Kaputter, teurer, tot: Deutsche Bahn soll weiter sparen

Marode und unzuverlässig: Die Deutsche Bahn ist eine Katastrophe. Mehr investieren? Fehlanzeige. FDP-Minister Wissing will weiter sparen: Zehntausende Mitarbeiter soll das Unternehmen entlassen, weitere Strecken stilllegen und die Preise hochschrauben. Hauptsache, die Vorstandsboni fließen.

Von Susan Bonath

An kaputte Toiletten und Klimaanlagen, Standardverspätungen und spontane Zugausfälle hat sich der deutsche Bahnfahrer längst gewöhnt. Mal fehlen Lokführer, mal fahrbereite Züge, ein andermal kann die Bahn ihre veralteten Stellwerke nicht besetzen. Viele Gleise sind marode, im Winter frieren Weichen zu, aber das Personal fehlt, um solche Havarien zeitnah zu beheben. Immer wieder bleiben Züge liegen und versperren die Strecken. Wer auf dem Land kein Auto hat, ist aufgeschmissen. Das ist Alltag in Deutschland.

Der Staat müsste hier viel Geld in die Sanierung der maroden Bahn investieren. Doch das Verb „sanieren“ hat in Deutschland offensichtlich eine andere Bedeutung: weiter sparen – an Personal, Zügen und Strecken beispielsweise, dies bei gleichzeitiger Anhebung der schon jetzt horrenden Preise und wohl auch der Millionenboni der Vorstände. So jedenfalls sieht es ein geplantes „Sanierungskonzept“ vor.

Stellenabbau und Preiserhöhung

So sagte kürzlich ein nicht genannter Regierungsvertreter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass Politik und Unternehmen „weitere Kostensenkungsmaßnahmen“ planen, weil die Deutsche Bahn zuletzt 1,2 Milliarden Euro Verlust gemacht habe. Das lässt nichts Gutes erahnen.

„Eine dreijährige Umstrukturierung des gesamten Unternehmens ist in Arbeit“, führte der Politiker aus und ergänzte Erwartbares: Der zuvor angekündigte Stellenabbau reiche dafür wohl nicht aus. Im Juli war von 30.000 wegfallenden Jobs in den nächsten fünf Jahren die Rede – neun Prozent der gesamten Belegschaft.

Überdies plane die Regierung, einige Fernverbindungen zu streichen und, man konnte es erwarten, die schon jetzt überteuerten Ticketpreise insbesondere im Fernverkehr weiter zu erhöhen. So solle die Bahn den Verlust ausgleichen und wieder Gewinne erzielen. Denn es sei, so der Regierungsvertreter, zuletzt sehr viel Geld in Reparaturen des Schienennetzes geflossen. Das gelte es zu kompensieren.

Böse Streiks und „schlechtes Wetter“

Um zu wissen, dass diese Reparaturen weniger mit grundlegender Sanierung zu tun hatten als mit Notmaßnahmen, damit Züge überhaupt noch rollen konnten, muss man als regelmäßiger Fahrgast kein Experte sein. Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) kritisiert seit langem das marode Netz.

Doch damit nicht genug: Der anonyme Politiker führte als weitere Gründe für die finanziellen Verluste die Bahnstreiks in der jüngeren Vergangenheit ins Feld, überdies – auch das war zu erahnen – das unvermeidliche „schlechte Wetter im ersten Halbjahr“. Die Existenz von Wetter ist bekanntlich seit langem eine der beliebtesten Ausreden der Deutschen Bahn für Pleiten, Pannen und Zugausfälle.

Um es kurz zusammenzufassen: Die Bahn ist marode, kommt regelmäßig zu spät und fällt aus, weil es an Lokführern, Stellwerks- und Wartungspersonal fehlt. Und ihr „Sanierungsplan“ sieht als „Lösung“ vor, weitere zehntausende Arbeitsplätze abzubauen und weitere Verbindungen zu kappen.

Kosten runter, Rendite rauf

Dass ein Staat in öffentliche Daseinsfürsorge investieren muss, wenn er solche denn bereitstellen möchte, erschließt sich eigentlich von selbst. Doch der Markt tickt anders: Unternehmen müssen Gewinne erwirtschaften, so auch die vor 30 Jahren privatisierte Deutsche Bahn. Die Logik dahinter: Kann man die Kunden für den Maximalprofit nicht weiter auspressen, müssen die Ausgaben runter, angefangen bei den Lohnkosten.

Für die FDP ist der Markt bekanntlich alles. Bundesverkehrsminister Volker Wissing gehört dieser Partei an, entsprechend gab er gegenüber der Berliner Morgenpost Auskunft. Er sagte: „Ich habe die Bahn aufgefordert, ein Sanierungskonzept auszuarbeiten“ – dies freilich nach besagtem Plan. Die „Fortschritte“ will er vierteljährlich kontrollieren.

Minister Wissing begründete die strengen Vorgaben mit „schwachen betriebswirtschaftlichen Ergebnissen“. Mit Ausnahme der Spedition Schenker – die nicht Personen-, sondern Güterverkehr bewerkstelligt – würden alle Sparten „schwache Ergebnisse liefern“, erklärte er.

Neoliberales FDP-Konzept

Der FDP-Mann ist demnach der festen Überzeugung, dass mit solchen Sparmaßnahmen „gerade im Fernverkehr die Pünktlichkeit deutlich verbessert“ und „auf ein international vergleichbares Spitzenniveau gebracht“ werden könne.

Wie das trotz Stellenabbau funktionieren soll, verrät er nicht, ebenso wenig sein nächstes Ziel: Die Auslastung zu verbessern. Ob er vergessen hat, wie das 2022 für drei Monate eingeführte „Neun-Euro-Ticket“ für den Nahverkehr die Züge aus allen Nähten platzen ließ, weil es nicht genug Bahnen gab.

Vom Abbau von mehr als 30.000 Stellen soll angeblich, so beschwor der Minister, das Zugpersonal, wie Lokführer, Service- und Wartungsmitarbeiter, nicht betroffen sein, sondern lediglich die Verwaltung. Das spricht bereits für sich: Natürlich frisst ein riesig aufgeblähter Verwaltungsapparat mit jeder Menge Versorgungsposten auch jede Menge Geld. Doch letztlich schiebt Wissing die Verantwortung von sich: Über das konkrete „Wie“ solle dann doch der Bahnvorstand selbst entscheiden.

Gemeinwohl plätten

Die Berliner Morgenpost berichtet überdies von „Hinweisen, dass die Bahn den Zugverkehr auf unrentablen Strecken ausdünnen könnte“. Wissing antwortete auf eine entsprechende Nachfrage lapidar: „Niemand möchte, dass die Bahn Strecken streicht.“ Ein ungesagter Zusatz schwingt da förmlich mit: Leider ist das aber alternativlos, denn der Markt will es so.

Auch Preiserhöhungen, vor allem wohl im Personenfern- und Güterverkehr, seien laut des Berichts schon festzustehen. Grund seien unter anderem steigende Preise für Trassennutzung, so das Blatt – und wohl auch die anhaltend hohen Energiepreise durch die diesbezügliche Irrsinns-Politik der Ampel-Regierung.

Dass Erhöhungen ohnehin schon hoher Preise nicht für mehr Fahrgäste sorgen werden, weil die Zahl der Menschen, die sich das noch leisten können, weiter abnimmt, versteht sich hier von selbst. Ob Wissing und Co. vielleicht darauf spekulieren, die Deutsche Bahn bald gänzlich wegzurationalisieren? Bis dahin könnte der Vorstand dann noch so viele Millionenboni mitnehmen wie möglich.

Das jedenfalls entspräche der neoliberalen Logik: Erst einsacken, dann abstoßen. Unrentables presst man aus, dann muss es weg. Was juckt es schon die Reichen, wenn der Staat die öffentliche Daseinsfürsorge und somit das Gemeinwohl plättet.

Quelle: RT DE

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.

Empfohlenes Buch von Arno Luik zum Thema: „Schaden in der Oberleitung“

„Rauhnächte“ von Arno Luik. Rezension

Laut Destatis-Pressemitteilung Nr. N 007 vom 2. Februar 2023 ist Krebs mit einem Anteil von 8 % an allen Krankenhausaufenthalten weiterhin der vierthäufigste Behandlungsgrund.

Viele von uns hören davon und hin – dann aber auch schnell wieder weg. Man verdrängt es verständlicherweise. Man hofft, es erwischt einen nicht. Was aber, wenn man plötzlich selbst die Diagnose „Krebs“ erhält? Der Journalist Arno Luik hat ein Tagebuch vorgelegt.

„Gestern war ich noch mitten im Leben, heute bin ich draußen und mit dem konfrontiert, was wir alle wissen, die meisten irgendwie verdrängen. Doch für mich nicht mehr möglich ist, dieses Wissen auszublenden: dass wir alle sterben müssen. Das Mistviech in meinem Körper hämmert mir dieses Wissen ja ohne Unterlass in den Kopf: Ich hab‘ Dich im Griff! Und ich würde es gerne anbrüllen: Komm raus, Du blödes Viech! Ob Bestrahlung, Chemo es zermürben, erwürgen?“ Nach seiner Krebsdiagnose, die Bestseller-Autor Arno Luik im vergangenen Spätsommer bekam, macht er das, was er noch nie tat: Er schreibt ein Tagebuch. Er notiert seine Innenansichten, den Schrecken, die Albträume, seine Sehnsucht nach Leben – aber plötzlich geht es um viel mehr als das persönliche Drama: um diese zerrissene, malträtierte Welt. Die so schön sein könnte, wenn die Regierenden nicht …

Der diese Zeilen schrieb ist Arno Luik. Ihn hat das „blöde Viech“ erwischt. Luik ist 1955 geboren. Er war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vizechef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor der Zeitschrift Stern. Zudem ist er ein ausgewiesener und gefragter Bahnexperte. Was er in seinem Sachbuch „Schaden in der Oberleitung“ (auch als Taschenbuch zu haben) unter Beweis stellte. Jean Ziegler über das Buch: «Ein faszinierender Wirtschaftskrimi von höchster Brisanz“.

Wie fühlt man sich also mit diesem Viech im Körper? Darmkrebs! Schmerzen hat er nicht. Als wenn alles normal – wie immer wäre. Ist es aber nicht. Luik: „Heute auf dem Weg ins Krankenhaus spricht mich ein Obdachloser an: «Hast `ne Zigarette?«. Nee. «Hast `n Joint?« Nee. «Solltest du aber haben.« Ich hab Krebs. «Würd ich auch mal gern essen!«

Man möchte lachen. Das Lachen aber bleibt einem auf halben Weg im Halse stecken.

«Die Nächte zwischen Weihnachten (25. Dezember) und dem Fest der Heiligen Drei Könige (6. Januar) sind die sogenannten 12 heiligen Nächte – je nach Region auch als Rau(h)nächte, Rauchnächte, Glöckelnächte, Innernächte bzw. Unternächte bezeichnet. Die Anzahl der Nächte ist regional sehr unterschiedlich und kann von drei bis zwölf Nächte betragen. Mancherorts wird auch die Thomasnacht (21. Dezember) zu den Rauhnächten gezählt.« […] (Auszug via Vivat! Magazin)

Daran angelehnt enthält Arno Luiks Buch „Rauhnächte“ ebenfalls zwölf Tagebucheinträge. Es beginnt mit Merkwürdige Zeiten

Aufgewacht in einer anderen Welt, denn …

plötzlich geschah etwas, mit dem ich nie gerechnet hatte – und doch immer Angst davor hatte. Wahrscheinlich auch Sie. (S.7)

Und es endet mit Merkwürdige Zeiten

Ein Nachtmahr zum Neuen Jahr, von …

dem ich so sehr hoffe, dass er nur ein vorübergehender Albtraum war (S.185)

Seiner Stimme, wenn er nach der Diagnose mit Freunden und Bekannten telefoniert, merkte man offenbar nichts an. Ein Freund sagte ihm am Telefon, du klingst so fröhlich. Luik: „Wenn ich mit Freunden und Bekannte telefoniere, agiere ich wie ein altes Zirkuspferd, das sich in die Manege schleppt, aber dort, wenn der Applaus kommt, die vertrauten Gerüche in die Nüstern steigen, losgaloppiert wie ein junges Fohlen.“

Als er aber mit einem Techniker wegen eines defekten Kochfelds spricht, habe er das Telefonat fast tränenerstickt abbrechen müssen.

Dann ruft der Arzt an. Man habe den Krebs früh erwischt. Es könne jedoch sich, dass der bösartige Krebs schon in die Leber austrahlt.

Arno Luik (S.12): „Wenn ich nicht wüsste, dass ich krank bin, wäre ich gesund – so fühle ich mich.“

Vor Bekannten auf der Straße versteckt er sich so gut er kann.

Am Abend des 20. September 2022 hätte er eine Videokonferenz gehabt, angefragt als Bahnexperte. Er sagt per Mail wegen der Erkrankung ab. Schon „Sekunden später kommt die Antwortmail: Macht nichts, wir haben einen Ersatz für Sie. Kein Wort des Mitgefühls. Noch nie habe ich so direkt erlebt, wie ersetzbar man ist. Wie überflüssig“, schreibt Arno Luik in sein Tagebuch. Nicht die letzte Ent-täuschung die er erleben muss.

Als Rentner war er froh, «keine blöden Konferenzen« mehr zu erleben zu müssen. Und nun hat er plötzlich am 22. September 2022 zur „allerblödesten“ Konferenz, zur Tumorkonferenz gemusst.

Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Luik hat aufgeschrieben: „Ich hier mit meinem persönlichen Drama und da eine Ankündigung, die – fast absehbar – im ganz großen Drama enden kann.“

„Ergebnis dieser Tumorkonferenz: Der Krebs hat nicht in die anderen Organe ausgestrahlt. Ich komme wahrscheinlich, na, vielleicht an der gefährlichen OP vorbei!“

Aber Bestrahlung und Chemo sind angesagt. Immerhin, so versichert man ihm: die Haare wird er bei dieser Art der Chemo nicht verlieren. Eine Perücke braucht er also nicht. Arno hatte bereits darüber nachgedacht. Vielleicht eine, die an den Afro-Look von Angela Davis erinnert?

Hut ab, sagt man sich als Leser schon sehr bald: Über die eigene Krankheit – noch dazu über d i e s e zu schreiben – noch dazu so schonungslos!

Zunächst skeptisch war Arno Luik schon. Ein Kollege riet ab: „Dann werden Sie für die Öffentlichkeit immer der Krebskranke sein.“

Arno Luik fährt in seine Heimat nach Königsbronn. Und er erinnert dort Erlebtes, die Familie und die gestorbene Schwester, für die er eine Grabrede geschrieben und auf dem Friedhof gehalten hatte und andere Begebenheiten.

Auch fällt ihm der in Hermaringen geborene Georg Elser, der später mit den Eltern nach Königsbronn gezogen war und als Schreiner arbeitete – der Attentäter, welcher Hitler im Bürgerbräukeller in München mit einer selbstgebauten Bombe hatte in die Luft sprengen wollen, ein. Und der fragwürdige, verschämte Umgang mit dem im KZ Dachau ermordeten Elser nach 1945 freilich auch. Warum ist Elser keiner Rede wert, während Stauffenberg immer hervorgehoben wird? (S.97/98)

Sehr empfehlenswert und äußerst informativ betreffs der Person Elser ist das sich anschließende Kapitel «Ich sprenge die Regierung in die Luft« (S.99)

Ein Text von Arno Luik und Kollegen Norbert Thomma, in welchem die Geschichte des Georg Elser erzählt wird.

Das garstig Vieh“, der Krebs, ist Luik immer gegenwärtig

Natürlich ist Luik der Krebs („Das garstig Vieh in mir“) tagtäglich und allnächtlich immer gegenwärtig. Wenn er hilflos vorm Computer sitzt, weil in seinem Kopf so viele Gedanken herumtollen, passend zu seiner Stimmung der Regen und die Düsternis draußen. Luik (S.36): „Ich mache keine Kompromisse mehr!“

Luiks Kommentar zur Weltfinanzkrise verboten. Zensur? Ach, wo!

Er erinnert: „Ein Kommentar zur Weltfinanzkrise 2008, der mir überaus wichtig war, durfte nicht erscheinen, das machte die Chefredaktion sekundenschnell klar: das Verbot habe nichts mit Politik zu tun, ich solle ja nicht von Zensur reden, es stimme einfach nicht, was ich behaupte.“

Der verbotene Kommentar trug den Titel „Die Diktatur des Kapitals“.

Luik empörte sich darüber, wie seitens Kanzler Schröder noch getönt wurde, man müsse unbeirrt an den alternativlosen „Agenda-2010-Reformen“ festhalten.

Der Sozialstaat sei zu teuer etc. etc.

Und dann war plötzlich noch und nöcher Kohle da, um den Finanzkrach nicht zu einer katastrophalen Wirtschaftskrise ausarten zu lassen?

Luik (S.40) im Kommentar, der nicht erscheinen durfte: „Und nun – so etwas gab es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie – wurde der Finanzminister ermächtigt, 100 Milliarden auszugeben – ohne jemals das Parlament zu befragen, ohne sich zu rechtfertigen. So viel Macht hatte noch nie ein einzelner Minister. Anders ausgedrückt: Es herrscht nun, verblüffend offen, die Diktatur des Kapitals.“

„Es gibt keine Zensur. Es gibt Pressefreiheit. Ein hohes Gut. So heißt es in den Sonntagsreden der führenden Journalisten, der Chefredakteure – die oft enge miteinander verbandelt sind.

Das ist keine Polemik, nein. Es kommt ständig vor, dass Vertreter der sogenannten vierten Gewalt – die also Politik und Kapital auf die Finger klopfen, hauen sollen – zu Regierungssprechern mutieren, in die Propagandaabteilungen von DAX-Firmen wechseln, oft auch zur Deutschen Bahn.“

Journalismus, auf den Hund gekommen

Schon damals fing es an, dass der Journalismus auf den Hund zu kommen begann.

Arno Luik flicht ein (S.40): „Haben Sie das Gefühl, umfassend über den Ukrainekrieg informiert zu werden? Seine Geschichte? Seine Vorgeschichte? Die Rolle der USA? Der Nato?“

Luik lese vier überregionale Zeitungen und mehrere Wochenzeitungen, schreibt er. „Aber“, konstatiert er, „ich höre – bis auf sehr wenige Ausnahmen – das Gleiche.“

Und Luik notierte: „Uniformität. Einheitsdenken. Herdenverhalten. Diese «Konformität unserer Medien«, klagte mal Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, «ist riesig, so riesig, dass sie «uns auch schadet«.

Gut, dass Arno Luik daran erinnert: „Es war ein CDUler, Paul Sethe, der am 5. März 1965 in einem Leserbrief an den Spiegel schrieb: «Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Frei ist, wer reich ist. Das Verhängnis besteht darin, daß die Besitzer den Redakteuren immer weniger Freiheit lassen, dass sie ihnen immer mehr ihren Willen aufzwingen.«

„Heute sind es vielleicht noch 20 Leute“, so Arno Luik.

Noch Fragen?

Das böse Viech in ihm hält trotz alledem seine Stellung

Luik muss viel Zeit in Wartezimmern von Krankenhäuser sowie hauptsächlich in denen von Radiologie und Onkologie zubringen.

Sein so gewonnener Eindruck: „Es ist dort still. Traurig die Gesichter der Wartenden. Der Kranken. Haben sie Angehörige dabei, kann man unmöglich sagen, wer krank, wer gesund ist.“

Dagegen die so ganz andere Stimmung den Wartezimmern der Chirurgie. Da säßen Patienten mit Gipsbein oder Gipsarm. Da sei Lachen. Da sei Geschrei. „Das ganz normale Leben.“

In der Folge berichtet Luik – sich und uns Leser nicht schonend – über aufkommende Beschwerlichkeiten, die sich nun auch körperlich bemerkbar machende Schmerzen. Durchfall.

„Noch nie habe ich so intensiv gespürt, dass ich nicht mehr Herr in meinem Körper bin. Das garstige Viech in meinem Körper mit mir macht, was es will. Dass mein Gehirn machtlos gegen sein unheilvoll-quälendes Treiben. Dass ich hilflos dasitze, gekrümmt daliege.

Am 14. November 2022 dann die erste Chemo. Sein Spiegel zeigt ihm an, dass sein Gesicht hager geworden ist. Eine Nachbarin sagt ihm, er sehe gut aus. Arno Luik dazu: „Wenn das stimmt – die schöne Hülle täuscht, in mir ist ja dieses garstig Viech, das an mir nagt, Tag und Nacht.

Keine Entschuldigung von Kanzler Scholz an die Adresse Vietnams

Nachrichten im Radio: Bundeskanzler Olaf Scholz, der früher „leicht-marxistisch“ angehauchte Juso-Vize-Chef mit großem Wirtschaftsgefolge in Vietnam.

Arno Luik ist enttäuscht. Denn Scholz entschuldigt sich nicht für die BRD, die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA in Vietnam diplomatisch unterstützte und US-Deserteuren politisches Asyl verweigerte.

Auch nicht dafür, was der westdeutsche Konzern Boeringer unter dessen damaligen Geschäftsführer Richard von Weizsäcker (später Bundespräsident) der US-Armee massenhaft T-Säure verkaufte. Ein Bestandteil von «Agent Orange«, ein schreckliches Gift, das benutzt wurde um den Dschungel zu entlauben. Unzählige Menschen wurden verseucht, das Hautgeschwüre, Leberschäden, das Krebs hervorrief und fürchterlich Missbildungen bei Babys verursachte.

Statt Entschuldigungen ist von Scholz lediglich zu erfahren, wie er Vietnam, Opfer eines Angriffskriegs der USA, belehrt über den Bruch des Völkerrechts durch Russland wegen des Einmarschs in die Ukraine.

Arno Luik fragt sich: „Fällt diesem Kanzler nicht auf, wie diese Belehrungen auf Vietnamesen, die nur dank der Sowjetunion überlebt haben, wirken müssen? Hat dieser Mann, ein wenig klischeehaft gefragt, ein Herz aus Stein?“

Krebs, aber auch eine Chemotherapie ist nicht vergnügungsteuerpflichtig

Die Nebenwirkungen je nachdem ebenso wenig. Klar, da mag Hoffnung aufkommen – was auch sonst?! Aber im Nacken sitzt doch gewiss weiter die Angst. Arno Luik berichtet nach einer sechsstündigen Chemo-Sitzung (S.117): „Neben mir hing eine sehr junge Frau am Tropf. Dem Arzt erzählte sie von heftigen Problemen mit ihrer Chemo. Als ich gehen kann, sage ich zu ihr: «Ich wünsche Ihnen alles Gute!«. Sie: «Ich Ihnen auch.« Und dann weinte sie.“

Luik erinnert ein langes Gespräch mit Boris Becker

Als Journalist hat Arno Luik viele Interviews geführt. Aus der Zeitung erfährt er, dass Boris Becker noch vor Weihnachten aus dem Gefängnis entlassen wird.

Er erinnert sich, Ende 1989 ein langes und intensives – sich über eine Woche erstreckendes – Gespräch mit der Tennis-Legende gehabt zu haben.

Das Ende jenes Gesprächs ist auf den Seiten 118 und 119 im Buch abgedruckt. Interessant. Es zeichnet ein ganz anderes Bild von Boris Becker, wie wir es für gewöhnlich verinnerlicht (bekommen) haben.

Wir erfahren aus diesem aus traurigem Anlass geschriebenem Buch, dank eines Tagebuchs, das er nie hatte schreiben wollen, sehr vieles aus der Zeitgeschichte und von interessanten Zeitgenossen. Immer wieder stellt Luik Bezüge zum Heute her.

Parteilichkeit im Journalismus wie einst in der DDR auch im Journalismus des neuen Deutschland?

Er erinnert an den verstorbenen „Sprachpapst“ Wolf Schneider, „der so unbarmherzig wie großartige Sprachkritiker, Gründer der Henri-Nannen-Schule – für ein gutes Jahrzehnt die Kaderschmiede des guten Journalismus“.

Arno Luik fragt sich, ob Schneider, (…) „der ein «kriegerisches Verhältnis (O-Ton Schneider) zur scheinbar unaufhaltsam um sich greifenden Gender-Sprache hatte, da sie zu einer «lächerlichen Verumständlichung« des Deutschen führe – ob er verbittert, enttäuscht gestorben ist?“ (S.124)

Luik hebt Schneiders Standartwerk «Deutsch für Profis« hervor und findet, es müsste sofort Zwangslektüre für viele Journalisten hierzulande werden. Darin finde sich folgenes Zitat aus dem «Journalistischen Handbuch der untergegangen DDR: «Die Wortwahl wird parteilich vorgenommen.«

Dazu notierte Arno Luik: „Gilt diese Parteilichkeit, also : Staatsaffinität, seit zu vielen Jahren nicht auch für den Journalismus des neuen Deutschlands, das aus DDR und BRD entstanden ist?

Vor allem bei systemischen Fragen, etwa: Agenda 2010, Finanzkrise 2007/2008, Covid-Pandemie, Ukraine-Krieg, Aufrüstung der Bundeswehr. Hat sich da nicht längst ein abgehobener politisch-medialer Komplex gebildet – mit Akteuren, die sich gut finden, sich gegenseitig bestätigen? Eine, in meiner Sorge gehe ich nun vielleicht zu weit, demokratiegefährdende Komplizenschaft?“

Das schimpft sich heute Haltungsjournalismus.

Schneider, so beurteilt ihn Luik, sei eher ein Typ konservativer Herrenreiter und kein Systemlinker gewesen.

Wolf Schneider habe im ersten Kapitel seines Standartwerks konstatiert: «Die gute Sache: für Journalisten ist dies, den Bürger zu informieren und den Mächtigen auf die Finger zu sehen. Die Mehrzahl der in Deutschland gedruckten und gesendeten Informationen erfüllt diesen Auftrag nicht. Millionen Bürger werden durch den Hochmut oder die Gleichgültigkeit einiger tausend Journalisten vom Gros jener Informationen abgeschnitten, die sie wahrlich brauchen könnten, um ein aufgeklärter Volkssouverän zu sein.« (S. 124/125)

Ein hochspannendes und immer wieder berührendes Buch

Das Buch ist hochspannend, informativ und wieder und wieder tief berührend. Arno Luik erinnert sich, dass er in seinem Berufsleben viele Gespräche mit Kranken und Sterbenden geführt hat – das helfe ihm nun.

So viele alte und neue Themen finden darin Erwähnung, werden analysiert und bewertet.

