„Jenseits der Lügenpresse“. Dazu ein Interview des pad-Verlags mit dem Autoren Dr. Wolfgang Lieb

Unter dem Titel „Jenseits der Lügenpresse“ erschienen im pad-Verlag zwei Broschüren von Dr. Wolfgang Lieb, die sich mit der Medienwelt im Umbruch, den alten und den neuen Medien unter dem Gesichtspunkt einer Pflege der öffentlichen Diskursmoral und demokratischer Medienpolitik befassen. Anläßlich der Veröffentlichung erschien das nachstehende Interview:

Warum ist das Thema Medien eigentlich so wichtig?

Ganz einfach: Weil Medien maßgeblich unser Wissen und unsere Meinung über die Welt beeinflussen und weil der möglichst umfassende Austausch von Informationen und Sichtweisen in den Medien eine Bedingung für einen offenen und demokratischen Meinungsbildungsprozess ist. Der freie Austausch der vielfältigen gesellschaftlichen Meinungen ist wiederum eine Voraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung und er verschafft politischen Entscheidungen ihre demokratische Legitimation. Es zeigt sich, dass das Vertrauen in die Medien eng mit dem Vertrauen in die Politik zusammenhängt. Die Sorge um den Zustand unserer Medienlandschaft ist also gleichzeitig eine Sorge um die Verfassung unserer demokratischen Kultur.

Und warum machen Sie sich Sorgen um die klassischen Medien?

Nach wie vor findet sich in den herkömmlichen Medien eine Vielzahl von gut recherchierten, informativen und kritischen Beiträgen. Die Mehrzahl der Medien hat aber auf vielen wichtigen Feldern auf ganzer Linie versagt. So hat etwa der Wirtschaftsjournalismus gegenüber der Bankenkrise als Wachhund eher mit dem Schwanz gewedelt als gebellt. Den aktuellen Skandal um die Bilanzfälschung in Höhe von 1,9 Milliarden Euro beim Finanzdienstleister Wirecard haben im Gegensatz zur britischen Financial Times die deutschen Medien nicht nur verschlafen, sondern den Marktwert dieser betrügerischen Firma in den letzten Jahren sogar eher hochgeschrieben. Die Lage der Flüchtlinge, die vor den Kriegen in Afghanistan, im Irak oder in Syrien geflohen sind, aber auch die weltweiten Fluchtbewegungen wurden in den Medien erst zum wichtigen Thema als sich die Geflüchteten auf den Weg nach Europa machten. Die Mordserie des NSU wurde jahrelang unter dem Schlagwort „DönerMorde“ den migrantischen Opfern in die Schuhe geschoben. Einseitige Berichterstattung herrschte im Medien-Mainstream nicht nur im Konflikt in der Ukraine, auch gegen das durch die Bankenkrise besonders gebeutelte Griechenland gab es in den deutschen Leitmedien ein regelrechtes Bashing. Nicht nur im Fall des Spiegel-Journalisten Claas Relotius wurden Geschichten erfunden, Berichterstattungen wie etwa bei der Solidaritätsdemo der Staatschefs nach dem Attentat auf Journalisten von „Charlie Hebdo“ – wurden regelrecht inszeniert.

Die Aufzählung der Beispiele für Medienversagen könnte man beliebig fortsetzen.

Wo setzten Sie mit Ihrer Medienkritik konkret an?

Zu beklagen ist z.B. der Wegfall früher einmal einigermaßen kritischer Medien oder die meinungsprägende Kraft einiger weniger Medien, wie etwa der Bild-Zeitung oder des Spiegel. Bei vielen Themen ist ein unkritischer Gleichklang von Politik und Medien oder es ist – wie es der Kommunikationswissenschaftler Uwe Krüger nennt – eine „kognitive Vereinnahmung“ bzw. eine „Verantwortungsverschwörung“ zwischen Journalisten und den gesellschaftlichen Eliten und den wirtschaftlich Mächtigen zu beobachten.

Also ist der Vorwurf „Lügenpresse“ berechtigt?

Ich halte dieses ‚Schlag’-Wort für problematisch, falsch, ja gefährlich. Wer anderen Lüge vorwirft, tut so, als kenne er die Wahrheit. Ich verstehe mich als Kritiker der Medien, aber ich bin Journalisten gegenüber nicht feindlich gesinnt. „Lügenpresse“ diente auch schon den Nazis zur pauschalen Diffamierung der angeblich vom „Weltjudentum“ gesteuerten „Journaille“. Man darf Medienkritik nicht der politischen Rechten überlassen. Pauschale Kritik an „den“ Medien behindert oder verhindert eher notwendige Kritik an der „Vierten Gewalt“. Medienkritik ist die Kehrseite der Medienfreiheit und somit eine „urlinke“, aufklärerische Aufgabe.

Aber Schuldzuweisungen an die Medien machen Sie doch auch?

Nein, ich suche nicht nach Sündenböcken, sondern nach Gründen und Strukturen für Medienversagen und diese sind so vielfältig, dass eine angemessene Analyse dieses Interview sprengen würde. Hier nur ein paar Stichworte: Seit Jahren gibt es eine steigende Konzentration im Medienbereich. Der Zeitenschriftenmarkt wird von den Medienkonzernen der Familien Bauer, Burda, Funke (Familie Grotkamp), Mohn (Bertelsmann) und Springer beherrscht mit einem Marktanteil von rund 85 Prozent. Die Top-5 der auflagenstärksten Verlagsgruppen – also Springer, die Südwestdeutsche Medienholding, die Mediengruppen Funke, Ippen und Madsack – erzielen bei den Abonnementzeitungen einen Marktanteil von über 40 Prozent, bei den Kaufzeitungen sogar von nahezu 100 Prozent. Die Kehrseite dieser Konzentration nach außen ist eine sich verschärfende Rationalisierung nach innen. Redaktionen werden massiv zusammengestrichen. Allein in NRW ist von 2015 bis 2019 im gesamten Zeitungsgewerbe nahezu jeder 6. (sozialversicherungspflichtige) Arbeitsplatz weggefallen. Die Zeitungsverlage flüchten bundesweit aus Tarifverträgen. Immer schlechter bezahlte und immer gestresstere Journalisten und Journalistinnen stehen unter dem Druck von immer besser ausgestatteten Kommunikationsabteilungen der Wirtschaft und von Lobbyisten. 30.000 bis 50.000 PR-Mitarbeitern standen im letzten Jahr gerade mal noch 36.000 festangestellte Journalisten in deutschen Medienunternehmen gegenüber, davon 13.000 in Zeitungen.* Das führt dazu, dass 80 Prozent der Zeitungsinhalte auf Ideen und Initiativen von PR-Agenturen und davon über 60 Prozent auf Anstößen von Regierungen beruhen. Aufgrund von Arbeitsverdichtung wird vielfach nur noch nachgeschrieben, was die anderen schreiben. So greift ein – wie das schon Kurt Tucholsky nannte – „Papageienjournalismus“ immer mehr um sich.

Angesichts sinkender Auflagen und fallender Anzeigeneinnahmen bleibt den Zeitungsverlagen doch nichts anderes übrig, als zu sparen.

Richtig ist: Die tägliche Auflage der Tageszeitungen hat sich seit Anfang der 90er Jahr auf 13,5 Millionen Exemplare halbiert. Die Auflage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist mit am stärksten gesunken, allein innerhalb der letzten Dekade nämlich um die Hälfte, auf 183.000 Exemplare. Die Druckauflage von Bild/B.Z. ist im gleichen Zeitraum von 3,72 auf 1,83 Millionen abgestürzt. Die Corona-Monate brachten für viele Printmedien weitere massive Einbrüche. Nicht nur die Auflagen und damit die Reichweite der Zeitungen, sondern auch die Zeit für die Lektüre ist kontinuierlich zurückgegangen. Zwar hat gegenläufig der Verkauf von E-Papers deutlich zugenommen und im letzten Jahr wurde die Eineinhalb-Millionen-Grenze deutlich überschritten, die Vertriebserlöse der digitalen Zeitungen können jedoch – bisher jedenfalls – die sinkenden Erlöse bei den gedruckten Zeitungen nicht kompensieren.

* https://de.statista.com/statistik/daten/studie/417820/umfrage/journalisten-in-deutschen-medienunternehmen/

Je kleiner die Auflagen der Zeitungen, desto geringer die Werbeeinnahmen, desto kleiner die Redaktionen, desto weniger tiefschürfend die Berichterstattung, desto geringer die journalistische Qualität und – im Ergebnis – desto größer der Verlust an Glaubwürdigkeit und damit wiederum der Verlust an verkaufter Auflage. Dieser Teufelskreis ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass die Zahlungsbereitschaft für die Printmedien gesunken ist. Die Zeitungsverlage sind dabei, sich selbst zu strangulieren.

Gerade die Corona-Krise hat doch aber gezeigt, dass das Vertrauen in die klassischen Medien wieder gestiegen ist.

Möglicherweise liegt es an der kritischen Debatte über Fake News – also Falsch- oder Fehlinformationen im Internet – dass das Vertrauen in die klassischen Medien in letzter Zeit wieder etwas zugenommen hat. Aus einer repräsentativen „Langzeitstudie Medienvertrauen“ der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität aus dem Jahre 2019 ergibt sich, dass immerhin noch 43 Prozent der Bevölkerung ab 18 Jahren meinen, man könne den Medien „voll und ganz“ oder wenigstens „eher“ vertrauen, „wenn es um wirklich wichtige Dinge geht“. Andererseits erleben wir eine zunehmende Polarisierung der Urteile über die Medienlandschaft: Der Anteil derjenigen die den Medien misstrauen hat sich in den letzten 10 Jahren auf 28 Prozent nahezu verdreifacht.* Der genannten Studie zufolge sind die „Lügenpresse“-Vorwürfe nach wie vor weit verbreitet. Die klassischen Medien würden vor allem von denjenigen pauschal verurteilt, die häufig alternative Nachrichtenquellen im Internet konsumierten. Skeptiker fänden sich überdurchschnittlich häufig an den Rändern des politischen LinksRechts-Spektrums. Diese Befunde werden im Wesentlichen auch durch andere Umfragen bestätigt.

Aber das Fernsehen genießt doch nach wie vor eine hohe Glaubwürdigkeit.

Ja, das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist in seiner Bedeutung als Nachrichtenquelle zwar etwas rückläufig, aber ZDF und ARD sind nach wie vor sowohl die Leitmedien mit der größten Reichweite als auch mit der höchsten Glaubwürdigkeit. Fernsehen ist auch das pro Tag zeitlich am längsten genutzte Medium. Zwischen der zuerkannten relativ hohen Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender und dem Nutzerverhalten klafft zwischen Jung und Alt allerdings eine riesige Kluft: Dem Vertrauensbonus des Fernsehens steht geradezu ein „Generationenabriss“ bei der Nutzung gegenüber. Die Mehrheit der Zuschauer und Zuschauerinnen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist über 65 Jahre alt. Während bei den über 50-Jährigen der Fernseher täglich über 5 Stunden eingeschaltet ist und das Internet 35 Minuten medial genutzt wird, ist das Verhältnis bei den 14 bis 29-Jährigen umgekehrt; diese Altersgruppe ist mehr als 3 Stunden im Netz unterwegs und der Fernseher läuft täglich „nur“ noch 82 Minuten.** Zwar weichen die Angaben über die Mediennutzung je nach Untersuchung deutlich voneinander ab, aber die Tendenz ist eindeutig: Schaut man auf die nachfolgenden Generationen, so verlieren die klassischen Medien, insbesondere die Zeitungen, aber auch das Fernsehen dramatisch an Bedeutung – zumal für die Verbreitung von Informationen -, während das Internet sowohl im Hinblick auf die Nutzungszeit als auch hinsichtlich des Meinungsgewichts kontinuierlich zunimmt. Es ist zwar durchaus möglich, dass die Jungen z.B. die „Tagesschau“ im Internet „streamen“, aber für die Bildung der öffentlichen Meinung werden soziale Medien immer bedeutsamer: Laut Reuters Digital News Report 2020 sind für 30% der 18- bis 24-Jährigen die sozialen Medien die wichtigste Nachrichtenquelle (2019 lag der Wert noch bei 22%) und 9% dieser Altersgruppe beziehen Nachrichten sogar ausschließlich über Soziale Medien (2019 waren es noch 5%).*** Das Smartphone und Abrufdienste auf Online-Medien sind für die Jungen sehr viel wichtiger, als das an Programmzeiten gebundene, lineare Fernsehen.

Kann denn das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen?

Ergänzen teilweise ja, ersetzen – bisher jedenfalls – nein. Richtig ist: Nie zuvor war es so einfach, an eine so große Fülle von Medieninhalten weltweit und jederzeit zu gelangen, wie heute. Im Netz findet sich

* https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2019/ ** https://www.ndr.de/der_ndr/zahlen_und_daten/Wie-lange-nutzen-die-Deutschen-Fernsehen-Radio-und Internet,ndrdaten101.html *** https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2020-06/DNR_2020_FINAL.pdf

eine nicht mehr überschaubare Zahl an Blogs oder an „Influencern“ – von kleinen privaten ChatRooms bis zu Webangeboten, die manchmal ein Millionenpublikum erreichen. Der professionelle Journalismus hat gegenüber den Botschaften aus dem Netz seine Deutungshoheit, seine „Gatekeeper“Funktion jedenfalls zu einem beachtlichen Teil verloren. Von der Utopie, dass das World Wide Web basisdemokratische, herrschaftsfreie Kommunikation ermöglichen und sich jeder und jede unzensiert an die Öffentlichkeit wenden könnte, sind wir jedoch weit entfernt. Spätestens seit den Enthüllungen des ehemaligen CIA-Mitarbeiters Edward Snowden wissen es alle, dass die gewonnene Freiheit der Information mit einem Verlust an Anonymität und einer neuen privaten und/oder staatlichen Macht über persönliche Daten erkauft wird. Die angeblich „kostenfreien“ Internet-Dienste von Facebook und Co. sind vor allem auch Datenkraken, die mit dem Sammeln und dem Verkauf von Nutzerdaten Milliarden an Werbegewinnen machen. Die HarvardÖkonomin Soshana Zuboff hat für diese Form der Gewinnerzielung den passenden Begriff „Überwachungskapitalismus“ eingeführt.

