalzeitungen. (…)
Es ist wenige Tage her, da lieferten sich ukrainische und russische Kämpfer heftige Kämpfe um den Flughafen der Stadt, auch rund um den Bahnhof starben Menschen bei Feuergefechten. Daraufhin gaben ARD und ZDF bekannt, dass sie aus Sicherheitsgründen ihre Teams aus Donezk abziehen. (…)
Wer erfahren will, was im Osten des Landes passiert, der muss momentan auf russischsprachige, englische oder französische Medien ausweichen.“
Die Gefahr für deutsche Journalisten schätzte Gathmann als gering ein.
„Grundsätzlich gilt: Als deutscher Journalist muss man davon ausgehen, sich endlose Tiraden über die falsche Politik Angela Merkels anhören zu müssen. Die Gefahr, im Keller eines selbsternannten „Volksbürgermeisters“ zu landen, ist dagegen gering.“
Seit 1983 bin ich in der Ukraine unterwegs
Ist ein Buch über die Volksrepubliken Donezk und Lugansk nicht zwangsläufig einseitig, wird sich der Leser vielleicht fragen? Ich glaube, ich habe ein ganz gutes Bild von der Ukraine. Ich kenne das Land seit 1983, als ich das erste Mal mit einem Privatauto in der Ukraine – damals als Tourist – unterwegs war. 1992 lebte ich in Kiew zwei Monate in einer ukrainischen Familie. Von da an habe ich die Ukraine regelmäßig besucht. Im Juli 2014 drehte ich in Odessa das erste Material für den Film „Lauffeuer“ [18] über den Brand im Gewerkschaftshaus.
Doch mit diesem Film habe ich es mir mit der Regierung in Kiew verscherzt. Im April 2016 bekam ich im Flughafen von Odessa ein Einreisverbot für fünf Jahre in meinen deutschen Pass gestempelt. Der Grund, sei, so teilte es mir das deutsche Auswärtige Amt mit, dass ich 2015 Donezk von Russland – und nicht wie vorgeschrieben – von der Ukraine aus besucht hatte.
Seit meinem Einreiseverbot habe ich mich weiter intensiv mit der Entwicklung in der Ukraine beschäftigt und immer, wenn es mir möglich war, habe ich in Russland oder Deutschland Interviews mit Bürgern aus der Ukraine geführt. Meist waren es Menschen aus dem Lager der Russland-freundlichen ukrainischen Opposition.
Warum riskierte ich ein Einreiseverbot?
In der Volksrepublik Donezk war ich 2014, 2015, 2017, 2018 und 2020. Immer reiste ich von Russland aus ein. Dabei war ich mir bewusst, dass ich mit meinen Reisen in die „Volksrepubliken“ ein Einreiseverbot in die Ukraine riskiere. Ich habe dieses Risiko auf mich genommen, weil ich fürchtete, dass die ukrainischen Behörden mich wegen meiner kritischen Artikel über den Maidan und meinen Film „Lauffeuer“ nicht in die Volksrepubliken weiterfahren lassen.
Auch fürchtete ich, dass mich ukrainische Nationalisten und Faschisten in der Ukraine auf der Straße anfallen, wie es seit 2014 zahlreichen Oppositionellen in der Ukraine passiert ist. Mehrere ukrainische Oppositionelle wurden seit 2014 ermordet, 2015 der Russland-freundliche Schriftsteller Oles Busina und 2016 der westlich-orientierte, liberale Journalist Pawel Scheremet.
Der mit dem Berliner Dokumentarfilmer Marco Benson, der Video-Gruppe „Leftvision“ und mir gemeinsam produzierte Film „Lauffeuer“ hatte im Internet hohe Zugriffszahlen. Der Film wurde auf zahlreichen Diskussions-Veranstaltungen zur Ukraine im deutschsprachigen Raum gezeigt. Die großen deutschen Medien verschwiegen „Lauffeuer“ allerdings. Im deutschen Fernsehen wurde unser Film nicht gezeigt.
„Öffentlich-rechtliche“ gegen unabhängige Dokumentarfilmer
Doch das war noch eine geringe Strafe für eine wahrheitsgemäße Berichterstattung. Schlimmer erging es dem deutschen Dokumentarfilmer Mark Bartalmai, der zwei Jahre in Donezk gelebt, das Kriegsgeschehen per Video dokumentiert und zwei Dokumentar-Filme gemacht hatte, „Ukrainian Agony – Der verschwiegene Krieg“ [19] und „Frontstadt Donezk – Die unerwünschte Republik“ [20].
Nach seinem ersten Dokumentar-Film über den Krieg in der Ost-Ukraine wurde Bartalmai in den Fernsehsendungen “Fakt” (MDR) und “Frontal” (ZDF) zur besten Sendezeit „Propaganda für Russland“ vorgeworfen. Bartalmai, der bei den Dreharbeiten sein Leben riskiert hatte, wurde dem deutschen Fernsehpublikum abfällig als “selbsternannter Kriegsreporter” vorgestellt. Er habe den Beruf des Journalisten gar nicht erlernt, warfen ihm die Journalisten öffentlich-rechtlichen Kanäle vor. Man fragt sich warum diese Journalisten die Präsidenten der USA und der Post-Maidan-Ukraine – die zuvor Schauspieler, Oligarchen oder Komiker waren – noch nie wegen mangelnder fachlicher Reife kritisiert haben.
Ein Mittel, Kritik an der ukrainischen Regierung in Deutschland zu unterdrücken, war auch, dass man Journalisten und Aktivisten Kontakte mit Reichsbürgern oder russischen Nationalisten vorwarf.