Auch die unsägliche Bundesregierung aller Zeiten und deren unsägliche Politik kommt zur Sprache. Nebst den anderen derzeitigen Politdarstellern in anderen Ländern, die jegliches Format fehlen lassen und alles andere als intelligente Führungspersönlichkeiten sind. Luik hatte sich spontan gedacht, dass sich diese Riege (Putin, Selenskyi, Biden, Scholz, Baerbock, Lukaschenko, Habeck, Melnyk, Sunak, Macron, die Klitschkos usw.) eigendlich gemeinsam „die irre, anarchisch-wunderbare Komödie «Wasser«“ ansehen müsste. Sie sollten diesen Film vorgeführt bekommen (alle zusammen auf Tuchfühlung im dunklen Kinosaal), damit sie ihre letztendliche Lächerlichkeit vor der Geschichte erkennen. (…)

Wobei – man möge mich nicht steinigen dafür) mir allerdings unter den von Luik aufgeführten Personen aufstößt, dass m.E. Putin, die einzig intelligente von ihnen ist. Obwohl er für den völkerrechtswidrigen Ukraine-Krieg freilich – wie es Dr. Daniele Ganser kürzlich in seinem Ukraine-Vortrag beschied – freilich die Rote Karte verdient.

Am 11. Dezember schreibt er auf: „Diese verdammten Nächte, so lang, so quälend, so dunkel. (…) Gedanken können so brutal wehtun“

Unter dem 31. Dezember 2022 (S.181): „Die schlimmste Nacht bisher. Kein Schlaf. Schmerzen im Bauch. Ich fühle mich kotzelend. Sitze gekrümmt au einem Stuhl. Minuten später liege ich gekrümmt auf der Couch. Dann tigere ich durch die Wohnung, schreie leise auf.“

„In drei Monaten ist meine Chemo vorbei. Dann wird mein Körper durchgecheckt, es wird wieder eine Tumorkonferenz geben, dann weiß ich – wahrscheinlich, hoffentlich, vielleicht -, wie es um mich geht. Wie es mit mir weitergeht.

Es soll wieder so werden wie früher.

Es soll so sein wie früher.

Wiefrüherwiefrüherwiefrüherwie … „ (S.183

Das Buch läuft so aus: „Für mich, alter Träumer, vom Nachtmahr geplagt, ist diese neue Humanität die uralte Brutalität. Die unmenschlich bleibt, wenn auch viele Menschen, die gestern noch Friedensfahnen durch die Gegend trugen, mit der gleichen moralischen Inbrunst jetzt auf Panzer und Granaten setzen.“

Alles Gute, Arno Luik!

Zum Autor

Arno Luik, geboren 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vizechef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor der Zeitschrift Stern. Gespräche von „Deutschlands führendem Interviewer“ (taz, Peter Unfried) sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden; für sein Gespräch mit Inge und Walter Jens wurde Luik 2008 als „Kulturjournalist des Jahres“ ausgezeichnet. Für seine Enthüllungen in Sachen Stuttgart 21 erhielt er den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ des Netzwerks Recherche. Zuletzt erschienen von ihm im Westend Verlag der Bestseller „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ (2019) und das Interview-Buch „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna – Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit“ (2022).

Arno Luik

Rauhnächte

Erscheinungstermin:03.04.2023
Seitenzahl:192
Ausstattung:Hardcover mit Schutzumschlag
Artikelnummer:9783864894190

Westend Verlag

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Prof. Dr. Wolfram Elsner mit interessantem Vortrag in Dortmund: China, die neue Nummer eins ist anders

Beinahe drohte sich am vergangenen Montag die Freude über den erste wieder als Präsenzveranstaltung (zusätzlich per Videostream andernorts zu verfolgen) stattfindenden Nachdenktreff (getragen von Attac Dortmund und DGB Dortmund und Umgebung) einzutrüben. Der Referent Prof. Dr. Wolfram Elsner ( Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen) war zunächst sozusagen mitten der Prärie auf der Schienenstrecke geblieben bleiben. Geschlagene 45 Minuten! Der große Saal im dritten Stock der Auslandsgesellschaft in Dortmund war voll. Die Veranstaltungsleitung hatte telefonisch mit dem heiß erwarteten Referenten Kontakt aufgenommen. Immerhin funktionierte in diesem unserem immer m.E. mehr zu verfaulen drohendem Lande die Telefonverbindung! Bald schon machte folgende Nachricht die Runde im Raum: „Elsner hat einen Stellwerksschaden.“ Einige lachten auf.

Ich musste unwillkürlich an das Buch von Arno Luik „Schaden in der Oberleitung“ (Westend Verlag) denken, das ich vor einiger Zeit rezensiert hatte. Und der Gedanke ging mir durch den Kopf: In China wäre ihm das gewiss nicht passiert.

Bald darauf, Punkt akademisches Viertel (19 Uhr 15!) erscholl von draußen im Vorraum ein erleichtertes „Ahhh!“ – Der Referent war erschienen. Wie im Fluge waren Laptop wie die weitere nötige Technik startklar gemacht – und ein Wunder: Alles funktionierte auf Anhieb!

Wolfram Elsner ging vom Zug kommend sofort in medias res

Und schon legte Wolfram Elsner mit seinem hochinteressantem Vortrag los. Er hatte ihn flugs aufgrund der knapp bemessenen Zeit (schon 21 Uhr 25 ging nämlich der einzige – letzte – Zug an diesem Abend zurück nach Bremen, auf die wichtigsten Punkte beschränkt. Ohnehin ist klar, dass die Zeit einer Abendveranstaltung nur für einen kleinen Ausschnitt aus Elsner breiten Einblicken ausreicht, die er im Laufe der Jahre über und in China erworben hat. Mehrfach bot er an diesem Abend an, gerne – bei entsprechender Einladung – zu weiteren Vorträge nach Dortmund zu kommen, um die zahlreiche weiteren Punkte zu referieren.

Am Schluss des Abends gab Elsner – auf eine freundliche Bitte aus dem Publikum hin – sozusagen kurz vor Toresschluss – sogar noch einen Einblick in ein weiteres Thema im Schnelldurchgang.

Ein wahren Parforceritt legte der Referent da hin. Ein Thema interessanter als das andere. Betreffend einer staunenswerten Entwicklung der Volksrepublik China mit Rückblicken auf eine vielfach alles andere als einfache Vergangenheit dieses Landes.

Gegenbild zum allgemeinen China-Bashing

Es zu bedauern, dass großen Teilen unserer Gesellschaft dieses Bild auf China nicht vermittelt wird. Im Gegenteil! Unsere Medien (leider auch die öffentlich-rechtlichen, die wir jährlich immerhin mit über 8 Milliarden Euro finanzieren müssen), die hauptsächlich nur noch Propaganda statt Journalismus machen, vermitteln im Grunde ein fast durchweg nur negatives Bild von China. Das einer Diktatur, das eines Landes, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, etc. Und das, obwohl – wie Elsner auch im Referat ausführte – Deutschland der Volksrepublik nicht unwesentlich zu verdanken hat, in acht Jahren zum Exportweltmeister geworden zu sein.

Die verkürzte und von Propaganda durchtränkte Berichterstattung unserer Medien verfängt aber oftmals doch hierzulande.

Ein Zuhörer der Veranstaltung – der bekannte, selbst schon dreimal als Tourist in China gewesen zu sein – befand dann auch im kurzen Frageteil des Abends, dass ihm Professor Elsners Vortrag doch ein wenig zu positiv gefärbt erscheine.

Elsner antwortete, er wolle durchaus mit seinen Arbeiten auch ein wenig provozieren. So schafft er gewissermaßen ein Gegenbild zum allgemeinen China-Bashing, dass gleichzeitig ein ergänzendes Bild chinesischer Wirklichkeit sein will. Wobei seine Bücher immer Quellen enthalten, welche glaubhaft belegten, was er schreibe. Er mache sich den Spaß reputable westliche Quellen zu nutzen und anzugeben. So wäre ihm nicht vorzuwerfen, chinesische Propaganda zu verbreiten. Und Elsner liefert wie eingangs des Vortrags versprochen Fakten, die durch besagte Quellen auch via Google zu finden sind. Elsner: „Das jeder Journalist, jeden Tageszeitung leicht könnte.“

Der Grund für das China-Bashing

Das China-Bashing des Westens, besonders seitens der USA, hat vor allem damit zu tun, wie es zum Vortrag hieß:

„China hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr dynamisch entwickelt und ist inzwischen zu einer Weltmacht aufgestiegen, die voraussichtlich in den nächsten Jahren die USA vom ersten Platz ihrer weltweiten Vormachtstellung verdrängen wird. Werden die USA diesen Führungswechsel kampflos hinnehmen oder werden sie den Status von Taiwan als Hebel nutzen, um China in einen Krieg hineinzuziehen? Die möglichen Folgen mag man sich gar nicht ausmalen. Die gewaltige Militärpräsenz der USA und ihrer Verbündeten in der unmittelbaren Nähe Chinas ist jedenfalls hoch gefährlich. Derzeit wird systematisch am Feindbild China gewerkelt. Dazu gehört eine Propaganda, die auch die inneren Angelegenheiten Chinas nutzt, um Stimmung zu machen. Dabei wird ausgenutzt, dass viele Menschen wenig über die Kultur, die Denkweise und die Traditionen der dortigen Bevölkerung wissen. Stattdessen wird eine Sichtweise angewandt, die sich an «westlichen Werten« orientiert. Diese werden gerne als universelles Vorbild propagiert und zum Maßstab der Betrachtung fremder Länder gemacht. Eines der Themen, die bei vielen Menschen Fragen aufwerfen, ist die inzwischen weit fortgeschrittene Digitalisierung. Aus westlicher Sichtweise steht hier die Frage der Überwachung und der Menschenrechte im Vordergrund, die keineswegs nur an der Digitalisierung festgemacht wird. Sehr einseitig ist auch die weit verbreitete Annahme, China gehöre zu den weltweit übelsten Umweltverschmutzern.“

NASA: China ist grünstes Land der Erde

Dabei ist die Luft China spürbar besser geworden. Sauberkeit werde groß geschrieben. Nicht zu vergessen „lebenswerte Megacitys … neue Hochhäuser und das ‚Netzwerk der 300 grünen Städte“. Wüsten werden erfolgreich zurückgedrängt. Neue Wälder gepflanzt „Ökorevolution an allen Fronten, Bäume, Bäume, Bäume …“. Unterdessen seien schon 1,5 Milliarden Bäume gepflanzt worden. Die NASA sage: China sei aus dem Weltraum betrachtet das grünste Land der Erde. Jede Chinese jede Chinesin soll ab dem Alter von 11 Jahren jedes Jahr drei Bäume pflanzen. Das Wachsen des eigenen Baumes könne dann via Drohne gefilmt auf dem Smartphone verfolgt werden.

China möchte ein wohlhabendes, blühendes sozialistisches Land mit einer „spiritueller Zivilisation“ werden

Seit 2015/2016 sei China die Nummer eins beim Sozialprodukt. China sagt selbst, es möchte ein „bescheidenes wohlhabendes Land“ werden. Letztlich „ein wohlhabendes, blühendes sozialistisches Land“. Man wolle kein Modell des exzessiven Konsums. China spreche auch von „spiritueller Zivilisation“. Elsner erinnert das an frühere Parteiprogramme der Grünen. Fast jeder Chinese sage ihm: „Wir wollen hin zu einer ökologischen Zivilisation.

Warum der Aufstieg Chinas den Westen nervös macht

Damit räumte Wolfram Elsner im Dezember vergangenen Jahres in einem längeren und faktenreichen Artikel in junge Welt gründlich mit Vorurteilen bezüglich Chinas auf. Für Wolfram Elsner ist China aufgrund seiner zahlreichen Aufenthalte und seiner Forschungen kein fremdes Land. Er war oft in der Volksrepublik und lehrte dort an Universitäten. Ehemalige Doktoranden von ihm sind heute selbst u.a. Professoren in China. Der Aufstieg Chinas mache halt, so Wolfram Elsner, den Westen und besonders die USA nervös. Was da passiere sei nichts anderes als das, was auf einem Markt geschehe. Der Westen versuche aber, statt zu analysieren was bei einem selbst schief laufe und nachzudenken wie man es besser machen kann, China auf die eine oder andere Weise zu behindern. Man habe es hier mit einem Systemwettbewerb, den man auch als Markt bezeichnen könnte, zu tun. „Wir konkurrieren um die Köpfe und Herzen der Menschen in der Welt. Das sei nichts anderes als eine neue, alte historischen jahrtausendealte Normalität.“ Bei Henry Kissinger könne man nachlesen, das China noch 1820, bevor die Engländer eingefallen und die anderen Europäer die Chinesen ausgebeutet und drogenabhängig gemacht haben, habe China noch um 30 Prozent des Weltsozialprodukts gehabt. Heute habe es 19 Prozent. „Genauso viel wie sein Bevölkerungsanteil. Wo ist die Dramatik?“, fragt Elsner.

Einschub meinerseits: Dass besonders am Feindbild China gewerkelt wird, wie es in der Einladung zum Vortrag lautete, ist vor allem damit zu erklären, dass das Imperium USA längst auf tönernen Füßen steht. Den USA geht es niemals um Menschenrechte und Demokratie. Die USA werden des ersten Platzes ihrer weltweiten Vormachtstellung mit ziemlicher Sicherheit verlustig gehen. Daher weht der Wind! Das werden sie nicht einfach akzeptieren. Nicht umsonst haben die USA weltweit über 800 Militärstützpunkte. Dass das friedlich abgeht ist vermutlich lediglich eine vage Hoffnung. Kürzlich ließ nämlich folgende Meldung aufhorchen: „Ein Vier-Sterne-General der Luftwaffe hat in einem internen Rundbrief an seine Top-Kommandeure die Ansicht geäußert, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und China in zwei Jahren zum Krieg kommen werde.