Aber die Internet-Community kämpft doch um die „Freiheit im Netz“. Die milliardenschweren Bosse der Internetoligopole „GAFAM“, also von Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, vertraten über lange Jahre unisono und penetrant die Ideologie, sie seien nur neutrale Dienstleister für ihre „User“ und könnten für die von ihnen verbreiteten Inhalte nicht als „Herausgeber“ zur Verantwortung gezogen werden. Diese Ideologie wird bis heute von vielen Netzaktivisten im naiven Glauben an die „Freiheit im Netz“ mitgetragen. Von freiem Informationsfluss im Netz kann jedoch nicht die Rede sein, die Kontrolle über die verbreiteten Inhalte liegt nicht bei den Usern. Es bleibt verborgen, dass die „geposteten“ Inhalte vor allem aufgrund von geheim gehaltenen Sortier- und Suchalgorithmen der Internetdienstleister gesteuert werden. Computer-Rechenprogramme kategorisieren, filtern und hierarchisieren die Angebote – milliardenfach und in Bruchteilen von Sekunden. Über das Such- oder Klickverhalten wird nachverfolgt, welche Netzinhalte vom Benutzer gesucht werden und welche ihm wichtig erscheinen. Diese Auswahltechnik zeigt den „Surfern“ das, was sie ohnehin suchen oder meinen. Die Tatsache, dass die Internetdienste besser über einen Bescheid wissen, als man selbst über sich weiß – jedenfalls als man sich bewusst macht – kann nicht nur für Werbezwecke für Waren- und Dienstleistungsanbieter ausgebeutet werden, die Möglichkeit zur personalisierte Zielgruppenansprache, kann auch für Propaganda, bis hin zu Wahlmanipulationen missbraucht werden.

Die These von der „Filterblase“ ist doch umstritten.

Die Tatsache, dass die sozialen Medien durch die verborgenen Algorithmen ihren Nutzern das ausfiltern, was ihrem Suchverhalten entspricht und so solche Inhalte, auch als automatisierte Kurznachrichten anbieten, die ihren Vorlieben und Vorurteilen entsprechen, wird häufig als „Filterblasen“- oder „Echokammer“-Effekt bezeichnet. Obwohl diese Thesen plausibel erscheinen, sind die empirischen Nachweise dafür bislang allerdings in der Tat dünn gesät. Als einigermaßen gesichert gilt, dass bei zahlenmäßig durchaus beachtlich großen gesellschaftlichen Gruppen, die sich in Opposition zu der in den klassischen Medien veröffentlichten Meinung verstehen, durch die personalisierten Nachrichtenströme Verfestigungen von Vorurteilen oder Ideologien beobachtbar sind, ja sogar eine Radikalisierung stattfindet. Auch Menschen, die vom öffentlichen Diskurs abweichende, oftmals stark ideologisch begründete Überzeugungen haben, können durch die selektive Auswahl der Angebote im Internet zur Anschauung gelangen, dass ihre randständigen Auffassungen mit der „Volks“-Meinung übereinstimmen, sodass sich polarisierende „Gegenöffentlichkeiten“ bilden.

NRW-Innenminister Herbert Reul sprach vom Internet als „der Radikalisierungsmaschine des 21. Jahrhunderts“

Die „Währung“ des Internets ist die Aufmerksamkeit – sie bringt Klickzahlen und damit auch Werbeeinnahmen. Im Wettstreit um Aufmerksamkeit müssen sich die Einträge an sprachlicher Härte, an skandalisierendem Ton und auch an Aggressivität überbieten. Das kann zu einer Radikalisierung der Überzeugungen führen. Attila Hildmann zum Beispiel, der Kochbuchautor, der auf Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen von sich behauptet, er werde von Geheimdiensten und Tempelrittern observiert und er werde bald neuer Staatschef, sagt von sich selbst, er habe sich bis vor kurzer Zeit „überhaupt nicht für Politik interessiert“, doch dann sei er über alternative Meinungen aus dem Internet „aufgeweckt“ worden. Die dschihadistischen Attentäter von Paris haben sich über einen Playstation-Chat ausgetauscht und der Terrorist von Christchurch, Brenton Tarrant, oder der Münchner Attentäter, David Sonboly, haben sich in Chats über Computerspiele vernetzt.

Es wird vielfach behauptet, die Erfolge der AfD oder von Donald Trump seien auf das Internet zurückzuführen.

Unabhängig davon, wie man die Wirkungen der Internetkommunikation auf das politische Verhalten einschätzt, eine Tatsache ist empirisch erhärtet: Im Netz ist eine Verrohung, ja teilweise sogar eine Vergiftung der Sprache erkennbar. Die Verwilderung in der zwischenmenschlichen Kommunikation im Netz ist oft eng verbunden mit einer übersteigerten Emotionalisierung, einer Opferhaltung, einem pauschalen Anti-Elitismus, einer allgemeinen Skepsis, mit Homophobie oder Fremdenhass, mit Nationalismus, Rassismus bis hin zu Aufrufen zur Gewalt. Das Internet wurde geradezu zu einem Sammelpunkt für fremdenfeindliche Hetze. Soziale Medien wurden in Teilen zu asozialen Medien. Gegen Hass oder Mobbing oder zur Aufklärung von Fehlinformationen im Netz gibt es inzwischen eine kaum noch übersehbare Zahl staatlich geförderter und privater Initiativen. Ob es dadurch wirklich zu einer „Abrüstung der Sprache“ im Netz kommen wird, ob der Kampf gegen Desinformationen erfolgreich sein kann, ist eine offene Frage. Fake News oder Botschaften, die Wut oder Angst machen, verbreiten sich im Netz nachweislich weiter, schneller, intensiver und breiter als ausgewogene, sachliche und gut recherchierte Nachrichten. Die AfD oder andere rechte Bewegungen wie die Lega Nord in Italien oder auch Donald Trump nutzen solche „Infodemie“-Effekte für ihre politische Propaganda. Bei den Social Media-Abrufen liegen die AfD und deren Politiker/innen mit weitem Abstand vorn. Trump selbst sagt, er verdankte seinen damaligen Wahlerfolg Facebook und Twitter und er beweist mit seinen nahezu täglichen Kurznachrichten, wie sehr die klassischen Medien geradezu an die Wand gedrängt werden können. Er kann sich mit seinen Tweets ungefiltert an die Öffentlichkeit wenden und seine Behauptungen werden – mangels Alternativen – von den klassischen Medien aufgegriffen.

Gibt es Initiativen, die kommunikative und ökonomische Macht der Tech-Giganten zu kontrollieren?

Apple hat gerade einen Börsenwert von 2 Billionen Dollar erreicht, das ist fast doppelt so hoch, wie der Wert aller im DAX gelisteten Unternehmen zusammen. Unter den 20 größten Digitalkonzernen gibt es kein einziges europäisches Unternehmen. Apple machte allein im ersten Quartal dieses Jahres einen Umsatz von über 90 Milliarden und einen Gewinn von über 22 Milliarden Dollar. Durch Praktiken der Steuerumgehung liegen die faktischen Steuersätze in Europa teilweise unter 1%. Google gehört zu den aktivsten Lobbyisten in Brüssel. Nachdem Facebook-Chef Mark Zuckerberg angekündigt hat, Facebook, WhatsApp, Instagram und weitere Apps künftig auf einer gemeinsamen technischen Plattform zu betreiben, um damit eine noch gigantischere Datenbank von weltweit an die 3 Milliarden seiner Nutzer zusammenzuführen, wird selbst in den USA intensiver über eine wettbewerbsrechtliche Zerschlagung dieser Konzerne diskutiert. Unlängst untersagte das Bundeskartellamt immerhin, dass Facebook die Nutzerdaten dieser verschiedenen Dienste in Deutschland ohne explizite Zustimmung der Nutzer zusammenführen darf. Und der Bundesgerichtshof bestätigte den Vorwurf der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch Facebook.

Der Druck auf die Tech-Giganten geht jedoch nicht nur von der Politik aus, aufgrund von Vorwürfen, die sozialen Netzwerke würden zu wenig gegen rechtsextreme Gruppen oder gegen Aufrufe zur Gewalt unternehmen, sahen sich Facebook und andere Online-Plattformen Boykotten etlicher Werbekunden gegenüber – darunter Großkonzerne wie Coca Cola oder Honda. Mit dem Verlust von Werbeeinnahmen wird die Achillesferse der Oligopolisten getroffen. Während Twitter schon seit einiger Zeit Maßnahmen gegen Falschnachrichten ergriffen hat, lenkte nun auch Facebook ein.

Es gibt aber doch zahlreiche Regulierungsversuche auf dem Feld des Internets.

In der Tat, denn das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Aber jede Regulierung müsste größtmögliche individuelle Meinungsfreiheit und Schutz vor staatlicher oder privater Zensur und darüberhinaus ein hohes Maß an Datenschutz gewährleisten. Die meisten Netzwerkbetreiber haben sich selbst sog. Gemeinschaftsstandards zum Schutz vor schädlichen oder anstößigen Inhalten oder gegen Missbrauch auferlegt. Es gibt inzwischen zahlreiche Absprachen und Regulierungsmaßnahmen auf der Ebene der EU oder in Deutschland etwa das sog. „Netzwerksdurchsetzungsgesetz“ zur Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus. Nahezu sämtliche Regulierungsversuche sind aus unterschiedlichen Gründen umstritten. Bei Schutzvorschriften zur Einhaltung des Urheberrechts etwa wird der Einsatz von „Upload-Filtern“, also die automatische Blockade von Inhalten und damit das „Ende des freien Internets“ befürchtet. Werden – wie bei der Bekämpfung von Kriminalität im Netz – die Internetunternehmen zur Verantwortung gezogen, wird eine vorauseilende Löschung von Einträgen durch die Konzerne und damit eine private Zensurinfrastruktur befürchtet. Dagegen wird andererseits eher ein sog. „underblocking“ beklagt, weil nach wie vor Rechtsextremisten im Netz agierten, als gelte kein Gesetz. Außerdem kämen die Strafverfolgungsbehörden an die Hetzer im Internet gar nicht heran, weil die Internetkonzerne ihr Sitzland gar nicht in Deutschland oder Europa hätten und die USA z.B. bei Volksverhetzung keine Rechtshilfe leisteten.

Was könnte man tun, um die Gefahren aus dem Internet abzuwehren?

Der Bundespräsident fordert eine „Demokratisierung des Digitalen“. Es gibt Stimmen, die ganz grundsätzlich in Frage stellen, dass die Netz-„Infrastruktur“ sich in privater Hand befindet. Weil es zum Grundrecht der „informationellen Selbstbestimmung“ gehört, dass man weiß, was mit den eigenen Daten geschieht, wird vielfach Transparenz darüber verlangt, nach welchen Kriterien die Algorithmen Informationen anzeigen und auflisten. Der Medienstaatsvertrag, auf den sich die Ministerpräsidenten der Länder Ende letzten Jahres verständigt haben, verlangt von den Intermediären, dass sie die Funktionsweise ihrer eingesetzten Algorithmen bekannt geben und reichweitenstarken Netzwerken soll zur Gewährleistung der Meinungsvielfalt ein Diskriminierungsverbot auferlegt werden. Zunehmend werden auch Forderungen nach einer digitalen Souveränität wenigstens auf europäischer Ebene gegen die Digital-Oligopolisten aus den USA und inzwischen auch aus China laut. Von Seiten des früheren ARD-Vorsitzenden und Intendanten des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, ist eine „Plattform von Qualitätsangeboten im Netz“ in die öffentliche Debatte getragen worden. Das ZDF hat inzwischen eine Kultur-Mediathek aufgebaut und die ARD hat auf die Verschiebung der Mediennutzung zumal der jüngeren Generation mit einem im Internet abrufbaren nichtlinearen Angebot von Videos für ein jüngeres Publikum, mit „funk.net“ reagiert.

Was spricht gegen ein öffentliches Internetangebot?

Dagegen kämpfen vor allem die Verleger. Sie fürchten die Konkurrenz eines solchen öffentlichen Netzangebots für ihre eigenen Internetauftritte und damit einen Abzug von Werbegeldern. Dabei übersehen sie allerdings den „Elefanten im Raum“, nämlich die Tatsache, dass die ausländischen Internetoligopolisten schon jetzt den Löwenanteil auf dem Werbemarkt an sich gerissen haben und immer gefräßiger werden. Ein öffentliches Internetangebot hätte viele Vorteile: Im Gegensatz zu den privaten Sozialen Medien könnte sich ein beitragsfinanziertes Internetangebot – sei es über ein eigenes Portal und/oder über die privaten Dienste – etwa auf der gesetzlichen Basis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dem kommerziellen Primat entziehen, es könnte von gesellschaftlichen Gruppen kontrolliert werden und wäre nicht anonymen Shareholdern verpflichtet, es könnte auf den Verkauf von Daten verzichten und wäre nicht auf die Ausbeutung der Nutzer angewiesen. Ein solcher öffentlich-rechtlicher Netzauftritt könnte gesetzlich auf Meinungsvielfalt, auf Ausgewogenheit verpflichtet und durch einen gesellschaftlichen Integrationsauftrag der Spaltung der Öffentlichkeit durch „Filterblasen“- bzw. „Echokammer“-Effekte entgegenwirken. Er könnte mit dem Versprechen an die Nutzer verbunden sein, dass die Daten geschützt und die Algorithmen transparent gemacht würden, außerdem könnten im Sinne eines „kommunikativen Versorgungsauftrags“ unbeschränkte Nutzungsrechte erteilt werden.

Ob ein solches Angebot seine Nutzer fände, ist zwar ungewiss, aber immerhin bestünde eine Alternative zu den Internetoligopolisten. Angesichts der Entwicklung, dass private Informationsangebote zunehmend auch im Netz bezahlt werden müssen, könnte mit einem öffentlichen Internetangebot einer weiteren Teilung des Publikums in diejenigen, die sich teuren Journalismus leisten können, und jenen, die sich mit kostenfreien, nichtprofessionellen Informationsangebote zufrieden geben müssen, entgegengewirkt werden. Kurz: Ein solches Angebot wäre ein immer wichtiger werdender Beitrag zur Demokratisierung des Internets und damit zur Stärkung der Meinungsvielfalt. Womit wir wieder bei Ihrer Ausgangsfrage angekommen wären, nämlich warum die Medien für eine funktionierende Demokratie so wichtig sind: Der Kampf der unterschiedlichen Meinungen ist eben – wie es das Bundesverfassungsgericht ausdrückt – „schlechthin konstituierend“ für eine freiheitlichdemokratische Staatsordnung.

