Vorweg: Zeitungen interessierten mich schon früh. Meine Eltern hatten zu DDR-Zeiten in Halle die LDZ (Liberal-demokratische Zeitung), Organ der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) abonniert. Die las ich bereits in jungen Jahren tagtäglich. Ansonsten hörte ich den Deutschlandfunk auf Mittelwelle, Westfunk, und später, als endlich ein Fernsehgerät (schwarz-weiß) im Haushalt war und wir nicht mehr zum Gucken zur Nachbarin mussten, sahen wir ARD, das erste Programm. Und damit u.a. die Tagesschau. Sie war sozusagen ein Korrektiv zu den SED-propagandandistisch gefärbten Nachrichten in der DDR. Die Aktuelle Kamera, Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, wurde eigentlich fast nie geschaut.
Mein Wunsch Journalist zu werden stand früh fest. Meine Mutter winkte ab. Was mich nicht abhielt, beim „Schulkurier“, einer von der Staatsbürgerkunde-Lehrerin an der in meiner Schule ins Leben gerufene Schulzeitung als Redakteur für Außerschulisches mit Freuden mitzuarbeiten.
Nach Berufsausbildung zum Elektromonteur und der Armeezeit stieg ich bei der SED-Bezirkszeitung Freiheit (heute Mitteldeutsche Zeitung) als Volkskorrespondent ein. Die Begeisterung für’s Reportieren und Schreiben war nicht eingeschlafen. Im Gegenteil! Schließlich unterbreitete mir mein Lokalredakteur die Offerte: Du kannst Journalist werden. „Wir delegieren dich.“ Fachschulstudium in Leipzig! Ich war geplättet, begeistert und dann aber bald auch hin- und hergerissen. Verbunden war die Offerte mit der Erwartung Kandidat und Mitglied der SED zu werden. Zwei Wochen haderte ich mit mir. Letztendlich schlug ich schweren Herzens dieses Angebot aus …
Im schicksalsträchtigen Jahr 1989 verschlug es mich über Ungarn in die BRD. Eines Tages traf mich mit Freunden, die der DDR ebenfalls den Rücken gekehrt hatten, in Koblenz. Hochdroben überm Deutschen Eck (!) in einem Restaurant auf der Festung Ehrenbreitstein schrieb ich eine Ansichtskarte an meine Lokalredaktion in Halle. Ich wünschte ihnen viel Glück für die neue Zeit nach der Wende. Nun, befand ich sinngemäß, könnten sie ja frei und frank von der Leber weg schreiben und eine gute Zeitungsarbeit machen. Ich weiß nicht, ob diese Ansichtskarte heute in Halle noch existiert. Allerdings schäme ich mich ein bisschen für diese Karte. Weiß ich doch längst: Waren es zu DDR-Zeiten ideologische Zwänge, die die journalistische Arbeit einschränkte, so haben Journalisten im Kapitalismus mit anderen Zwängen und hierzulande auch wieder mit welchen ideologischer Art zu tun, weshalb sie eben nicht immer frei von der Leber schreiben können. Die Publizistin Daniela Dahn formulierte es, glaube ich mich zu erinnern, einmal – das Allgemeine betreffend – so: Die Repressionen im jeweils anderem Staat waren andere, sind aber vielleicht in der Wirkung ähnlich.
Der Journalist Uli Gellermann (Rationalgalerie) zitiert Daniela Dahn: Auch deshalb muss die Schriftstellerin heute feststellen: „Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“. Dahn war eine von denen, die in den Jahren 1989/90 versuchten, eine andere, eine bessere DDR zu erreichen. Wenn sie heute auf den kurzen, historischen Moment des „Wir sind das Volk“ zurückblickt, analysiert sie kühl: „Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten.“ Und auch darin, dass „95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens in westliche Hände übergingen. Damit war über den Grad der Abhängigkeit der Neubundesbürger entschieden.“
Man verzeihe mir den kleinen Exkurs in die Vergangenheit. Nun aber zum Buch, das hier besprochen werden soll: „Die Propaganda-Matrix“ von Michael Meyen.
Auch jemand, der aus der DDR kommt. 1967 in Bergen auf Rügen geboren, wurde er bereits mit 11 Jahren Volkskorrespondent. Später schloss er ein Journalistikstudium an der Uni Leipzig ab. Seit 2002 ist er Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
„Der Journalismus ist tot“
Vom Rubikon-Verlag heißt es einleitend zum Buch: „Der Journalismus ist tot. Mit oder an Corona gestorben, nach langem Siechtum. Schon vorher war die „vierte Gewalt“ schwer krank, hing arbeitsunfähig und durchseucht von Politik am Tropf der Industrie. Das Virus hat dem Patienten nur den finalen Schlag versetzt. Im Untergang bekämpft der Medien-Mainstream alle bis aufs Messer, die seinen Job übernehmen könnten. Es wird verboten, verleumdet, zensiert und gelöscht. Wer die falschen Fragen stellt, wird zum Schweigen gebracht. Michael Meyen sagt: Medienkritik war gestern. Hört auf, die News der Propagandamaschine als Fakes zu entlarven. Schimpft nicht länger auf Tagesschau, Claus Kleber, Spiegel und die Zensurmaschine Google. Dass wir beständig manipuliert werden, wussten schon die weisen Alten: Edward Bernays, Walter Lippmann, Noam Chomsky. Nun aber ist es an der Zeit, deren Wissen ins Hier und Jetzt zu überführen — um zu verstehen, was gerade geschieht, vor allem aber als Anleitung für die so dringend nötige Medienrevolution.
Michael Meyen zerstört den Mythos der Leitmedien, befreit uns aus der Propaganda-Matrix und macht all jenen Mut, die sich für eine bessere, gerechtere Welt engagieren: Freiheit ist möglich, braucht jedoch einen vollkommen neuen Journalismus.“
Ist der gehörig auf den Hund gekommene Journalismus noch zu retten? Ulrich Teusch: „Pure Zeitverschwendung“, Leitmedien „nicht mehr reformierbar“
Zustimmung! Für mich selbst war der Journalismus mindestens seit 2014 (Ukraine-Krise) gehörig auf den Hund gekommen. Schweres Versagen in Sachen „vierte Gewalt“. Aber ja: Schon vorher war der Journalismus krank, siechte in der Tat schon dahin, wurde immer mehr zur „Lückenpresse“ (Ulrich Teusch) [hier]. „Tagesschau und Tagesthemen, Süddeutsche Zeitung und Spiegel auf Fehler und Auslassungen hinweisen, in Artikeln oder in Briefen an die Redaktionen?“ schreibt Meyen (S.206) auf die Frage hin, was zu tun sei. „’Pure Zeitverschwendung‘, sagt Ulrich Teusch, ein Politikwissenschaftler, der auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet und vor ein paar Jahren das Schlagwort „Lückenpresse“ populär gemacht hat. Den Beweis erbrachten „Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, beide hochbetagt, der eine früher Redakteur der Tagesschau der andere mehr als dreißig Jahre als Jurist beim NDR, haben ab 2015 gut vierhundert Briefe an die Rundfunkräte im Norden, an Intendant Lutz Marmor und an Kai Gniffke geschickt, der in Hamburg für Tageschau und Tagesthemen zuständig war. (…) In den Beschwerden geht es um ‚Faktenfinderei‘ (‚unter aller Sau‘), um ‚Kampagnen‘, um ‚dreckigen Journalismus‘. Dann geben die beiden Männer auf.“ Immer habe es geheißen, es liege keine Verstoß vor. Inzwischen ist sich Teusch sicher, dass die Leitmedien ’nicht mehr reformierbar sind’“
Mein Verhältnis zur einst geschätzten Tagesschau, „DIE MACHT UM ACHT“, längst einen Knacks bekommen (hier).
Michael Meyen schreibt in seiner Leseanleitung (S.8/9): „’Lügenpresse halt die Fresse‘: „Dieser Satz steht in meinem Buch Breaking News (C.S; hier meine Rezension) und doch habe ich auch schon 2018 wieder an einem Zeitgeist vorbeigedacht, der sich längst einig war, dass uns die Regierenden betrügen oder wenigstens die Nachrichten manipulieren. Der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlinge, CO 2 und das Klima, Donald Trump, überhaupt das Bashing der ‚Populisten‘. Und ich kam mit dem Imperativ der Aufmerksamkeit und mit der Idee, dass Journalismus und Medien ganz anders wirken als bisher gedacht. In Kurzform: „Es kann schon sein, dass das, was wir sehen, hören, lesen, etwas mit den Gefühlen macht, mit Einstellung, Wissen, Handeln.“
Michael Meyen befindet: „Aus der Medien-Epidemie ist eine Medienkatastrophe geworden“
Meyen weiter: „‚Die Medien-Epidemie‘ stand über einen Text, den ich am 18. März 2020 in meinem Blog Medienrealität veröffentlicht habe. Zitat: ‚Corona hat die Medienrealität gekapert, ohne dass die Redaktionen sich wehren konnten, weil der Imperativ der Aufmerksamkeit in einem kommerziellen Mediensystem auch die gebührenfinanzierten Angebote regiert. Corona ist Medienlogik pur. Journalismus war schon immer Selektion.“
Eine Seite weiter befindet der Autor: „Aus der Medien-Epidemie ist eine Medienkatastrophe geworden.“ Meyen verspricht nicht zu viel: „Dieses Buch sagt, wie es dazu kommen konnte, und weist so über den Tag hinaus. Es greift dafür tief in die Theoriekiste. Noam Chomsky natürlich und Propagandaforscher wie Jaques Ellul. Dazu Ulrich Beck, Niklas Luhmann und Nick Couldry, Michael Foucoult, Pierre Bourdieu und Chantal Mouffe, Walter Lippmann und Edward Bernays.“
Empfehlenswerte Autoren mit wichtigen Werken wie. Keine Angst, die Leser müssen sie nicht alle kennen (bekommen aber möglicherweise Lust, das eine oder andere später zu lesen). Meyen setzt uns verständlich ins Bild.
„Vor allem aber schreibe ich über die Arenen, in denen die Welt entsteht, in der der wir leben, und in die wir eintauchen können“
Michael Meyen (S.11): „Die Matrix, aus der wir nicht entkommen können und die wir verstehen müssen, wenn wir sie umschreiben wollen. Deshalb schreibe ich über Herrschaftsverhältnisse, die sich auf die Macht stützen, Realität zu definieren, über das Wahrheitsregime der Gegenwart, über Propaganda und über das Filtermodell. Vor allem aber schreibe ich über die Arenen, in denen die Welt entsteht, in der der wir leben, und in die wir eintauchen können. Wenn uns nicht gefällt, was dort passiert.“
Warum also Matrix?