Als Oleg Muzyka – Überlebender des Brandes im Gewerkschaftshaus von Odessa und anerkannter politischer Flüchtling in Deutschland – im Dezember 2015 ein Film-Festival mit Filmen zur Odessa-Tragödie und zum Krieg im Donbass veranstalten wollte, wurde das verhindert. [21]
Berliner „Haus der Demokratie“ cancelt Odessa-Film-Festival
Das Berliner Kino “Babylon” und das Berliner “Haus der Demokratie” zogen anfängliche Zusagen für das Film-Festival zurück. Die Leitung des “Hauses der Demokratie” erklärte in einem Schreiben, das geplante Film-Festival widerspreche den Grundsätzen des Hauses. Festival-Organisator Oleg Muzyka habe Kontakte zu rechtspopulistischen und nationalistischen Gruppen wie den “Reichsbürgern”. Weiter heißt es in dem Schreiben: “Der Grundansatz der von Ihnen geplanten Veranstaltung erscheint uns eher als eine Fortführung des Bürgerkrieges mit diskursiven Mitteln. Damit ist es Teil des Problems und kein Ansatz zur Lösung des Konfliktes im zivilgesellschaftlichen Sinne.”
Eigene Untersuchungen, Analysen und Filme zu den Ereignissen im Odessa und im Donbass hat der deutsche Mainstream seit 2014 nicht vorgelegt. Offenbar ist es ihm ganz recht, dass die Verbrechen der Staatsstreich-Regierung in Kiew größeren Teilen der deutschen Bevölkerung nie bekannt wurden.
In schrecklich trauriger Verfassung fuhr ich am Sonntagmorgen des 25. Juli 2010 mit dem Zug von Dortmund nach Essen. Ich stand noch ganz unter dem Eindruck der von den Medien tags zuvor verbreiteten schockierenden Meldungen:
Am 24. Juli 2010 war die furchtbare Loveparade-Katastrophe in Duisburg geschehen. Die Zahl der Toten war ständig nach oben korrigiert worden. Schließlich stand später fest: Das Unglück hatte 21 Tote und 650 Verletzte gefordert. Im Kulturhauptstadtjahr!
Eigentlich stand mir verständlicherweise nicht der Sinn nach diesem Ausflug nach Essen. Als Blogger wollte ich aber über eine um zehn Uhr anfangende Veranstaltung im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres meines niederländischen Freundes Tjerk Ridder berichten. Es war der Abschluss seine Projektes „Trekaak gezocht!“ („Anhängerkupplung gesucht!“. Alle Autofahrer aus dem Ruhrgebiet, die Tjerks Campingwagen angehängt und ein Stecke weit auf dem Weg, der Tjerk, sein Mitstreiter Peter und Dackel Dachs (inzwischen leider verstorben) von Utrecht aus bis nach Istanbul führen sollte, gezogen hatten, waren als Dank zu einem gemeinsamen Frühstück auf dem Kunstprojekt „The Flying Grass Carpet“, welcher auf dem Willy-Brandt-Platz in Essen „gelandet“ war, eingeladen. Auch meine Wenigkeit. Ich hatte in Abständen über das Projekt berichtet. Auf Readers Edition sowie in der Istanbul Post.
Traurige Gestalten auf dem Essener Hauptbahnhof. Sie hatten also überlebt …
Mit meinem oder vor meinem Zug mussten auch andere Züge angekommen sein. Durchs Bahnhofsgebäude schlurften jedenfalls Gruppen von meist junge Leute beiderlei Geschlechts um die Zwanzig oder auch älter in bunten, schlabberigen Raverklamotten. Die Menschen sahen übermüdet aus. Traurige Gestalten. Die Gesichter grau. Augenringe. Die Haare verwuselt. Manche der Mädchen trugen Netzstrümpfe, die beschädigt waren. Die Kleidung der jungen Männer war teilweise schmutzig. Viele sahen zu Boden. Einige der Leute hatten Bierdosen am Hals, andere Coladosen. Sie mussten – schoss es mir in den Kopf – von Duisburg gekommen sein. Sie hatten also überlebt …
Bald schon nach dem folgenschweren Unglück wurde klar, dass viel schiefgelaufen war. Schon die Planung zu diesem Event hätte eigentlich den damals Verantwortlichen zeigen müssen, dass der Veranstaltungsort vom Sicherheitsstandpunkt her völlig ungeeignet war. Aber die Stadt, Oberbürgermeister Sauerland wollte wohl die Loveparade – gerade auch zu Zeiten des Kulturhauptstadtjahrs in der Stadt haben. Damals war ich ziemlich überzeugt davon, dass im Strafprozess – übrigens eines der aufwendigsten Gerichtsverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte – Verantwortliche eine Schuld an der Katastrophe nachweisen und sie entsprechend bestrafen würde.
Doch es dauerte nicht lange und die Hoffnungen, dass dergleichen geschähe, starben eine nach der anderen.
Schließlich im Mai dieses Jahres ging dieses Gerichtsverfahren nun allerdings – ohne (!) Urteil – zu Ende.
Ein Schlag ins Gesicht für Betroffene und Angehörige der Opfer! Das Urteil erging zweieinhalb Monate vor Ablauf der absoluten Verjährungsfrist für fahrlässige Tötung, die am 27. Juli 2020 gegriffen hätte, zehn Jahre nachdem das letzte Opfer der Katastrophe im Krankenhaus verstorben ist.
Wegen der Corona-Maßnahmen war das Verfahren Mitte März 2020 unterbrochen worden. Am 7. April hatte das Gericht vorgeschlagen, den Prozess einzustellen. Es sei nicht absehbar, wann und wie die Verhandlung fortgesetzt werden könne.
Dabei war die zuständige Kammer der Ansicht gewesen, dass man den Angeklagten die ihnen zur Last gelegte Tat nachweisen könne – nur eben nicht bis zum Ablauf der Verjährungsfrist. Ohnehin sei die Schuld der Angeklagten vermutlich gering. Die Staatsanwalt stimmte zu. Und was wunder: Die Angeklagten waren ebenfalls dafür.