Zur Person:

Wolfgang Lieb (* 1944 in Stuttgart) ist ein deutscher Jurist und Publizist. Er studierte Politik- und Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin, an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und an der Universität zu Köln. Er promovierte über das Thema „Kabelfernsehen und Rundfunkgesetze“. 1972 wurde er Gründungssenator und Wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Philosophie an der neugegründeten Gesamthochschule Essen, ab 1976 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld.

Dr. Wolfgang Lieb. Archivbild: C. Stille

1979 wechselte er in die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes in Bonn. Nach der politischen Wende 1983wurde er Leiter des Grundsatzreferates in der Landesvertretung NRW. Ab 1987 war er zunächst stellvertretender, danach Regierungssprecher und Leiter des Landespresse- und Informationsamtes NRW unter Ministerpräsident Johannes Rau, von 1996-2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium NRW. Von 2003 bis 2015 war er Mitherausgeber und Autor der politischen Website NachDenkSeiten, für die er 2009 den Alternativen Medienpreis entgegennahm. Seither arbeitet er als freischaffender Publizist.

Wolfgang Lieb Jenseits der Lügenpresse (I) Kann das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen? Medienwelt im Umbruch – Medienversagen, Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust – Das Internet als Alternative zu klassischen Medien

65 Seiten, 6 Euro

Medien beeinflussen maßgeblich unsere Meinung über die Welt und auch über die Politik. Die Sorge um den Zustand unserer Medienlandschaft ist also gleichzeitig eine Sorge um den Zustand unserer demokratischen Kultur. Es gibt zahllose Beispiele für das Versagen der klassischen Medien und es gibt viele Gründe, warum die „Vierte Gewalt“ ihre Rolle immer schlechter erfüllt. Die Zeitungsverlage sind dabei, sich selbst zu strangulieren – die Zahlungsbereitschaft für die Printmedien ist dramatisch gesunken. Die Auflage vieler Tageszeitungen hat sich in den letzten Jahren halbiert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist zwar nach wie vor das wichtigste Leitmedium und genießt das größte Vertrauen, aber ARD und ZDF erfahren einen „Generationenabriss“. Die Mehrheit der Jüngeren informiert sich inzwischen auch über politische Themen mehr und mehr online. Kann das Internet den Nutzerschwund, die Abnahme an Qualität, die Schrumpfung der Pluralität und den partiellen Vertrauensverlust der klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen?

INHALT: Warum sind Medien so wichtig? / Das Schlagwort „Lügenpresse“ ist problematisch, falsch, ja gefährlich / Medienversagen – Einige Gründe für das Versagen / Die Zeitungsverlage sind dabei, sich im Printbereich selbst zu strangulieren / Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust der traditionellen Medien / Fernsehen ist noch das wichtigste Leitmedium – erfährt aber einen „Generationenabriss“ / Kann das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen? / Blogs als Alternative zu den klassischen Medien? / Soziale Netzwerke als Mittel demokratischer Teilhabe? / Soziale Medien als Überwachungsmittel und Datenkraken / Die Online-Präsenz wird zur handelbaren Ware / Soziale Netzwerke sind zu Meinungsoligopolen geworden Wolfgang Lieb Jenseits der „Lügenpresse“ (II) Kann das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen? Die neuen Medien – Meinungsmacht, Radikalisierung und Fragmentierung der Öffentlichkeit im Internet – Demokratisierung des Digitalen

78 Seiten, 6 Euro

Die Internetdienstanbieter behaupteten lange Zeit, sie seien reine Technikunternehmen und nicht für die Inhalte, die ihre Nutzer ins Netz stellten, verantwortlich. Doch Facebook, Google & Co. sind nicht neutral. Geheim gehaltene Algorithmen verfolgen die Datenspuren des Such- und Nutzungsverhaltens und wählen die angebotenen Inhalte entsprechend den Vorlieben der Nutzer aus. Solche Daten werden als personalisierte Zielgruppenansprache an Werbetreibende und an sonstige Interessenten verkauft. Soziale Medien sind die größten Werbeagenturen. Die digitale Öffentlichkeit nimmt durch die Überwachung, durch Oligopolisierung, durch Kommerzialisierung sowie durch algorithmisch programmierte Meinungs- und Verhaltenssteuerung feudale Züge an. Falschnachrichten, Verrohung der Sprache sowie gesellschaftliche Polarisierung gefährden den offenen demokratischen Diskurs. Bei beachtlich großen gesellschaftlichen Gruppen lassen sich „Echokammer“-Effekte beobachten. Das Internet ist zum Einfallstor für Manipulatoren und als Folge der Aufmerksamkeitsökonomie zur politischen Radikalisierungsplattform vor allem auch für rechtsextreme Gruppen geworden. Die Internetoligopole haben ökonomische und kommunikative Macht ohne demokratische Kontrolle erlangt.

Aus dem Inhalt: Der Streit um die „Filterblase“ – Die „Schweigespirale“ wird durchbrochen – Verrohung der Sprache und Radikalisierung im Netz – Die politische Rechte hat besser verstanden, wie soziale Medien funktionieren – Das Internet als Einfallstor für Manipulatoren – Die ökonomische und kommunikative Macht der Internetoligopole – Fragmentierung der Öffentlichkeit – Nicht die Digitalisierung der Demokratie, sondern die Demokratisierung des Digitalen ist das Gebot der Stunde – Was kann man tun, um die Gefahren aus dem Internet abzuwenden? – Das Internet ist kein rechtsfreier Raum – Regulierungsmaßnahmen der EU und des Bundes – „Community-Standards“ der Netzwerkbetreiber – Nichtstaatliche Initiativen gegen Hasskommentare – Herstellung von Transparenz – Warum nicht ein öffentlich-rechtliches (beitragsfinanziertes) Online-Angebot? – Warum sind Medien so wichtig?

Quelle: pad-Verlag

Hinweis: Ich bemühe mich auf meinem Blog um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht meine Sichtweise widerspiegeln.

Wolfgang Lieb beim Nachdenktreff in Dortmund: „Gestern APO, heute Sammlungsbewegung?“

In diesem Jahr blicken Medien und Politiker in vielfältiger Weise retour auf die 68er-Bewegung, welche nun bereits 50 Jahr zurückliegt. Mit Dr. Wolfgang Lieb hatte der Nachdenktreff als Referenten einen profunden Zeitzeugen gewinnen können.

Ein Blick zurück nach vorn

Dr. Wolfgang Lieb. Fotos: C. Stille

Lieb referierte unter der Überschrift „Gestern APO, heute Sammlungsbewegung?“ und blickte so gewissermaßen zurück nach vorn.

Dr. Wolfgang Lieb habe als Zeitzeuge des Wirkens der APO (Außerparlamentarische Opposition), wie Gastgeber Peter Rath-Sangkhakorn das Publikum am Montagabend informierte, nach aktiver Teilnahme als Aktivist und „Studentenfunktionär“ in der 68er-Zeit den „Marsch durch die Institutionen“ gemacht. Denn später wurde der Jurist Leiter des Presseamtes der Landesregierung NRW und dann Staatsekretär im NRW-Wissenschaftsministerium zu Zeiten des Ministerpräsidenten Johannes Rau. Wolfgang Lieb war Mitherausgeber der NachDenkSeiten und lange Jahre als Redakteur dort tätig.

Wolfgang Lieb hängte die 68er-Bewegung betreffs ihrer Wirkungen etwas tiefer und „sägte“ am Mythos Dutschke

Lieb wollte die durch die 68er-Bewegung hervorgerufenen gesellschaftlichen Veränderungen in Westdeutschland gewiss nicht kleinreden, wenn er das Ganze – aus seinen persönlichen Erinnerungen gespeist –, Details betreffend, etwas tiefer hängte. Etwa habe der Studentenfunktionär Rudi Dutschke, auf den in Westberlin ein Attentat verübt wurde, an dessen Spätfolgen er Jahre später verstarb, aus seiner Sicht und der vieler Kommilitonen so eine enorme Wirkung – wie sie ihm heute zugeschrieben werde – gar nicht gehabt. Der entstandene Mythos Dutschke betreffend wäre vor allem den Medien zuzuschreiben. Zweifellos aber sei Dutschke eine wichtige Figur dieser Zeit gewesen, so Lieb.

Die 68er-Bewegung war vor allem eine Antibewegung, die die bestehenden Verhältnisse in jeder denkbaren Richtung befragte

Der aktive Teil der Sammlungsbewegung der 68er sei letztlich eine kleine radikale Minderheit geblieben, stellte Lieb fest. Letztlich sei die 68er Bewegung keine „revolutionäre Bewegung mit einem einheitlichen Programm gewesen. Wolfgang Lieb: „Es war vor allem eine Antibewegung, die die bestehenden Verhältnisse in jeder denkbaren Richtung befragte.“ Der 68er-Bewegung habe der Traum von einer besseren, gerechteren, befreiten Gesellschaft innegewohnt.

Der APO zugehörig hätten sich aber auch viele Einzelpersonen gefühlt. Lieb nannte stellvertretend Intellektuelle wie Ernst Bloch, Heinrich Böll, Wolfgang Abendroth, Herbert Marcuse und viele andere.

Unterschiedliche Sichten auf die 68er-Bewegung

„Schon in der Vergangenheit“, gab Wolfgang Lieb betreffs der Rezeption zu bedenken, redeten und schrieben allzu viele, die sich über das Thema „68er-Bewegung“ ausließen, „wie Blinde von der Farbe“. Lieb weiter: „Die meisten projizierten nur ihre eigene Gesinnung oder ihre Vorurteile in die damalige Bewegung hinein.“

Heute etwa habe der jetzige Chef der CSU-Parlamentariergruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, fünfzig Jahre nach 68 eine bürgerlich-konservative Wende gefordert, „als hätten wir die nicht schon oder mindestens seit Kohls geistig-moralischer Wende oder bereits eher gehabt.“

Ganz wohl Meinende würden wohl den 68ern die Überwindung eines spießbürgerlichen Autoritarismus und eine Liberalisierung der Gesellschaft zurechnen. Der Philosoph Habermas habe auf die Frage, was 68 gebracht habe einmal spontag geantwortet: „Rita Süßmuth.“

Wolfgang Lieb denkt, vielleicht hätte es die Frauenbewegung oder die Partei Die Grünen ohne die 68er „jedenfalls so nie gegeben“. Und ohne sie womöglich keine Frau Bundeskanzlerin geworden.

Lieb: Terrorgruppen wie die RAF keine unmittelbare Folge der studentischen Revolte

Für eine glatte Geschichtsverfälschung indes hält Lieb es, wenn die Terrorgruppen der Rote Armee Fraktion (RAF) oder der „Bewegung 2. Juni“ als unmittelbare Folge oder gar Konsequenz der studentischen Revolte gedeutet würden.

Seine Kommilitonen hätten allenfalls die Blockade der Auslieferung der Bildzeitung in Westberlin gutgeheißen. Nach Herbert Marcuses Gegenüberstellung von „repressiver“ und „emanzipatorischer“ Gewalt und der grenzwertigen Unterscheidung zwischen legitimer „Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Personen“.

Jedoch spätestens mit der Brandstiftung der späteren RAF-Mitglieder in Frankfurter Kaufhäusern sowie bei den Gewaltexezessen gegen die Polizei, die mit Backsteinwürfen attackiert und fortgejagt worden seien, bei der sogenannten „Schlacht am Tegeler Weg“ in Westberlin, wäre da eine Grenze überschritten gewesen. Manche hätten damals gemeint die Revolution gewonnen zu haben. Die meisten Gruppierungen hätten das „für lächerlichen Größenwahnsinn“ gehalten.

Schon Ende 1968 begann die Spaltung der APO in eine überschaubare Vielzahl von Gruppen und Sekten

Bereits Ende 1968 habe man feststellen können, dass es keine gemeinsamen Aktionen mehr und keine Solidarität mehr innerhalb der APO gegeben habe. Nach dem Attentat auf Dutschke und den folgenden Osterunruhen, wo über 300.000 Leute in Westdeutschland und Westberlin auf die Straße gegangen seien, habe sich die 68er-Bewegung in eine kaum noch überschaubare Vielzahl von Gruppen und Sekten gespalten.

Als bittere Ironie der Geschichte bezeichnete Wolfgang Lieb es, dass Linke wie der Anwalt Horst Mahler später bei den Nazis gelandet sei.

Eine größere Sammlungsbewegung habe es erst wieder Mitte der 1970er Jahre und später mit den Protesten gegen den Nato-Doppelbeschluss in den Jahren 1981 und 1983 gegeben.

Die Zeiten änderten sich

Vor 1968 sei die akademische Jugend wären laut einer Untersuchung von Jürgen Habermas 66 Prozent der Befragten Studierenden apolitisch, 16 Prozent autoritätsgebunden und nur 9 Prozent einem definitiv demokratischen Potential zuzurechnen gewesen. Um ein Bild von der damaligen rückschrittliche hochschulpolitische Situation zu zeichnen, erzählte der Referent, der 1963 an der Freien Universität Berlin (FU) begann, von seiner Begegnung mit dem späteren Regierungen Bürgermeister von Westberlin Eberhard Diepgen, der an der Uni seinerzeit als ASTA-Vorsitzender fungierte. Diepgen sei damals Mitglied einer rechtslastigen schlagenden Burschenschaft gewesen, der mit Schmiss im Gesicht und Mütze und Band über den Campus der FU gelaufen sei. Erst später hätte diese Funktion jemand vom Sozialistischen Studentenbund übernommen.