Meyen nimmt sich den Inhalt des bekannten Wachowski-Film „Matrix“ zu Hilfe. Der Autor schränkt jedoch ein (S.13): „Ich bin nicht Morpheus. Mir fehlt der Glaube, dass es nur einen Auserwählten braucht, um die Matrix zu zerstören. Ich glaube nicht einmal, dass man die Matrix überhaupt zerstören kann. Es geht deshalb in diesem Buh auch nicht um Zerstörung, sondern um Aufklärung und um das, was aufgeklärte Menschen aus der Matrix machen können. Blaue Kapsel oder rote Kapsel: Sie haben sich schon entschieden. Sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen.“ Da liegt der Autor völlig richtig! Jedenfalls bei mir. Weiter: „Sie wissen genau wie Neo, der Held in dem Action-Klassiker Matrix, dass mit der Welt etwas nicht stimmt, die wir für die Wirklichkeit halten müssen, und wollen verstehen, wo und wie die Realität produziert wird, die man uns rund um die Uhr ins Haus liefert.“
„Was für die Fische das Wasser ist, sind für uns die Medien“
Eingangs verweist der Autor auf einen Kollegen aus Amsterdam: Mark Deuze (S.10): „Wenn Fische reden könnten, sagt Mark Deuze, dann würden sie über das Wasser sprechen. Und was machen wir? Wir unterhalten uns über Algen, Quallen und Heringe, Plastikpartikel, Boote und vielleicht über die Badehose, die dort hinten blinkt. Wasser lassen wir Wasser sein. Nicht einmal auf dem Gymnasium gibt es entsprechende Kurse. Was für die Fische das Wasser ist, sind für uns die Medien.“
Im Verlaufe des Buches wird Michael Meyen zum Hering, der scharfäugig über die Welt der Medien fliegt. Klar, wer sich etwas vom Objekt entfernt, erhebt, sieht mehr. Erkennt wichtige Verzweigungen und vor allem wichtige Zusammenhänge. Was er seinen Lesern bietet, die ja nicht nur Leute, die „was mit Medien machen“, sind, sondern hoffentlich auch viele Medienrezipienten, sind glasklare und bei genauerer Betrachtung, einsichtige Analysen. Wobei Meyen gewiss zu gute kommt, dass er sowohl den Medienbetrieb in der DDR als auch den im Westen geprägten, dann den in Gesamtdeutschland kennt und ins Verhältnis setzen kann. Er erkennt sogar zuweilen Ähnlichkeiten trotz der einst zwei unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Und nicht zu vergessen: Meyen hat Zusammenbruchserfahrung, erlebte bereits als Journalist mit, wie ein Land sozusagen abschmierte. Was vielen Westdeutschen halt fehlt und sie deshalb manchmal mit gewisser Hybris und ja: auch naiv-tapsiger Ahnungslosigkeit – unterwegs sind, wie ich meine. Nach dem Motto: Wir sind die Guten. Sie könnten einer Täuschung unterliegen.
Michael Meyen tastet sich – als fliegender „Hering“ – über so interessante Kapitel wie „Die Definitionsmacht der Medien“ (S.25), „Das Wahrheitsregime“ (41), „Warum ich von Propaganda spreche“ (S.63) und „Das Filtermodel“ (S.76) im Buch voran. Alles interessant, alles drin, was verstanden werden sollte.
Dann hat er (S.101) das „Zwischenspiel: Wie ich Antisemit und Verschwörungstheoretiker wurde“ eingeschaltet.
Via Meyens Blog Medienrealität: „Sie planen eine Veranstaltung zum Thema „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“? Sie möchten dort diskutieren, welche Folgen es für die Gesellschaft hat, wenn Parlamente die BDS-Bewegung als antisemitisch einstufen und so de facto öffentliche Kritik an der israelischen Regierungspolitik einschränken? Ich rate Ihnen: Überlegen Sie sich das noch einmal. Überlegen Sie vor allem, was hinterher alles über Sie im Internet stehen wird. Ein Erfahrungsbericht.
Zur Erinnerung: Am 7. November 2018 gab es eine Veranstaltung mit genau diesem Titel, in der Reihe „Medienrealität live“. Gast: Andreas Zumach, Journalist, seit 1988 Korrespondent in Genf und fraglos einer der wichtigsten Experten in Sachen Völkerrecht und Nahost. Anlass war der Anti-BDS-Beschluss des Münchener Stadtrats von Ende 2017. In Kurzform: keine Zuschüsse und keine Räume mehr für Personen und Organisationen, die die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ unterstützen (vgl. Humanistische Union 2018).“
Nebenbei bemerkt: In Dortmund gab es ein ähnliches Hickhack. Der eben gleiche Vortrag von Andreas Zumach wurde schon im Vorfeld von den üblichen Verdächtigen angefeindet. Schließlich erklärte sich eine Kirche bereit, die Veranstaltung aufzunehmen. Draußen Protestierende, die bis zum Schluss noch auf ein Verbot der Veranstaltung gehofft hatten, drinnen hielt die örtliche DGB-Chefin eine vorsichtige Ansprache und verlas ein vom DGB verfasstes „Positionspapier“. Ich hatte meiner Redaktion vorgeschlagen, darüber zu schreiben. Schon das wurde beargwöhnt. Stimmte dann aber zu. Der verantwortliche Redakteur kam am Abend persönlich mit düsterem Gesicht in die Kirche, um nach dem rechten zu sehen. Bloß niemand auf den Schlips treten! Es war ein überaus interessanter Abend. Woran sich nichts Antisemitisches finden ließ. Ich schrieb den Bericht, lieferte ihn ab. Es hieß dann, er könne „so nicht veröffentlicht werden“. Dahinter steckte wohl die Befürchtung die Jüdische Gemeinde oder sonst wer könnte daran Anstoß nehmen. Ich veröffentlichte dann den Bericht auf meinen Blog.
Kontaktschuld!
Michael Meyen musste auch die unschöne Erfahrung machen, was „Kontaktschuld“ bedeutet. Das erste Mal, schreibt er im Buch, habe er auf der IALANA-Medientagung 2018 in der Jugendkulturkirche am Lutherplatz in Kassel von diesem Begriff – der zum Abstempeln (sagen wir: zum Diskreditieren) benutzt wird – gehört. Wessen hatte er sich schuldig gemacht? Ein Flugblatt im Vorfeld der Veranstaltung mit Andreas Zumach hatte verkündet: „Der Veranstalter Michael Meyen gab dem Querfrontaktivisten Ken Jebsen ein Interview und schreibt für das Querfrontmedium Rubikon .“
Weiter schreibt Meyen (S.111): „Außerdem wird meine Rezension der IALANA-Tagung in Kassel erwähnt: ‚eine ganze Ansammlung des Who-Is-Who der Freunde alternativer Fakten’“.
Anmerkung: ich selbst war auf der Tagung anwesend und empfand diese als äußerst interessant: hier mein Bericht. Leider hatten alle von der IALANA eingeladenen Medienvertreter von Leitmedien oder öffentlich-rechtlichen Medien abgesagt.
Die vier Arenen in denen Propaganda-Matrix
Nach diesem „Zwischenspiel“ folgt der m.E. wichtigste Part des Buches: die vier Arenen in denen Propaganda-Matrix entsteht. „Arena 1: Diskurs-Ordnung (S.124)“, „Arena 2: Medienlogik“ (S.144), „Arena 3 Medialisierung (S.160) und „Arena 4. Das Journalistische Feld“ (S.176)
Wir brauchen anders aufgestellte Medien
Was lernen wir aus diesem wertvollen Buch? Viel. Wir brauchen anders aufgestellte Medien. Meyen (S.212): „Warum erlauben wir, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von der Politik und Wirtschaftslobbys kontrolliert wird? Müsste es nicht umgekehrt sein? Warum bezahlen wir Leitmedien, die behaupten, neutral und unabhängig zu sein, aber permanent PR für das kreative urbane Milieu machen und alles demontieren, was diesem Milieu in die Quere kommt? Und sollte der Rundfunk nicht denen gehören, die ihn finanzieren (müssen)?
Die Debatte möchte Michael Meyen nicht vorwegnehmen „und damit auch nicht viel konkreter werden“.
Wo der Schlüssel für die Zukunft liegt
Nach Walter Lippmann sieht Meyen den „Schlüssel für die Zukunft in den Schulen, an den Universitäten sowie an den Journalismusakademien und damit an den Orten, die für das prädestiniert sind, was Jacques Ellul soziologische Propaganda nennt“ liegen. „Hier werden die Botschaften verbreitet, die alle für selbstverständlich halten und später einfach nachplappern, wenn sie Filme drehen, Leitartikel schreiben oder Nachrichten sortieren. Zu einer Medienausbildung muss deshalb mehr gehören als das Training von Denkvermögen und Sprachsensibilität. Es braucht die Fähigkeit, gewissermaßen von außen auf die eigene Gesellschaft zu schauen. Vielleicht bedarf es dafür sogar eine Zusammenbruchserfahrung. Das, was Walter Lippmann und Karl Bücher mit dem Ersten Weltkrieg widerfahren ist und mir 1989 mit dem Ende der DDR“, so Michael Meyen. Ich kann mir das gut vorstellen.
Der Autor gibt zu bedenken: „Wer auf einer der Demos war und seine eigene Wahrnehmung mit dem verglichen hat, was die Leitmedien hinterher daraus gemacht haben, dürfte für den Rest seines Lebens gegen Leichtgläubigkeit geimpft sein.“
Der Weg in die Freiheit
Anzeichen dafür optimistisch zu sein? Vielleicht zu früh. Meyen bremst etwas ab: „Sie wissen auch, dass die Gegner der Freiheit in jeder der vier Arenen schier übermächtig sind.“ Man könne also ahnen, „dass jeder Weg in die Freiheit nahezu zwangsläufig aus ‚herrschenden Machtordnung“ hinausführen muss“.
Bombastisch gut, das Buch! Praktischerweise folgen die Fußnoten immer sofort dem jeweiligen Kapitel. Nach der Lektüre sind wir wieder ein Stück klüger. Und zum Nachdenken regt das klug und aus reichlich Erfahrung schöpfend geschriebene Werk obendrein noch an. Und ein klasse Cover, das nicht nur gut ausschaut, sondern sich auch gut anfühlt! Beim Aufblättern fällt einen weiß auf schwarz der Satz ins Auge: „Die Zukunft gehört den Mutigen.“ So sei es! Michael Meyen sagt, was ist. Leitspruch von Rudolf Augstein für das ehemalige Nachrichtenmagazin Spiegel. Der tut das längst nicht mehr. Der macht Propaganda. Der Ausspruch „Sagen, was ist“ war nach Wikipedia bereits 1906 von Rosa Luxemburg als Paraphrase eines Ausspruchs von Ferdinand Lassalle 1862 geprägt worden: „Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, ‚das laut zu sagen, was ist’“
Meyen lässt auch ein wenig durchblicken, was sein könnte. Doch momentan sind die Zeiten nicht so. Oder werden wir vielleicht doch bald einen Kipppunkt erleben und damit Zusammenbruchserfahrung gewinnen? Nachdem der Flutkatastrophe und dem Afghanistan-Desaster drängst sich fast so ein Gefühl auf …
Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft
Softcover
224 Seiten
1. Auflage
20,5 cm x 13,5 cm
Erscheinungsdatum: 20.07.2021
Artikelnummer 978-3-96789-020-4
18,00 Euro
Zur Person Michael Meyen
1992 Diplomjournalist, 1995 Promotion, 2001 Habilitation, alles in Leipzig. 2001/2002 Gastprofessur an der TU Dresden. Seit April 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der LMU. Schwerpunkte: Journalismus und Medienorganisation, DDR, Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft, qualitative Methoden (Short version in english – PDF). Best Paper Award der ICA, Communication History (2010 und 2015, jeweils mit Anke Fiedler). Co-Sprecher des bayerischen Forschungsverbundes „Fit for Change“ (Laufzeit 2013 bis 2017). Initiator und 2018 bis 2020 Co-Sprecher des bayerischen Forschungsverbundes „Zukunft der Demokratie“ (Laufzeit bis 2022), Sprecher des BMBF-Forschungsverbundes „Das mediale Erbe der DDR“ (2018 bis 2022).