Eine Vielzahl von Personen – so das Gericht – habe Fehler gemacht. Ein „kollektives Versagen“ konstatierte man. Zum Schluss wandte sich der Richter mit dieser lapidaren Erklärung an die Angehörigen: „Diese Katastrophe ist eine Katastrophe ohne Bösewicht. Wir haben ihn jedenfalls nicht gefunden.“
Jessika Westen – damals selbst mitten in der Katastrophe hat ein Roman geschrieben, der von Loveparade-Katastrophe handelt
Jessika Westen, Reporterin, Moderatorin und Autorin, hat es gewagt einen Roman zu schreiben, der am Tag der Loveparade-Katastrophe spielt. Der Roman trägt den Titel „DANCE OR DIE. Die Loveparade-Katastrophe“. Dass das Schreiben dieses Buches ein ziemliches Unterfangen gewesen sein muss, kann man sich denken. Aber dieser Tag hat Jessika Westen nicht losgelassen. Und ihr Freund hat ihr Mut gemacht, den Roman zu schreiben. Danke dafür! Dieser Tag hätte sie ohnehin nie losgelassen – er wird sie wohl nie ganz loslassen. Jessika Westen war nämlich Berichterstatterin für den WDR an diesem furchtbaren Tag und aus diesem Grund quasi hautnah am Katastrophengeschehen. Die Diplom-Journalistin hatte selbst – sowohl privat als auch beruflich – an vorangegangen Loveparade-Events teilgenommen und war schon deshalb Feuer und Flamme nun darüber berichten zu können.
Gut recherchiert
Um es vorweg zu sagen: Die Autorin hat es bestens verstanden, alle möglichen Klippen zu umschiffen, die einen einfallen können, hört man, jemand habe einen Roman geschrieben, der von Katastrophen-Loveparade in Duisburg handelt.
Was wohl hauptsächlich damit zu erklären ist, dass sie selbst direkt am Unglücksort und als Reporterin ein Teil des Geschehens war. Und sie kann gut schreiben! Technische und gesundheitliche Details, die Arbeit des Rettungsdienstes und vieles andere mehr hat Westen akribisch recherchiert. Das merkt man als Leser im Grund jeder Zeile im Buch an.
Freilich ist sich wohl jeder Leser vor dem Lesen des Buchs im Klaren darüber, dass es in diesem Roman kein Happy End gibt – gewiss keines geben kann.
Schon beim Eintritt ins Buch tauchen im Kopf des Lesers die Bilder auf, welche man selbst am Tag des Unglücks oder später im Fernsehen sah.
Da fängst es im Kopf schon an zu arbeiten.
Der Roman beginnt mit einem sozusagen mit einem Ausrufezeichen
Und schon das erste Kapitel mit Datum „21. Juli 2010“ und „René“ (S.7) macht klar: Das geht nicht gut. Der Roman fängt sozusagen mit einem unübersehbaren Ausrufezeichen an.
Die zwei Rettungssanitäter, die sich für den Tag der Loveparade zum Dienst gemeldet haben, sehen sich schon einmal drei Tage vorher vor Ort am Veranstaltungsgeländer um. René fragt: „Und die Rampe ist wirklich der einzige Eingang?“
„Ja, ich glaub schon. Und auch der Haupt-Ausgang“, antwortet der Kollege.
Die Romanhandlung steigert sich wie ein kleiner Schneeball zur alles zerstörenden Lawine wird – zur schrecklichen Tragödie
Der Roman geht langsam an. Und doch ist es gleich, als ob sich schon ein schwacher, aber doch spürbarer Wind aufmacht. Wolken ziehen allmählich auf. Aber noch kein Grund zur Unruhe. Wenn da nur nicht das im Hirn gespeicherte Wissen des Lesers wäre! Und das Ausrufezeichen vom ersten Kapitel. Von Mal zu Mal steigert sich der Wind. Bis er letztlich zum gefährlichen Sturm anwächst, der alles durcheinanderwirbelt und zerstört, was er erfassen kann.
Oder man stelle sich den Fortgang der Romanhandlung als einem zunächst kleinen Schneeball vor, der immer weiter rollt, unaufhaltsam größer und größer wird, so dass aus ihm eine gefährliche Lawine wird, die alles niederwalzt, was ihr in Weg kommt. Der Leser selbst ist mitgerissen. Allerdings ist diese Vorstellung wohl – um das verhängnisvolle Geschehen zu verdeutlichen . weniger geeignet. Obgleich es einen am Romanende die Tränen zu Eis frieren lässt. Das Buch selbst lässt keinen kalt.
Ich schäme mich nicht zu sagen, an bestimmten Stellen des Romans Tränen vergossen zu haben. So emotional, dass beinahe persönlich die Tragik zumindest nachspürbar wird, hat Jessika Westen ihr Buch, basierend auf den Ereignissen des Schreckenstages im Juli 2010 verfasst.
Das berührt das Herz so stark, dass es sich zusammenkrampft. Gleichzeitig schießt einem Tränenflüssigkeit in die Augen, die man zurückhalten möchte, dann aber doch fahren lässt.
Man meint mittenmang im Geschehen zu sein. Wie hätte man wohl selbst reagiert? Im panischen Gedrängel der Menschen, die sich zu Menschenknäuels verkeilen – unmöglich für die Einzelnen eingequetschte Hände oder Füße, die vielleicht auch noch gebrochen sind, zu bewegen, geschweige denn freizubekommen.
Zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder zitierte Originalfunksprüche
Auf Seite 78:
„Wedau 44 an die eigenen Kräfte:
Auf der Westseite im Bereich Düsseldorfer Straße.
Karl-Lehr-Straße fallen die ersten Zäune.