Woher die Anstöße für die Studentenbewegung kamen

Als Anstöße für die Studentenbewegung führte Lieb zunächst die Hochschule und die mit dem Übergang zur Massenuniversität einhergehende Kritik an den geplanten technokratischen Hochschulreformen an. Wie etwa die Einführung der Regelstudienzeit, die Zwangsexmatrikulationen, die Trennung von Grund- und Aufbaustudium mit Zwischenprüfung oder das Ordnungsrecht. Zur Eskalation beigetragen habe das bornierte Autoritätsgebaren der Hochschulleitungen, etwa das Vorschützen des Hausrechts gegen das Recht der freien Rede. Hinter der Auflehnung gegen längst überholte, nur noch den Schein vor sich hertragenden Autoritäten – also dem „Muff der 1000 Jahre unter den Talaren“ -, habe als Grundmotiv das Aufbegehren gegen die unbewältigte Nazi-Vergangenheit der Vätergeneration und die damalige Schlussstrichmentalität gestanden. Dieser antifaschistische Grundimpuls sei übrigens für Lieb und viele andere auch das Motiv für den Widerstand gegen die damals anstehenden Notstandsgesetze gewesen. Auch brutale Polizeigewalt habe zur Eskalation der Proteste 68er beigetragen. Lieb: „Ein Polizeiknüppel auf dem Schädel war lehrreicher als stundenlange Lektüre von Marx oder Herbert Marcuse.“

Auch die Proteste gegen den schrecklichen Vietnamkrieg der USA wie die „permanent gegen Kommunisten hetzende Springerpresse“ beförderten die Proteste, erzählte Lieb. In Westberlin allerdings seien die auf wütende Proteste eines Großteils der Bevölkerung gestoßen, die die US-Amerikaner „als Schutzpatrone gegen die Russen im Osten“ betrachteten und Präsident John F. Kennedy „ikonenhaft verehrten“.

Was brachte nun 68?

Vieles, so Liebs Meinung, sei nach 68 nicht mehr wie vorher gewesen. Politisch sei „die Bewegung nahezu vollständig gescheitert“, befand der Zeitzeuge. „Die Notstandsgesetze wurden verabschiedet, die Große Koalition kam. Von einer Enteignung Springers oder auch nur demokratischeren Redaktionsstatuten sind wir weiter entfernt als je zuvor. Von einem Bündnis der Studierenden oder der Intelligenz mit den Arbeitern oder Gewerkschaften kaum eine Spur. Geschweige denn, dass es nur ein einzelnes der zahllosen Gegenkonzepte auf staatlicher Ebene durchgesetzt werden

Das interessiere Publikum.

konnte. Wenn man einmal von der Liberalisierung des Sexualstraftrechtes absieht.“ Das Sexualverhalten der Menschen sei unverkrampfter geworden. Wiewohl die katholische Kirche noch heute gegen Kondome und die Pille sei. Lieb fand, die 68er-Bewegung sei „die Mutter aller späteren Protestbewegungen“ gewesen: Der Frauenbewegung, der AKW-Bewegung, des Dritte-Welt-Engagements – der sozialen Bewegungen insgesamt. Lieb: „Man hat gelernt, dass man sich nicht auf die Obrigkeit, auf Parteien, auf Parlamenten verlassen darf, sondern dass man sich wehren muss, wenn man etwas ändern will.“

Das durch die 68er herausgeforderte Establishment schlägt zurück

Ein „unbeabsichtigter, geradezu paradoxer Nebeneffekt des Politisierungsschubs vor allem innerhalb der Jugend“ sei der Aufstieg der SPD und der Machtwechsel zur sozialliberalen Koalition gewesen. Zuvor kriminalisierte Aktivisten seien unter der Regierung Brandt „mit Zuckerbrot und Peitsche zurück in die Institutionen geholt“ worden, viele hätten jedoch auch durch den Radikalenerlass auch ihre Stellen verloren oder erste gar keine bekommen.

Gewissermaßen habe das damals herausgeforderte Establishment auf vielen Feldern unterdessen auch zurückgeschlagen. Fortschritte zurückgedreht. Besonders im Hochschulwesen (Lieb kritisierte die heutige „Verbetriebswirtschaftlichung“ und „Bachelorisierung“). Anstelle von politischer Ökonomie habe man inzwischen eine marktkonforme Demokratie „und anstelle von demokratischen Aufbruch trat Alternativlosigkeit“. Statt internationaler Solidarität hätten wir die Tendenz zur Abschottung und auflebenden Nationalismus. Wolfgang Lieb wies darauf hin, dass man das verbliebene Progressive keinesfalls als gesichert betrachten dürfe. Der Rechtsextremismus breite sich europaweit aus.

Wolfgang Liebs Resümee: „Die 68-Bewegung ist zweifelsohne ein Teil linken Geschichte, aber sie ist auch Geschichte.“

Und Geschichte wiederhole sich nach einem Marx-Zitat allenfalls als Tragödie oder als Farce. Weshalb man vorsichtig sein sollte, spielte Wolfgang Lieb auf die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ an, wenn man aus der 68er-Bewegung Rückschlüsse für eine neue Sammlungsbewegung ziehen will. Obgleich es durchaus einige Parallelen zu damals gebe: Wieder ist eine Große Koalition am Werke. Und die ins Auge gefassten neuen Polizeigesetze mit ihrer Einschränkung der Freiheitsrechte. Ungleichheit und Ausbeutung hätten eher zu- als abgenommen.

Auch heute fehlt es an Aufarbeitung

„Die Kriege die die USA und der Westen führte und noch führen sind nicht weniger grausam als der Vietnamkrieg.“ Wie damals die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit unbewältigt gewesen, fehle es heute an Aufarbeitung der Folgen der neoliberalen Globalisierung sowie der Bankenkrise. Mit einer klaren antifaschistischen Haltung müsste man sich heute gegen den Neonazismus stellen, vertrat Wolfgang Lieb. Der SPD schrieb der Sozialdemokrat ins Stammbuch: „Solange zum Beispiel diejenigen in der SPD in den Führungspositionen sind, die für Agenda-Politik mitverantwortlich waren, werden diese, angefangen von Steinmeier über Olaf Scholz, Andrea Nahles, nur ihr vorausgegangenes Tun verteidigen können und wollen.“ Einer Erneuerung von Innen heraus seien von daher der SPD enge Grenzen gesetzt. Druck von außen wäre für eine angestrebte Erneuerung „mindestens hilfreich“.

Die Sammelbewegung „Aufstehen“ kann durchaus Druck von Außen auf linke Parteien machen, beschied Wolfgang Lieb

Die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ von Sahra Wagenknecht und des Dramaturgen Stegemann könne durchaus mit Druck via Internet und Straße auf SPD, Grüne und Linkspartei zu einem Politikwechsel in Richtung ein fortschrittlichen Politik drängen.

Entscheidend würden jedoch nicht Mitglieder- und Klickzahlen sein, sondern „die Kraft der Aktiven und dass die neue Bewegung Themen setzen und Debatten drehen kann“. Der Gründungsaufruf von „Aufstehen“, so Lieb sicher, müsste eigentlich von jedem sich als links begreifendem Menschen unterzeichnet werden können. Es gebe eine weitverbreitete Stimmung, dass es so nicht weitergehen kann und sich etwas in der Gesellschaft ändern müsse. Allerdings fehlten bislang entsprechende parlamentarische Mehrheiten.

Keine rosigen Aussichten. Dennoch sei es wichtig aufzustehn

Die Aussichten, konstatierte Lieb, sind derweil nicht rosig: Eine vergleichbare, hintergründige Kraft wie die 68er-Bewegung sei heute nicht vorhanden. Im Gegenteil der politische Wind in der Welt und Europa drehe sich eher Richtung Rechtsextremismus, Autoritarismus. Statt internationaler Solidarität sähe wir eher Nationalismus und Chauvinismus. Statt theoretischer Welterklärung werde Angst geschürt. „Man könnte sagen“, schloss Lieb sein Referat, „um so wichtiger wäre es dagegen aufzustehen.“

Kluge Fragen und eine kontroverse, aber auch eine weitere Diskussionen anregende Schlussrunde

Nicht alle aus dem Publikum wollten der von Wolfgang Lieb als etwas abgeschwächt dargestellte Rolle des Studentenführers Rudi Dutschke folgen. Immerhin habe der doch eine „antikapitalistische Richtung“ vertreten, so eine Dame. Lieb konzedierte aber, Dutschke sei eine Galionsfigur gewesen.

Diese Dame äußerte sich ablehnend zu Sahra Wagenknecht und „Aufstehen“.

Eine andere Zuhörerin sprach ihre Abneigung gegen die Sammelbewegung „Aufstehen“ und Sahra Wagenknecht aus, der sie nach rechts tendierende Ansichten in der Migrationsfrage vorwarf. Auch trete Wagenknecht zu autoritär und national auf. Andere Zuschauer schüttelten da den Kopf.

Ein Herr beklagte, dass einer linken Bewegung ein positives Ziel fehle.

Willi Hoffmeister, das am Abend anwesende „Urgestein der Ostermarschbewegung“ aus Dortmund, seien während es Vortrags „allerlei Erinnerungen“ hochgekommen, wie er sagte. Er sprach von den Schwierigkeiten des Kampfes auch in Zeiten der 68er. „Mein ganzes Leben ist eigentlich gewesen ein Bündnis schaffen. Wie schafft man Mehrheiten?“

Hoffmeister unterstützt die Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Sein größtes Bedenken: „Dass man eine solche Bewegung wieder zerredet“ und Leute sie benutzen, „sich stärker in den Vordergrund zu rücken“.

Den Vorhaltungen, „Aufstehen“ hätte eine Bewegung von Unten und nicht von Oben sein müssen, wollte er nicht folgen. Diesen Kritikern hält er entgegen: „Warum machste es denn nicht von Unten?!“ Aus diesem Grund sei er dankbar, dass die Oben (er meinte Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine) angefangen haben.

In seinem hohen Alter, an seinem Lebensabend, wünsche sich Willi Hoffmeister, „dass das doch einmal hinhaut“ mit einer solchen Bewegung. Hoffmeister erhoffte sich in jeder Stadt eine „Aufstehen“-Gruppe, wo man sich an dem und dem Tag treffe:

Viele Jahrzehnte friedenspolitisch engagiert: Willi Hoffmeister (rechts).

„Sonst kommen wir nicht in die Gänge.“

Das Internet spielt bei der Mobilisierung ein große Rolle, merkte Wolfgang Lieb an

Wolfgang Lieb stimmte dem zu. Wies aber auch daraufhin, dass das Internet heute eben eine große Rolle bei der Mobilisierung spiele. Lieb: „Man muss leider sagen, in Deutschland beherrscht die Rechte das Netz.“ Die AfD habe auf ihrem Internetauftritt 300.000 Follower, die CDU 120.000 und die SPD 130.000 Follower. Pegida habe 250.000 Likes. „Derjenige hat im Internet den größten Erfolg, der den größten Skandal macht.“

Eine fatale Situation wäre das für die Linken in Deutschland.

Der Referent sieht durchaus Grundlagen für einen politischen Richtungswechsel

Lieb sieht aber Grundlagen für einen Wechsel: In Umfragen meine etwa eine Mehrheit, dass die Verteilung in Deutschland ungerecht sei. Des Weiteren gebe es eine große Mehrheit gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr. Eine Mehrheit stellt sich gegen die „angeblich geforderten“ Zweiprozenterhöhung der Verteidigungsausgaben. Lieb ratlos: „Warum entwickelt die SPD da nicht einmal eine Kampagne? Vielleicht schafft es ja „Aufstehen“?“ Eine Zuschauerin warf ein: „Und warum ist Sigmar Gabriel dafür?“

Gastgeber Peter Rath-Sangkhakorn fehlte bei den Protagonisten von „Aufstehen“ an einer Aufarbeitung, „was eigentlich gelaufen ist“. Unter der rot-grünen Koalition „hat ja im Grunde genommen die parlamentarische Entsorgung der ohnehin schwachen Friedens- und Demokratiebewegung

Nachdenktreff-Gastgeber Peter Rath-Sangkhakorn.

stattgefunden.“

Ein Diskutant entwickelte ein mögliches Bild des Vorgehens für die Zukunft. Es wäre doch möglich, merkte er an, dass unterschiedliche Gruppen an dem Ziel einer lebenswerteres und gerechteren Gesellschaft zusammenarbeiteten. Das wäre doch durchaus auch mit Gruppen machbar, die nicht die Abschaffung des Kapitalismus im Auge hätten. Utopien seien wichtig. Aber es spielten auch Emotionen eine Rolle.

Charismatische Persönlichkeiten sind für eine Sammelbewegung nötig

Am Ende des Abends befand Referent Wolfgang Lieb, dass es „ganz toll war, dass Sie unter sich ins Gespräch gekommen sind“.

„Durch einen Abend wie heute könne man untereinander immer viel lernen. Wichtig ist, dass man im Gespräch kommt und bleibt, sich austauscht und sich auch mal streitet.“ Nur auseinanderdividieren dürfen man sich nicht. Kritik an „Aufstehen“ wirkte er so entgegen: In einer Bilder- und Mediengesellschaft brauche man charismatische Persönlichkeiten. „Die Personen tragen sozusagen das Programm.“

Warum sich Wolfgang Lieb noch politisch engagiert

Wolfgang Lieb ist mittlerweile 74 Jahre alt. Warum engagiere er sich noch? „Das hängt mit einer biografische Erfahrung zusammen.“ Er erinnerte an seine erwähnte Begegnung mit Eberhard Diepgen, der 1963 einer schlagenden Verbindung angehörte und entsprechende gekleidet über den Campus der FU marschiert ist. „Und ein Jahr später ist ein SDS-Mensch ASTA-Vorsitzender geworden. Diepgen ist mit 70 Prozent abgewählt worden!“

Er habe erlebt wie schnell sich eine politische Stimmungslage ändern kann, wenn die Zeit gekommen ist. Es brauche immer einen bestimmten Zeitgeist, um einen bestimmten Gedanken nach vorne bringen zu können.

Seite Empfehlung: Nicht pessimistisch sein. Wach bleiben und hoffen, dass sich etwas verändern lässt!“

Wolfgang Liebs Fazit: „Es gibt eine Hoffnung, dass sich etwas verändern kann, wenn ich mich entsprechend einbringe“

Als problematisch empfindet es Wolfgang Lieb, „dass wir gegen eine Angst ankämpfen müssen.“ Wir hätten es im Moment mit einer Hysterie zu tun. Man müsse sich doch nur mal auf eine Parkbank setzen und zuhören, was Leute über Flüchtlinge redeten. Man sitze daneben und sei hilflos, weil man die Argumente der Leute nicht mit ein paar Sätzen widerlegen könne.

Die Linke habe anzukämpfen gegen eine Gesellschaft, die sich hysterisiert worden ist. Jetzt müsse dagegen etwas zu setzen, das einen wieder Hoffnung schöpfen lässt. Lieb: „Das wäre für mich das oberste Ziel einer solchen Sammlungsbewegung. Es gibt eine Hoffnung, dass sich etwas verändern kann, wenn ich mich entsprechend einbringe.“ Dies, so der Referent zum Schluss, hätte die ZuhörerInnen doch schon einmal mit ihrem Erscheinen bewiesen.