„Sagen, was ist.“ – Dieser
Leitspruch des Gründers des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“,
Rudolf Augstein stammt noch aus Zeiten, da für diese Publikation
noch die Bezeichnung „Sturmgeschütz der Demokratie“ passend war.
Tempi passati! Böse Zungen bezeichnen den „Spiegel“ heute
inzwischen verächtlich als Bildzeitung für Intellektuelle. Doch das
Augstein-Motto „erinnert“ (noch heute), so SPIEGEL ONLINE am 4.
November 2012 auf Facebook, den 89. Geburtstag Rudolf Augsteins, „uns
jeden Tag beim Betreten des Hauses an die eigentlich einzige und
wichtigste Aufgabe von Journalisten.“ Ist das so? Einen gewissen
Claas Relotius hinderte es nicht daran, Lügengeschichten zu
schreiben.
Wenn Journalismus zur Glaubenslehre
wird
Der Westend Verlag fragt betreffs des Buches auf dessen Rückseite: „Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“ Marcus B. Klöckner: „Sagen Medien wirklich, „was ist“?“ und liefert die Antwort gleich hinterdrein: „Eindeutig nein! In den tonangebenden Medien ist ein kanonisierter Meinungskorridor entstanden, in dem unliebsame Fakten viel zu oft keinen Platz finden. Das Versagen der Qualitätskontrolle des Spiegel im Fall Relotius, die fehlgeleitete Berichterstattung zur Skripal-Affäre und die NATO-Reklame großer Nachrichtensendungen sind nur die prominentesten Beispiele einer grundlegenden Fehlentwicklung im Journalismus, die bereits bei der Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis der großen Medienkonzerne beginnt. Anhand vieler konkreter Fälle zeigt Marcus B. Klöckner, wie Medien eine verzerrte Wirklichkeit schaffen, die ähnlich der viel gescholtenen Filterblasen der „sozialen“ Medien mit der Realität oft nur noch wenig zu tun hat. Die Konsequenzen sind weitreichend – für unsere Demokratie, für uns alle.“
Mein Eindruck vor Jahren: Vieles
stimmte da nicht. War zumindest schräg
Für mich persönlich begannen
bestimmte „Produkte“ des Journalismus besonders im Zuge der
Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine an zu riechen –
oder ganz wie man will: ein Geschmäckle zu entwickeln.
Da stimmte vieles nicht. War zumindest
schräg. Da wurde einseitig und antirussisch berichtet. Und es wurde
seither nicht besser.
Wachhund sein im Sinne der Vierten
Macht – Fehlanzeige!
Aber es begann schon vor der
Ukraine-Krise. Immer weniger wurde Journalismus dem gerecht, was mit
„Vierter Gewalt“ gemeint ist. Heißt, den Wachhund machen, den
Politikern gehörig auf die Finger schauen und eben: Sagen, was ist.
Schon in der Einleitung zu seinem Buch
schreibt Klöckner: „Ein Weltbildjournalismus bestimmt in weiten
Teilen der Mainstreammedien die Berichterstattung. Zwischen
Journalisten und Politikern herrscht weitestgehend ein
Nichtangriffspakt – Konflikte, die über eine Scharmützel
hinausgehen, finden sich allenfalls auf Nebenschauplätzen. Medien
loben wahlweise Merkels ‚Augenringe des Vertrauens‘ oder stimmen
(gemeinsam mit einem Teil der Politiker) in den Chor des
‚Uns-geht-es-doch-gut-Liedes‘ ein (S./10)“. Kritik von Rezipienten
an einzelnen Beiträgen wird abgebügelt und offenbar als Bedrohung
empfunden, Kommentarfunktionen zuweilen ausgeschaltet.
Zensur?
Gleich im ersten Kapitel geht es ab
S.17 um „Zensur“. Medienvertreter reagierten auf einen solchen
Vorwurf „gereizt“, heißt es dort. „Schnell wird beteuert, dass
einzelne Journalisten, aber auch komplette Redaktionen frei in ihren
Entscheidungen seien. Weder rufe Merkel persönlich an und diktiere,
welche Informationen in den Medien auftauchen dürfen, noch gäbe es
sonst eine ‚mächtige Gruppe‘, die ihnen vorschreibe, wie ihre
Berichterstattung auszusehen habe. Ist das nicht interessant? Auf der
einen Seite stehen Medienvertreter, die durchaus glaubhaft
versichern“, schreibt Klöckner, „dass sie keiner Zensur
unterworfen sind, während sich auf der anderen Seite ein Publikum
bemerkbar macht, das ebenso fest vom Gegenteil überzeugt ist.“
Uns doch, meint Buchautor Klöckner:
Zensur ist in unserem Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die
Regel
Freilich ist klar: Zensur als solche
wird nicht ausgeübt. Dennoch: Marcus B. Klöckner führt uns
LeserInnen dahin, „(…) zu erkennen, dass Zensur in unserem
Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. (S.12)“ Er
führt weiter aus: „Wir werden eine spezielle Form der Zensur
kennenlernen“, verspricht er, „die sich zwar in manchem von einer
staatlichen, einer von oben verordneten Zensur unterscheidet, aber in
ihrer Auswirkung kaum nachsteht. Es handelt sich dabei um eine
Zensur, die tief in unser Mediensystem eingeschrieben ist. In den
Medien ist das zu erkennen, was wir als eine
sozialstrukturell ausgeformte Zensur
sprachlich erfassen wollen.“
Medienwirklichkeit,
Schieflagen in der Berichterstattung und „Wirklichkeitsentgleisungen“
Ein
weiteres Kapitel befasst sich mit der Medienwirklichkeit. Und zwar
anhand von zahlreichen Beispielen, die veranschaulichen, „dass
Schieflagen in der Berichterstattung nicht einfach nur durch Fehler
bei der journalistischen Arbeit entstehen (die menschlich sind und
jedem passieren können) und dürfen), sondern auf
Wirklichkeitsentgleisungen mit Ansage zurückzuführen sind.“
Foto: Christian Evertsbusch, via Pixelio.de
Die
LeserInnen würden sehen, so Klöckner, „wie schwer und folgenreich
die Wirklichkeitsbrüche in der Berichterstattung sind, und
verstehen, dass wir gut daran tun, uns eine alte Erkenntnis des
deutschen Soziologen Niklas Luhmann in Erinnerung zu rufen“. „In
seiner berühmt gewordenen Auseinandersetzung zur Realität der
Massenmedien sagt Luhmann gleich zu Anfang: ‚Andererseits wissen wir
so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen
können.’“
Journalisten
und Politiker
In
weiteren Kapiteln des Buches betrachtet Klöckner die Beziehungen
zwischen Journalisten und Politikern und betrachtet, „was es
bedeutet, wenn Journalisten über Macht verfügen, Rederecht
abzusprechen oder anzuerkennen.“
Die
Oberfläche der Medienkritik durchdringen
Dem
Autor geht es hauptsächlich darum, „die Oberfläche der
Medienkritik zu durchdringen, um die mehr oder weniger verschleierten
sozialen Wirkprinzipien offenzulegen, die für eine Berichterstattung
mitverantwortlich sind, die dazu führen, dass viele Mediennutzer
glauben, die Medien müssten von irgendeiner verborgenen Macht
gesteuert werden.“
Faktoren,
die auf den Journalismus auch eine Wirkung haben
Andere
Faktoren, die auf den Journalismus freilich auch eine Wirkung haben,
wie Besitzverhältnisse in den Medien, Pressekonzentration,
hochproblematische Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung von
Journalisten, Zeitdruck, fehlende Möglichkeit und Finanzierung von
investigativen Recherchen und Auswirkungen, die sich aus den
Gesamtproduktionsbedingungen und Herrschaftseinflüsse (S.14) sind
bewusst außen vor gelassen worden, so Klöckner – will sie aber
keineswegs kleinreden.
Die
Medien einer genaueren Betrachtung zu unterziehen ist gelungen
Mit
dem vorliegenden Buch ist gut gelungen, die Medien einer genaueren
Betrachtung zu unterziehen und „ihr Sein und einige ihrer
Funktionsweisen vor allem aus einem kritisch soziologischen
Blickwinkel“ heraus zu „betrachten“.
Die
beschriebenen Vorgänge dürften dem Laien verständlich werden
Stellenweise
ist das Buch zwar durchaus komplex. Es habe Nachteile und Vorteile,
wie der Autor selbst schreibt. Die Nachteile haben damit zu tun, dass
ein breiter Leserkreis erreicht und zu diesem Behufe nicht zu tief in
sozialwissenschaftlich Theorien hinein getaucht werden sollte. Denn
das Buch ist immer so verfasst, dass darin beschriebene Vorgänge
auch dem Laien – der überwiegenden Mehrheit also der
Medienrezipienten – immer verständlich werden.
Jedenfalls
ist es m.E. gelungen, wenigstens einige Gründe, „die für die
schweren Verwerfungen im journalistischen Feld verantwortlich sind“,
wie Klöckner noch in der Einleitung dargelegt hat, „anschaulich“
zu machen. Vorteil ist, dass den LeserInnen dennoch Möglichkeiten an
die Hand gegeben werden, sich auch in etwas bezüglich komplexeren
wissenschaftlichen Theorien kundig zu machen und sie zu verstehen,
ohne zu tief in deren Breite und Vielschichtigkeit einzudringen.
Und
ich stimme unbedingt dem letzten Satz in der Einleitung zu: „Die
Schäden an unserem demokratischen System, die durch die Medien
verursacht werden, die weitestgehend ihrer Wächterfunktion nicht
mehr nachkommen, sind bereits gewaltig.“
Journalisten
mit Stallgeruch und Überzeugungstäter
Nebenbei
bemerkt: Es sind vielmehr andere Faktoren, die Journalisten
dazu bringen, so zu schreiben, dass manch Rezipient auf die Idee
kommt, da wurde Zensur auf den Schreibenden ausgeübt. Das geht
subtiler. Einerseits hat es mit der Herkunft von Journalisten zu tun:
Viele kommen aus Akademikerhaushalten und haben einen bestimmten
Stallgeruch verbunden mit einem vorgeprägten Denken, das mit einem
bestimmten Weltbild zu tun hat. Dann gibt es auch eine Reihe von
Überzeugungstätern, wie etwa Claus Kleber (ZDF-heute journal), der
als Kuratoriumsmitglied der Atlantikbrücke überzeugt ist gewiss
hundertprozentig von dem, was er von sich gibt. Der kann gar nicht
anders und fühlte sich offenbar pudelwohl dabei, während vielen
Zuschauern der Hut hochgeht, wenn sie hören müssen, was Kleber so
von sich gibt und wie er mit bestimmten Interviewpartnern umspringt.