„Ich hoffe, ich täusche mich. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir 2025 kämpfen werden”, heißt es wörtlich in dem Schreiben von Mike Minihan, dessen Echtheit das Pentagon bestätigt hat.“ (hier der Link)

Schon 1997 veröffentlichte John Updike seinen lesenswerten Roman „Gegen Ende der Zeit“. In der Beschreibung lesen wir auf Perlentaucher: (…) „Einiges ist auch anders als gewohnt. Das Jahr ist 2020, es gibt keine Währung „Dollar“ mehr und Federal Express hat die Rolle der Polizei übernommen. Die Vereinigten Staaten haben den Krieg gegen China verloren … Und gibt es nicht auch andere Wirklichkeiten? Ben Turnbull als Grabräuber im alten Ägypten? Als Schüler des hl. Paulus? Als irischer Mönch?“

Als ich seinerzeit den Roman las und einem Kollegen von dem Roman erzählte, zeigte er mir – der ich die damals einen Krieg der USA gegen China durchaus befürchtet und für möglich hatte – einen Vogel …

Warum China als künftige Nummer eins so erfolgreich ist beschrieb Wolfram Elsner bereits in seinem empfehlenswerten Buch „Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders“. Hier meine Rezension dazu.

Mit China geht es auf vielen Gebieten aufwärts

China, Elsner sein inzwischen unter den den Top 3 beim Glücksempfinden der Menschen. Es finde ein Umverteilen von oben nach unten statt. Gegen Korruption und Unternehmens-, Finanz- und der allgemeinen Kriminalität werde vorgegangen. Wer sich hat sich etwas zu schulden hat kommen lassen, kann mit Flugverbot bzw. einem Ausschluss von der Nutzung der ersten Klasse in Zügen sanktioniert werden.

Auch das rowdyhafte Verhalten vieler chinesischen Autofahrer im Straßenverkehr habe man mittels des Sozialkreditpunktesystems (chinesisch übersetzt „Vertrauenssysteme“ in den Griff bekommen. Übrigens gibt es diese Systeme nur punktuell in China – nicht im gesamten Land. Chinesen haben die Auflage ihre alten Eltern (60+) mindestens einmal im Jahr zu besuchen.

Das allgemeine Vertrauen und dass Vertrauen in den Staat, in die Kommunistische Partei sowie das Vertrauen in die Gewerkschaften und in die Firmen, sagte Elsner, sei sehr stark gewachsen. Etwa dem Gegenüber sollen nach US-Umfragen zufolge 80 Prozent (u.a Edelman-Trust-Barometer) der Menschen vertrauen. Tendenz steigend. In den USA: 33 Prozent – Tendenz fallend. In Deutschland seien es 40 Prozent, absteigend.

Selbst eine neue Tierethik gibt es. Hunde zu töten, das gehe gar nicht. Es heiße: „Hunde sind Partner des Menschen.“

Auch gebe es Kampagnen um den Essensabfall zu verringern.

Chinas Experimentismus

Und, wie Elsner etwa von Ingenieuren von Siemens gesagt bekam, käme man in China zuweilen mit eigenen typisch deutschen Plänen an, die dann vor Ort nicht funktionierten. Dann kämen selbst Arbeiter und böten Möglichkeiten an, anders zu verfahren – und plötzlich liefe alles. Die Chinesen stoppten halt Verfahren, die nicht funktionieren und dächte sich etwas anderes aus. Eine Kultur, die vor Veränderungen nicht zurückscheuten. Es gebe sozusagen einen Experimentismus. Alles stehe halt ständig auf den Prüfstand.

Der Westen scheitert immer mehr mit seiner Überheblichkeit

Wolfram Elsner befand, dass der Westen immer mehr mit seiner Überheblichkeit scheitere, wenn er meine (besonders ja auch in der BRD verbreitet): Unsere Werte sind die richtigen. „Wir“ sind die Richtigen, denke man. Und in diesem Sinne haue man anderen Staaten – der Welt – diese längst fragwürdig gewordenen Werte auf die Rübe. Elsner: „Nur die Welt will es nicht mehr.“

Die besten Innovationen kommen zunehmend aus China

Zum Schluss des pickepacke komprimiert hoch interessante Informationen vermittelt habenden – keine Sekunde langweiligen – Referats beantwortete Professor Elsner noch einige Fragen aus dem Publikum. Elsner unterstrich noch einmal: die besten Innovationen kämen mittlerweile hauptsächlich aus China. Peking werde – sei eine Antwort auf eine Frage – auch bald nicht mehr von der Chipproduktion in Taiwan abhängen, meinte Elsner. Auch fänden bald Wahlen in Taiwan statt. Eine chinafreundliche Partei könne gewinnen, wenn nicht die USA – die momentan zunächst verbal in der Taiwan-Frage aufrüsteten – dies vereitelten. Elsner meinte, eine Mehrheit der taiwanesischen Bevölkerung sei durchaus mit dem Status quo zufrieden.

Nach der Beantwortung der Frage packte der Referent flugs seine sieben Sachen zu packen, zum Glück nahen Hauptbahnhof zu streben, dann noch den letzten Zug Richtung Bremen zu erwischen.

Fazit: China, die neue Nummer eins ist anders

Die Zuhörerinnen und Zuhörer erfuhren viel Wissenswertes über die Volksrepublik China. Wissenswertes, dass uns die journalistisch heruntergekommenen Medien unseres immer mehr herunterkommenden Landes zumeist verschweigen und durch eine immer gleiche Propaganda ersetzen, damit möglichst ein Negativbild Chinas in unseren Köpfen erhalten bleibt bzw. abermals neue Nahrung erhält.

Was das Publikum mitnahm: China, die neue Nummer eins ist anders – wie es bereits in Elsners Buch „Das chinesische Jahrhundert“ im zweitem Teil des Titels heißt. Westliche Maßstäbe an China anzusetzen, das läuft zunehmend ins Leere.

Einem Zuhörer war das von Elsner gezeichnete China-Bild zu positiv. Wobei er den Vortrag jedoch gut fand.

Viele Fragen mussten zwangsläufig offen bleiben. Antworten kann man seinen letzten Buchveröffentlichungen in den Verlagen Westend und Papy Rossa entnehmen.

Zur Person

Wolfram Elsner: Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen; 2012-2014 und 2014-2016 Präsident European Association for Evolutionary Political Economy – EAEPE ; Lehr- und Forschungsaufenthalte in Europa, USA, Australien, Südafrika, Russland, Mexiko, China; assoziierter Professor der Univ. of Missouri―Kansas City (UMKC), USA, und der Jilin Uni, Changchun, China; Editor-in-Chief des Review of Evolutionary Political Economy – REPE

Fotos: Claus Stille

„Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit“ Michael Müller – Peter Brandt – Reiner Braun. Rezension

Sind wir eigentlich noch zu retten? Am 24. Februar des Jahres ließ Russlands Präsident Putin Truppen in die Ukraine einmarschieren. Seither tönen unsere Politik und die Medien, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, Russland müsse ruiniert werden (Außenministerin Baerbock) und den Krieg verlieren. Nun sind sogar Töne zu hören, wonach Russland dekolonisiert werden soll. In seiner Rede kürzlich vor der UNO warf der russische Außenminister Sergej Lawrow dem kollektiven Westen vor, die Welt spalten und sein Land zerstören zu wollen: „Es ist ihnen nicht mal mehr peinlich, offen zu erklären, dass es nicht nur die Absicht gibt, unserem Land eine militärische Niederlage zuzufügen, sondern Russland zu zerstören, zu zerstückeln.“ Solche Gedanken sind in den USA in der Tat nicht neu. Soll die Ukraine von den USA nun auch noch Langstreckenraketen erhalten? Die wären – womöglich mit Atomsprengköpfen bestückt – in wenigen Minuten in Moskau.

Das russische Außenministerium erklärte am vergangenen Donnerstag, dass die Vereinigten Staaten eine „rote Linie“ überschreiten und zur „Konfliktpartei“ würde, wenn es Kiew Langstreckenraketen liefern würde.

Niemand redet vom Frieden

Ja, ist man denn völlig verrückt geworden? Roger Köppel, Chefredaktor und Verleger des Wochenmagazins Die Weltwoche und Schweizer Nationrat fragte sich das kürzlich in einer seiner u.a. auf Facebook veröffentlichten Weltwochedaily-Sendungen. Es ging um Joe Bidens UNO-Rede und die Kriegstreiberei des Westens in der Ukraine. Köppel kritisierte – m.E. zu Recht – dass man inzwischen kaum noch „richtige Journalisten“ habe. Es herrsche ein Haltungsjournalismus, der auf US-amerikanischen Seite stehe. Russland sei böse, Putin ein neuer Hitler. Der vernichtet gehöre. Niemand mache sich die Mühe, auch einmal durch die russische Brille zu schauen. Um zu sehen, dass der jetzige Krieg eine achtjährige Vorgeschichte habe. Und weiter fragte Köppel: Niemand – weder in Deutschland noch in der Schweiz rede vom Frieden. Der Westen eskaliere stattdessen immer mehr. Die Medien vorne dran. Möglicherweise treibe man es soweit, dass wir in einem nukelaren Inferno landen. Da ist Roger Köppel zuzustimmen, an dem ich früher bezüglich anderer Themen viel zu kritisieren hatte. Hier aber ist er eine Stimme der Vernunft. Und diesbezüglich und darin ist er wohl ein „richtiger Journalist“. Allein auf weiter Flur, wie es den Anschein hat.

Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun reden schon vom Frieden

Wenn Politik und Medien schon nicht vom Frieden reden, müssen es eben andere tun. Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun tun es in ihrem neuen Buch „Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit – Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise“. Das kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Kritiker werden das abtun und sagen: Das sind doch die üblichern Verdächtigen! Was nützen deren Schriften schon? Mag sein. Dennoch sollten wir hoch froh darüber sein in Zeiten eines gleichklingenden Haltungsjournalismus solche Stimmen wahrnehmen zu können. Dass solche Stimmen überhaupt noch in unserer Mitte zu finden sind.

Doch werden sie auch entsprechend gehört, treffen ihre Gedanken auf Resonanz? Zu wünschen wäre es. Denn es pressiert: Haben wir es nicht längst weit nach Zwölf!

Zum Antikriegstag am 1. September hat die Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW gefordert, den Ukrainekrieg durch Diplomatie zu beenden. Dieser Forderung schließen sich Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun in ihrem neuen Buch an.

Danach indes – seien wir ehrlich – sieht es momentan ganz und gar nicht aus.

Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt:

>>Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser sich wieder einmal ein falsches Bett zu graben versuchte>>

Krieg in der Ukraine – Aufriss und Einordnung

Zunächst wird der Krieg in der Ukraine in einem Aufriss eingeordnet. Und er wird selbstverständlich zutreffend als völkerrechtswidrig bezeichnet. Dankenwerterweise richten die Autoren unsere Aufmerksamkeit auf die Vorgeschichte dieses Krieges. Und gehen dabei bis zum völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zurück und speziell auf die Vorgänge im Kosovo bis hin zu dessen Ablösung von Jugoslawien ein. Worüber es im Gegensatz zur Krim kein Referendum gegeben hat.

Die Geschehnisse in der Ukraine 2014

Leider lesen wir eingangs bei den Autoren zu wenig über die Geschehnisse 2014 auf dem Kiewer Maidan. Beziehungsweise vermisse ich eine umfangreichere Einordnung der Geschehnisse, die ja bekanntlich im blutigen Maidan-Putsch gipfelten. Welcher einen Regierungswechsel in Kiew nach sich zog, der gegen die ukrainische Verfassung verstieß.

Es wurde von der neuen Regierung in Kiew versucht die russische Sprache zu verbieten. Des Weiteren bestand die Gefahr – die Russland flugs erkannte – dass die NATO mit Kriegsschiffen bald auf der Krim auftauchen würde, wo ja die Schwarzmeerflotte der russischen Marine liegt.

Die mehrheitlich russische Bevölkerung in der Ostukraine wie auch die der Krim protestierte.

Auf der Krim entschied man sich ein Referendum zu veranstalten, um die Bürger zu befragen, ob sie einen Beitritt zur Russischen Föderation befürworten.

Referendum auf der Krim

Wir lesen etwas einseitig etwas fragwürdig (S.11): „Bewaffnete Kräfte besetzten das Regionalparlament und drückten ein Referendum durch, bei dem sich 96 Prozent der Bevölkerung der Krim für einen Beitritt zur Russischen Föderation aussprachen, die dann am 21.03.2014 erfolgte.“

Den wenig informierten Lesern muss sich der Eindruck vermitteln, das Referendum wurde quasi erzwungen. Die herrschende westliche Sicht.

In diesen Tagen damals fiel kein einziger Schuss.

Bereits 1992, nur ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, sollte es ein Referendum zu der Frage geben, ob die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehören wollte. Damals verhinderte die Zentralregierung in Kiew die von pro-russischen Kräften angestrebte Abstimmung. Im Gegenzug richtete sie auf der Krim eine Autonome Republik mit weitreichenden Selbstbestimmungsrechten ein. Vermutlich wäre es auch damals schon kaum anders ausgefallen wie später im Jahre 2014.

Annexion oder Sezession?

Dass die Autoren des Buches hier auch – dem westlichen Narrativ gehorchend – wieder von „der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim“ schreiben – nun ja.

Ich merke an dieser Stelle an: Der Jurist „Reinhard Merkel warnt dementsprechend vor dem inflationären, leichtfertigen Gebrauch des Begriffs „Annexion“ und er kommt zu dem Ergebnis: „Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: eine Sezession.“

Quelle: PoliTeknik; Ausgabe 23; „War die Krim-Separation von 2014 eine Annexion? – Dr. jur. Wolfgang Bittner. Anbei noch ein Interview, welches der Journalist Ulrich Heyden mit Reinhard Merkel führte.

Nebenbei bemerkt wird nun gerade wieder – wo in Donezk und Luhansk Referenden abgehalten werden, ob die Menschen dort ein Beitrifft zur Russischen Föderation wünschen – bereits in unsere Presse vorverurteilend von „Scheinreferenden“ geschrieben.