Liegt wohl daran, dass der Tunnel dicht ist
und die Leute nicht weiterkommen.
Das nur zur Kenntnis. Dass wir da nicht ins Getümmel geraten.“
Der Romanhandlung wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Aus der von René, Katty und Emma. René ist ein Rettungssanitäter. Katty eine Abiturientin, die das Leben noch vor sich hat. Emma ist die Live-Reporterin des WDR, die mit mehreren Schalten die Situation vor Ort schildert. Also die Autorin des Buches selbst, Jessika Westen.
Die Situation spitzt sich unaufhaltsam zur Tragödie zu. Wie ein zunächst anscheinend harmloser Wind zum wütenden Sturm wird, erleben wir Leser eigentlich hautnah. Ein Sturm, der eine Verheerung sonst dergleichen anrichtet. Der einst unscheinbare Schneeball ist zur alles niederwalzenden Lawine angewachsen und verletzt und tötet eiskalt.
Das Ende kennen wir aus den Nachrichten und Sondersendungen des Fernsehens von damals. Und doch sind wir geschockt, als wären wir ganz neue in das tragische Geschehen eingetaucht. Wir leiden mit den in höchster Lebensgefahr befindlichen Menschen auf der Loveparade. Schockiert ergreift uns das Grauen – wir zittern. Wir können uns vorstellen, wie den Eltern zumute ist, deren Sprösslinge dorthin gegangen sind, um Spaß zu haben. Nachdem sie aus den Nachrichten von dem Unglück erfahren haben, aber vergeblich versuchen ihre Kinder per Handy zu erreichen. Wenn wir lesen, wie Schuhe, Sonnenbrillen und andere Utensilien, welche die Besucher der Loveparade von den Rettungskräften gefunden werden, läuft es uns eiskalt den Rücken herunter.
Ich musste dabei unweigerlich an ein Erlebnis aus der Kindheit in meiner Heimatstadt Halle an der Saale denken. Ein Straßenbahnunglück war in der Nachbarschaft geschehen. Der Triebwagen des Straßenbahnzuges war entgleist. Im Asphalt der Straße hatten sich Räder der tonnenschweren Straßenbahn hineingeschnitten. Ein Kind hatte man auf eine Obstkiste, die offensichtlich aus dem nahen Obst- und Gemüsegeschäft geholt hatte, abgelegt. An einer Decke, das über das Kind gebreitet war, rote Flecke. War das Blut? Lebte das Kind noch? Ich zitterte, dorthin starrend, wie Espenlaub und konnte doch mein Blick aus gebotener Entfernung nicht von dem Kind und der entgleisten Trambahn wenden. Von weiten kam ein Barkas-Krankenwagen mit Sondersignal und flatternder Rotkreuzflagge angerast …
Sach- und fachgerecht geschrieben
Jessika Westen – ein großes Lob dafür! – hat für ihr Buch sorgfältig recherchiert und für technische Einzelheiten, betreffs Fachbegriffen und verwendeter Codes, die bei Rettungseinsätzen bestimmte Lagen kennzeichnen sowie über spezielles medizinisches Wissen und die Arbeit des Rettungsdienstes sowie der Polizei Expertenrat eingeholt. Am Ende des Buches bedankt sie sich bei den Experten. Mir ist da im ganzen Buch – soweit ich das beurteilen kann – kein Fehler unterkommen. Alles sach- und fachgerecht! Das ist wahrlich nicht bei jedem Buch so.
Jessika Westen ist ein sehr einfühlsam geschriebener Roman gelungen. Dem ein großes Publikum zu wünschen ist. Zumal das Gerichtsverfahren nun eingestellt ist. Und die Angehörigen der Opfer aus mehreren Staaten des Auslands sowie Deutschland traurig und enttäuscht zurückgelassen worden sind. Und niemand für offenkundig gemachte Fehler zur Verantwortung gezogen worden ist. Wie hatte der Richter noch gesagt: „Diese Katastrophe ist eine Katastrophe ohne Bösewicht. Wir haben ihn jedenfalls nicht gefunden.“ Nicht hinnehmbar. Oder soll man Corona auch dafür verantwortlich machen – wie es später wohl für eine wirtschaftliche Katastrophe, die schon vorher anrollte, als Schuldige vors Loch schieben wird – weil der Prozess deswegen im März gestoppt werden musste und wegen der Unterbrechung in Kürze die Verjährung drohte? Den Hinterbliebenen der Opfer und die schwer traumatisierten Menschen, die das fürchterliche Unglück überlebten, kann das weder Trost sein und schon gar nicht zur Entschuldigung dienen.
Emons schreibt über Jessika Westen u.a.: „Sie sprach mit Verletzten, Traumatisierten und hatte Einblicke in anwaltliche Unterlagen. Entstanden ist ein Roman mit emotionaler Tiefe, der ungemein berührt und niemanden kaltlässt.“
Der Buchtitel „DANCE OR DIE“ ist dem Namen einer gleichnamigen electronic Band entlehnt. Treffend! Ach ja: Lesen, liebe Leute – unbedingt lesen und weiterempfehlen!
Das Buch
Jessika Westen
DANCE OR DIE
Die Loveparade-Katastrophe. Ein Roman
Klappenbroschur
13,5 × 20,5 cm
ca. 320 Seiten
ISBN 978-3-7408-0887-7
Preis: Euro 16,00 [D] , 16,50 [AT]
Die Autorin
Jessika Westen
Die Autorin Jessika Westen. Via Emons Verlag.