Autor Marcus B. Klöckner hat ein
Kommentar zum Erscheinen seines Buches „Sabotierte
Wirklichkeit“verfasst:
„Zensur ist in unseren Medien keine Ausnahme, nichts worüber
es erst einmal zu diskutieren gälte. Sie ist Realität. Journalismus
ist zudem vor allem in den Zentren der diskursbestimmenden Medien zu
einer Art Glaubenslehre geworden. Zuerst das eigene Weltbild
bedienen, dann kommen die Fakten.“
Folgt man den Darstellungen und Einlassungen hochrangiger Akteure
aus den Medien zu ihrer eigenen Zunft, dann lässt sich sehr oft
folgender Eindruck gewinnen: Ja, individuelle Fehler passieren, ja,
es gibt Fehlentwicklungen im Journalismus, aber im Großen und Ganzen
liefern Medien eine ausgezeichnete Berichterstattung ab. Zensur? Ein
ideologisch kontaminierter Journalismus? Eine Berichterstattung, die
herrschaftsnah ist? Gerade auch in den Qualitätsmedien? Nichts davon
gibt es, so der Tenor. Mit dieser skizzenhaften Zeichnung jener
Grundhaltung, die verstärkt vor allem in den Zentren der
diskursbestimmenden Medien zu finden ist, wird sichtbar, warum es
Mediennutzer so schwer haben, mit ihrer Kritik im journalistischen
Feld Gehör zu finden. Ein Problem zu beheben, setzt voraus, das
Problem auch zu erkennen. Wenn aber Alphajournalisten mit Nachdruck
selbst schwere und schwerste Verwerfungen und Schieflagen innerhalb
ihrer Branche nicht einmal ansatzweise erkennen wollen oder erkennen
können, dann wird sich im Journalismus und in den Medien nichts
ändern.
Wer Medien über einen längeren Zeitraum beobachtet, wer sich
genauer mit dem journalistischen Feld kritisch auseinandersetzt, kann
nur zu einem sehr düsteren Befund kommen. Der französische
Soziologe Pierre Bourdieu wurde einmal im Hinblick auf die Medien in
Frankreich gefragt, ob er das journalistische Milieu für
reformierbar halte. Seine Antwort darauf: „Die Lage spricht sehr
dagegen.“ Das war, wohlgemerkt, bereits im Jahr 1995. Bourdieu
verstand die mehr oder weniger verschleierten sozialen
Wirkmechanismen, aber genauso auch die Dimensionen von Macht und
Herrschaft, die sich gerade auch in einem so wichtigen Feld wie dem
journalistischen finden lassen, sehr genau. Viele seiner Einlassungen
zu den Medien können wir, mit Abstrichen hier und da, auch auf die
Medien in unserem Land und auch auf die Medien in vielen anderen
demokratischen Ländern übertragen. Wer mit Bourdieus
Herrschafts- und Gesellschaftsanalysen Medien, Journalismus und das
Verhalten von Journalisten näher betrachtet, kann erkennen, dass, um
es salopp zu sagen: Hopfen und Malz verloren ist. Eine
sozialisationsbedingte Blindheit aufseiten nicht unbeträchtlicher
Teile der Journalisten gegenüber real vorhandenen Macht- und
Unterdrückungsverhältnissen, die auch in demokratischen
Regierungsformen existieren; ein mehr oder weniger naiver Glaube an
die Lauterkeit von Institutionen und Mandatsträgern; real
existierende Herrschaftseinflüsse auf die Medien;
Konzentrationsprozesse genauso wie prekäre Arbeitsbedingungen für
nicht wenige Journalisten. All das führt zur Untergrabung eines
Journalismus, wie er eigentlich sein sollte und wie er für eine
gesunde Demokratie lebensnotwendig ist.
Festzustellen ist: In unserem Mediensystem hat sich eine Zensur
verfestigt, die ohne externen Zensor funktioniert und aus dem
journalistischen Feld selbst kommt. Die soziale Zusammensetzung
innerhalb der Medien, der Ausschluss nahezu ganzer Schichten und
Milieus aus dem journalistischen Feld, die Dominanz bestimmter
Weltanschauungen in der Berichterstattung, haben dazu geführt, dass
bestimmte Perspektiven, Meinungen, Thesen und Ansichten mindestens
innerhalb der diskursführenden Medien nahezu völlig atomisiert
sind. Wir haben es in unserem Mediensystem mit einer
sozialstrukturell ausgeformten Zensur zu tun, die tief in den
Wahrnehmungs- und Denkschemata eines beträchtlichen Teils der
Feldakteure verankert ist. Zensurhafte Einzelentscheidungen
potenzieren sich, eine medienübergreifende, dauerhafte Zensur
entsteht. Die Unterdrückung all jener Perspektiven, die für
Irritationen bei der Fraktion der „Weltbildjournalisten“ sorgt,
ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Je politischer ein Thema
ist, umso stärker werden die wertvollen journalistischen
Kriterien der Auswahl und Gewichtung von Nachrichten und
Informationen pervertiert – im Sinne der im journalistischen Feld
vorherrschenden politischen Glaubensüberzeugungen.
Es ist davon auszugehen, dass viele Journalisten selbst nicht
einmal erkennen, wie tief das Zensurhafte in ihren Entscheidungen
mitschwingt. Unter anderem auch deshalb, weil ihnen die positiven
Rückmeldungen aus dem Feld vermitteln, dass ihre Auswahl und
Gewichtung von Informationen und Themen genau „richtig“ sind.
Der Journalismus unserer Zeit trägt Züge einer Glaubenslehre.
Die reinsten aller Wahrheiten findet sich vorgeblich in den
Wirklichkeitsdarstellungen der großen Medien. Nur wer diese
Wahrheiten akzeptiert und verinnerlicht, darf „sprechen“,
sich zu Wort melden. Die Hinterfragung der Medienrealitäten, ja, gar
die Fundamentalkritik an den in der Berichterstattung vorherrschenden
Überzeugungen, kommt einem Akt der Ketzerei gleich.
Viele Bürger, viele Mediennutzer erkennen, dass mit unseren
Medien etwas nicht stimmt. Sie beobachten Tag für Tag, dass Medien
gerade dann, wenn es wirklich darauf ankommt, immer wieder nicht so
funktionieren, wie sie es sollten.
Sie erkennen, dass die Ansichten und Meinungen von Journalisten zu
oft mit denen der Eliten und Machteliten konform gehen.
Wer sich näher mit der Sozialisation von Journalisten
auseinandersetzt, die soziale Zusammensetzung des journalistischen
Feldes betrachtet und Gedanken über den Rekrutierungsmodus der
Medien macht, kommt zu dem Ergebnis, dass das Medienfeld aufgrund der
in ihm vorhandenen sozialen Realitäten gar nicht in der Lage ist,
dauerhaft und durchgehend diesen von Bürgern so sehr geforderten
herrschaftskritischen Journalismus abzuliefern.
Der nüchterne Befund lautet: Das journalistische Feld ist in
seiner Breite nicht dazu ausgelegt, „die da oben“ so zu
kritisieren, wie es angebracht wäre (man denke als positives
Gegenbeispiel an den Auftritt
https://www.youtube.com/watch?v=zxS4JJ17h1c
des niederländischen Journalisten Rob Savelberg bei der
Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages der neu
gewählten Bundesregierung im Jahr 2009). Kritische Mediennutzer
erkennen, dass es unsichtbare, implizit ausgehandelte rote Linien
zwischen Journalisten und Politikern gibt, die als Grenzen festlegen,
was als legitime Kritik erlaubt ist und was nicht. Anders gesagt: Das
Versagen des Journalismus, wenn es darum geht, den Mächtigen richtig
auf den Zahn zu fühlen, hat maßgeblich mit dazu beigetragen, dass
politische Weichensteller über Jahrzehnte eine Politik betreiben
konnten, deren Auswüchse sich nun immer deutlicher abzeichnen.
Armut und speziell auch Kinderarmut in Teilen unserer Gesellschaft,
katastrophale Fehlentwicklungen im sozialen Wohnungsbau, die
Ausbreitung neoliberaler Denkkategorien bis ins Innerste von Politik
und Gesellschaft, und, nicht zuletzt: Ein Umgang mit unserer Umwelt,
der für uns alle nun zu einer Bedrohung geworden ist.
Man muss es so deutlich sagen: Medien tragen an diesen
Entwicklungen Mitschuld. All die unterlassenen kritischen Fragen, all
die Beschönigungen, die wir unentwegt aus den Medien hören („uns
geht es gut“), die offene oder mehr oder weniger verschleierte
Unterstützung der Herrschenden von Journalisten, durch die selbst
die größten Schweinereien noch flankiert werden (Kriege,
Kriegsstimmung schüren, Stichwort: Russland): Der herrschaftsnahe
Journalismus ist die täglich zu beobachtende Realität.“
Quelle: Westend Verlag
Nicht einmal Journalisten selbst
wollen den Kern der Probleme in ihrer Branche verstehen
Das Erschreckende für mich: Spricht
man mit Journalisten – wie ich das kürzlich während eines Treffs
von Medienleuten tat – über den realen üblen Zustand des
Journalismus in diesem unserem Lande, gestehen die zwar zu, dass da
einiges im Argen ist. Mitnichten aber erkennen sie anscheinend die
Grundprobleme. Wollen nicht mitbekommen haben, dass die Tagesschau
kaum noch ihrer Aufgabe nachkommt, Nachrichten so zu überbringen,
dass ich mir als Rezipient selbst eine Meinung bilden kann –
sondern im Gegenteil mir quasi verklickert wird, was ich zu denken
habe! Und nicht nur allein bei der Tagesschau ist das so. Da wird
Meinung gemacht. Das wird immer öfters Papageien-Journalismus
betrieben. Da wird nicht nur die Meinung der Bundesregierung oder der
Nato herausgetrötet. „Papageien-Journalismus“ leitet sich
wohl von einer Typisierung von „Verlautbarungsjournalismus“
(Definition: kritiklose Berichterstattung in den Medien zu mehr oder
weniger vorgegebenen Themen in mehr oder weniger vorgegebener
Darstellung) ab, wie sie bereits Kurt Tucholsky prägte, der von den
„Papagei-Papageien“ gesprochen hatte, die einfach nur etwas
nachplappern, was man ihnen vorsetzt – wie verwendet in einem
Beitrag
von Wolfgang Lieb, einem früheren Herausgeber der „NachDenkSeiten“.
Eine bedenkliche Entwicklung
Ja, im Journalismus ist einiges im
Argen. Und immer mehr Menschen erkennen dies. Doch nicht genug. Es
sollten mehr werden. Eine wirklich äußerst bedenkliche Entwicklung
gerade in Zeiten, da unsere Demokratie bedroht und auch schon schwer
angekratzt ist. Mich als gewesener DDR-Bürger, der nicht nur in
diesem verflossenen Land oft mit Kopfschütteln und Magengrummeln
Medien rezipiert, sondern als Volkskorrespondent selbst auch für sie
ehrenamtlich schreibend tätig war, schmerzt dieser Zustand des
Journalismus umso mehr. Für gewöhnlich bin ich nicht naiv. Doch in
der Umschwung- und Wendezeit Ende 1989 schrieb ich aufgekratzt –
zuvor über Ungarn in den Westen gedüst- an meine hauptamtlichen
JournalistenkollegInnen in meiner zuständigen Redaktion in Halle an
der Saale von der Festung Ehrenbreitstein über dem Deutschen Eck aus
Koblenz auf einer Ansichtskarte optimistisch, sie könnten wohl nun
endlich freien und kritischen Journalismus machen. Ein bisschen
schäme ich mich heute dafür.