Dann schreibt man weiter im Buch: „In den beiden östlichen Oblasten der Ukraine Donezk und Luhansk nahm die Gewalt zu, es begannen bewaffnete Konflikte.“

Dass die Kiewer Regierung Panzer gegen die Menschen dort auffahren und scharf auf sie schießen ließ, scheint nicht auf. Acht Jahre lang und heute weiter müssen die Menschen in der Ostukraine das ertragen. Mehr als 14 000 Tote und viele Verletzte, darunter Kinder forderte die Angriffe Kiewes auf die ukrainischen Bürger in der Ostukraine.

Die Ukraine ist lange im Visier der USA

Dass es bei einem Weiter-so des Westens zu einer Eskalation in der Ukraine kommen könnte, darauf wiesen einige Politiker schon vor Jahren hin.

Im vorliegenden Buch wird aus einem Beitrag des Ex-US-Außenministers Henry Kissinger aus der Washington Post zitiert:

>>Viel zu oft wurde die ukrainische Frage als Showdown dargestellt, ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.>>

Und weiter:

<<Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in der sogenannten Kiewer Rus. Von dort aus begann die russische Religion und die Geschichte der beiden Länder war schon voher miteinander verflochten.>>

Hätte sich der Westen solcher warnender Stimmen angenommen und anders gehandelt – diesen Krieg fände heute nicht statt.

Doch der Westen ist darüber hinweggangen. Heute steht die NATO quasi an der russischen Grenze.

Im Fokus der USA ist die Ukraine schon lange. Das sagte und schrieb Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheisberater des US-Präsidenten Jimmy Carter. Jeder konnte es wissen.

Im Jahr 1997 veröffentlichte er das Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ („The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“. Brzezinski: „„Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“

Dass nun die USA mit Hilfe von Großbritannien versucht wird – koste es so viele Ukrainerinnen und Ukrainer und Zerstörung wie es wolle – den russischen Bären zu erlegen, erscheint aus dieser Denke heraus nur allzu verständlich. Dazu passt die schreckliche Idee Russland zu zerstückeln und einen Regime Change herbeizuführen. Um sich dann der Volksrepublik China zuzuwenden. Wie zu vermuten steht. Man hat diesen Plan nie aufgegeben. Doch wie mahnte Roger Köppel in seiner Sendung sinngemäß: Wie lange will denn der Westen dem russischen Bären noch in die Seite und in die Augen stechen? Weiß man da, was man tut?

Um ein friedliches Einvernehmen mit dem Westen zeigte sich Wladimir Putin einige Male bemüht – bis zuletzt 2021

Das Buch klammert nicht aus, bzw. ruft zurück in unsere Erinnerung, dass es durchaus nicht an Wladimir Putins Versuchen gefehlt zu ein Einvernehmen mit dem Westen beizutragen. Wir erinnern uns an die auf Deutsch gehaltene Rede Putins im Deutschen Bundestag: Stehende Ovationen. Schon wenige Jahre später, 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz sah sich derselbe Putin veranlasst den Westen, die NATO zu ermahnen in seiner Umzingelung Russland so nicht weiter zu verfahren, weil sich Russland in seiner Sicherheit bedroht sah.

Und noch Ende 2021 unternahm Putin einen Versuch sich mit US-Präsident ins Benehmen zu setzen, um eine Eskalation in der Ukraine zu vermeiden. Vergebens …

Als Appell an die Staatenlenkter, aber auch uns alle, kann der Text auf der Rückseite des Buches verstanden werden:

„Statt einer Militarisierung der Welt brauchen wir eine europäische Initiative für Frieden! In Zeiten des Krieges, atomarer und konventioneller Hochrüstung, der Klimakrise und zunehmender Knappheit von Ressourcen, wenn soziale Verteilungskämpfe härter werden und nicht klar ist, wie die Welt morgen aussehen wird, ist Gemeinsame Sicherheit das Gebot der Vernunft. Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein Schlag ins Gesicht der selbstgerechten westlichen Welt. Der Krieg ist nicht zu rechtfertigen, aber er hat eine Vorgeschichte, die nicht so einfach ist, wie sie in der öffentlichen Schwarz-Weiß-Debatte dargestellt wird. Ein regionaler Konflikt hat eine geostrategische Bedeutung erlangt, weil nicht die Sprache der Vernunft und Diplomatie gesprochen wird, sondern die des Militärs. Wir brauchen mehr denn je ein starkes und effizientes multilaterales System für Frieden und Abrüstung, so die Autoren. Die europäische Selbstbehauptung verlangt Gemeinsame Sicherheit, die auch entscheidende Weichen für die künftige Weltordnung stellt und nicht zuletzt zur Überlebensfrage in der globalen Klimakrise wird. Eine solche europäische Friedensordnung kann zum Vorbild für eine nachhaltige und gemeinsame Zukunft auch in anderen Teilen der Welt werden.“

Mit interessanten und des Nachdenkens werten Beiträgen außerdem von Bascha Mika, Wolfgang Merkel, Luca Samlidis, Michael Brie, Wolfgang Biermann, Myriam Rapior, Andrea Ypsilanti, Jörg Sommer, Olaf Zimmermann u.v.a.

Und ja, auch das stimmt: Wer von uns schon länger auf dieser Welt weilt, hat dergleichen Appelle schon oft gelesen und in Sonntagsreden gehört. Und bewirkten sie etwas? Jein, könnte man antworten.

Aber doch viel zu wenig! Waren wir nicht schon einmal weiter? Im Jahre 1990 boten sich Chancen auf einen haltenden internationalen Frieden. Sie wurden nicht wahrgenommen. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Was haben wir aus den großen Fehlern der Menschheit überhaupt gelernt? Mir scheint: Entschieden zu wenig!

Dies fällt einen in diesen Tagen bitter auf. Man möchte beinahe täglich in die Tischkante beißen.

Aber aufgeben, weil alles schon einmal gesagt und gefordert worden ist? Nein!

Ach, gäbe man uns doch Politikerinnen und Politiker, die selbst nachdächten und sich in der Geschichte auskennten. Indes: Wir haben sie nicht!

Ich empfehle dieses Buch unbedingt. Ein weiterer Versuch zwar in einer langen Reihe von Versuchen, die Welt zu einer sicheren, besseren zu machen. Doch nichts macht sich von alleine. Mittun müssen viele. Welche Alternative gebe es dazu?

Foto: Claus Stille

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Anbei empfohlen: Weil der Untertitel des Buches „Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise“ lautet, empfehle ich „Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ von Eric Hobsbawm zu lesen. Hobsbawm galt als der bedeutendste Historiker unserer Zeit.

Im einem Stern-Interview, veröffentlich am 13.05.2009 mit Arno Luik sagte der marxistisch orientierte Hobsbawm die Zukunft betreffend u.a.:

Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.

Und kann uns Hoffnung geben, was er noch sagte:

Der Mensch hat die Anlagen zum Guten wie zum Schlechten – und wie er sich benimmt, das kann man wohl ändern! Dass unsere Welt, immer noch oder endlich mal Heimat für alle werden kann – das ist doch ein schönes Ziel!

Die Autoren:

Michael Müller, geb. 1948, ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschland. Er war von 1983 bis 2009 Mitglied des Bundestages, in der Zeit umweltpolitischer Sprecher, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium.

Peter Brandt, geb. 1948, ist Publizist, Historiker und Professor im Ruhestand für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er gehört der Initiative „Entspannung Jetzt!“ an und ist Mitautor von „Gemeinsame Sicherheit 2022“.

Reiner Braun, geb. 1952, war Geschäftsführer unterschiedlicher nationaler und internationaler Friedensorganisationen. Zurzeit ist er Executive Director des Internationalen Friedensbüros (IPB), stellvertretender Vorsitzender der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative sowie Mitglied des Kooperationsrates der „Kooperation für den Frieden“.

Aus dem Buch:

Die Pandemie, der Krieg und die Klimakrise sind Brandbeschleuniger in Hinsicht auf die Unsicherheit, Spaltung und Ungleichheit der Welt. Die dabei heraufziehende Inflation gefährdet den Wohlstand und wirkt sich auf Heizung und Nahrungsmittel aus. Obwohl die Menschheit mehr denn je eine „Weltinnenpolitik“ braucht, um zu einer sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation zu kommen, erleben wir eine tiefe Spaltung der Welt. Statt Gemeinsamkeit und Vertrauensbildung wächst die Konfrontation. Die Gefahr einer Selbstvernichtung unserer Zivilisation nimmt zu.

Die Autoren:

Michael Müller, geb. 1948, ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschland. Er war von 1983 bis 2009 Mitglied des Bundestages, in der Zeit umweltpolitischer Sprecher, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium.

Peter Brandt, geb. 1948, ist Publizist, Historiker und Professor im Ruhestand für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er gehört der Initiative „Entspannung Jetzt!“ an und ist Mitautor von „Gemeinsame Sicherheit 2022“.

Reiner Braun, geb. 1952, war Geschäftsführer unterschiedlicher nationaler und internationaler Friedensorganisationen. Zurzeit ist er Executive Director des Internationalen Friedensbüros (IPB), stellvertretender Vorsitzender der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative sowie Mitglied des Kooperationsrates der „Kooperation für den Frieden“.

Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun

Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit

Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise

Erscheinungstermin: 26.09.2022
Seitenzahl: 144
Ausstattung: KlBr
Artikelnummer: 9783864893896

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IPPNW: Im Sturm den Friedenskurs halten, Hamburger Erklärung

Prolog zur Hamburger IPPNW-Erklärung

Düstere Zeiten. Sind wir schon im dritten Weltkrieg? Mag sein. Schlimm genug, der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat einen Krieg entfacht. Menschen finden den Tod. Menschen werden schwer verletzt. Städte und Dörfer werden schwer beschädigt. Wer es wissen will, kann erfahren, dass dieser Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann. Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte. So auch dieser. Im Grunde genommen begann er mit dem vom Westen – hauptsächlich den USA – unterstützten Maidan-Putsch 2014. Aber auch schon davor lassen sich Anzeichen entdecken, dass sich da etwas Unheilvolles zusammenbraute. Darauf soll hier jetzt nicht eingegangen werden. Das lässt sich anderswo lesen.

Dieser Krieg aber läuft nun. Anscheinend unaufhaltbar weiter und weiter. Ich frage mich nun täglich, warum von keiner Initiative zu hören und zu lesen ist, die sich das Ziel gesetzt hat zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Was gewiss nicht einfach ist. Aber versucht muss es doch werden!

Wie sagte Helmut Schmidt einst so richtig: »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen«

Und wäre nicht Deutschland angesichts seiner auf ihm lastenden Geschichte mit Verantwortung scher an zwei Weltkriegen nicht prädestiniert diese Vermittlerrolle zu übernehmen? Selbstverständlich!

Was aber riechen wir stattdessen: 1914!

Weil eben das Gegenteil geschieht. Da wird einseitig auf Russland eingeschlagen, nahezu alle noch vorhandenen Brücken zwischen unseren beiden Nationen abgebrochen, und die Ukraine soll mit schweren Waffen ausgerüstet werden? Wir haben zum Unglück eine (grüne! [sic!]) Außenministerin, die von einem Journalisten kürzlich als „Handgranate ohne Splint“ bezeichnet worden war. Das trifft es! Eine Politikerin, die offenbar keine Ahnung von Diplomatie hat und noch dazu jegliches Fingerspitzengefühl vermissen lässt.

Die seinerzeit wegweisende Ost- und Entspannungspolitik der Regierung Brandt wird verdammt und zum Fehler erklärt. Von politischen Schwergewichten wie Brandt, Schmidt und anderen – ja selbst Kohl muss hier mit benannt werden – ist weit und breit keine Sicht mehr. Was nicht nur für Deutschland sondern traurigerweise für die gesamte EU gilt. Alle agieren quasi als Kolonien der USA. Und anscheinend kriegsgeile Politiker würden, hat man den Eindruck, eher heute als morgen gen Moskau ausrücken lassen – denn selbst wären sie wohl zu feige dazu an die Front zu ziehen.

Von der unsäglichen Presse, die augenscheinlich von jeglicher Geschichtskenntnis ungetrübt gegen Russland hetzt und Russland nicht nur in jeder Hinsicht einseitig sich dabei hauptsächlich ukrainischer Propaganda bedienend, niederschreibt und diffamiert, ganz zu schweigen. Sie agiert gleich wie in der Corona-Krise als Antreiber der Politik. Pazifisten und Friedensbewegten wird die Pest an den Hals gewünscht. Gleichgerichtet im Grunde sind unsere Medien. Um das böse andere Wort nicht zu gebrauchen. Aus eigenem Antrieb gleichgerichtet, wie zu vermuten steht. Was m.E. viel schlimmer ist, als wären sie von irgendwem dazu gezwungen. Diejenigen, die kriegsgeil den Stift erheben, sind offenbar „Haltungsjournalisten“, wie man das heute nennt. Aus gut bestalltem Haushalten stammend. Wer sonst kann es sich heute noch leisten, Journalist zu werden? Und gewiss hier und grün angehaucht.

Neulich bezeichnete Jürgen Todenhöfer die Grünen auf einer Demonstration m.E. zu Recht als Kriegspartei.

Was also machen? Wir müssen wieder auf einen Friedenskurs einschwenken! Dazu gibt es keine Alternative.