Dazu ergänzend dieser Beitrag.

Hinweis:

Der nächste Nachdenktreff findet am Montag, den 19. November 2018 um 19 Uhr statt. Referent wird Dirk Jansen, Geschäftsleiter des BUND NRW sein, einer der Frontleute im Kampf gegen die Braunkohle auf außerparlamentarischer Ebene Geplantes Thema „Der Kohleausstieg und die Rolle von RWE in unserer Region.

Wolfgang Lieb ist Gast des nächsten Nachdenktreffs am kommenden Montag in Dortmund: „Gestern APO, heute Sammlungsbewegung?“

Dr. Wolfgang Lieb (hier während eines früheren Aufrtitts in der Auslandsgesellschaft Dortmund); Foto: C.-D. Stille

Eine neue interessante Veranstaltung erwartet die FreundInnen des Nachdentreffs in Dortmund am kommenden Montag.

Dazu folgende Presseinformation:

„Das Aufbegehren der 68er hat seine Spuren hin­terlassen. 50 Jahre danach sind Anlass für den Referenten einer Veranstaltung am Montag, 8.10., in der Auslandsgesellschaft, Bilanz zu ziehen.   Der damalige Stu­denten-“Funktionär“ Wolfgang Lieb analysiert das Vermächtnis der 68er, ihre Erfolge und Nieder­lagen und was sich seither politisch und gesell­schaftlich verändert hat. Die Veranstaltung von DGB, Attac und dem Nachdenktreff beginnt um 19 Uhr; der Eintritt ist frei.“

Wo und wann?

Auslandsgesellschaft NRW e. V. in Dortmund

Grafik via Auslandsgesellschaft NRW.

Steinstr. 48 (Nordausgang Hbf, neben Cinestar und Steinwache).
Um 19 Uhr
Referent: Dr. Wolfgang Lieb, lange Jahre Redakteur bei den NachDenkSeiten

Anbei: Mein Beitrag zu einer Veröffentlichung von Dr. Lieb zur 68er-Zeit.

Interview mit Dr. Wolfgang Lieb anlässlich der Veröffentlichung von „50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er-Bewegung“

Hiermit gebe ich meinen verehrten LeserInnen ein Interview des pad-Verlags mit dem Autor Dr. Wolfgang Lieb zur Kenntnis. Darin geht es aus der Sicht eines Zeitgenossen um die 68er-Bewegung, die nunmehr 50 Jahre zurückliegt.

Was waren die Anstöße für die Studentenbewegung?

Dr. Wolfgang Lieb (hier während eines Referat an der Auslandsgesellschaft Dortmund); Foto: C.-D. Stille

Ausgangspunkt war zunächst die Hochschule und die mit dem Übergang zur Massenuniversität einhergehende Kritik an den geplanten technokratischen Hochschulreformen, wie etwa die Einführung der Regelstudienzeit, die Zwangsexmatrikulationen, die Trennung von Grund- und Aufbaustudium mit Zwischenprüfung oder das Ordnungsrecht. Zur Eskalation beigetragen hat das bornierte Autoritätsgebaren der Hochschulleitungen, etwa das Vorschützen des Hausrechts gegen das Recht der freien Rede. Hinter der Auflehnung gegen längst überholte, nur noch den Schein vor sich hertragenden Autoritäten – also dem „Muff der 1000 Jahre“ -, stand als Grundmotiv das Aufbegehren gegen die unbewältigte Nazi-Vergangenheit der Vätergeneration und die damalige Schlussstrichmentalität. Dieser antifaschistische Grundimpuls war übrigens für mich und viele andere auch das Motiv für den Widerstand gegen die damals anstehenden Notstandsgesetze. Darin sahen wir eine historische Parallelität zum „Notverordnungsartikel“ der Weimarer Verfassung, mit dem Hitler die Macht an sich gerissen hat. Gerade in Berlin, wo ich studierte, kam dann noch die tiefe Enttäuschung über die amerikanische „Schutzmacht“ und deren brutalen Kriegseinsatz in Vietnam hinzu.

Wie wurde aus der Studentenbewegung die außerparlamentarische Opposition APO?

Die Studentenbewegung war alles andere als eine einheitliche politische Bewegung und es war auch keineswegs so, wie das heute vielfach dargestellt wird, dass der SDS das allein tragende Element war. Der SDS hatte – hoch geschätzt – höchstens 3.000 Mitglieder und dem SDS angehörenden Studenten stellten kaum irgendwo und wenn, dann nur kurz, die AStA-Vorsitzenden. Von einer „außerparlamentarischen Opposition“ sprach man eigentlich erst nach der Schwächung der innerparlamentarischen Opposition mit der ersten Große Koalition. Es gab innerparteiliche Oppositionsgruppen, wie etwa den Sozialdemokratischen Hochschulbund innerhalb der SPD oder den Liberalen Studentenverband bei der FDP, es gab darüber hinaus Gruppen und Einzelpersönlichkeiten, die von den etablierten Parteien verstoßen wurden, wie etwa den SDS oder dessen Förderorganisation den Sozialistischen Bund, es gab linke Parteigründungsversuche und eine Vielzahl von Initiativen, etwa die „Kampagne für Abrüstung und Demokratie“, oder Diskussionsforen, wie die „Republikanischen Clubs“ oder die „Humanistische Union“. So vielfältig die theoretischen oder weltanschaulichen Positionen auch gewesen sein mögen, Einigkeit bestand im Widerspruch und im latenten oder auch offenen Misstrauen gegenüber allem, was zum sog. „Establishment“ gerechnet wurde. Man vereinigte sich in der direkten Aktion z.B. gegen die Notstandsgesetze oder gegen den Vietnam-Krieg oder nach dem Anschlag auf Dutschke gegen den Springer-Konzern.

Wodurch kam es zur Eskalation der Proteste?

Alles fing ganz harmlos an. Die Protestformen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen, etwa der „Civil Right Movement“, der „Free Speech Movement“ etc., also Sit-ins, Teach-ins, Picketing Lines, waren nach Westdeutschland herübergeschwappt. Der Schriftsteller und APO-Aktivist Peter Schneider hat es ganz gut auf den Punkt gebracht: Wir haben verstanden, „dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier im Hausflur auf den Boden setzen.“

Und natürlich haben die teils brutalen Polizeieinsätze, die Hetze vor allem in der Springer-Presse und die Lügen von Politikern zur Eskalation der Proteste beigetragen. Ein Polizeiknüppel auf dem Kopf, war lehrreicher als die mühselige Lektüre von Karl Marx oder von Herbert Marcuse. Die Erschießung Benno Ohnesorgs und der Anschlag auf Rudi Dutschke schockierten eine ganze Generation. Dass der Tod Ohnesorgs zunächst den Demonstranten zugeschoben wurde, war eine glatte Lüge und danach der Freispruch des Attentäters Kurras war für uns ein Justizskandal. Das hat unser Vertrauen in die Politik und in die Polizei und damit in die parlamentarische Demokratie wurde zutiefst belastet.

Sind also die Terrorgruppen „Rote Armee Fraktion“ oder „Bewegung 2. Juni“ unmittelbare Folgen dieser Eskalation?

Es gab in der Rezeption der Schriften Herbert Marcuses mit dessen Gegenüberstellung von „repressiver“ und „emanzipatorischer“ Gewalt eine grenzwertige Unterscheidung zwischen legitimer „Gewalt gegen Sachen“ – z.B. bei der Blockade der Auslieferung der Bild-Zeitung nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke – und der Gewalt gegen Personen. Mit den Brandstiftungen der späteren RAF-Mitglieder in Frankfurter Kaufhäusern und spätestens ab dem 4. November 1968, nämlich mit dem Steinhagel auf die „Staatsgewalt“ vor dem Berliner Landgericht, hat sich die zur Gewalt abdriftende Spreu, vom Weizen friedlicher (auch radikaler) Reformen innerhalb der APO getrennt. Von da an, gab es keine gemeinsamen Aktionen und keine Solidarität innerhalb der APO mehr. Die Bewegung splitterte sich auf. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass diese gewaltsame Demonstration auf dem Tegeler Weg, der Solidarität mit dem damals noch linken Anwalt Horst Mahler galt, der später bei den Neonazis gelandet ist. Genauso wenig wie es eine geistige oder moralische Verbindungslinie von der 68er Bewegung zur Holocaust-Leugnung eines Horst Mahlers gibt, lässt sich eine gedankliche Beziehung zum kriminellen Desperadotum etwa des führenden RAF-Terroristen Andreas Baaders herstellen. Selbst in den politisch radikalsten Gruppen folgte nur eine winzige Minderheit dem Weg in den „individuellen Terror“. Es ist eine glatte Geschichtsverfälschung, wenn heute immer noch die These vertreten wird, die Terrorgruppen der „RAF“ oder der „Bewegung 2. Juni“ seien nur konsequente Fortentwicklungen der studentischen Protestbewegung gewesen.

Welche Ziele und Träume hatten die 68er eigentlich?

Weil die Bewegung politisch sehr heterogen war, lässt sich das nicht auf einen Nenner bringen. Wenn man überhaupt von gemeinsamen Zielen sprechen kann, dann war es anfänglich vor allem die Demokratisierung der Hochschule etwa mit paritätischer Mitbestimmung, später kam der Widerstand gegen die Notstandsgesetze und gegen die Große Koalition dazu und schließlich war da der Kampf gegen weltweite Ausbeutung, gegen Kolonialismus und Imperialismus. Die Träume blieben sehr abstrakt. Letztlich war die 68er-Revolte keine revolutionäre Bewegung mit einem einheitlichen Programm, es war vor allem eine Anti-Bewegung, die die bestehenden Verhältnisse in nahezu jeder denkbaren Hinsicht hinterfragte. Es ging gegen den „imperialistischen Kapitalismus“ genauso wie gegen den „realen Sozialismus“ der DDR oder den Stalinismus. Ganz im Sinne der „kritischen Theorie“ wurde alles oder nahezu alles abgesucht nach verdeckten Freiheiten und unerschlossenen Potentialen der Emanzipation. Eine programmatisch ausgefüllte positive Utopie gab es nicht, die Durchsetzung der Kritik am Bestehenden sollte das Bessere freisetzen.

Der „lange Marsch durch die Institutionen“ also nur ein Abmarsch „in die Institutionen“?

Viele Aktive innerhalb der APO wurden durch den Brückenbau von Bundespräsident Heinemann und den 1969 zum Bundeskanzler gewählten Willy Brandt in die „Institutionen“ zurück geholt – mit Zuckerbrot und Peitsche. Mit dem Straffreiheitsgesetz, das viele aus den Fängen der Justiz geholt hat, aber auch mit der Peitsche des Radikalenerlasses, der für Tausende faktisch zum „Berufsverbot“ wurde. Brandts „Mehr Demokratie wagen“ oder die „Neue Ostpolitik“, also die Anerkennung der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die die politischen Lager in Deutschland tief gespalten haben, haben auch bei der außerparlamentarischen Linken Unterstützung gefunden.

Der Eintritt und der „lange Marsch durch die Institutionen“ wurde dadurch erleichtert, dass im Rahmen der Bildungsexpansion vor allem in der ersten Hälfte der 70er Jahre viele 68er als Lehrer oder gar als Hochschullehrer Stellen in Schulen und Hochschulen fanden. Bildungsreform, statt Revolution, wurde zum wichtigsten Treiber für den gesellschaftlichen Fortschritt erklärt. Viele der K-Grüppler sind später bei den Grünen gelandet. Und bei vielen, die nach 68 Ämter und Mandate erlangten, hat sich der Marschschritt ziemlich verlangsamt, manche wurden auch zu Zynikern.

Was hat „Achtundsechzig“ gebracht?

Was die konkreten politischen Ziele im engeren Sinne anbetrifft, ist die APO, wenn man einmal von der Liberalisierung des Demonstrations- und des Sexualstrafrechts absieht, nahezu vollständig gescheitert: Die Große Koalition kam. Die Notstandsgesetze wurden verabschiedet. Statt der „Kritischen Universität“ kam die autokratische „unternehmerische Hochschule“. Von einer „Enteignung Springers“ – oder seien es auch nur von demokratischeren Redaktionsstatute, sind wir weiter entfernt als je. Ein unbeabsichtigter, geradezu paradoxer Nebeneffekt des Politisierungsschubs vor allem innerhalb der Jugend war der Aufstieg der SPD und der Machtwechsel zur sozial-liberalen Koalition im Jahre 1969. Auf der kulturellen Ebene kann man eine ganze Reihe Spätfolgen ausmachen: Etwa die Erinnerungs- und Gedenkkultur an den Nationalsozialismus, das Infragestellen von Autoritäten, die Experimentierfreude in der Musik, in der Mode, auf den Theaterbühnen, im Kino. Kinder-„Gärten“ als Verwahranstalten wurden zu Kinder-„Läden“ als Orte pädagogischer Früherziehung. Die Studentenbewegung war sozusagen die „Mutter der Protestbewegungen“ der nachfolgenden Generationen, also der Frauenbewegung, der AKW-Bewegung, des Dritte-Welt-Engagements, der sozialen Bewegungen insgesamt. Alle diese Strömungen haben die Selbstermächtigung übernommen, für ihre Ziele auf die Straße zu gehen und dafür zu kämpfen. Man hat gelernt, dass man sich nicht auf die Obrigkeit, auf Parteien, auf Parlamente verlassen darf, sondern dass man sich wehren muss, wenn man etwas ändern will. Ich bin mir sicher, die Rezeption des Aufbruchs der „68er“, ob als gefährlicher Irrweg oder als Traum von einer besseren Welt, entscheidet mit darüber, welche Chancen künftig Emanzipation, demokratische Teilhabe, Transparenz und Selbstbestimmung haben werden.

Der Autor der Broschüre Wolfgang Lieb. Foto: Claus-D. Stille

Zur Person – Wolfgang Lieb

Wolfgang Lieb (* 1944 in Stuttgart) ist Jurist und Publizist. Er war Regierungssprecher und Staatssekretär im Wissenschaftsministerium in Nordrhein-Westfalen sowie von 2003 bis 2015 Mitherausgeber und Autor der politischen Website NachDenkSeiten.