„Wir brauchen ein neues
Mediensystem“ obwohl mit Bordieu gesagt die Lage „sehr dagegen“
spricht
Ich zitiere nochmal Pierre Bourdieu
(wie ihn der Autor Marcus B. Klöckner oft in seinem Buch zu Wort
kommen lässt): Frage an Pierre Bourdieu: „Kann sich dieses Milieu
[das der Journalisten]
reformieren?“ Antwort Bourdieu (im Jahr
1995: „Die Lage spricht sehr dagegen.“ (S. 215)
Klöckner hebt in seinem Fazit so an:
„Der erste Schritt hin zu einem fundamental herrschaftskritisch
ausgerichteten Journalismus besteht darin, die journalistischen
Produkte radikal zu hinterfragen.“
Das geschieht. Lösungsmöglichkeiten
müssen dann folgen. „Wir brauchen ein neues Mediensystem“ hat
Klöckner sein „Fazit“ überschrieben. Und wohl auch andere
Personen an den Schlüsselpositionen in den Medien – Ketzer!
Klöckner zitiert Rupert Lay (katholischer Theologe, Psychotherapeut
und Unternehmensberater) bezüglich der Definition dieses Wortes:
Ketzer seien Menschen, „die an der Peripherie, weitab vom
ideologischen Zentrum stehend, neue Antworten auf alte Fragen geben;
neue Fragen stellen, die Antworten einfordern, die unangenehm, die
beängstigend sind und nicht konform gehen mit der allgemeinen
Selbstverständlichkeit“.
Um zuzuspitzen, so Klöckner, könnte
man nun rufen: „Ketzer in die Redaktionen!“ Was vielleicht zu
einfach wäre.
Recht aber hat Klöckner: Wir brauchen
ein neues (herrschaftskritisches) Mediensystem. Aber gleichermaßen
auch damit: dass dann gerade in der Hochzeit des brutalen,
gesellschaftszerstörenden Neoliberalismus auch mit harte Gegenwehr
zu rechnen ist.
Und ebenfalls damit, dass wir uns
gerade deshalb „darüber im Klaren sein“ müssen, „dass eine
tatsächlich funktionierende Presse für unsere Gesellschaft von
elementarer Bedeutung ist. Und gibt der Autor zu bedenken: „Je
herrschaftsnaher Medien sind, je weniger Medien bereit sind,
politische Weichenstellungen fundamental zu kritisieren, umso
wahrscheinlicher wird es, dass Politik sich mehr und mehr an den
Interessen der Eliten und Machteliten in unserer Gesellschaft
ausrichtet.“
Verschwindet die Wächterfunktion
journalistischer Medien, bricht eine zentrale Säule der Demokratie
weg
Mit dem zunehmenden Wegbröckeln bzw.
Verschwinden der Wächterfunktion journalistischer Medien, werde es
so sein, „als wäre eine zentrale Säule der Demokratie
weggesprengt worden.“ Viele Bürger würden erkennen, stellt
Klöckner fest, „dass weder Politik liefere, was sie solle, noch
Medien lieferten, was sie versprächen. Ergo würden sich auch immer
mehr Bürger im Klaren darüber sein, „wie groß die Gefahren sind,
die sich aus einem Journalismus ergeben, der zu einer fundamentaler
Herrschaftskritik kaum noch in der Lage ist“.
Zu Recht stünden die Medien in der
Kritik, resümiert Marcus B. Klöckner. Ich schließe mich seiner
Hoffnung an, dass „noch mehr Bürger begreifen, wie groß die
Gefahren, die sich aus einem dysfunktionalen Mediensystem ergeben,
sind.“
„Wo aber Gefahr
ist, wächst / Das
Rettende auch“, heißt es in der ersten Strophe der
15strophigen Hymne „Patmos“ von Friedrich Hölderlin. Ist
das so?
Ich halte es mit Klöckner: „Die
Kritik an den Medien muss noch lauter werden.“
Das hier besprochene Buch wird
zweifellos kompetent dazu beitragen. Es gesellt sich aus meiner Sicht
verdienstvoll zu einer Reihe ebenfalls hervorragender im Westend
Verlag erschienener medienkritischer Bücher hinzu. Es sagt, was ist!
Der Journalismus ist eh in der Krise. Was viele Ursachen hat. Doch damit nicht genug. Social Bots vermögen Menschen politisch zu manipulieren. Social Bots können im gewissen Maße sogar Wahlen beeinflussen. Wenn sich die Rezipienten via der sozialen Medien denn beeinflussen lassen. Big Data ist einem Begriff geworden, der einen angst und bange machen kann. Von „Fake News“ ist die Rede. Bei Social Bots angewandte Algorithmen nehmen ebenfalls Einfluss auf unsere Kaufverhalten.
In fünfzehn Essays wird betreffs drängender Fragen im Rahmen des Buchtitels „Wenn Maschinen Meinung machen“ um Antworten gerungen
Ist unsere Demokratie bereits angegriffen? Wann ja, was können wir dagegen tun. Wir wissen: Daten ist quasi der Rohstoff unserer Zeit. Was tun wir dafür, dass wir unsere eignen Daten, unsere Privatsphäre, vor dem Zugriff der Konzerne aber auch des Staates nachhaltig schützen? George Orwells Dystopie „1984“ erscheint uns heute beängstigend aktuell zu sein.
Und wie können wir die großen Konzerne zu mehr Transparenz verpflichten? In fünfzehn Essays, verfasst von Master-Studierenden am Institut für Journalistik in Dortmund, werden diese Fragen und andere dazu im hier vorliegenden, beim Westend Verlag erschienenem Buch mit dem Titel „Wenn Maschinen Meinung machen“, dessen Herausgeber Michael Steinbrecher (TV-Journalist und Moderator) und Prof. Dr. Günther Rager (emeritierter Professor am Institut für Journalistik der TU Dortmund) sind, untersucht. Es wird um Antworten gerungen – „ohne den Anspruch, auf alles Antworten zu finden“ (S. 19). Das Buch setzt beim vorangegangenen, ebenfalls in Herausgeberschaft von Steinbrecher und Rager bei Westend erschienenen Buch“Meinung Macht Manipulation“ an. Es geht, schreiben die Herausgeber zum Folgebuch,: (…) „nicht nur um Meinungsmache. Es geht um Kontrollverlust.“ (S. 9)
Pflege duch Roboter gibt es schon. Werden Journalisten in absehbarer Zeit überflüssig?
Bereits jetzt werden etwa in Japan Roboter in der Kinder- und Altenpflege eingesetzt. Auch in anderen Bereichen – ob nun im Haushalt in Hotels oder anderswo – ist ihr Einsatz denkbar. Und schon taucht die Begriff „Roboterjournalismus“ und konkretisiert: „Automated Journalism“ (S. 10 unten) auf. „Unter den Dortmunder Master-Studierenden war zunächst Skepsis gegenüber dieser Entwicklung zu spüren“, lesen wir in der Einleitung. Werden Journalisten in absehbarer Zeit mehr und mehr überflüssig? Die Skepsis und der bange Blick in die Zukunft sind verständlich. Tatsächlich gibt es schon jetzt automatisiert erstellte Berichte im Sportbereich, der Börsenberichterstattung oder beim Wetter.
„Maschinen können Meinung nur verbreiten“ – An allem ist zu zweifeln
Tatsächlich sind die Zeiten komplizierter geworden. Gerade mit Blick auf die sozialen Netzwerke. In Ihrem Essay schreibt Anastasia Mehrens auf S. 28 zum vorhergehenden Satz „Maschinen machen Meinung“ relativierend: „Denn Maschinen können Meinung nur verbreiten. Gemacht werden sie von ausschließlich von Menschen. Von welchen? Da gibt es viele Interessenten. Ob Geheimdienste, Regierungen, Oppositionsparteien oder Kriminelle – die Bots sind technisch und moralisch in der Lage, jedem Interesse gerecht zu werden.“
Freilich wir selbst, das muss uns eigentlich beim Lesen der verschiedenen Essays immer wieder aufgehen und wie ein rotes Licht als Warnung aufleuchten: müssen jederzeit hallowach sein. Die Nachrichten gilt es – wo auch immer – mit gesundem Zweifel zu rezipieren. Gab doch schon Karl Marx seinen Töchtern als Motto mit auf den Weg: „De omnibus dubitandum“ – „An allem ist zu zweifeln“
Viele Lebens- und Arbeitsbereiche werden betrachtet
Die einzelnen Autorinnen und Autoren habe viele Lebens- und Arbeitsbereiche näher in Betracht gezogen, um Fragen zu beantworten oder auch nur aufzuwerfen, die mit Blick auf das im für das Buch zu beackernde Thema von Wichtigkeit sind oder nur scheinen. Da wird auch der „smarte Haushalt“ oder das „smarte Auto“ und selbst das Leben im Silicon Valley, der dort arbeitenden und wohnenden Menschen in diese ganz besonderen Welt (oder soll man schreiben: Blase?) in den Fokus genommen.
Maria Gnann: Unser Schicksal nicht einfach in die Hände nach Übersee geben
Maria Gnann gibt auf S. 101 angesichts eine von den Konzernen apostrophierten Vision einer Weltverbesserung durch Technik zum Wohl aller zu bedenken: „Die Digitalisierung sollte sich ja gerade nicht darüber erheben, sondern sich unseren Gesetzen verpflichten, die unsere Vorstellungen von Autonomie und Freiheit gewährleisten müssen.
Abgesehen davon, dass Konkurrenz zu den großen Datenkraken entstehen, übergäben wir unser Schicksal nicht einfach in die Hände nach Übersee. Es ist an der Zeit. Wir müssen es besser machen.“
Professionelle Medienkritiker gefragt
Kristin Häring mahnt in ihrem Beitrag auf Seite 128 an, „professionelle Medienkritiker sind in der heutigen Zeit wichtiger denn je – wenngleich die bestehende Medienkritik der großen Qualitätsmedien auf dem Rückzug ist“.
„Vorsicht mit Sprache und Ausgewogenheit“, rät David Fennes
David Fennes hält bezüglich des Journalismus Erkenntnisse bereit: „Vorsicht mit Sprache und Ausgewogenheit!“ (S. 148). Meint, Journalismus müsse „sprachlich behutsamer und präziser werden“. Auch tritt er offenbar dafür ein, die Stärken und die Qualität des Journalismus wieder zu beleben und das „Laute, Schnelle und Schrille“ z.B. Facebook zu überlassen und selbst nicht ständig darauf anzuspringen. Wobei zu fragen wäre, wie das ausreichend gut zu finanzieren wäre.
Aufschreckend: Eine Welt ohne Journalismus?
Das Buch schließt ab Seite 220 mit der intelligent und unterhaltsam von Dominik Spreck geschriebenen dystopischen Geschichte („Die Gatekeeper sind weg – eine Welt ohne Journalismus“) ab. Die freilich aufschreckt. Und gewiss auch aufschrecken soll. Und ein Aufmerken erzeugen soll. Eine Welt „die unsere eigene Arbeitskraft weitgehend überflüssig gemacht hat“, wie ein Protagonist in der Geschichte, Jacob, denkt: „Smart Homes, Smart Cars, Smart Stores.“
Jeder bekommt – auch im Journalismus – das, was er möchte. „Grundversorgung war gestern.“ (S. 222)
„Der Journalismus ist tot, aber Jacob hat überlebt“ und nennt sich nun „Influencer“. Dominic Speck: „Und das Wort ist sogar passend, denn Jacob hat Einfluss.“ Das Publikum ist klein. Aber egal, heißt es: „was die Menschen wollen: Selbstbetätigung.“
„Wozu noch Gatekeeper, wenn Objektivität und Relevanz ohnehin nur Illusionen sind, jederzeit hinterfragbar? Also lieber Selbstbestätigung, kalt berechnet. Immer rein in die Komfortzone. Und Jacob muss also die Politiker in ihrem Tun unterstützen, um erfolgreich zu sein. Er bietet ihnen Informationen, er kommentiert die Lage, er bespaßt. Aber kontrolliert die Politik nicht. Für wen auch?“
Au Backe! Aufrüttelnd, das Gedankenspiel – verstörend, nicht? Ein Ding der Unmöglichkeit? Durchaus nicht!