FLYING COLUMN des Dortmunder Künstlers Leo Lebendig, darin die Friedensbotschaft. Foto: C. Stille

Die IPPNW (Die Organisation IPPNW (Abkürzung für International Physicians for the Prevention of Nuclear War; Name der deutschen Sektion IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) ist ein internationaler Zusammenschluss von Human-, Tier- und Zahnärzten, die sich unter anderem vor allem für die Abrüstung atomarer Waffen einsetzt.) hat diesbezüglich zum Jahreskongress 2022 eine „Hamburger Erklärung“ abgegeben

Claus Stille

IPPNW-Pressemitteilung vom 02.05.2022

Im Sturm den Friedenskurs halten, Hamburger Erklärung

Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW verabschiedet Resolution zum Jahreskongress 2022

02.05.2022 Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) forderte die Bundesregierung am Wochenende bei ihrem Jahreskongress in Hamburg dazu auf, die Anstrengungen für eine Waffenruhe in der Ukraine ins Zentrum des politischen Handelns zu stellen. Anstatt Waffen zu liefern und aufzurüsten, müssten diplomatische Wege für einen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und perspektivisch eine neue pan-europäische Sicherheitsarchitektur geschaffen werden. „Der russischen Regierung Brücken zu bauen, bedeutet kein Einverständnis mit ihrem Tun. Wir müssen vielmehr einen Ausweg aus einer Situation finden, die sonst eine europäische, wenn nicht gar eine globale atomare Eskalation zur Folge haben könnte“, hieß es in der verabschiedeten Resolution.

„Es ist schwer auszuhalten, dass sich noch kein Verhandlungsdurchbruch abzeichnet. Aber eines ist klar: In einen globalen Rüstungswettlauf einzutreten, manövriert uns in eine Eskalationsspirale, die für die Welt in einen Atomkrieg enden könnte. Aufrüstung schafft keinen nachhaltigen Frieden, sondern bindet finanzielle Ressourcen, die wir nicht bezahlen können und intellektuelle Ressourcen, die wir an anderer Stelle benötigen. Der Kampf gegen den Klimawandel müsste als verloren abgeschrieben werden. Deshalb müssen wir eine andere Lösung finden. Das ist nicht naiv. Es ist einfach ohne Alternative“, unterstreicht der IPPNW-Vorsitzende Dr. med. Lars Pohlmeier.
 
In diesem Sinne forderten die Mediziner*innen auf Ihrem Jahreskongress einen sofortigen Verzicht der NATO und Russlands auf einen Erstschlag von Atomwaffen sowie einen Waffenstillstand und Verhandlungen über den Status der Ostukraine und der Krim. Um einen Atomkrieg zu verhindern sei internationale Diplomatie und sofortige Deeskalation die einzige Option. Auch diplomatische und zivilgesellschaftliche Kontakte auf allen Ebenen müssten erhalten bleiben, um Lösungen im Sinne der Friedenslogik, Konfliktanalyse und zivile Konfliktbearbeitung zu ermöglichen.
 
In der Resolution heißt es abschließend: „Der Krieg in Europa ist eine Mahnung, an unsere eigenen internationalen Wurzeln zu denken. Wir sind im Kern zuallererst eine internationale Friedensorganisation, die blockübergreifend für die Verhütung eines Atomkrieges arbeitet. Wir streiten gemeinsam dafür, angesichts der unvorstellbar grausamen humanitären Folgen eines möglichen Atomwaffeneinsatzes deren Einsatz zu verhindern. Weiterhin gilt: Dies ist nur durch die kontrollierte Abschaffung aller Atomwaffen zu erreichen.“

Hier finden Sie die gesamte Resolution: www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Resolution_Im_Sturm_den_Friedenskurs_halten.pdf

Quelle: Pressemitteilung IPPNW

Epilog

Arno Luik schreibt in seinem Beitrag „Der 27. Februar 2022, oder: Ich kenne keine Parteien mehr“ auf dem NachDenkSeiten vom 3. Mai 2022:

„Und so blicke ich heute auf die Welt, wie vor einigen Jahren der alte und weise Historiker Eric Hobsbawm im Gespräch mit mir sie ausmalte“:

Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde.“

Da fällt mir jetzt – ca. 3000 von einem offenbar irre gewordenen Deutschland ein, dass das äußerst interessante und wichtige Buch „Das Zeitalter der Extreme“ – bislang noch nicht einmal halb gelesen – zuhause in Griffnähe meines Schreibtisches liegt! Ich muss es unbedingt weiterlesen. Wenn ich nämlich Pech habe, dann lebe ich bald in der von Eric Hobsbawm ausgemalten Welt. In der Vorzeit sind wir ja schon mittendrin. Wie lautet ein Fluch der Chinesen: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Nun haben wir den Salat …

Hier das Interview, das Arno Luik einst für den Stern mit dem weisen Historiker Eric Hobsbawm in London führte.

Claus Stille

Anbei:

Susann Witt-Stahl im Gespräch.

Rezension: „Schaden in der Oberleitung“ von Arno Luik. Über „Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“

Von Andrea Nahles – kennt sie noch jemand? – stammt der Ausspruch: „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“

Für all jene, welche das („geplante“ – wie Arno Luik in seinem Buch vielfach nachweist) Desaster der Deutschen Bahn seit der Bahnreform im Jahr 1994 zu verantworten – besser: verbrochen – haben ist „morgen“ entschieden zu spät. Da hätte eher zugeschlagen werden müssen. Um nicht falsch verstanden zu werden: ich will keineswegs körperlicher Gewalt das Wort reden, noch dazu aufrufen. Jedoch muss sich ehrlichkeitshalber eingestehen: Beim Lesen von Arno Luiks kürzlich erschienenen Buches „Schaden in der Oberleitung“, das Jean Ziegler zu Recht als „Ein faszinierender Wirtschaftskrimi von höchster Brisanz“ bezeichnet, ist mir des Öfteren das nicht vorhandene Messer in der Tasche aufgegangen bzw. haben sich mir die Fäuste beim Halten des Buches am liebsten zur Faust ballen wollen.

Akribisch recherchierte bittere Fakten. Gottlob enthält das Buch Stellen, die einen sarkastisch auflachen lassen

Klar, als politisch interessierter Bürger und mit offenen Augen und gespitzten Ohren durchs Leben gehender Mensch – und gelegentlicher Bahnfahrer – hat man von all den die Deutsche Bahn betreffenden Missständen schon gehört – bzw. war unmittelbar davon schon mal betroffen. Doch all dies, akribisch recherchiert, nun in (Buch-)Form so geballt von A – Z aufgetischt zu bekommen, lässt einen schon gewaltig den Hut hochgehen bzw. wenigstens die Hutschnur platzen!

Gut, dass das Buch mit dem wie die Faust aufs Auge treffendem Titel „Schaden in der Oberleitung“ auch jede Menge Stellen enthält, die einen sarkastisch auflachen lassen! Derweil man eigentlich ob der dargelegten Unfassbarkeiten ja eigentlich bitterlich weinen müsste.

Der verkommene heimische Bahnhof ist ein Symbol für den Zustand des gesamten Landes

Arno Luik lässt sein Buch in seiner schwäbischen Heimat beginnen. Der Vater war Bahnhofsvorstehen von Königsbronn: „Er hatte die rote Mütze auf, und er hatte die Geranien gepflanzt.“ Geranien in einem alten Schubkarren und Blumengebinde an den Zäunen, welche Arno Luik als Kind und Jugendlicher in den 1970er Jahren „spießig“ fand. „Die Vorhänge in seinem Bahnhofsvorsteherzimmer hatte meine Mutter genäht und gewaschen,“, schreibt Luik nun, „sie hängen noch immer dort, nach über 50 Jahren – jetzt wehen sie über Trümmern im total ramponierten Bahnhof, der heute kein Bahnhof mehr ist.“

Den gegenwärtigen Zustand beschreibt Luik so: „Alles ist hier nur noch trist, versifft, mit Graffiti besprüht, der Bahnsteig ist vollgespuckt, verdreckt, überall Zigarettenkippen.“

Geradezu ein Sinnbild für die heutige Verfassung in welcher sich die Bahn, ja an vielen Punkten (man denke nur an die bröckelnde, förmlich nach Erneuerung schreienden Infrastruktur allerorten), das ganze Land befindet,: „Dieser verkommene Halt, inzwischen gibt es Tausende seiner Art in Deutschland – ist nicht bloß ein verkommener Bahnhof. Er ist ein Symbol. Er steht, Pars pro Toto, für den Zustand des gesamten Landes.“

Durchsage im Zug war Anlass für Arno Luik dass Buch zu schreiben

Die einzelnen Kapitel des Buches sind überschrieben meist mit Zitaten, von Durchsagen in Zügen, die Arno Luik während der Arbeit an ihm erlebte. Hier das erste: „Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass alle unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!“ Dieser aus den Zuglautsprechern krächzender Durchruf des Zugchefs im Januar 2018 auf der Fahrt von Königsbronn nach Ulm, auf der Brenztalstrecke beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim löste bei Luik damals ein Lachanfall aus: Der Auslöser, dieses hier zu besprechende Buch zu schreiben.

Die Deutsche Bahn in den Fußstapfen der lädierten Deutschen Reichsbahn

Inzwischen, gibt Luik auf Seite 10 zu bedenken, sei es „ein Volksport geworden, über die Bahn zu spötteln, zu höhnen, zu lachen“. Früher in der DDR (ich erinnere mich als gewesener DDR-Bürger sehr gut daran) hätten „die Bürger über ihre heruntergekommene Reichsbahn so“ gespottet: „Vier Feinde hat sie – Frühling, Sommer, Herbst und Winter.“ Luik weiter: „Und das, genau das, gilbt seit einigen Jahren auch für die Bahn AG. Sie fährt – wie die DDR-Reichsbahn damals – heute auf Verschleiß.

Mächtiger Feind Deutschen Bahn: die Bahnchefs

Und sie hat noch einen weiteren, einen überaus mächtigen Feind: die Bahnchefs.“

Rekapitulieren Sie mal, wer das alles in den letzten Jahren gewesen ist!

Nicht ein einziger war dabei, der von Eisenbahn etwas verstand, geschweige denn von der Eisenbahn kam: ein Eisenbahner war. Immerhin der nunmehrige Bahnchef, Richard Lutz, war mal bei der Bahn, nicht aber im eigentlichen Bahnbetrieb. Er hat als Betriebswirtschaftler im Controlling gearbeitet.

Nulpen als Verkehrsminister durften und dürfen in Person von Audi – pardon – Andi Scheuer weiter „Verkehrspolitik“ machen

Ganz zu schweigen von den jeweiligen Verkehrsministern, die in all den Jahren „Verkehrspolitik“ machen durften und nun mit einem gewissen Andi Scheuer noch machen dürfen. Alles wahre Nulpen in Sachen Verkehrspolitik und blutige Laien. Es graust einen! Das Gesicht ballt sich einen zur Faust. Man möchte ausspeien!

Was immer auch an Kritischem über die Deutschen Reichsbahn und auch der Deutschen Bundesbahn zu sagen war: die leitenden Kader waren vom Fach – sie waren in der Regel Eisenbahner. Das gilt auch für die unteren Ebenen. Und sie waren Eisenbahner – nicht wenige von ihnen stammten aus Eisenbahnerfamilien – mit Herz und Seele!

Oberste Bahner sind längst Manager, die horrende Bezüge kassieren

Die heutigen Bahnverantwortlichen sind Manager (aus der Auto- und Flugbranche!) und kassieren für ihre Tätigkeit horrende Bezüge, von denen frühere Bundesbahndirektoren nur träumen konnten. Und sie bekommen – haben sie auch noch so viel Mist gebaut – Summen als Abfindung, welche man nur als in hohem Maße als unanständig – ja als empörend bezeichnen muss.

Die Bahn soll agieren „zum Wohl der Allgemeinheit“ (Artikel 87e Grundgesetz)

Und nehmen wir bitte (auf S. 10) Folgendes zur Kenntnis – viele Menschen werden das gar nicht (mehr) wissen: „Laut Grundgesetz ist die Bahn ein besonderer Betrieb – sie hat einen klaren, einen grundgesetzlich vorgeschriebenen Auftrag; den Bürger mit einem günstigen Transportmittel zu versorgen. Jeden Bürger, egal wo. Die Bahn soll agieren ‚zum Wohl der Allgemeinheit‘, so steht es im Artikel 87e des Grundgesetzes.

Und sie soll heutzutage – auch aus ökologischen Gründen – dafür sorgen, dass mehr Personen- und vor allem auch mehr Güterverkehr auf die

Auch dieser Hauptbahnhof ist längst ohne Personal. Foto: Stille

Schienen kommt und runter von der Straße“, heißt es bei Arno Luik weiter. „So sagen es die Politiker seit Jahrzehnten.“ Und stellt er fest: „Beides funktioniert nicht. Bei beidem versagt die Bahn.“

Für Luik steht fest: Die Deutsche Bahn hat sich verselbstständigt

Luik: „Sie ist – auch unter tätiger Mithilfe vieler Politiker – zu einem Staat im Staate geworden. Die Bahn macht, was sie will.“

Das schlimmste Verbrechen der Bahn wird seit Jahren in Stuttgart, der Tiefbahnhof Stuttgart 21 (S21) vorbereitet. Es ist schon jetzt ein Verbrechen in finanzieller Hinsicht: es dürfte, wenn es jemals fertig werden sollte – was Gott oder wer auch immer verhüten möge (es wäre noch möglich) – dem Steuerzahler – also sie, lieber LeserInnen und mich – wohl letzten Endes zehn Milliarden Euro kosten!Mit diesem Geld könnte wichtige Bahninfrastruktur in ganz Deutschland vom Feinsten hergerichtet bzw. neu geschaffen werden. Es gibt Fachleute dies über S21 sagen: „Es ist ein Staatsverbrechen, was hier geschieht.