Ab 1964 studierte Lieb Politik- und Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Im selben Jahr trat er in die SPD ein und wurde Mitglied im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), wo er bis in den Bundesvorstand aufstieg. 1966 wechselte er an die Universität zu Köln, wo er 1969 das Erste Juristische Staatsexamen ablegte. 1969/70 gehörte er dem Vorstand des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) an.

Schon als Student arbeitete Lieb als Journalist für den Westdeutschen Rundfunk, entschied sich danach aber für eine wissenschaftliche Laufbahn. Er promovierte über das Thema „Kabelfernsehen und Rundfunkgesetze“ und wurde 1972 Gründungssenator und Wissenschaftlicher Assistent an der neu gegründeten Gesamthochschule Essen im Fachbereich Philosophie, ab 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld.

1979 wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes in Bonn.1983 wurde Lieb Leiter des Grundsatzreferates in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Bonn, 1984 Spiegelreferatsleiter Kultur und Wissenschaft in der Düsseldorfer Staatskanzlei. Ab 1987 war er zunächst stellvertretender, später Regierungssprecher und Leiter des Landespresse- und Informationsamtes des Landes Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Johannes Rau. Von 1996 bis 2000 war Lieb Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium.

Seit Ende 2003 ist er publizistisch tätig betrieb er zusammen mit Albrecht Müller die politische Webseite NachDenkSeiten, für die er 2009 den Alternativen Medienpreis entgegen nahm. Seit 2007 gaben Müller und Lieb zusammen auch „Das kritische Jahrbuch – Nachdenken über Deutschland“ heraus. Im Oktober 2015 stellte Lieb seine Mitarbeit an den NachDenkseiten ein, weil er die politische Ausrichtung des Projektes nicht mehr mittragen mochte.

Lieb ist Mitglied im Initiativkreis Öffentlicher Rundfunk Köln.

Wissenschaftspolitisch wurde Lieb, nachdem er zunächst den Bologna-Prozess unterstützt hatte, zum Kritiker der „unternehmerischen Hochschule“. Die überwiegende Mehrheit der Forschenden und Lehrenden an den Hochschulen und schon gar die Studierenden seien mit der „neuen“ Freiheit verglichen mit ihren früheren Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten wesentlich „unfreier“ geworden als unter der früheren – allerdings durchaus nicht optimalen – akademischen Selbstverwaltung. Er sieht in der Funktion der Hochschulräte das Kernelement einer „funktionellen Privatisierung“ der öffentlichen und überwiegend staatlich finanzierten Hochschulen. „Nachdem die Versuche in Deutschland, private Hochschulen aufzubauen, sowohl in der Quantität als auch an der Qualität – zumal in der Forschungsqualität – keinen durchschlagenden Erfolg hatten, wurden nunmehr von den Verfechtern der „unternehmerischen Hochschule“ die öffentlichen Hochschulen von innen heraus privatisiert.“

Neuerscheinung im pad-Verlag

Wolfgang Lieb 50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er Bewegung 80 Seiten, 5.– Euro

Das Jahr 1968 der Höhepunkt und der Beginn des Zerfalls der 68er-Bewegung / Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit der Väter / Die Flucht aus dem schwäbisch pietistischen Milieu nach West-Berlin / Anstöße für politisches Engagement / Der hochschulpolitische Ausgangspunkt / Die allgemein politische Ebene: Antifaschismus, antiautoritäre Gegenbewegung und Antiimperialismus / Der Beginn als Studenten-“Funktionär“ / Zeit des politischen Umbruchs in der Studentenschaft der Freien Universität / Die Kuby-Affäre – die erste Feuerprobe und der „Ursprung der Revolte“ / Die Krippendorff-Affäre – die Wellen des Protestes überschlugen sich / „Geht doch nach drüben!“ / Das kulturelle und das verruchte West-Berlin / Skandal im SHBBundesvorstand / Die unterschiedlichen politischen Konzepte – Demokratischer Sozialismus vs. Stamokap-Theorie vs. Frankfurter Schule vs. Marburger Schule / Mitglied im SHB-Bundesvorstand – Konflikte mit der SPD / Ostkontakte / Vietnam, Notstandsgesetze, Große Koalition / Von der „Studentenbewegung“ zur „außerparlamentarischen Opposition“ / Rückzug nach Köln / Das Auseinanderfallen der 68er-Bewegung / Mein „Marsch durch die Institutionen“ / Demokratische Kultur ist instabil / Antriebskräfte für die damalige Revolte / Teil der linken Geschichte / Einfluß auf den kulturellen Überbau / Wenige Erfolge auf der politisch institutionellen Ebene / Dennoch …/ Über den Autor

Mit dem Jahr 1968 erreichte die weltweite Revolte der Jugend gegen die Welt ihrer Väter und gegen die Saturiertheit der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt. Das Aufbegehren hat seine Spuren hinterlassen. 50 Jahre danach sind Anlaß, Bilanz zu ziehen und kurzschlüssige Interpretationen zu hinterfragen, die zwischen der notwendigen Liberalisierung der Bundesrepublik bis hin zum vermeintlichen Sittenverfall schwanken. In der vorliegenden Veröffentlichung beschreibt der damalige Studenten-“Funktionär“ Wolfgang Lieb das Vermächtnis eine Innensicht der 68er, ihre Erfolge und Niederlagen und was sich seither politisch und gesellschaftlich verändert hat.

Die Broschüre „Wolfgang Lieb: 50 Jahre danach in und mit der 68er-Bewegung“ ist im pad-Verlag/Bergkamen erschienen, 80 Seiten, 5.– Euro.

Bestellanschrift: pad-Verlag@gmx.de

Das Interview veröffentliche ich hier mit freundlicher Genehmigung des pad-Verlags. Vielen Dank für die Überlassung.

Hinweis: Zur Broschüre demnächst eine Besprechung hier auf dem Blog.

NachDenkSeiten künftig ohne Dr. Wolfgang Lieb

 Wolfgang Lieb (hier während eines Referat an der Auslandsgesellschaft Dortmund) zieht sich aus den NachDenkSeiten zurück; Foto: C.-D. Stille

Wolfgang Lieb (hier während eines Referats an der Auslandsgesellschaft Dortmund) zieht sich aus den NachDenkSeiten zurück; Foto: C.-D. Stille

Kommentar

Die NachDenkSeiten gehören für mich bereits seit Jahren nach dem Frühstück und den dabei gehörten Nachrichten von Funkhaus Europa zu den ersten Informationen des Tages, welche ich zu lesen pflege. Und daran wird sich auch künftig nichts ändern. Ich fürchte, gäbe es die NachDenkSeiten nicht, wäre ich am mit unverschämter Meinungsmache angereicherten, tagtäglich auf uns einprasselndem Medieneinheitsbrei gewiss schon eingegangen. Der Journalismus, Vierte Gewalt im Staate genannt, ist hierzulande vielfach gewaltig auf den Hund gekommen. Die NachDenkSeiten (NDS) waren es, die als David gegen die mächtigen Goliaths der Medienwelt seit zwölf Jahren kraftvoll und engagiert gegen Meinungsmache angingen. Die Medienbeiträge kritisch kommentierten, aber auch auf interessante und journalistisch ordentlich recherchierte Artikel hinwiesen. Leserbriefe goutierten das oder kritisierten die NachDenkSeiten ihrerseits, waren sie nicht mit deren Sicht einverstanden (hier). So soll es sein. Viel Zustimmung zur Arbeit der NDS beinhalteten ebenfalls LeserInnen-Zuschriften anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der kritischen Website. Dazu äußerten sich Künstlerinnen und Künstler sowie Politiker und Gewerkschafter gleichfalls und übermittelten Anerkennung und Lob. Der Kabarettist HG. Butzko meinte gar: „Die beste Quelle, die es im Internet gibt, sind die NachDenkSeiten“.

Viele Jahre waren Wolfgang Lieb und Albrecht Müller die Herausgeber der NachDenkSeiten. Sie leisten auch tagtäglich die anstrengende redaktionelle Arbeit. Später stieß der sich als hervorragender Schreiber herausgestellt habende Jens Berger als Redakteur der Seite hinzu. „Immer mehr Menschen erkennen“ merkte gestern Albrecht Müller an, „dass die NachDenkSeiten hilfreich sind.“ Und fährt fort: „ Nach einer gewissen Stagnation sind die Zugriffszahlen im letzten Jahr beachtlich gestiegen, von knapp 80.000 Besuchern pro Tag im Durchschnitt des September 2014 auf knapp 109.000 im September 2015. Das ist fast ein Drittel mehr. Die NachDenkSeiten erreichten schon mehrmals Werte von 150.000 pro Tag.“ Was erfreulich ist. Der Aufschwung steht nicht zuletzt damit im Zusammenhang, dass sich die Qualitäten der NDS herumgesprochen haben. Aber gewiss ebenso mit den schlimmen Entwicklungen in der Ukraine, beginnend im verflossenen Jahr 2014 und in diesem Jahr zusätzlich mit dem Zustrom von Flüchtlingen, dessen Ursachen von den NDS immer wieder in den Vordergrund ihrer Berichterstattung und Kommentierung gestellt haben. Dazu kann man Albrecht Müller, Wolfgang Lieb und Jens Berger anlässlich der Finanz- und Griechenlandkrise sowie darüber hinaus einen hohen Verdienst zuschreiben, was die Verständlichmachung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge anbelangt. Ich bescheinige den NDS durchaus eine überwiegend positive Bilanz der geleisteten Arbeit. Umso schockierter war ich gestern, als ich auf folgende Information von Albrecht Müller stieß:

„Der bisherige Mitherausgeber Dr. Wolfgang Lieb zieht sich zurück. Der Förderverein der NachDenkSeiten IQM hat einen neuen Vorstand gewählt. (…) Dass Wolfgang Lieb sich zurückzieht, ist schon deshalb bedauerlich, weil die NachDenkSeiten gerade in den letzten Monaten einen großen Sprung nach vorn gemacht haben. Das Interesse unsere Leserinnen und Leser, die Zugriffszahlen und die persönlichen Reaktionen per Mail und dann, wenn wir uns persönlich treffen, sind eigentlich so, dass wir alle zusammen feiern könnten, auch mit Wolfgang Lieb, dem die NachDenkSeiten viel zu verdanken haben.“ Müller versichert des Weiteren:
„Wir werden dafür arbeiten, dass dies auch künftig so bleibt. Das Wichtigste: wir sind jetzt eine produktiv zusammen arbeitende kleine Gruppe. Wir werden zusammen mit den Leserinnen und Lesern, die uns täglich wichtige Hinweise geben, und mit dem Kreis von Personen, die mit uns zusammen diese Informationen verarbeiten und für Sie aufbereiten, die NachDenkSeiten als Basis zur Information und zum kritischen Nachdenken ausbauen.“

Albrecht Müller schreibt: „Dr. Wolfgang Lieb hat seinen Rückzug vor allem damit begründet, sein bisheriger Herausgeber-Kollege Albrecht Müller habe die NachDenkSeiten verändert und verengt. Das ist sein subjektiver Eindruck. Wir empfehlen unseren Leserinnen und Lesern, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Wenn Sie die Zeit dafür opfern wollen, dann vergleichen Sie einfach mal die vielen Dokumente, die in Wolfgang Liebs Text verlinkt sind, mit seinen Aussagen an der jeweiligen Stelle.

Persönlich kann ich keine Verengung der NDS erkennen. Eine Veränderung dafür schon eher: nämlich eine Verbreiterung des Angebots. Die freilich, so gebe ich zu, ist zuweilen auch immer eine Gratwanderung darstellt. Das betrifft sicherlich auch Albrecht Müllers Teilnahme an Sendungen des von gewissen Medien gerne in die Antisemitismus-Ecke gestellten (ohne schlagenden Beweis übrigens, wenn man von Broder keifend zurechtgezimmerten absieht) gestellten KenFM oder zuletzt sein Auftritt auf der Stopp-Ramstein-Demo (via RegenbogenTV). Da trifft die Diffamierungskeule dann auch schon mal Albrecht Müller. Ich vermag jedoch bei dem da oder dort von ihm Gesagten nichts Ehrenrühriges entdecken. Müller vertritt m.E. stets seine differenzierte – auch schon einmal von den Äußerungen anderer abweichende Meinung – und lässt sich von niemanden vor irgendeinen Wagen spannen, der in eine falsche Richtung fahren soll. Allerdings erkenne ich, dass Albrecht Müller auch kraftvoller zubeißt als früher. Was gewiss der immer mehr in eine negative Richtung driftenden Politik des Westens nicht nur gegenüber Russland geschuldet sein dürfte. Verständlich. Ist doch Albrecht Müllers Sicht stark von der Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs geprägt. Die im Übrigen heute wieder vonnöten wäre, um die Krisen und Konflikte unserer Zeit zu befrieden. Richtig sage ich: auf grobe Klötze gehören nun mal grobe Keile! Ich finde nicht, dass Müller da zu weit geht. Immerhin leben wir nicht nur in Krisen- und Vorkriegszeiten, wie Egon Bahr sagte. Es ist vielmehr längst schlimmer. Papst Franziskus sagte bei seinem Besuch in Bosnien, wie „Die Welt“ den Heiligen Vater zitierte: „Es ist eine Art dritter Weltkrieg, der stückweise geführt wird, und im Bereich der globalen Kommunikation nimmt man ein Klima des Krieges wahr.“

So sehr ich Albrecht Müllers Sicht nachvollziehen kann, kann mich auch in Dr. Wolfgang Liebs Ansicht hineinversetzen. Ich respektiere Sie. Und danke ihm für die viele Arbeit und Zeit, welche er in seinen 12 Jahren zum Nutzen von uns Lesern in die NachDenkSeiten investiert hat. Umso mehr bedauere ich seinen Weggang. War es wirklich unmöglich einen Konsens zu erreichen?

Immerhin bescheinigte doch Dr. Lieb zuletzt während eines Referats dieses Jahr in Dortmund, vielen Medien ein Versagen und dass diese nur noch mit Einfalt statt Vielfalt aufwarteten. Sowie, dass sie kaum noch ihre „Wächterrolle“ wahrnähmen. Wolfgang Lieb war in vielerlei Hinsicht ein guter Wächter. Er wird fehlen. Zumindest auf den NDS. Das ist schade.