Dominik Speck ist zuzustimmen: „Was wir brauchen, ist zunächst Zeit. Zeit für eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie viel Macht wir der Automatisierung einräumen wollen“ (S. 230).
Wir lesen in diesem Buch fünfzehn Essays von fünfzehn verschiedenen Autorinnen und Autoren. Sie sind manchmal skurril, verwirrend, auch amüsant und tief schürfend – jedoch eine wie die andere ist für sich interessant und zum Nachdenken anregend.
Journalismuskrise, Social Bots und der Angriff auf die Demokratie
Herausgegeben von Michael Steinbrecher, Herausgegeben von Günther Rager
Über das Buch
Wie Big Data unsere Gesellschaft verändert
Big Data, die digitale Transformation, künstliche Intelligenz – wir wissen mittlerweile, dass sich unsere Gesellschaft rasant verändert. Welche Begriffe auch immer durch die Debatte geistern, deutlich wird: Neue Technologien schaffen auch neue Probleme, die wir bisher noch nicht mal ansatzweise verstanden haben. Social Bots manipulieren die Meinungsbildung. Fake News beeinflussen Wahlen und Abstimmungen. Filterblasen und Algorithmen definieren, welche Informationen uns das Internet bereitstellt. Wie weit geht diese Veränderung unserer Gesellschaft? Ist sie ein Angriff auf die Demokratie? Was will das Silicon Valley, von dem so viele Veränderungen ausgehen, wirklich? Erfährt der Journalismus eine Renaissance oder macht der Letzte das Licht aus? (Quelle: Westend Verlag)
Einer von Mediennutzern womöglich oft nicht bedachte Beeinflussung, welcher sie ausgesetzt sind, ging Prof. Dr. Jörg Becker nach. Das Thema seines Vortrags: „Wie die Public-Relation-Industrie mitregiert“.
Becker machte zunächst zum Redebeitrag von Uwe Krüger (dazu später ein Bericht hier), welchen er „mit großem Vergnügen gehört habe „zwei, drei Ergänzungen“.
Jörg Becker erinnerte an die Diplomarbeit von Kurt Kister Ende der 1970er Jahre über die Darstellung der Bundeswehr in deutschen Qualitätsmedien. Kister sei nun ein „Alphatier“ geworden und Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. „Wie verhält sich seine jetzige Tätigkeit zu seiner Diplomarbeit?“ Das könne ein interessantes Thema für ein Hausarbeit sein.
Der Propagandabegriff
„Vergessen wir nicht“, fuhr Prof. Becker fort, „Goebbels Ministerium hatte den Propagandabegriff als positiven Begriff. Wenige wissen, dass noch Konrad Adenauer in den 1950er Jahren auch einen positiven Propagandabegriff hatte.“ Und der habe eine Rolle dabei gespielt, als er sein eigenes Staatsfernsehen durchsetzen wollte „und von Karlsruhe eins auf die Nuss bekam“.
Weiter merkte Becker an, dass die Tätigkeit des Bundespresseamtes (BPA) „nach wie vor sehr nebulös“ sei. Anfragen der Linkspartei im Bundestag vor einigen Jahren hätten eine „dünne Antwort der Regierung“ erbracht: Fragen in Bezug auf das BPA unterlägen dem Dienstgeheimnis.
Bislang, beklagte der Politikwissenschaftler, „fast keine kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten über die Tätigkeiten des BPA. Jüngere Kollegen, die noch aktiv Promotionen betreuen seien „dringend auf diese Lücke hingewiesen“. Das Amt gehöre „endlich entmystifiziert“.
Die Public-Relation-Industrie gehe auf die 1920er und 1930er Jahre in den USA. Grundlagen seien Studien – meist von den ein und selben Menschen – entweder für die Konsumgüterindustrie oder für Wahlkämpfe in der Politik. Bernays spielte da eine zentrale Rolle. Aber auch in Deutschland sei ein Beispiel zu finden: Carl Hundhausen.
Hundhausen habe entdeckt was in den 1930er Jahren in den USA passierte und „brachte es hinüber nach Nazideutschland. Der deutsche Faschismus sei „ein enorm großer Modernisierungsschub im Kapitalismus“ gewesen. Nicht zufällig sei Hundhausen nach 1945 Direktor bei Krupp geworden, „wo er erfolgreich diese Firma vom Image des Kriegsverbrecherkonzerns weißwaschen konnte“.
In den 1930er Jahren sei der Begriff Propaganda aktuell gewesen, der dann in den 1950er Jahren abgelöst worden war „von spannenden anderen Begriffen wie „Internationale Kommunikation und dann in den 1980er Jahren „Entwicklungskommunikation „ und gegenwärtig „Public Diplomacy“.
Letzteres nenne man heute auch „Völkerverständigung“, so Jörg Becker süffisant. Und fügte an: „Es gibt einen argentinischen Romanautor, der irgendwo den schönen Satz geschrieben hat, ‚wenn ich das Wort Völkerverständigung lese, dann wird mir angst’“. Prof. Becker: „Es ist ein Verschleierungsbegriff.“
Public Relations sei in der Marktwirtschaft zusammen ein entscheidende Schnittstellte mit der Werbeindustrie: „Beide sind für den Kapitalismus insofern überlebensnotwendig, weil sie garantieren, dass wir in der Konsumgüterindustrie keine Stagnation kriegen“. Dafür brauche es die Werbeindustrie, „weil ansonsten das System aus dem Ruder laufen würde“ und weiter: „Wir brauchen den Überfluss von Dingen, die niemand braucht und parallel dazu in der Public-Relations-Industrie brauchen Sie politische Legitimation für das System.“
Die einen seien also für Konsumgüter, die anderen für Legitimation politischer Herrschaft zuständig.
Im vier große Gruppen umfassen PR-Konglomerat auf der Welt, gab Becker machte, damit die Dimension begriffen werden könne darauf aufmerksam, „dass Geld das da fließt viel mehr größer ist als der Staatshaushalt vieler, vieler Entwicklungsländer“.
Es gehe nicht nur ökonomische Macht. „Ökonomische Macht braucht ihre politische Flanke und Flankierung.“ Die sozialen Netzwerke (bis hin in die Politik hinein und zurück) der großen PR-Agenturen dürften nicht unterschätzt werden.
In Deutschland gebe es „geschätzt 2000 PR-Agenturen“, wobei die größte mehr als 400, die zehntgrößte nur noch sechzig Mitarbeiter. Der Umsatz aller deutschen Agenturen liege beim fünf Milliarden Euro. Nehme man die Werbebranche mit hinzu, komme an auf jährlich weitere 20 Milliarden Euro. Beide Branchen gehörten zur Wachstumsindustrie.
Jörg Becker stellte grundsätzlich fest, auch wenn es momentan nicht zuträfe: „Je schlechter die Ökonomie, desto größer die Wachstumsbranche bei Werbung und bei PR. Wenn es eine ökonomische Krise gibt brauchst du Schmiermittel.“
Das Verhältnis PR – Journalismus sei „sowohl ein Partnerverhältnis als auch ein Konkurrenzverhältnis“. Für die Tageszeitung gelte betriebswirtschaftlich für 1950 ca. 20 Prozent Einnahmen aus Werbung, achtzig Prozent Einnahmen aus Verkaufserlös an die Leser. Etwa um 1990 drehe sich das Verhältnis um. Die Tageszeitung erzielten inzwischen 80 Prozent ihres Erlöses durch Werbeeinnahmen. Daraus folge, „wenn es mir als Verleger mit Einnahmen immer dreckiger geht und ich neues Personal einstellen möchte, damit es mir nicht mehr so dreckig geht, dann hole ich mir ein Betriebswirt für neue Absatzkanäle meiner Werbemärkte und keinen Redakteur.“ Gehe es den Verlegern noch dreckiger, fänden die es ungeheuer nett, wenn PR-Agenturen ihnen Media-Pressematerial kostenlos anbieten. „Da passt einiges zusammen.“
Prof. Jörg Becker stellte nüchtern fest: „Es gibt grundgesetzwidrig keine freie Presse mehr“
Jörg Becker: „Wenn ich Zeitung zu definieren hätte, müsste ich sagen, der Inhalt einer Zeitung ist das kostenlose Zubrot, um eine Zielgruppe wie Zeitungsleser an die werbetreibende Industrie verkaufen zu können.“
Und weiter:
„Der neoliberale Wechsel von Journalismus zu Werbung verändert das Machtverhältnis zwischen PR-Industrie zu Journalismus eindeutig und ein für alle mal zugunsten der PR.“
Dann fuhr Prof. Becker fort: „Die lapidare Feststellung von Marx Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die erste Freiheit der Presse darin besteht kein Gewerbe zu sein, konkretisiert sich gegenwärtig betriebswirtschaftlich. Es gibt grundgesetzwidrig keine freie Presse mehr.“
„Privatinteressen werden als öffentliche ausgegeben“
Ein interessantes Beispiel: Es habe im letzten zwei oder drei Kampagnen gegeben, die die Abschaffung von Papier- und Münzgeld propagierten. „Dahinter war“, erklärte Becker, „eine Kampagne, die uns Bürgern aufschwätzte, dass da doch viel praktischer sei. Und man möge sich doch sozusagen einer solchen Kampagne anschließen.“ Dahinter stünden Teilinteressen von Banken und Versicherungen und der Kartenherstellern, von denen Bertelsmann der größte sei.
„Privatinteressen werden als öffentliche ausgegeben.“
In den USA habe man inzwischen auf der einen Seite 200 000 hauptberufliche PR-Leute und nur noch 100 000 hauptberufliche Journalisten. In Deutschland sei das Verhältnis noch 1 : 1. Becker vermutet, dass sich „dieses Verhältnis auch noch umdrehen wird“.
George Gallup der Vater der Meinungsforschung habe einmal, sprang Prof. Becker noch einmal in die 1930er Jahre zurück formuliert, PR ist dasselbe wie PR für Politik. Und Elisabeth Noelle-Neumann habe 2006 noch gesagt: „Umfragen zu politischen Wahlen sind das Gleiche wie Umfragen zu Seife.“
Ein Riesenproblem unserer Zeit sei, so Becker, „dass wir keine bürgerliche Gesamtöffentlichkeit mehr haben.“ Unsere Gesellschaft sei inzwischen fragmentiert.
PR und Kriegsführung
Schließlich kam Jörg Becker zum Thema PR und Kriegsführung. „Wenn Krieg geführt werden braucht man Public Relations-Agenturen.“
Becker kam auf ein historisches Beispiel zurück. Den Kuba-Krieg 1897durch die USA. Da habe es einen US-Reporter gegeben, der auf der Insel ist und frustriert ist, weil feststellt es gibt keine Kriegshandlung. Er habe an seinen Chef nach New York geschrieben, er wisse nicht über was er berichten soll. Antwort vom Chef: „Bleib trotzdem auf Kuba. Du schickst die Fotos, wir machen den Krieg.“
Becker: „Ich kenne ähnliche Phänomene in der Gegenwart. Ich kenne sie aus dem Kosovo-Krieg, ich kenne sie aus anderen Kriegen. Und an der Schaltstelle sitzen dann oft PR-Leute.