Brandschutzkonzept für den Tiefbahnhof Stuttgart 21: „Es ist eine Katastrophe mit Ansage“

Arno Luik zitiert (S. 13) den international renommierten Brandschutzexperten Hans-Joachim Keim. Er wurde etwa anlässlich der Tunnelkatastrophe von Kaprun (11. November 2000) gerufen.

Für Luik hat der Brandschutzkonzept von S 21 analysiert. „Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?“

Die Haltestation von S21 liegt 12 Meter in der Tiefe. „Auf einem schiefen schmalen Betontrog, in den acht Gleise eingezwängt werden (…) Ein Feuerwehrmann sagte Luik hinter vorgehaltener Hand: Da runter schicke ich meine Leute nicht.

Ordentliche Fluchtmöglichkeiten hinzubekommen dort unten, sieht Keim als „technisch komplett unmöglich“ an.

Kritiker bekommen einen Maulkorb verpasst

Nun muss man sich vorstellen, was da unten los ist, wenn es mal brennt und alles voller Rauch ist! Wie will man rasch die Leute evakuieren – Behinderte, Rollstuhlfahrer und Menschen Rollator sowie Mütter mit Kinderwagen! Und die Menschen haben ja Gepäck dabei. Es herrscht Panik! Man will es sich eigentlich nicht vorstellen. Eine andere Gefahr: die Bahngleise weisen einen abnorme Gleisneigung auf. Heißt, Züge werden abschüssig stehen. Weltweit einmalig. Was, wenn ein Zug rollt? Das ist durchaus schon an anderen Orten geschehen. Schon 1992 (S. 28) habe damals Bahndirektor Eberhard Happe (seinerzeit „Dezernent für Zugbeförderung“ in einer Fachzeitschrift „die abnorme Gleisneigung ‚kriminell‘ genannt. Der damalige Bahnchef Dürr habe den „pflichtbewussten und daher besorgten Beamten einen Maulkorb, der Kritiker bekam ein Disziplinarverfahren an den Hals, der Bahnchef wollte ihn abmahnen, strafversetzen, loswerden – vergebens.“

Staatsbeamter a.E: über die Führungsspitze des Bahnkonzerns: „Die haben keine Ahnung, kein technisches Verständnis vom Bahnverkehr“

Happe heute gegenüber Arno Luik (S.29): „Man agiert im technischen Grenzbereich. Jeder Lokführer wird Schiss haben, diesen schiefen Bahnhof anzufahren. Hundertmal mag es gutgehen, aber dann kommt der Unfall. Und dann wird es heißen:menschliches Versagen!“

Luik: „Dieses ‚menschliche Versagen‘ sieht er, der Staatsbeamte a.D., aber nicht bei den Lokführern, er sieht es bei der Führungsspitze des Konzerns: ‚Die haben keine Ahnung, sie haben kein technisches Verständnis vom Bahnverkehr.“ Auf Seite 30 erklärt der Autor: „In keinem Land der Welt werden schräge Bahnhöfe gebaut. Nicht in der bergigen Schweiz, nicht in China.“ Die Verantwortlichen für S21 wiegeln ab: Zukünftig würden die Züge Feststellbremsen haben, die schon wirkten, wenn sich die Türen öffneten.

Der Mann zeigt sich fassungslos darüber, dass ein Staatsunternehmen (die Bahn gehört noch zu hundert Prozent dem Bund) Milliarden in einen Bahnhof verbaut, „um absehbar eine Katastrophe herbeizuführen. Happe: ‚Es ist der totale Wahnsinn.“

Haltestelle für 8,2 Milliarden Euro

Ein anderer Beamter a.D. erklärt es sich so, dass Eisenbahn-Bundesamt (EBA) „diesen Murks und ewiges Sicherheitsrisiko in Stuttgart abgenickt hat so (S.31): „Das EBA ist von der Politik vergewaltigt worden, das abzusegnen.“ Die Bahn hatte sich eines Tricks bedient: „Die Bahn degradierte den geplanten S21-Tiefbahnhof zur ‚Haltestelle‘.“ Die dürften nämlich ein Gleisgefälle haben. „Nur: Züge dürfen da nicht abgestellt werden, sie dürfen nur kurz stoppen, sie dürfen nicht (was bisher für Stuttgart als Kopfbahnhof immens wichtig und kundenfreundlich war und – Taktverkehr! – weiterhin auch so sein sollte) wenden. Dafür ist eine Bremsprobe zwingend vorgeschrieben, und die ist in Stuttgart unterirdischem Steilhang gesetzlich verboten.“

Das lässt uns aufmerken: „8,2 Milliarden Euro, mindestens, für einen Bahnhof in einer Großstadt, der gar kein Bahnhof ist, sondern nur: eine Haltestelle.“

Gutachter: S21 ist goldenes Begräbnis der Bahn

Ein Gutachter für Signaltechnik ließ Luik (S.45) wissen: „S21 ist aus meiner Sicht das goldene Begräbnis der Bahn. Golden wegen der zu erwartenden Kosten von 8,2 Milliarden Euro, wenn nicht noch viel mehr Ein Begräbnis zunächst im wahrsten Sinne des Wortes: unter der Erde. Aber auch ein Begräbnis im übertragenen Sinne: das Begräbnis der Eisenbahn als Verkehrsträger im Raum Stuttgart.“ Übrigens – das finden wir auf Seite 69 des Buches – lag die Wirtschaftlichkeitsgrenze bei 4,5 Milliarden Euro.

Auf Seite 57 ist notiert: „S21 ist eine Art Schloss Versailles, es darf kosten, was es will, und der Staat kommt dafür auf.“

Die Bahn definiert ihre eigenen Sicherheitsstandards

Eine weitere Ungeheuerlichkeit: In Texten von S21 tauche bei kritischen Dingen stets das Kürzel UIG auf. Luik erklärt: „unternehmensinterne Genehmigungen. Im Klartext. Die Bahn definiert ihre eigenen Sicherheitsstandards – und die Prüfbehörde, das EBA (Eisenbahnbundesamt; C.S.), akzeptiert das.“ Also, liebe LeserInnen, da fallen Sie vom Glauben ab! Von wegen deutsche Gründlichkeit und Bürokratie – UIG, und das Ding geht durch. Fragen Sie mal jemanden, der in Deutschland einen simplen Imbiss aufmachen will, oder eine Fleischerei – was der alles machen und vorweisen muss, bevor der seinen Laden aufmachen kann!

Wenn der Bahnhof unter die Erde gebracht ist, freuen sich die Immobilienhaie auf die über Tage freigewordenen Flächen

Ein Grund warum S21 von bestimmten Leuten so bejubelt und forciert wurde ist: Wenn der Bahnhof unter die Erde gelegt ist, sind oben Flächen frei, auf die sich Immobilienhaie schon freuen!

Und vom Tunnelbau profitiert die Tunnelindustrie. In erster Linie die Firma Herrenknecht, die mit ihren Tunnelvortriebmaschinen. Dazu mehr und jede Menge Wissenswertes ab Seite 65 unter dem Titel „Der Herr über die Tunnel und sein Knecht“. Gemeint ist Martin Herrenknecht, „der Herr über die Tunnelbohrmaschinen“.

Bei S21 geht es freilich fleißig darum, dass bestimmte Leute und Firmen Kohle machen.

Lust am-Machtausüben. S21-Junkies. „Talibans der Moderne“. Unerreichbar für Argumente

Aber auch darum, dass sich manche Politiker und Manager profilieren und „Lust am Macht-Ausüben“ – wie es auf Seite 49 dargestellt wird. Luik: „S21-Junkies. Talibans der Moderne Unerreichbar für Argumente. Eiferer – frei von Zweifel.“ Da denkt wohl niemand an die Fahrgäste oder Mitarbeiter der Bahn. Auch Korruption – mindestens politische Korruption spielt ebenfalls eine Rolle. Und, dass es mit der Bahn so läuft hat gewiss auch mit der falschen, aufs Auto ausgerichteten und vom Auto bestimmten Verkehrspolitik hierzulande zu tun.

Großer Amerikanischer Straßenbahnskandal – „Passiert Ähnliches in Deutschland?“

Arno Luik schreibt (S.52) vor dem Hintergrund, dass „man subtil dafür“ sorgt, „dass diese Bahn nicht wirklich wettbewerbsfähig wird“ über den Großen Amerikanischen Straßenbahnskandal (General Motors Streetcar Conspiracy). „Zwischen 1930 und 1956 kauften die US-amerikanischen Autofirmen unter Führung von General Motors (die hatten dafür sogar eine spezielle Abteilung) Bahn- und Straßenverkehrsunternehmen im ganzen Land auf, um die zu ersetzen. Der Plan ging auf. Die Zahl der Straßenbahnfahrzeuge verringerte sich in der Zeit von von 37 000 auf 5300.“

Arno Luik fragt: „Passiert so etwas Ähnliches in Deutschland? Schaut man etwa auf S21, fällt auf, dass dieses Unterfangen den Schienenverkehr massiv behindert und einschränkt. Eine Tatsache, die die S21-Befürworter bis vor Kurzem geleugnet und bestritten haben: Stuttgart 21 ist von Anfang an eine Geschichte der Schummelei und Geheimniskrämerei gegenüber den Bürgern, aber auch den Abgeordneten. Kritische Studien wurden ignoriert.“

Eine 2008 von der Landesregierung selbst in Auftrag gegebene Studie von Schweizer Verkehrsexperten sei kassiert worden. Darin hieß es: S21 ist verkehrspolitischer Unsinn, der genau das verhindert, was ihr mit S21 angeblich wollt: mehr Verkehr auf die Schiene. Das Umweltbundesamt bestätigt die Aussage der Schweizer. Es wurde hinweggewischt.

Klar sagt Arno Luik, was ist (S.79): „Politiker, Bahnmanager, diese ganz große Koalition aus SPD/GRÜNE/CDU/CSU/FDP, die noch immer S21 durchsetzen wollen, sind das größte Sicherheitsrisiko dieses Landes. Aber sie sind ja „finster entschlossen“.

Bleiben Sie stark, liebe LeserInnen

Graben Sie sich wacker weiter in diesem interessantem Buch. Bleiben Sie stark, liebe LeserInnen. S21 ist nicht der einzige – wohl aber der größte – Skandal in Sachen Bahn.

Wie fing das alles an? Im „Monolog des Bahndirektors a.D. Klaus-Dieter Bodack“ ab Seite 87 sagt dieser: „Ich kann Ihnen genau sagen, wann es endgültig mit der Bahn bergab ging. Das ging schon vor Mehdorn los, mit Heinz Dürr, und zwar am 3./4. Oktober 1994, das war die Stunde Null, der endgültige Abschied von der alten Bahn, der Schritt in die neue Bahn – also die allmählich Zerstörung der Bahn.“

Eisenbahnspezialisten schickte Bahnchef Dürr nach „Sibirien“. Dort wurden sie „die Mäusezähler von Frankfurt“

Und weiter unten schließt dessen Monolog so: „Dürr hat nicht nur die Bahnstrecken, sondern vor allem unschätzbares Fachwissen stillgelegt. Er hat Kollegen, Akademiker mit spezieller Ausbildung und großen Erfahrungen im Eisenbahnwesen, die sich oft mit guten Argumenten zu Wort meldeten, die hat er nach Sibirien geschickt. Dürrs Sibirien war stillgelegter Güterbahnhof in Frankfurt. Dort saßen nur nun die Leute mit all ihrem Bahnwissen, ohne es einsetzen zu dürfen. Wir nannten sie ‚die Mäusezähler von Frankfurt‘, denn in diesem Güterbahnhof rannten halt sonst nur Mäuse und Ratten herum.“

Arno Luik: „Mit S21 begann die kühl geplante Zerschlagung der traditionellen Bahn“

„Mit S21 begann die kühl geplante Zerschlagung der traditionellen Bahn, ihre Reduzierung auf ein paar lukrative Hauptverkehrsstrecken“, zeichnet Arno Luik die bedauerliche, geplante Entwicklung nach, „diese Strecken dann zu privatisieren, sie attraktiv für Investoren an der Börse zu machen. Und die freigewordenen Bahn-Grundstücke zu verhökern: an in- oder ausländische Investoren, an Immobilienfirmen wie etwa ECE (die Einkaufscenter bauen, C.S.).“

Die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder (1999 bis 2005) habe diese Pläne massiv unterstützt.

Totengräber der Bahn: Hartmut Mehdorn

Luik: „Die rotgrüne Verkehrspolitik war verheerend, denn dank dieser Regierung kam ein Mann an die Spitze der Bahn, der sich sehr mühte, ihr Totengräber zu werden: Hartmut Mehdorn.“

Sie erinnern sich an den Kerl? Ein Kotzbrocken mit dem Charme eine Baubudenrülpses, der u.a. in der Luftfahrtindustrie (!) tätig gewesen war. Ein menschlicher Prellbock.

Also Arno Luik, der zuvor als Journalist Kritik an ihm geäußert hatte, einmal 2007 bei Hartmut Mehdorn im Bahntower in Berlin im Büro war, sagte dieser zu ihm: „Ich müsste Sie eigentlich schlagen. Aber es hat keinen Wert, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung.“

Bahninfrastrukturvorstand“ Pofalla erfand die „Pofalla-Wende“

Oder kann uns jemand sagen, welche Kompetenz als Kanzleramtsminister uns Ronald Pofalla verheimlichte, die ihn inzwischen als „Bahninfrastrukturvorstand“ (!) qualifizierte? Jedenfalls hat er sich als der Erfinder der „Pofalla-Wende“ gemacht. Die besagt:

Ein verspäteter ICE dreht früher um, damit er auf dem Rückweg wieder in den Fahrplan kommt. Damit einhergeht allerdings, dass für viele Reisende ihre Halte entfallen, sie müssen in einen Nahverkehrszug umsteigen und kommen verspätet deswegen an.