Aber es ist wie es ist. Dennoch: Großen Dank an Wolfgang Lieb! Und vielleicht meldet er sich doch einmal mit einem Gastbeitrag auf den NDS zurück?

Trotz der aus der Sicht von Dr. Lieb und darüber hinaus gewiss eines Überdenkens werten Kritik sehe ich den Anspruch, welchen die NDS von Anfang an an sich selbst stellten, nicht beschädigt:

„NachDenkSeiten wollen ein Angebot sein für jene, die in den meinungsprägenden Medien kein ausreichend kritisches Meinungspotential mehr erkennen.NachDenkSeiten wollen hinter die interessengebundenen Kampagnen der öffentlichen Meinungsbeeinflussung leuchten und systematisch betriebene Manipulationen aufdecken.“

Mit dem Rückzug Liebs ging auch eine Veränderung im im Vorstand des Fördervereins „Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung e.V.“ (IQM) einher, melden die NDS:

„Die Mitglieder des Fördervereins trafen sich am 17. Oktober 2015. Der bisherige Vorstand, bestehend aus Wolfgang Lieb und Joke Frerichs, kandidierte nicht mehr. Gewählt wurden für die nächsten zwei Jahre:

Albrecht Müller als Vorsitzender
Lars Bauer als stellvertretender Vorsitzender und Schatzmeister
Jens Berger als stellvertretender Vorsitzender.“

Gern übermittele „einige Bitten“ der NachDenkSeiten an die Leser und künftigen Nutzer des Portals: „Begleiten Sie unsere Arbeit mit kritischem Wohlwollen – mit beidem, mit kritischen Verstand und mit einer Grundsympathie für die harte Arbeit, der wir uns nahezu täglich aussetzen.

Und wenn Sie mit unserer Arbeit einverstanden sind, dann geben Sie den Tipp an ihre Freundinnen und Freunde weiter: Es lohnt sich NachDenkSeiten zu lesen. Viele unserer Leserinnen und Leser haben uns geschrieben, übrigens gerade in der letzten Zeit, dass die Entdeckung der NachDenkSeiten für sie einen Aha-Effekt auslöste. Sie haben erkannt, dass sie bisher von vielen – nicht von allen – Medien hinters Licht geführt worden sind.

Mit den Medien, die das Zeitgeschehen ehrlich und kritisch verfolgen, wollen wir auch künftig gut zusammenarbeiten. Die anderen werden wir auch künftig hart kritisieren.“

Eine traurige, schockierende Nachricht war die vom Rückzug Wolfgang Liebs gestern für mich. Wohl auch für viele andere Nutzer der NachDenkSeiten. Doch sei es drum. Das Leben geht weiter. Und auch am Montag werde ich mir wieder nach dem Frühstück die „Hinweise des Tages“ der kritischen Website zu Gemüte führen.

Wie dem medialen Einheitsbrei entgehen? Wolfgang Lieb gab seine Erfahrungen in Dortmund weiter

Wolfgang Lieb, der Herausgeber der NachDenkSeiten während seines Referats in Dortmund; Foto: Claus-Dieter Stille

Wolfgang Lieb, der Herausgeber der NachDenkSeiten, während seines

Wolfgang Lieb ist 1944 in Stuttgart geboren. Als promovierter Jurist, Publizist und ehemaliger Politiker (SPD) hat er ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich. Seit Gründung der NachDenkSeiten (NDS) ist Lieb (zusammen mit Albrecht Müller) deren Herausgeber. Seine umfassenden beruflichen und politischen Erfahrungen möchte er gerne weitergeben. Das hat er abermals am vergangenen Montag in Dortmund getan. In die Auslandsgesellschaft NRW e.V.  war  Dr. Lieb zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung – organisiert vom NachDenktreff, der Regionalgruppe attac Dortmund sowie des Stadtverbandes des DGB – gekommen. Das Thema seines Vortrages: „Wie und Wo die Medien versagen und ihre „Wächterrolle“ in der Demokratie nicht mehr erfüllen “. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt.  Das Publikum: Attacies, Gewerkschafter, Interessierte am Thema allenthalben – vermutlich viele Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten. Dazu mein Artikel.

Unmittelbar an das informative und engagiert vorgetragene Referat von Dr. Wolfgang Lieb schloss sich eine lebhafte Diskussion an. Im Vorlaufe des letzten Teils des Abends ergaben sich aus den verschiedenen Wortmeldungen auch Fragen. Fragen, die Wolfgang Lieb geduldig beantwortete.

Sind linke Regierungen jederzeit erpressbar?

Thematisiert wurde etwa das neoliberale Wüten in Großbritannien seit Margareth Thatcher. Wobei der produktive Sektor zugunsten der Finanzwirtschaft stark geschrumpft worden war. Sowie, dass linke Regierungen  ja wohl jederzeit erpresst werden könnten, wie eine Zuhörerin vermutete. Um diese Regierungen zum Kurswechsel zu veranlassen. Beziehungsweise zu desavouieren, um sie schlussendlich zu stürzen. Als Zuhörer hatte man da direkt den Militärputsch gegen die Regierung Allende in Chile vor Augen.

Oder ein Szenarium, dass wir alle ganz aktuell verfolgen können: Die Diskreditierung der linken SYRIZA-geführten Regierung von Griechenland. Mit dem Ziel  diese am Ende aus dem Amt zu fegen. Denn darauf läuft ja wohl das Athen Am-langen-Arm-verhungern-lassen seitens der Institutionen letztlich hinaus.  Eine Alternative zum neoliberalen Europa soll offenbar nicht zu Nachahmungen anderswo animieren.

Deregulierung, die Diktatur der Finanzmärkte und Merkels „marktkonforme Demokratie“

Wolfgang Lieb erinnerte hinsichtlich des Thatcherismus in Großbritannien und dessen schweren Folgen für die dortige Gesellschaft daran, dass – wenngleich erst später und weniger den industriellen Sektor dabei zerstörend – auch Deutschland in der Schröder-Ära aufs Deregulieren setzte. Man die Finanzmärkte hatte groß werden lassen. Und diese auch nach der Finanzkrise „frei gelassen“ habe. Die Folge: Finanzspekulationen sind weiterhin möglich. Ja, und auch der Umgang mit Griechenland bereite Sorge. Nicht wegen der wirtschaftlicher Größe und Bedeutung des Landes – die ist ja für Europa quasi beinahe zu vernachlässigen. Vielmehr gehe es für den Fall, dass wenn Griechenland aus dem europäischen Projekt, mindestens aber aus dem Euro herausfalle, darum, zu verhindern, dass „die Märkte“ in selber Manier gleich gegen die nächsten Kandidaten Italien und Spanien spekulieren. Stets verlaute von den Regierungen, „das Vertrauen der Märkte“ müsse zurückgewonnen werden. Dieses Narrativ wird ja tatsächlich – vornweg von Bundeskanzlerin Angela Merkel postuliert. Und in der europäischen Politik wie eine Monstranz vor sich  hergetragen. Auf dem Punkt gebracht: In Wirklichkeit herrschen die Märkte und bestimmen wo es lang zu gehen hat. Nicht die demokratisch  gewählten Regierungen. Und auch da wieder an erster Stelle sage ja gerade Angela Merkel unverblümt, was angestrebt sei: eine marktkonforme Demokratie. Die dann aber – was sie jedoch nicht dazu sage: letztlich keine Demokratie mehr ist. Die muss der Diktatur der Finanzmärkte weichen. Ähnlich hat es der inzwischen verstorbene Stéphane Hessel in „Empört euch!“ thematsiert. Und mit Blick auf den an der Demokratie entstehenden Schäden entsprechend einer Kritik unterzogen.

Zum Ist-Zustand der Medien

Eine anwesende Englisch/Deutsch-Lehrerin kritisierte ihrerseits den immer mehr um sich greifenden Kampagnen-Journalismus. Selbst die FAZ habe doch in der Vergangenheit immer auch Lichtblicke enthalten. Vorbei. Wie es vergangenes Jahr Eckkart Spoo an gleicher Stelle – in der Dortmunder Auslandsgesellschaft – herausgearbeitet hatte – machte auch die Lehrerin auf gravierende sprachlichen Unterschiede der Medien betreffs der Beschreibung gleicher Situationen  aufmerksam. Nach dem Muster: Der Westen warnt. Putin jedoch droht.

Eckart Spoo seinerzeit:

Gleichfalls wie diese Worte stimmig geblieben sind, wird in weiten Teilen der Presse auf alte Muster zurückgegriffen. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt heißt das, so Spoo, was etwa die westlichen Medien tun, werde unter dem Stempel „Aufklärung“ verkauft, was die „Gegenseite, die anderen, die Bösen betreiben – ist  böse Propaganda.“ Soll heißen: „Die wir Putin keinesfalls glauben dürfen. Die politische Sprache ist voll von bösen Wörtern und Gegenwörtern.

Wer der einen Seite als Freiheitskämpfer gilt, gelte  der anderen als Terrorist. So schafft man vor allem durch häufiges Wiederholen ein  tiefsitzendes Freund- bzw. Feindbild.“

Das gelänge auch und gerade mit den Alltagsworten  „drohen“ und „warnen“. „Putin droht. Obama warnt. Täglich mindestens zwei bis dreimal wiederholt.“

Wolfgang Lieb stimmte der gut informierten Lehrerin zu. So werde immer gleich deutlich: Wir, der Westen, sind die Guten. Putin und Russland aber  immer nur die Bösen. Ein gefährliches Schwarz-Weiß-Denken. Ausgewogene Berichterstattung war einmal. Des Weiteren machte die Zuhörerin darauf aufmerksam, dass auch viele Journalisten selbst unter großem Druck stünden. Ganz einfach: weil sie abhängig beschäftigt sind. Oder gar als nur befristet oder als Freie arbeiteten.   Die Frau sprach von einem „journalistischen Proletariat“:  Über ihnen der mächtige Chefredakteur, die Herausgeber. Ebenso verhalte es sich  an den Universitäten: Nahezu allmächtige Professoren ganz oben in der Hierarchie: Unter ihnen lohnabhängige Dozenten. Wissenschaftliches Proletariat. Oben landeten doch oft nur noch die Nachplapperer und Schönredner. Kritische Köpfe blieben aus Gründen, die man sich gut denken, kann außen vor. Der Mittelstand dünne aus.

Wolfgang Lieb gibt der Dame im Wesentlichen Recht.  Nicht aber in puncto Amerika.  In den USA  sei es gar nicht so viel besser um die Medien bestellt.  Im Gegenteil: „Versuchen Sie einmal in der amerikanischen Provinz eine „New York Times“ oder die „Washington Post“ zu bekommen!“ Allenfalls ein so gut wie nichtssagendes Tagblatt bekomme man da. Klar, die „New York Times und die „Washington Post“ seien immer noch recht plurale Medien. Und das Fernsehen? Lieb: „Beim Sehen von Sendern wie Fox stehen Ihnen die Haare zu Berge! Die machen richtige Agitation. Und was für welche!

In Deutschland sei die „Financial Times Deutschland“ eine veritable und plurale Wirtschaftszeitung gewesen. Sie aber wurde eingestellt. Heute – hob der Referent hervor – sei immerhin noch das Handelsblatt pluraler als der Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung.

Und ja, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Bis in die Ära Schirrmacher hinein habe für die journalistischen Inhalte in der FAZ ein Dreiklang gegolten: Schwarz (Wirtschaft) Rot (Feuilleton) sowie Gold (blau-gelb, Richtung FDP-Denke). Diesen Dreiklang fnde man kaum wieder.

Wenn die Upperclass ihre Sprösslinge auf private Schulen schickt

Und zu den Unis? Im Ruhrgebiet, wo es einst keine Universitäten gab, habe man seinerzeit gleich mehrere Hochschulen gebaut. Kinder aus anderen – wie man heute sagt: bildungsfernen – Schichten, aus Arbeiterhaushalten erhielten damals die Chance und die Möglichkeit zu studieren. Wie sieht es dagegen heute aus? Hochschullehrer stammten in unseren Tagen eigentlich fast ausschließlich nur noch aus Akademikerhaushalten. Mediziner aus Medizinerhaushalten. Die Ausstattung der Schulen bezeichnete Lieb als  zunehmend schlecht. Englische Verhältnisse kehrten auch hierzulande ein:  die Upperclass schicke  ihre Sprösslinge in private Schulen. Die Aufstiegsmöglichkeiten müssten heute als miserabel bezeichnet werden, stellte Lieb fest. Schlimmer noch: Bestimmte Schichten glitten unterdessen regelrecht ab, statt aufsteigen. Die OECD bescheinige Deutschland, dass dieser Umstand hier stärker als in vergleichbaren Ländern sei.

Das neue Säbelrasseln und das Schwarz-Weiß-Denken

Dann kam die Sprache auf das Säbelrasseln der Nato-Staaten gegenüber Russland. Jemand brachte in Erinnerung, dass es vor Kurzem geheißen habe, es sei geplant, 5000 Panzer in den baltischen Staaten zu stationieren. Wolfgang Lieb zeigte sich  darüber genauso besorgt wie andere Veranstaltungsteilnehmer. Erstmals nach dem Ende des Kalten Krieg geschehe wieder so etwas. Der Westen rücke immer näher an die russische Grenze heran. 5000 US-Panzer in den baltischen Staaten! Man solle sich doch nur einmal vorstellen, Russland stationierte in Südamerika an der Grenze zu den USA massiert Kriegsgerät! Das Schwarz-Weiß-Denken des Westens sei unerträglich. Da höre man etwa, russische Militärmaschinen schalteten bei Flügen außerhalb ihres Territoriums die  Transponder aus. Was nach schlechten Absichten klingt und wohl auch klingen solle. Nun erfahre man aber auch: Nato-Kriegsflugzeuge täten genau dies auch. Lieb: „Beides ist schlecht!“ Die Aufgabe  der Medien sei es auf beides hinzuweisen. Den Manichäismus in Politik und Medien des Westens kritisierte der Referent.