Jessika Westen ist Nachrichtenmoderatorin bei ntv und Reporterin für den WDR. Die Diplom-Journalistin wurde für ihre »herausragende Leistung« als Live-Reporterin von der Loveparade-Katastrophe in Duisburg bei der Verleihung zum »Axel-Springer-Preis für junge Journalisten« geehrt. Im Nachgang zum Unglück berichtete Jessika Westen regelmäßig für den WDR über die Zusammenhänge und Ursachen, die zu dem tödlichen Gedränge geführt haben. Zwischen 1998 und 2007 war Jessika Westen selbst insgesamt acht Mal auf der Loveparade, sowohl privat als auch beruflich.
Wagner? Oh Gott, mag da ausgerufen werden. Ist nicht über Richard Wagner schon genug Papier beschrieben worden? Mag sein. Doch eines ist ebenso klar: An der Person Richard Wagner ist eben nicht so leicht vorbeizukommen. Um ehrlich zu sein: Überhaupt nicht. Erst recht am Komponisten Richard Wagner. Denn was wäre die Musikgeschichte und deren Entwicklung nach ihm ohne den genialen Tondramen-Schöpfer, den revolutionären Tondichter?
Da haben wir es wieder: Ist eine durchaus kritisch zu sehende Persönlichkeit in diese und den ihr wohnenden genialen Künstler zu trennen? Glasklar wohl kaum. Schließlich entspringt das Geniale der Kunst aus dem Inneren, dem Geist dieser Persönlichkeit und seinen Ansichten, die sich Laufe des Lebens in ihm herangebildet haben bzw. von ihr eventuell auch wieder verworfen worden sind. Wir haben es auch heute noch und werden es wohl auch künftig immer wieder mit Persönlichkeiten in Kunst und Kultur zu tun (haben), wo sich diese Frage stellt. Man denke nur dabei an die Filmregisseure Roman Polański oder Woody Allen.
Moshe Zuckermann nahm die Herausforderung an, sich an Wagner zu versuchen
Die Frage, ob es nicht „schon genügend Historisches, Politisches, Musikologisches und Kunstphilosophisches, Ideologiekritisches und Polemisches, Bewunderndes und Gehässiges, Musiktheoretisches und Feuilletonistisches über dieses kontroverse Genie geschrieben und zusammengetragen worden?“ (S.7) hat sich auch Moshe Zuckermann gestellt. Und bejaht. Dennoch hat der Soziologe die Herausforderung angenommen, „sich an diesem ‚Thema‘ ein weiteres Mal versuchen zu wollen“. Gut so. Es lohnt sich deshalb unbedingt sein neues Buch „Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis“, das in Form eines Essays verfasst ist, aber, wie Zuckermann anmerkt, „mithin keine stringente wissenschaftliche Darstellungsweise“ beanspruche, zu lesen.
Wer war Richard Wagner?
Schließlich hat so mancher ein bestimmtes Wissen von Richard Wagner im Kopf, das er entweder sich selbst erarbeitet hat oder durch einseitige Schriften übergeholfen bekam. Auf der einen Seite gibt es da die verbissenen Wagnerianer, die nichts auf ihren Helden kommen lassen und jede einzelne Szene, jeden einzelnen von ihm gesetzten Ton auf das Vehementeste verteidigen. Und andererseits seine Kritiker – ja Verächter, die in ihm hauptsächlich einen schlimmen Antisemiten sehen. Das wird nicht selten auch Opernbühnen ausgetragen. Wo das heutzutage weit verbreitet
auftretende Regie-Theater schon manches Mal seltsame Blüten treibt und kalkulierte Skandale verursacht.
„Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher
Ein Beispiel hier nur, was auch Zuckermann in seinem Buch erwähnt:
Da erschien vor Jahren in einer Inszenierung von Burkhard C. Kosminiski an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Richard Wagners „Tannhäuser“ als Nazi-Verbrecher – inklusive Gaskammern auf der Bühne. Burkhard C. Kosminski (vom Schauspiel kommend) „hatte für seine erste Operninszenierung die sagenhafte Handlung um „Tannhäuser“ im Venusberg und den Sängerkrieg auf der Wartburg in der Zeit des Nazi-Regimes und der frühen Bundesrepublik angesiedelt – und damit den Antisemitismus des Komponisten und dessen Einfluss auf die Nazi-Ideologie thematisiert“, wie seinerzeit der SPIEGEL schrieb.
Und weiter:
„Während der berühmten „Tannhäuser“-Ouvertüre sinken nackte Darsteller in einem Kreuz aus gläsernen Würfeln, die sich mit Nebel füllen, zu Boden. Der Venusberg, bei Wagner Ort der hedonistischen Liebe, wird zum Schauplatz einer brutalen Erschießungsszene. Venus in Nazi-Uniform und ihre SS-Schergen ermorden eine Familie und zwingen „Tannhäuser“ dazu, ebenfalls zu töten.“
Nicht selten, merkt Moshe Zuckermann im Buch an, ist der Skandal von vornherein eingeplant – vor allem in Bayreuth. Regisseure werden da ab und an gewiss auch unter diesem Gesichtspunkt eingekauft. Dazu kommt noch das übliche Theater des Wagner-Clans und schon beißt die Presse an und zu – hat ihre Skandal. Das Publikum buht oder verlässt gar laut die Türen schlagend den Wagner-Tempel auf dem Grünen Hügel …
Da könnte ein wenig gut bis gar nicht unterrichtetes Publikum oder Medienkonsument*innen gar auf die Idee kommen, Richard Wagner sei ein Weggeführte von Adolf Hitler – der beim Wagner-Clan aus- und einging – gewesen. Dessen Lieblingskomponist er war. Dabei starb Wagner „im Jahre 1883“, worauf Zuckermann hinweist (S.140), „also volle sechs Jahre vor Hitlers Geburt“.