Ein weiteres haarsträubendes Beispiel: „Als die US-Truppen 1992 in Somalia anlandeten gab es vorab eine vertragliche Vereinbarung zwischen dem Pentagon und CNN. Der Vertrag sah vor die Landung hat zu dem Zeitpunkt zu erfolgen indem es in den USA Prime Time ist.“
Der Referent: „PR-Agenturen sind auf einmal Kriegsakteure geworden. Sie bestimmen mit was militärisch passiert.“
Und Becker gab noch ein Beispiel aus Deutschland hinzu, dass er in einem Buch „Operation Balkan“ beschrieben hat.
Da habe sich ein Unternehmer während des Jugoslawien-Krieges bei den Werbefachmann Hunziker an bat darum – da er Niederlassungen in Belgrad habe – und Hunziger so gute Verbindungen zur Bundeswehr habe, ob es möglich wäre, seine Firmen nicht zu bombardieren. Es klappte. Der Unternehmer bedankte ich bei Hunziker für dessen Leistung.
Kindersoldaten
Gegen Ende seines Vortrags kam Becker noch auf ein heikles Thema zu sprechen. „Wir haben in der Bundeswehr inzwischen knapp 2000 Minderjährige unter 18 Jahren, definitorisch sind das Kinder. Es sind schlicht und einfach Kindersoldaten.“
Werbung für völkerrechtswidriges staatliches verordnetes Massentöten sollte verboten werden.
Prof. Dr. Becker schloss: „Als kritischer Wissenschaftler in Nachfolge der Frankfurter Schule habe ich selber ein normatives Wisenschaftsverständnis. Und vor diesem Hintergrund stehe ich zu der gesellschaftlichen Verantwortung meines Berufes als Sozialwissenschaftler und halte normativ fest, dass Public-Relations für Krieg moralisch verwerflich und zynisch ist und das Werbung für völkerrechtswidriges staatlich verordnetes Massentöten eigentlich verboten werden sollte.“
Update vom 2. Februar 2018: Den gesamten Vortrag von Prof. Dr. Becker haben die NachDenkSeiten in ihr Portal aufgenommen und veröffentlicht. Sie finden ihn hier in ganzer Länge.
Update vom 20. Februar 2018: Die Videoaufzeichnung von WeltnetzTV des Vortrags von Prof. Dr. Becker
Marco Bülow würde auch gegen CETA stimmen, wenn des Abkommen gut wäre. Er sprach für Demokratie + in Dortmund. Foto: Stille
Ohne Umschweife und kein Blatt vor den Mund nehmend: Der vor über zwei Jahrzehnten zur herrschenden Ideologie erhobene Neoliberalismus hat zu einer Art Idiotie hingeführt. Ergriffen davon sind nicht wenige regierende und nicht regierende – also opponierende – PolitikerInnen hierzulande. Das allein wäre ja schon als schlimm zu bezeichnen. Dass aber die sogenannten Qualitätsmedien im Print- wie im Bereich der elektronischen Medien gleichermaßen – Ausnahmen bestätigen die Regel – ebenfalls von diesem Neoliberalismus dermaßen erfasst sind, ohne es offenbar selbst zu bemerken, ist fürchterlich. Eine Katastrophe. Deshalb, weil ebendiese Medien – da wo sie eigentlich kritisch zu hinterfragen gehabt hätten – den Neoliberalismus wesentlich mit herbei geschrieben und gesendet haben. Der deutsche (Mainstream-)Journalismus lässt nötige Kritik schon lange schmerzlich vermissen. Das ist das eigentlich Gefährliche. Soll doch der Journalismus als vierte Macht im Staate die Regierende kontrollieren.
Was einen angst und bange werden lässt
Auch ist anscheinend die von Bundeskanzlerin Angela Merkel postulierte „marktkonforme Demokratie“ (die, bedenkt man es einmal genau, kaum noch etwas mit Demokratie im ursprünglichem Sinne gemein haben dürfte) Regierenden und den ihnen kritiklos Papageien gleich nachplappernden Mainstreamjournalisten so in Fleisch und Blut eingegangen, dass es einen nur angst und bange werden kann.
Rund um die Nichtzustimmung der belgischen Region Wallonie zum sogenannten Freihandelsabkommen Kanadas mit der EU wurde einmal mehr ein fragwürdiges Demokratieverständnis von bestimmten Politikern und Medienvertretern offenbar. Hand in Hand entfachten die einen Wallonen-Bashing, das sich gewaschen hatte. Wie konnte es sich auch die demokratische gewählte Regierung einer Region mit 3,5 Millionen Einwohnern erlauben den Stachel wider den Rest der EU-Bevölkerung (die Rede war von 500 Millionen Menschen) löcken? Schon setzte man der Wallonie ein Votum. Versuchte man den Ministerpräsidenten gar so zu einem Ja zu erpressen? Wir wissen mindestens seit dem Fall Griechenland, dass derlei längst zu den schmutzigen Gepflogenheiten der EU und bestimmten „Institutionen“ gehören kann. Indes vergebens: Der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette blieb fest. Recht so – Merci!
Schwere Vorwürfe erhob man gegen den Magnette. Egoistisch handele die Wallonie, las man. Der Tenor dieses Geschreibsels und Geredes in Funk und Fernsehen tönte es im Subtext gewissermaßen unisono so: Die Wallonen machen uns ein „Freihandelsabkommen“ kaputt, das doch so gut für uns alle ist. Wie kann auch Freihandel etwas Schlechtes sein? Pfui Teufel, ein Journalismus, bei dem es mich nur noch anwidert. Übelste Meinungsmache. CETA-Kritik, Hunderttausende gingen in Deutschland und anderswo – Millionen in Europa insgesamt – gegen das Abkommen auf die Straßen – sowie die Fakten die gegen es sprechen, das wird kaum erwähnt. Ein Armutszeugnis!
Und selbst wenn CETA etwas Gutes wäre
CETA, ein Abkommens, das geheim verhandelt worden ist. Das in erster Linie Großkonzernen dient. Die etwa vor privaten (!) Schiedsgerichten Staaten und Kommunen verklagen können, wenn ihnen Profit aufgrund von Gesetzen entgeht! Während Staaten und Kommunen im Gegenzug nicht gegen die Konzernen klagen können. Erwirkte Privatisierungen öffentlicher Daseinsvorsorge könnten nicht rückholbar sein. Ja, wo leben wir denn? In einer Demokratie! Der deutsche Bundestagsabgeordnete Marco Bülow (SPD) sagte dieses Jahr auf einer Anti-CETA-Kundgebung in Dortmund (mein Bericht), er stimme im Bundestag gegen dieses völlig intransparente, die Demokratie und den Rechtsstaat letztlich beeinträchtigende Abkommen. Und er täte dies auch, wenn CETA etwas Gutes wäre – weil geheim, sprich: undemokratisch, verhandelt.
Ginge die Welt ohne CETA unter?
Das Wallonen-Bashing bestimmter Politiker und Journalisten ist bedenklich. Denn es zeigt auf erschreckende Art und Weise an wie tief der neoliberale Sumpf hierzulande mittlerweile bereits ist. Gestandene Journalisten, wie der Ex-Spiegel-Journalist Dirk Koch beklagen den Zustand des deutschen Journalismus. Kaum gebe es noch einen Pluralismus unter journalistischer Medien in Deutschland. Auch im Falle der CETA-Verweigerung der Wallonie ist das wieder deutlich geworden. Mehr oder weniger tuten alle ins Pro-CETA-Horn. Und wenn auch manches Mal nur quasi im Subtext. Als wenn morgen die Welt unterginge, wenn CETA nicht kommt. Bricht dann die Welt zusammen? Der Handel? Meinen die, wir haben die Hosen mit der Kneifzange angezogen? Warum wird also so stark dafür getrommelt? Selbst von Öffentlich-rechtlichen! Begreifen die nicht, dass sie eines Tages solchen Abkommen wie CETA, TTIP oder TiSA selbst zum Opfer fallen könnten?
Und an die Adresse der Regierenden:
Ist eine von Demokraten gefällte Entscheidung nur dann gut, wenn sie pro der EU- oder einem bestimmten Regierungsvorhaben ausfällt? Schon werden innerhalb der EU Forderungen laut, bestimmte Länder – vielleicht so kleine Regionen wie die Wallonie – künftig gar von bestimmten Abstimmungen auszunehmen. Merken Politiker, die derlei fordern gar nicht, wie sie Verdrossenheit der EU-Bürgerinnen und Bürger dadurch immer mehr befördern? Das, in einer EU, die bereits – mit sinngemäß mit Nietzsche gesprochen – längere Zeit am Abgrund steht und dieser längst in die EU zurückblickt? Unverständlich. Die neoliberale Idiotie hat bereits weit um sich gegriffen. Wann wacht man auf?
Ein JK kommentiert auf den NachDenkSeiten einen FAZ-Beitrag, der Wallonien auf die Mütze gibt so:
„Demokratie ist scheiße! Wie kann es das Regionalparlament der Wallonie als Vertretung der wallonischen Bürger nur wagen gegen die Interessen der neoliberalen Polit-Elite in Brüssel und damit gegen die Interessen der herrschenden Eliten dies und jenseits des Atlantiks zu stimmen. Da ist man in Deutschland mit der „marktkonformen“ Demokratie doch weiter. Hier wagt es niemand aus dem neoliberalen Parteienkartell gegen Ceta und TTIP zu stimmen. Figuren wie Sigmar Gabriel und der SPD sei Dank. Und was heißt hier eigentlich „die Europäer“? Wer oder was sind hier die Europäer? Sind Europa nicht zuallererst die Bürger aller Mitgliedsstaaten, die in ihrer Mehrheit gegen die Freihandelsabkommen sind? Oder ist damit ausschließlich die neoliberale Brüsseler Polit-Elite gemeint? So gesehen ist es genau umgekehrt. Politiker mit Mut und Verstand, wie der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette und die Bürger, die ihn gewählt haben, das ist Europa.“
Und Lesers J.A. schreibt zu einem Welt Online-Artikel.: „Flächenbrand“, warum nicht gleich „Weltkrieg“? Warum ist ein Nein in einem demokratischen Prozess über ein mindestens fragwürdiges und höchstwahrscheinlich extrem schädliches Abkommen eine Katastrophe? Eine Gemeinschaft von Staaten, die grundlegende demokratische Regeln nicht beherrscht und beim kleinsten Gegenwind in einen „Flächenbrand“ gerät, sollte ihre Positionen und ihre Strukturen einmal gründlich überdenken. Bisher wurde behauptet, Ceta wäre tot, wenn es nicht am kommenden Donnerstag unterschrieben werden würde; jetzt kann man – ganz plötzlich – den Belgiern doch mehr Zeit geben. Macht das eigentlich niemanden misstrauisch, wie hier der demokratische Prozess durch künstlichen Zeitdruck torpediert werden sollte?
Fazit
Wir brauchen dringend einen Neuanfang der EU. Ein demokratisches Europa der Menschen. Zu diesem Behufe muss die Demokratie unbedingt eine Stärkung erfahren. Und an die Adresse der Journalisten und deren Redaktionen: Kommt endlich wieder eurer Aufgabe als vierte Macht im Staate nach! Und was Europa, die EU anlangt: die steht bereits einige Zeit am Abgrund und muss aufpassen, nicht bald darin zu verschwinden. Zunächst sollten wir Wallonien dankbar sein, festgeblieben zu sein in ihrer CETA-Ablehnung. Eine Schande, dass kein starker Staat wie Deutschland, der doch sonst immer so vieles in der EU (er-)zwingt, den Mut des kleinen Walloniens aufgebracht hat.