Reisen per Anhalter!

Auch gibt es inzwischen Zugstrecken, wo der Zug nur nach Bedarf hält! Der Reisende muss winken, sonst hält der Zug nicht. Sind wir im Irrenhaus gelandet? Manche Reisende wissen das nicht. Sie sehe ihrem Zug dann verdattert und empört hinter her.

Bahn bloß noch eine „Scheinverkehrsfirma“

„Die Bahn“, ist ein Münchner Verkehrsexperte (S.232) überzeugt, „ist bloß noch eine Scheinverkehrsfirma“.

Von den wenigen Bahnhöfen, die es noch gibt, erfahren wir auf Seite 255, „sind mehr als 95 Prozent ohne Personal“.

Und auch das: Es gibt heute Zugstrecken, auf denen die Eisenbahn in den 1930er Jahren weniger Zeit zwischen zwei Städten brauchte als heute!

Ungeheuerlichkeiten, dass einem der Kamm schwillt

Arno Luik hat viel recherchiert und manche Ungeheuerlichkeit herausgefunden und auch die Gründe dafür gefunden. Das ist spannend zu lesen. Es schwillt einen oft der Kamm dabei. Man möchte als Leser aus der Haut fahren.

Der Staatskonzern ist ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Er bekommt jedes Jahr über zehn Milliarden Euro an Steuergeldern, doch seinen Bürgern, den tatsächlichen Besitzern, bietet er immer weniger. Weiter lesen wir im Klappentext: „Der aus Kostengründen auf Bahnsteigen Durchsagen spart – und so Tote in Kauf nimmt. Der stattdessen in über 140 Ländern agiert, einfach so, keine Regierung hat ihn dazu beauftragt, aber dieser imperiale Größenwahn bringt den Bürgern hierzulande nichts – außer Zerfall und Ärger.“ Dabei hätte die Deutsche Bahn von Bahnprofis, die wissen wie man eine Eisenbahn fahren lässt, lernen können: Aus der Schweiz. Österreich. Den Niederlanden. Italien.

Desaster der Deutschen Bahn kein Versehen

Und der Westend Verlag schreibt über zum Buch: „Das Desaster der Deutschen Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in Berlin. In der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn. Kritik an der Deutschen Bahn bleibt oft stehen bei lustigen Englischfehlern, falschen Wagenreihungen oder ausfallenden Klimaanlagen. Doch die Malaise liegt im System: Seit der Bahnreform im Jahr 1994, nach der die Bahn an die Börse sollte, handeln die Bahn-Verantwortlichen, als wollten sie die Menschen zum Autofahrer erziehen. Arno Luik, einer der profiliertesten Bahn-Kritiker, öffnet uns mit seinem Buch die Augen. Konkret geht es um Lobbyismus, Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge, um falsche Weichenstellungen, kurz: um einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist.“

Der Autor: „Ja, diese Bahn ist zu retten“

Nach aller nötigen Kritik im Buch ist Arno Luik dann aber Ende im „Ausblick“ (S.291) davon überzeugt: „Ja, diese Bahn ist zu retten.“ Möglicherweise zwinge der Klimawandel zur Vernunft. Luik hat acht Vorschläge aufgeschrieben, die seiner Meinung nach umgesetzt werden müssten. Beginnend mit : „Sofortiger Baustopp von S21 und der Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Milliarden werden dort verpulvert, um den Bahnverkehr strukturell so zu schädigen, dass ein Taktverkehr unmöglich wird.“

Arno Luik meint, „gut kann es mit der Bahn aber erst werden, wenn sich die Verantwortlichen von dem Wahn des komparativen Denkens verabschieden. Denn dieses Denken perpetuiert für ewig das klägliche Dahinstümpern:

„Die Bahn muss nicht pünktlicher werden. Sie muss pünktlich sein.

Die Bahn muss nicht sicherer werden. Sie muss sicher sein.

Die Bahn muss nicht zuverlässiger werden. Sie muss zuverlässig sein.

Kurzum: Die Bahn muss nicht besser werden, sie muss gut sei.“

Dass sich in naher Zukunft etwas verbessert, glaubt Arno Luik kaum. Es ginge zunächst weiter wie bisher. „Allein in seinem ersten Amtsjahr, 2017, ließ Bahnchef Lutz 344 Weichen ausbauen, 242 Bahnhöfe schließen, 205 Haltepunkte wegfallen.“

„Dass sie einfach nichts lernen, dafür steht der Bundesverkehrsminister, der sich dem von der Politik mitproduzierten Chaos am Boden in die Luft entziehen will. Der, ohne sich zu schämen, Flugtaxi als Mobilitätskonzept für die Zukunft anpreist.“

Das Buch schließt: „Solange solche Luftikusse das Sagen haben, bleibt es bei diesem hässlichen Wort: ‚Betriebsstörung‘. Bleibt es beim ‚Schaden in der Oberleitung’“.

Die vielfach zur Entgleisung gebrachte Bahn als Bürgerbahn im Sinne des Grundgesetzes wieder aufgleisen

Um auf den Anfang des Textes zurückzukommen: Die schräpige Ansage der Andrea Nahles von einst: „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“ ist nicht die Lösung. So ein Sager könnte auch aus dem Munde des menschlichen Prellbocks Hartmut Mehdorn kommen. Das sollte nicht unser Stil sein. Klar: Das Desaster der Bahn ist ein Skandal. Besinnen wir uns! Holen wir uns die vielfach zur Entgleisung gebrachte Bahn – die unser Land besitzt – friedlich zurück, um sie gemäß Grundgesetzauftrag wieder als Bürgerbahn aufzugleisen.

Ein gut recherchiertes, wichtiges Buch.

Arno Luik

Schaden in der Oberleitung

Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Erscheinungstermin: 02.09.2019
Seitenzahl: 296
Ausstattung: Klappenbroschur
Artikelnummer: 9783864892677
20,00 Euro

Zum Autor

Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Tempo und die Wochenpost, Autor für Geo und den Tagesspiegel, war Chefredakteur der taz (1995/96) und seit 2000 ist er Autor der Zeitschrift Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ des Netzwerks Recherche. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären“ war Luik als Sachverständiger geladen.

Update vom 4. Juni 2020

Arno Luik über sein Buch an der SWR-Teleakademie: zum Video

Evangelische Landeskirche Baden: „Frieden kann nicht mit Waffen gewonnen werden“

Achtung! Achtung!; Photo: W.R. Wagner via Pixelio.de

Achtung! Achtung!; Photo: W.R. Wagner via Pixelio.de

Dieser Tage sind einige Aufrufe gegen den Militäreinsatz der Bundeswehr in Syrien veröffentlicht worden. Sogar vom Stern-Autor stern-Autor Arno Luik erschien ein kritisches Essay: „Die Schlafwandler rücken aus“. Als Gegensatz zu Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges, in einer Video-Kolumne tönte: „Wenn Krieg, dann richtig!“ Womöglich noch unter den Eindrücken vom Flüchtlingselend, das er selber besichtigt hatte? Ansonsten scheinen viel zu viele Politiker und Medien voll auf Kriegsmodus eingestimmt sein zu bzw. umgeschaltet zu haben. Da kritische Beiträge noch immer in der Minderzahl sind, möchte ich nach der Veröffentlichung von anderen Aufrufen wider dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Syrien heute nun noch eine Stellungnahme der Evangelischen Landeskirche Badens hinzufügen. Ich selbst stieß via den NachDenkSeiten auf dieses Papier. NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller seinerseits über die Zuschrift eines Pfarrers der der Evangelischen Landeskirche Badens. Dieser schrieb an Müller:

„Es ist das erste Mal in der Geschichte der Evangelischen Landeskirche in Baden, dass sich die Kirche gegen einen vom Parlament beschlossenen Bundeswehreinsatz ausspricht. 
Vorausgegangen ist der neu erwachten friedenspolitischen Kompetenz ein zweijähriger friedensethischer Konsultationsprozess in allen Kirchenbezirken Badens, 
der im Jahre 2013 zu einem Beschluss führte und die Landeskirche auf klaren Kurs in Sachen Friedensethik führt: 
Nein zu Militäreinsätzen, ja zu einer internationalen Polizei und die Befürwortung gewaltfreier Alternativen.“

Hier nun zum Papier:

„Frieden kann nicht mit Waffen gewonnen werden

Stellungnahme der Ev. Landeskirche in Baden zum geplanten Militäreinsatz in Syrien

Zahlreiche Terroranschläge in Paris, in Ländern des Nahen Ostens und Afrikas verbreiten Schrecken, Angst und Wut. Wir trauern mit den Familien der Opfer. Solidarisch mit ihnen, mit ihren Völkern und allen Menschen guten Willens fordern wir ein Ende von Terror und Gewalt und treten dafür ein, dass alle erdenklichen politischen Mittel eingesetzt werden, um diesem Ziel näher zu kommen. Der Beschluss des Bundeskabinetts zur Beteiligung der Bundeswehr an einem Militäreinsatz in Syrien, um mit Frankreich und anderen Verbündeten den islamistischen Terror zu bekämpfen, erfüllt uns mit Sorge. Er folgt einer Logik, durch militärische Gewalt mehr Sicherheit herzustellen. Uns erscheint dies nicht hilfreich, um den islamistischen Terror einzudämmen und Syrien einem Frieden näher zu bringen.

Es darf nicht vergessen werden, dass die Täter von Paris nicht aus Syrien, sondern aus Frankreich und aus Belgien stammten. Terroristische Anschläge sind kriminelle Akte und müssen wie alle Verbrechen mit polizeilichen Mitteln verfolgt und die Täter vor Gericht gebracht werden. Syrien noch mehr mit militärischer Waffengewalt zu überziehen, wird keinen Terroristen davon abhalten, weitere Attentate zu vollbringen. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass ein solches Vorgehen den Terrorismus bestärkt, da dies den Hass auf den Westen noch steigert. Seit September 2014 wird gegen den Islamischen Staat mit militärischen Mitteln vorgegangen. Doch sie haben keinen Erfolg gebracht. Der Islamische Staat ist eine terroristische Organisation, die sehr unterschiedlich zusammengesetzt ist. Viele ehemalige Kämpfer Saddam Husseins haben sich inzwischen dem IS angeschlossen. Oftmals nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus mangelnder Perspektive.

Der friedensethische Beschluss der badischen Landessynode „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ vom 24. Oktober 2013 kommt zur Erkenntnis, dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden müssen „auf allen Ebenen“. Dabei orientiert er sich an den biblischen Grundaussagen. Das Pauluswort „Lasst Euch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwindet das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21) ist nicht Ausdruck naiver Weltferne – auf die aktuelle politische Situation übertragen bedeutet es die Aufforderung alle Anstrengungen auf Alternativen zu einem militärischen Vorgehen zu richten, um die Gewaltspirale zu durchbrechen!

Wir treten dafür ein, sorgsam zu prüfen, mit welchen Mitteln Frieden und Freiheit wirklich verteidigt und gesichert werden können und folgen dabei der Resolution der Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 28. November 2015: „Wir setzen uns dafür ein, Terror mit den zivilen Mitteln des Völkerrechts, durch wirtschaftliche Maßnahmen, Sanktionen, den Stopp von Rüstungsexporten in Krisengebiete und in Diktaturen und mit allen erdenklichen Mitteln der Diplomatie, des Gesprächs und des Aufbaus partnerschaftlicher Beziehungen einzudämmen und zu beenden. „ Dies ist eine gemeinsame Aufgabe aller friedliebenden Menschen, aller Staaten und aller Religionsgemeinschaften.

Auch wer den Einsatz von Waffen nicht grundsätzlich ausschließt, wird zu ähnlichen Einschätzungen gelangen. So macht der Friedensbeauftragte der EKD, Bischof Renke Brahms, in seiner Erklärung vom 2. Dezember 2015 deutlich, dass die Entscheidung für den geplanten Militäreinsatz die ethischen Prinzipien nicht erfüllt, welche die EKD in der Friedensdenkschrift 2007 „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ benannt hat. Nach dem Verständnis der EKD Denkschrift darf militärische Gewalt nur als letztes Mittel bei andauernden schwersten Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden. Zwingend muss ein Mandat des UN-Sicherheitsrates vorliegen. Militärisches Eingreifen muss „begründete Aussicht auf Erfolg“ haben und Teil eines „friedens- und sicherheitspolitischen Gesamtkonzepts“ sein. Dies ist augenscheinlich bei dem Militäreinsatz in Syrien nicht der Fall. Die Versuche, den islamistischen Terror durch Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak zu stoppen, haben eher das Gegenteil bewirkt: sie haben die Gesellschaften in diesen Ländern destabilisiert, den Terror gefördert und große Flüchtlingsströme ausgelöst. So trägt auch die Politik des Westens hier eine Mitverantwortung für die Entwicklungen der letzten Jahre.

Darum rufen wir auf zur Besonnenheit und fordern die politisch Verantwortlichen auf, keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen, sondern genau zu prüfen, welche Instrumente gegen den Terrorismus tatsächlich helfen.

Wir rufen alle friedliebenden Menschen in allen Religionsgemeinschaften auf, die Stimme zu erheben,für friedliche Lösungen zu beten und tatkräftig einzustehen. Wir erinnern an die Friedensbotschaft Jesu, die den Christinnen und Christen den Weg weist. Mit unseren Schwestern und Brüdern aus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und in vielen Kirchen weltweit sind wir überzeugt: „Frieden kann nicht mit Waffen gewonnen werden“.

Karlsruhe, 03.12.15“