Wagners Wandlung vom linken Revolutionär zum latenten Antisemiten
In Moshe Zuckermanns Buch werden wir Leser*innen umfassend über den Werdegang Richard Wagners in Kenntnis gesetzt. Wir erfahren auch, wie Zeitgenossen über ihn dachten und schrieben, bzw. später über ihn geschrieben wurde. Und wir lesen von der Wandlung Wagners vom linken Revolutionär (1848) zum angepassten Königstreuen und latenten bis zuweilen erbitterten Antisemiten. Was in sich in überlieferten persönlichen Papieren bis hin zu Wagners Schriften und Opern verfolgen lässt.
Nichtsdestotrotz meint Moshe Zuckermann: „Richard Wagner war kein geistiger Wegbereiter des deutschen Nationalsozialismus.“
Zuckermann gibt zu bedenken (S.12):
Ein geglücktes 1848 hätte – pauschal ausgedrückt – einen Rückzug in die ‚deutsche Innerlichkeit‘ im Sinne einer Flucht aus dem Leben in die Irrationalität, ins Mystische, in Kunst um der Kunst willen‘ als Ideologie, hätte Bismarck, vielleicht gar Hitler unwahrscheinlich gemacht. Eine erfolgreiche Revolution 1848 hätte Deutschland vermutlich auf den demokratischen Pfad geführt und einem Heine gehuldigt. Deutschland konnte Wagner als Hohepriester deutschen Geistes feiern.“
Zuckermann fragt sich jedoch (S.13 oben): „Aber stimmt das so? Kann dies apodiktisch behauptet werden? Was Heine angelangt, gewiss. Bei Wagner liegen die Dinge weitaus komplizierter.“
Auch, ist sich der Autor sicher, sei Wagner heute kein deutsches Ärgernis mehr. Die einzigen, die sich noch um ihn kümmerten und ihn hin und wieder als Ärgernis inszenierten, seien die Regisseure; sie würden dafür zumeist ausgebuht werden. Wie etwas weiter oben bereits beschrieben.
In Israel wird das Werk Wagners nach wie vor boykottiert. Das hat Gründe
Interessant gewiss auch das letzte Kapitel des Buches „Wagner in Israel oder Die Wonnen der Ignoranz“ (S.121).
Wagner dort aufzuführen ist wegen des seit Staatsgründung eingehaltenen halboffiziellen Wagner-Boykotts, „welcher die Nichtaufführung von Wagner-Musik in Israel zur normativen Auflage für alle Orchester des Landes hat werden lassen“ stets verunmöglicht worden. Nicht „ideologiekritische Fragen und Bedenken (die man gegen Wagners kontroverses künstlerisches Werk gewiss anführen kann), welche das öffentliche Verhältnis Israels zu diesem Werk und Person nach nach zu einem die israelische Shoah-Erinnerung bedienenden, quasi-staatlichen kulturellen Symbol gerannen“, seien allerdings der Auslöser dafür gewesen.
Zuckermann (S.125): „Das darf stutzig machen: In einem Land, das ganze sieben Jahre nach Auschwitz einen offiziellen ökonomischen Vertrag mit dem von ihm selbst als solches apostrophierten ‚anderen Deutschland‘ abschloss, mithin gleich zu Beginn seines staatlichen Bestehens die Materialisierung der Sühne etablierte; in einem Land, das knappe zwanzig Jahre nach der Vernichtungskatastrophe (aus nachvollziehbaren praktischen Gründen) volle diplomatische Beziehungen mit dem Urheberland der Katastrophe einging; in einem Land, in dem viele seiner infrastrukturellen Gebilde, Institutionen und großen zivilen wie militärischen Anschaffungen durch deutsches Kapital finanziert werden (…)“
Da sei eben ein 1883 verstorbener Komponist zum halboffiziellen Symbol dieser Beziehung avanciert.
Da werde eben verständlicherweise argumentiert – was auch nicht wegdiskutiert werden sollte, meint Zuckermann) mit der notwendigen Rücksichtnahme auf Gefühle und Empfindlichkeiten von Shoah-Überlebenden.
Allerdings weist der Autor darauf hin, dass es an der Zeit sei, „dass man aufhört, Shoah-Überlebende als monolithischen Block mit einheitlich gebildeten Empfindungen und homogen geformten Willen wahrzunehmen“. Weiter: „Manche Shoah-Überlebende werden Wagners Kunst (aus welchem Grund auch immer) hassen, andere mögen sie bewundern, die meisten dürfte sie mehr oder minder kalt lassen. Für Shoah-Überlebende, die außerhalb Israels leben, ist Wagner schlicht kein Thema.“
Das „Verbot aufrechtzuerhalten (selbst wenn es aus dem Munde von Shoah-Überlebenden kommen sollte), nichts anderes als eine weitere Etappe auf dem langen Weg der Ideologisierung des israelischen Shoah-Gedenkens“, stellt Moshe Zuckermann fest.
Wagner wird also schlicht als „Symbolwert“ gebraucht (S.129). Ein Aufbruch – ein Umdenken – sei nicht gewollt: „Zu viel steht auf dem Spiel – das gesamte, über Jahrzehnte gepflegte Shoah-Gedenken Israels müsste überdacht werden. Zu viele Menschen, zu viele Institutionen sind daran interessiert, dass dem nicht so werde.“
Zuckermann gesteht aber zu: „Wagner war ohne Zweifel einer der obsessivsten und (gemessen an seiner Zeit) gefährlichsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts. Das sollte man auf keinen Fall verharmlosen, aber eben auch nicht außer Proportion geraten lassen.“
Es reiche schon, was er realiter war und in seiner Lebenszeit als Antisemit anrichtete; ihn aber zum Vorreiter der Ideologie des ‚Dritten Reiches‘, gar zum gesinnungsverbündeten Verkünder des von den Juden verbrochenen Völkermordes hochzudeuten (…)“, ginge zu weit.