Gesunder Zweifel ist auf so ziemlich all unseren Wegen angebracht. Skepsis ebenso. Im täglichen Leben müssen wir schon genau und kritisch hinschauen. Was auf viele Lebensbereiche zutrifft. So logischerweise auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Medien und der Presse eine kritische Rezeption des Gemeldeten und Berichteten in Anwendung kommen muss. Nimmt die Vierte Gewalt, der Journalismus, ihre Aufgabe in der Demokratie immer gewissenhaft wahr? Kaum. Gleichwohl dürfen wir nicht einseitig und damit ungerecht sein. Wie es sogenannte „besorgte Bürger“ sind, die etwa auf Pegida-Aufmärschen regelmäßig „Lügenpresse halt die Fresse!“ grölen und nicht davor zurückschrecken berichtende Journalistenkollegen anzuspucken und sogar tätlich anzugreifen. Ganz abgesehen davon, dass der Begriff „Lügenpresse“ u.a. in der Nazizeit Verwendung fand und dementsprechend belastet ist.
Journalisten und Medien sollten also nicht alle über einen Kamm geschoren werden. Dennoch ist eine kritische Betrachtung angezeigt. Schließlich ist es auch nicht in Ordnung, wenn Medien uns manipulieren. Dies geschieht beispielsweise indem wir via Text oder Bild in eine bestimmte Richtung geführt werden sollen.
Nun liegt der zweite Teil vor. Diesmal beschäftigte sich Sabine Schiffer um Prämissen-Analyse.
Prämisse kommt laut Wikipedia aus dem Lateinischen (lat. praemissa) und bedeutet „das Vorausgeschickte“.
Und was uns – um dabei zu bleiben – da in den Medien vorausgeschickt – schlagzeilend als Faktenbehauptung mitgeteilt wird, ist sehr oft dazu geeignet, uns in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Wir werden manipuliert.
Liebe Leserinnen und Leser, schauen Sie also Teil 2 zum Thema mediale Manipulation „Prämissen-Analyse“.
Free21-Chefredakteur Tommy Hansen (links) mit Verbriebsmitarbeiter Lukas Puchalski am Infostand des Magazins in Dortmund; Foto. C.-D. Stille
So was kommt von so was. Wer den Zustand des Journalismus in diesem Lande in den letzten Jahren kritisch und mit wachen Augen verfolgt, schlägt die Hände über den Kopf zusammen. Nicht einmal bei den so genannten Leitmedien schaut besser aus. Auch über die journalistische Qualität unserer von unseren Beiträgen finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten muss des Sängers Höflichkeit schweigen. Kurzum: Die Vierte Macht im Staate kommt der Erfüllung ihrer Aufgabe nur noch ungenügend war. Und das ist noch geschmeichelt ausgedrückt. Man muss auch gar nicht die doch letztlich fragwürdigen Begriffe „Gleichschaltung“ oder „Lügenpresse“ bemühen. Wie auch immer. Stimmen tut das, was Willam Shakespeare Hamlet in seinem gleichnamigen Stück sagen lässt: Da ist etwas faul im Staate Dänemark. Das sagte sich auch der dänische investigative Journalist Tommy Hansen. Und der Mann weiß: In Deutschland (sh. Einleitung) sieht es kein Stück besser aus.
Die Vierte Gewalt funktioniert einfach nicht mehr
Hansen persönlich verortet den Tag, an dem der seriöse Journalismus seiner Meinung nach „einfach gestorben“ sei, rund um den Anschlag von 9/11. Seitdem würden keine kritische Fragen mehr gestellt: „Man untersucht die Hintergründe (des Anschlags; d. Autor) nicht mehr“, sagte Tommy Hansen auf einer Veranstaltung der „Friedenstournee 2015 kürzlich in Dortmund. Seither mache man „alles was gegen Journalismus spricht“.“ Tommy Hansen: „Die Vierte Gewalt funktioniert einfach nicht mehr.“
Vor einem Jahr noch hatte Hansen auf einem Feld in Dänemark gesessen und mit Ken Jebsen über sein Idee gesprochen
Am Rande der Veranstaltung hatte ich Gelegenheit mit Tommy Hansen und Lukas Puchalski ein paar Worte zu wechseln. Ich treffe beide am Stand von „Free21“. Die Idee zu diesem Magazin ist ihm noch in Dänemark gekommen. Statt angesichts des in seinen Augen gestorbenen Journalismus zu resignieren, sagte sich Hansen: „Es reicht! Das hat nichts mehr mit Journalismus zu tun.“ Die Bevölkerung wurde mehr und mehr angelogen oder bestimmte Informationen wurden einfach nicht in den Medien transportiert. Die Idee zu einer Art „Fünften Gewalt“ kam ihm. Vor einem Jahr noch hatte Hansen auf einem Feld in Dänemark gesessen habe Ken Jebsen von KenFM von seiner Idee, interessante Geschichten aus dem Internet zu holen, um sie auszudrucken und weiter zu verbreiten (hier das Video). Den Namen „Free21“ leitete der Journalist von einem UN-Begriff, der Agenda 21, ab. Hansens Intension dabei: Es galt einen „freien Journalismus des 21. Jahrhunderts“ zu machen.
Ein Jahr nach der Begegnung mit Jebsen auf einem Feld in Dänemark ist aus der Idee etwas Greifbares geworden, das sich sehen lassen kann. Zunächst war es angedacht kritische Artikel, die woanders unter den Tisch fallen, weil sie von den Chefredaktionen der Leitmedien aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gewünscht sind, ins Internet zu stellen. Damit sie von den Lesern als PDF-Dokument ausgedruckt und somit vor eventuellem Löschen im Netz zu bewahrt würden und weiter verteilt werden konnten. Nun ist darüber hinaus ein entsprechend gelayoutetes gedrucktes Magazin herausgekommen. Nicht unwesentlich verdanken wir diese Weiterentwicklung von Hansens Idee Free21-Mitstreiter Lukus Puchalski aus Köln, der vergangenen Samstag auch mit am Info-Tisch in Dortmund saß. Inzwischen gibt es zwei Ausgaben. „Free21“ erscheint Quartalsweise.
Keine schlechte Bilanz
Wie ist nun der Stand der Dinge, will ich in Dortmund wissen. Free21-Chefredakteur Tommy Hansen und der hauptsächlich für den Vertrieb zuständige Lukas Puchalski berichten stolz von 1300 Lesern, die Free21 bereits abonniert hätten. Ich erfahre, jeder dieser Abonnenten erhält für den Preis von 15 Euro jeweils 20 Exemplare. Das heißt, behält man eines dieser Magazin-Ausgaben, können jeweils 19 andere an Freunde und Kollegen abgeben werden. Oder sie werden an Orten ausgelegt, wo viele Leute vorbeikommen. In der Uni, auf dem Arbeitsamt – der Möglichkeiten sind ja viele. Unterdessen erreiche Free21 zwischen 30- und 40 000 Leute, sagte mir Lukas Puchalski. Keine schlechte Bilanz!
Traum vom „weltgrößten Printmedium“
Inzwischen sind die Fühler auch in andere Länder, etwa nach Ungarn, ausgestreckt worden. Die Free21-Beiträge werden von Muttersprachlern in die jeweilige Landessprache übersetzt. So vernetzt sich Free21 immer mehr. Tommy Hansen kann sich vorstellen, dass Free21 weitere Kreise in der Welt zieht. Eigentlich könne Free21 in jedem Land reüssieren. Und Visionen hat dieser inzwischen in Berlin wohnende Däne: Er träumt betreffs Free21 sogar vom vielleicht einmal „weltgrößtem Printmedium“. Ein völlig neues Medium in gewisser Beziehung. Inzwischen ist von Free 21 sogar das erste Youtube-Video transkribiert worden. Wahrscheinlich weltweit einmalig! Es geht dabei um ein spannendes Referat von Professor Rainer Mausfeld („Warum Schweigen die Lämmer?“).
Viele sind an Free21 beteiligt
Am Projekt Free21, hörte ich, sind viele andere Menschen beteiligt: Transkribierer, Rechercheure, Layouter und Crowdfunding-Unterstützer. Gesucht würden noch Leute aus diesen Gebieten und muttersprachliche Übersetzer für Sprachen, in welchen künftig das Magazin auch erscheinen soll. Die Zentralredaktion liegt in Händen von Tommy Hansen. Lukas Puchalski kann sich jeder an Free21 beteiligen. Journalist muss man nicht unbedingt sein. Allerdings müsse seinen „Background transparent machen“. Des Weiteren einverstanden sein mit den Richtlinien von Free21. Die Themen für einen Artikel sollten gut recherchiert sein.
Die Zielgruppe
Für wen ist Free21 nun interessant? Da wären wir wieder beim Anfang des Artikels. Aufgrund der breiten miserablen Qualität des deutschen Journalismus fühlen sich bestimmt Menschen bemüßigt Informationen anderswo zu suchen. Nur gebricht es dazu vielen Menschen gewiss an der nötigen Zeit dafür. Schließlich ist es nicht einfach unseriösen von seriösen Journalismus zu unterscheiden. Das mühsame Recherchieren und Ausklamüsern übernimmt Free21. Denken wir nur an die NachDenkSeiten, leisten in ähnlicher Weise einen nicht zu unterschätzenden Dienst an ihren Leserinnen und Lesern. Von solchen Medien, Davids in der Branche – kann es angesichts der Goliaths auf dem Markt – also gar nicht genug geben. Free21 bringt nun journalistische Beiträge auch in gedruckter Form an die Leser. Auf dem Papier finden diese auch Verweise auf Links im Netz. So hoffen die Macher von Free21 auch Menschen für das Stöbern im Netz zu erwärmen. Free21 will also keine Einbahnstraße sein. Auch die Leser sind gefordert sich zu beteiligen und die Idee weiter zu tragen.
Tommy Hansen: „Es gibt keinen Weg zurück!“
Wohin geht es mit Free21? Tommy Hansen weiß das freilich nicht. Nur soviel: „Es gibt keinen Weg zurück!“ Läuft!, schätze ich mal Free21 betreffend ein. Hansen spricht davon, dass er täglich Vorschläge für Beiträge erhält. Von Wissenschaftler gar und von Buchautoren. Von Journalisten, deren Artikel absichtlich oder unabsichtlich unterdrückt werden. Tommy Hansen ist egal wie es sich im Einzelnen verhält. Er möchte einfach wieder seine Arbeit als Journalist machen und für guten Journalismus werben.
Der Däne aus Berlin zeigte sich jedenfalls optimistisch. Und auch von Dortmund angetan. Oder soll ich schreiben von den Dortmunderinnen? Jedenfalls sollen ihn viele überaus nett gegrüßt haben. Befragt wurde Tommy Hansen jedenfalls an jenem Sonnabend von vielen interessierten Menschen beiderlei Geschlechts. Denn es ging ja um die Sache.
Die deutschen Printmedien verlieren seit Jahren an Lesern. Dass hat zwar nicht nur damit zu tun, dass sie die Aufgaben der Fünften Gewalt nicht mehr ordentlich wahrnehmen. Aber auch. Da ist es nur gut, dass neue Medien wie etwa Free21 auftauchen. So was kommt eben (auch) von so was …
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