Zuckermann kann sich vorstellen, „dass mit dem Jahrzehnte währenden Boykott kein genuines Shoah-Gedenken, sondern, ganz im Gegenteil, dessen farcehafte Verhunzung gefördert wurde (S.136). [Mit] „dem Erhalt der Boykott-Ideologie würden wohl „ganz andere, schwerer lastende Probleme als die Aufführung oder Nichtaufführung von Musik eines Tonsetzers aus dem 19. Jahrhunderts abzudecken trachten“.
Wagner? Wagner!
Wagner? Oh Gott muss nach Moshe Zuckermann bravourös geschrieben Essay niemand ausrufen, finde ich. Noch einen Wagner-Buch unter vielen also? Warum nicht – es wird seinen Platz finden. Leser*innen, die vielleicht nicht gerade zu den großen Wagner-Kennern gehörten bzw. verwirrt sind durch das, was man ihnen bislang über den großen Tonsetzer nahebrachte, erfahren über das kenntnisreich geschriebene Buch viel interessantes. Nach Lektüre des neuen „Zuckermanns“ – ich muss zugestehen, ein Fan von ihm zu sein – ist man auf jedenfalls um einiges klüger worden. Man sieht klarer. Ein Skandal stellt dieser Wagner wohl heute eigentlich nur noch auf der Bühne dar, wenn sich Vertreter*innen des Regie-Theater an ihm vergreifen. Und das ist durchaus gewollt. Mögen die Wagnerianer auch noch so sehr im Dreieck springen.
Moshe Zuckermann während einer Veranstaltung in Dortmund (Archiv).
Zum Grappa, dem aus Italien stammender Tresterbrand, kam ich relativ spät. Und lernte ihn schätzen. Krimis begeisterten mich indes schon sehr früh. In Romanform, als Hörspiel und auch in Filmen im Fernsehen rezipierte ich Krimis regelmäßig. Heutzutage macht sich betreffs letzterem Mediums allerdings schon ein gewisser Überdruss breit. Zumal unterdessen gefühlt das halbe TV-Programm nur noch aus Krimikost besteht.
Polizeireporterin Maria Grappa, die Kultermittlerin aus Bierstadt
Von Maria Grappa, der Bierstädter Kultermittlerin, einer Polizeireporterin, hörte ich bereits Anfang der 1990er Jahre hin und wieder. Es war die Zeit, da hierzulande vermehrt Lokalkrimis in Mode kamen und immer öfters mit zunehmenden Vergnügen gelesen wurden. Des Lokalkolorits wegen. Die Leser*innen liebten es halt, die eigene Stadt oder unmittelbare Region in den Krimis wiederzuerkennen. Oder sogar bestimmte Personen der Zeitgeschichte, welche darin auftraten. Den ersten dieser im Grafit Verlag erschienenen Lokalkrimis – in diesem Fall geschrieben von der Dortmunder Schriftstellerin Gabriella Wollenhaupt – mit der von ihr geschaffenen Romanheldin Maria Grappa – erschien bei Grafit in Dortmund schon 1993. Doch viel später erst las ich meinen ersten „Grappa“. Wie das eben so ist: immer kommt einen irgendetwas dazwischen. Und die Jahre gehen dahin.
„Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt, in Grappa und der Sonnenkönig stellt sie zum 29. Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz hat die Autorin weitere Romane geschrieben, zuletzt Schöner Schlaf.
Nach drei Jahrzehnte senkt sich sozusagen der Vorhang für die erfolgreiche Krimireihemit Deutschlands dienstältester Kriminalromanheldin
Und nun senkt sich mit Ein letzter Grappa sozusagen schon der Vorhang für die Wollenhauptschen Grappa-Krimis. Es ist der Dreißigste in dieser wirklich legendären Erfolgsreihe um die Kultermittlerin Maria Grappa. Verständlich, wenn da bei den Fans der „Grappas“ Wehmut aufkommen wird. Nach drei Jahrzehnten im Beruf der Polizeireporterin beim „Bierstädter Tageblatt“ verabschiedet „sich Deutschlands dienstälteste Kriminalromanheldin“ – so der Verlag – in den wohlverdienten Ruhestand. „Das heißt“, so der Emons Verlag, „dass wir die schlagfertige, streitlustige Polizeireporterin nur noch ein letztes Mal dabei begleiten dürfen, wie sie sich mit ihren Widersachern anlegt.“
Wer es noch nicht wusste: „Bierstadt“ ist das Synonym für Dortmund. Eine Bierstadt ist Dortmund wirklich tatsächlich einst gewesen. Ich erinnere mich noch an die Schilder auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofs Dortmund: „Dortmund – Bierstadt Nummer eins in Europa“. Es war einmal. Lang ist’s her …
Übrigens, ich weiß nicht, ob Sie, liebe Leser*innen, es schon wussten – ich jedenfalls nicht: Bierstadt gibt es es wirklich. So heißt ein 1928 nach Wiesbaden eingemeindeter Ortsbezirk von Wiesbaden (hier).
„Bierstadt“ lieferte der Schriftstellerin Stoff en masse
Dass Gabriella Wollenhaupt Dortmund in ihrem Grappa-Romanen zu Bierstadt werden ließ, muss eine geniale Idee genannt werden. Lokalkolorit hatte die Autorin ja praktisch ständig um sich herum. Sie befand sich mittendrin in der Ruhrpottstadt, wo ein Menschenschlag zuhause ist, der das Herz an der rechte Stelle hat, mit dem man schnell warm wird. Wo die Leute aber auch sehr direkt sein können und aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. Und Geschichten und Skandälchen ließen sich auch ohne große Mühe sozusagen immer wieder in „Bierstadt“ einfangen und auf die eine oder andere Art und Weise für einen fesselnden Krimiplot – pardon: zu verwursten . Und an markanten, mehr oder weniger schillernden Zeitgenossen war ja gewiss und über die Jahre auch kein Mangel. Wollenhaupts Redakteurstätigkeit beim WDR (es gibt ein Lokalstudio des Senders in Dortmund) dürfte ihr ebenfalls zugute gekommen sein, wenn es darum ging, Stoff für Storys aufzutun.
Maria Grappa lässt sich auch diesmal nicht die Butter vom Brot nehmen – auch wenn es diesmal brenzlig wird
Die Leser*innen liebten Wollenhaupts „Grappas“. Und ich verspreche, sie werden auch den letzten Grappa lieben und – gefesselt von der spannenden und gleichzeitig unterhaltsamen Kriminalgeschichte – bis zur letzten Zeile verschlingen. Denn auch für freche Sprüche hat die Autorin in gewohnter Weise gesorgt.
Wer Maria Grappa kennt, weiß, dass sie nicht auf den Kopf gefallen ist. Und sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt. Die Polizeireporterin ist einmal mehr schlagfertig und streitlustig – egal ob sie Kolleg*innen, ihren Chef, die Polizei oder eine Staatsanwältin vor sich hat. Dabei wird es für die Grappa diesmal sogar ziemlich brenzlig: Sie wird nämlich mit einem brutalen Mord an einem hohen Polizisten in Verbindung gebracht. Doch damit nicht genug: Auch sie selbst wird mit dem Tode bedroht.
Es geht diesmal richtig ans Eingemachte. Lokalkolorit garantiert. Dortmunder Leser*innen sind klar im Vorteil
In diesem „Grappa“ geht es richtig ans Eingemachte. Da bleibt keine Auge trocken. Wohl schon gar nicht das „Triefauge“ des Innenministers, der ein ums andere Mal – wir kennen das zur Genüge – vor den TV-Kameras wieder einmal ein noch konsequenteres Durchgreifen gegen kriminelle arabische Großfamilien verspricht. Und ausgerechnet mit einen dieser – in dem Fall – tausende Personen umfassenden kriminellen arabischen Clan bekommt es Maria Grappa zu tun. Und als dieser Grappa mörderisch ins Laufen kommt, sieht sich die Polizeireporterin auch noch mit dem nicht weniger gefährlichen Neonazimilieu konfrontiert, das in einem bestimmten Stadtteil zu ihrem Kiez, dem „Nazikiez“, auserkoren hat. Einem Neonazimilieu, dass es trotz engagierter Demokraten, versammelt in ein von einem Dortmunder „Bündnis gegen rechts – das regelmäßig auf die Straße geht, tatsächlich (noch immer) gibt. Dortmunder Leser*innen sind freilich klar im Vorteil. Wenn im Krimi etwa die Rede von „SS-Eddi“ ist. Oder einem – wie ich es einmal ausdrücken möchte – einstigen und dann bei weiterer Zahlung seiner Bezüge bis zur Pension von der Stadt gefeuertem „Oberfeuerlöscher“, einst SPD-Mitglied, der sich munter in der braunen Szene tummelt.
Die Autorin richtet ihren Scheinwerfer, getragen von journalistischer Erfahrung, auf brandaktuelle Themen der Gesellschaft
Gabriella Wollenhaupt richtet in ihrem Krimi ihren Scheinwerfer auf reale Probleme der Gesellschaft und nimmt eine brandaktuelle Thematik in den Fokus. Das alles aus dem Auge der erfahrenen Journalistin heraus in Worte gefasst, was ein Pfund der Autorin darstellt, mit dem sie ordentlich zu wuchern versteht. Immer ohne hinter dem Berge zu halten, Ohne eine falsch verstandene Political correctness zu reiten, die heutzutage m.E. in bestimmter Hinsicht mehr Schaden anrichtet,als dass sie zum Nutzen der Gesellschaft gereicht. Maria Grappa ist immerhin dennoch um Neutralität bemüht. Wenn man so will: ein Sagen, was ist. Ohne dabei oberlehrerhaft zu werden. Immer unterfüttert mit einem hohen Maß an Humor, viel Situationskomik und verbalem Schlagabtausch mit Schmackes. Die Spannung wird bis zu Schluss gehalten.
Was soll ich sagen?
Lesen! Weiter empfehlen. Darauf einen Grappa! Und dank für dreißig unterhaltsame Krimis mit Maria Grappa als Kultdetektivin.
Ich denke, die Wollenhaupt-Fans werden irgendwann wieder etwas aus der Feder der Dortmunder Autorin zu lesen kommen. Dafür gibt es Anhaltspunkte. Allerdings sicher kein „Grappa“.
Der Emons Verlag zum Buch:
„Das Buch: Bierstadt: Auf den Straßen herrscht Krieg zwischen Anhängern eines arabischen Clans und der Neonazigruppe ›Sturmbund 18‹. BKA und Verfassungsschutz fahren eine Null-Toleranz-Strategie – mit mäßigem Erfolg: Trotz vermehrter Festnahmen tauchen die eigentlichen Drahtzieher immer rechtzeitig ab. Gibt es eine undichte Stelle innerhalb der Ermittlungsbehörde? Reporterin Maria Grappa recherchiert die Hintergründe des Konflikts und ist dabei um Neutralität bemüht. Bis von ihrem Mail-Account aus Botschaften verschickt werden, die sie mit einem brutalen Mord an einem Polizisten in Verbindung bringen …“
In diesem Blog werden montags selbst verfasste Gedichte veröffentlicht und je nach Anlass Gedanken übers Zeitgeschehen festgehalten. Im Ganzen behandelt der Blog Ansichten und Eindrücke über Politik, Gesellschaft, Alltag, Liebe und (Pop-)Kultur. Respekt, Hoffnung, Nachdenklichkeit, Friedensfähigkeit und Menschlichkeit werden diesen Blog kennzeichnen.