US-Einfluss auf Politik und Medien: legitim, aber es sollte kenntlich gemacht werden

Eine andere Dame, die einmal selbst bei der dpa gearbeitet haben will, wollte  die Frage beantwortet haben, ob sich die hier verbreiteten Nachrichten stark aus US-Nachrichten speisten. „Und 1 : 1 transportiert“ würden. Dazu Lieb: „Die USA setzten weltweit viel Geld ein, um in ihrem Sinne zu informieren. „Was legitim ist.  Es wäre jedoch besser, dies würde kenntlich gemacht.“  In diesem Zusammenhang brachte der NachDenkSeiten-Mann in Erinnerung, dass die USA über Jahre hinweg fünf Milliarden Dollar aufwandten, um die Ukraine-Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. All dies sei nichts Neues. Auch in Deutschland habe die CIA Medien finanziert. Als Beispiel führte Lieb die 1948 gegründete  Zeitschrift „Der Monat“ an. Die USA „gingen da halt clever vor“. Aber auch heute könne man beobachten, dass ab und an deutsche „Wochenjournale wie etwa der Spiegel zuweilen fast bis hin zum Deckblatt Beiträge von „Time“, „Newsweek“ übernähmen.  Bei diesen Informations-Bios ginge es dann stets vorrangig um  die „Verteidigung westlicher Werte“. Wie immer man das auch bewerte: Es sei legitim. Das Schlimme daran jedoch sei, dass in der Regel eine Aufklärung darüber nicht geschehe. Geschähe dies, könne der Rezipient die Beiträge entsprechend kritisch bewerten und sich eine eigene Meinung bilden.

Der militärisch-industrielle Komplex und interessengeleitete Geopolitik

Einem Zuhörer antwortend, stimmte er diesem zu, dass das Zusammenspiel innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes unbedingt sehr  kritisch beobachtet werden müsse.

Für Lieb hält ist ein  erstaunlicher, wie empörender,  Vorgang, dass vor dem Hintergrund der Probleme mit dem G 3 vom Hersteller der Gewehre versucht wurde  mithilfe des Militärisches Abwehrdienstes (MAD) kritisch berichtende Journalisten überwachen zu lassen.

Ebenfalls kritisch betrachtete Wolfgang Lieb, dass die Geopolitik nach 1990 wieder einen immer größer werdenden Stellenwert einnehme. Er wies daraufhin, dass auch dies nichts Neues sei. Als Beispiel nannte er die Containment-Politik oder Eindämmungspolitik der USA ab 1947 gegenüber der UdSSR.

Nicht umsonst unterhielten  die USA Militärstützpunkte überall auf der Welt. Es seien dies wohl weltweit um die 800. Zum Vergleich: Russland unterhalte einen einzigen in Tartus (Syrien). „Die USA sehen sich in der Rolle des Weltpolizisten. Sie begreifen sich als auserwählte Nation.“ Militärisches Eingreifen stelle Washington stets  „als Kampf umd Menschenrechte und Demokratie in der Welt dar“. Dabei steckten „massive ökonomische Interessen dahinter“. Nach Meinung des Referenten dürfte  Geopolitik in den nächsten Dekaden verstärkt auf der Tagesordnung bleiben.  „Wenn die Amis doch nur einen Bruchteil des Geldes, dass sie seit vierzehn Jahren für den sogenannten Krieg gegen den Terror ausgäben in die Entwicklungshilfe steckten,  könnte die Welt heute womöglich friedlicher aussehen“, kann sich Wolfgang Lieb vorstellen.

Mediennutzung der Jugend – Junge Frau hat schon seit zehn Jahren keine Zeitung mehr gelesen

Eine junge Frau fragte den Referenten, warum die Kinder wohl die Medien so nutzen wie sie sie nutzten. Lieb hatte am Beispiel seiner studierenden Kinder erklärt, dass die eigentlich gar keine Zeitungen mehr benutzten, sondern halt das Internet. Lieb meinte,  er wolle die jungen Leute überhaupt nicht schelten. Oft hätten sie im Gegenteil zu ihm früher gar keine Zeit mehr für Zeitungslektüre. Das Studium heutzutage brächte sie so stark unter Druck, dass sie hinterher gar keine Kraft mehr hätten. „Da chillt man lieber. Vielleicht bei Germany next Topmodell.“

Die junge Frau aus dem Publikum scheint das zu bestätigen: Zehn Jahre schon habe sie keine Zeitung mehr gelesen! Und warum – fragt sie – weise denn der Referent auf  die Bild-Zeitung als fragwürdiges Medium hin? Schließlich wäre  das doch jedem bekannt. Was habe sie denn von dieser Information ?

Lieb darauf: „Ich kann Ihren Frust gut verstehen.“ Als er Sozialwissenschaften studiert habe und dem Vater etwas hatte darlegen wollen, habe  der Vater geantwortet: „Das hätte ich dir auch früher sagen können.“ Ja, warum informiere er darüber? Er wolle den Menschen ganz einfach Argumente an die Hand geben, wie die Situation der Medien einzuschätzen ist. Nächster Schritt wäre dann, dass das Gesagte im besten Falle als Anstoß dienen könne,  sich eigene Gedanken zu machen. Stattdessen Pessimismus zu verbreiten, dass sei doch keine Alternative! Erst recht nicht in Resignation zu verfallen. Vielmehr müsse doch eine Antwort auf die Frage, was man tun könnte, um dem medialen Einheitsbrei zu entgehen, gegeben werden. Freunde und Freundinnen und Kollegen sollten in diesen NachDenk-Prozess einbezogen werden. So könnte auch diesen der Gedanke nahegebracht werden, „dass man die Dinge auch ganz anders sehen könnte“.

Freilich könne man – er selbst wisse das nur zu gut – „sehr schnell zum Außenseiter, wenn man Positionen abseits vom Mainstream“ vertrete.

Ein Mann im Publikum stimmte ihm zu. Er bekannte, diesbezüglich ein gebranntes Kind zu sein. Aufgeben wolle er aber nicht.

Wenn man von der „Mehrheitsmeinung abweicht“, wird das nicht einfach, so Lieb. „Über Fußball streiten tut nicht so weh“. Wenn wir aber an Merkel Kritik wegen deren Griechenland-Politik  üben und uns der Erzählung entgegenstellten, die da heiße – Noch mehr bezahlen? Wir haben doch schon viel bezahlt! – muss man den Druck schon aushalten. Und der sei gewiss, wenn man abweichend vom Mainstream sage: Die Banken haben das meiste Geld aus der sogenannten Griechenland-Rettung erhalten. Die griechische Bevölkerung nicht.

Das harte Brot des Bloggers

Ein anwesender Blogger bestätigte was Wolfgang Lieb zuvor gesagt hatte: Gegenöffentlichkeit herzustellen kostet Kraft. Er erzählte von einer Recherche, die er betrieben habe, um etwas über den Ukraine-Konflikt zu schreiben: „Ein Wochenende ist dabei draufgegangen. Dreißig Quellen zu studieren, dass kostete einen Haufen Arbeit.“

Sich zusammen mit Anderen engagieren

Till Strucksberg von Attac Dortmund warb ausdrücklich dafür, sich zu engagieren und kein Einzelkämpfer zu bleiben. Änderungen seien möglich. Getreu dem Attac-Motto: „Eine andere Welt ist möglich.“  Nicht alleine Probleme eruierenzu  müssen, mache stark und könne Zuversicht zur Folge haben und Kraft zum Weitermachen geben. Als Möglichkeiten sich für Demokratie und gegen Demokratieabbau zu engagieren nannte Strucksberg TTIP, CETA, TiSA und die Problematik der geplanten Schiedsgerichtsbarkeit. Wider dem Mainstream. Till Strucksberg empfahl zum Thema Griechenland die Zeitung Faktencheck HELLAS.

Damit die Menschen nicht auf die Rattenfänger von heute hereinfallen

Zum Abschluss der Fragestunde berichtete Wolfgang Lieb von kleinen Fortschritten. Welche er in seinem Umfeld erreichen konnte. Leute zum Umdenken zu bewegen sei oft nicht einfach. Besonders wenn sie gewissermaßen in einer „anderen Welt oder besser: in einem anderen Bewusstsein leben“.

Seine Erfahrung wolle er gerne an andere weitergeben. Wichtig sei es, sich gegen die einfachen Rezepte stellen. Seine Erfahrungen aus der Geschichte und seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte heraus, wolle Lieb an andere Generationen weitergeben. Nicht nach dem Motto: Früher war alles besser. Es gehe  um einen ganz bestimmten Erfahrungshozizont. Wir sollten ganz einfach Reflektieren: Ist diese momentane Entwicklung eine richtige? Dass bedeute nicht dass er und die  NachDenkSeiten den Stein der Weisen gefunden hätten. Aber es sei „sinnvoll und wichtig alternative Denkanstöße“  zu geben. Damit die Menschen nicht auf die Rattenfänger von heute hereinfielen. Es komme eben darauf an, wohin die Entwicklung hinauslaufe. Ob sie eine fortschrittlich-emanzipatorische Richtung nähme, oder in eine äußerst rechte, gar diktatorische  laufe. Was gewiss eine Katastrophe darstellte. Wir als Deutsche könnten das wissen.

Eine spannende Diskussion, die so interessant war, dass man sich eigentlich wünschte, sie würde noch lange weitergehen. Doch da mahnte Nachdenk-Treff-Gastgeber Peter Rath- Sangkhakorn: „Man kann über alles diskutieren. Nur nicht über 9 Uhr hinaus.“ Und tatsächlich: die zwei Stunden waren im Fluge vergangen: Die Uhr zeigte auch bereits 21:00 Uhr …

Wolfgang Lieb zum Zustand der Medien und wie die Vermachtung der veröffentlichten Meinung aufzubrechen wäre

Wolfgang Lieb referierte an der Auslandsgesellschaft Dortmund; Foto: Claus-D. Stille

Wolfgang Lieb referierte an der Auslandsgesellschaft Dortmund; Foto: Claus-D. Stille

Wolfgang Lieb ist 1944 in Stuttgart geboren worden. Als promovierter Jurist, Publizist und ehemaliger Politiker (SPD) hat er ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich. Seit Gründung der NachDenkSeiten (NDS) ist Lieb (zusammen mit Albrecht Müller) deren Herausgeber. Seine umfassenden beruflichen und politischen Erfahrungen möchte er gerne weitergeben. Das hat er abermals am vergangenen Montag in Dortmund getan. In die Räume der Auslandsgesellschaft NRW e.V. ist Dr. Lieb zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung – organisiert vom NachDenktreff, der Regionalgruppe attac Dortmund sowie des Stadtverbandes des DGB – gekommen. Das Thema seines Vortrages: „Wie und Wo die Medien versagen und ihre „Wächterrolle“ in der Demokratie nicht mehr erfülle“. Der Saal ist brummend voll. Stühle müssen noch herein gebracht werden. Das Publikum: Attacies, Gewerkschafter, Interessierte am Thema allenthalben – vermutlich viele Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten.

Zur Person

Dr. Wolfgang Lieb arbeitet von 1979 bis 1983 in der Planungsabteilung
des Bundeskanzleramtes und wurde anschließend Leiter des
Grundsatzreferates in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens in Bonn.
Ab 1987 war er zunächst stellvertre­tender, später Regierungssprecher
und Leiter des Landes­presse- und Informationsamtes des Landes
Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Johannes Rau.  Zuletzt war
er von 1996 bis 2000 Staatssekretär im nordrheinwest­fälischen
Wissenschaftsministerium.
Heute gibt er zusammen mit Albrecht Müller die kritische Website
NachDenkSeiten heraus. In dieser Funktion nahm er 2009 den Alternativen
Medien­preis entgegen.

Der Vortrag

Zunächst spricht Dr. Lieb von seiner Studentenzeit im geteilten Berlin. Der spätere Regierende Bürgermeister „Diepgen war AstA-Chef und Landowski, schon damals sein Zuträger, die liefen auf dem Campus mit Schaffnermütze herum“. Lieb erlebt Sit-ins, erste Studentenproteste, und macht die Erfahrung, selbst schwer verknöcherte Zustände können sich schnell ändern: „Daraus ziehe ich eigentlich meine Zuversicht, dass obwohl man meint, es sei alles festgebacken und festgefahren – wenn der richtige Zeitpunkt kommt und der richtige Funken schlägt, sich etwas sehr rasch zum Besseren ändern kann.“ Hoffentlich zum Besseren, flicht er ein: ins Fortschrittliche oder Emanzipatorische oder er es auch vielfach beobachten ins rechtsextreme, rechtspopulistische Lager. „Der Grund, warum ich die NachDenkSeiten nach wie vor als Fulltimejob betreibe, ist ein Stückchen dazu beizutragen, dass wenn es dann zu einer Änderung käme, diese in ein in eine vernünftiger politische Richtung geht bzw. gelenkt werden kann.

Wie stellt sich die gegenwärtige Lage dar?

„Statt Vielfalt als Voraussetzung vernünftiger politischer Entscheidungsprozesse, ist die Einfalt zur Durchsetzung einseitiger wirtschaftlicher Interessen zur herrschenden Meinung geworden.

Die Einseitigkeit der Berichterstattung hat sich zuletzt etwa in der Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt gezeigt. Ob es um die Darstellung der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, um die Rentenpolitik oder die Schuldenbremse geht: selbst sog. Qualitätsmedien erfüllen oft nicht die Mindeststandards journalistischer Arbeit. Auch der Wissenschaftsjournalismus wird mehr und mehr abgelöst durch Wissenschafts-Public Relations.

Einigen meinungsführenden Journalisten ist es gelungen eine Deutungshoheit der gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit zu erringen, denen ein Fußvolk schlecht bezahlter und überforderter Journalisten und kaputtgesparten Medien nachplappert. Statt kritische Aufklärung bestimmt Kampagnen-Journalismus mehr und mehr das MedienBILD.
Gibt es Möglichkeiten die „Vermachtung“ der veröffentlichten Meinung aufzubrechen? Welche Chancen bietet das Internet?“

Lügenpresse“?

Wolfgang Lieb kommt ad hoc auf den Begriff „Lügenpresse“ – Unwort des Jahres 2014 – zu sprechen. Ende letzten Jahres – auf dem Höhepunkt der PEGIDA-Demnstronstratioen – spricht ein Freund Lieb ungefähr so an: „Na, da haben die NachDenkSeiten wohl endlich ihre Gegenöffentlichkeit gefunden?! Ihr hackt doch auch ständig auf der Lügenpresse rum.“ Lieb ist geschockt und sprachlos. Mit Pegida hatte man doch nichts am Hut! Er weist den Freund auf die historische Belastung des Begriffs „Lügenpresse“ in der NS-Zeit („jüdische Lügenpresse“) und später in der DDR („kapitalistische Lügenpresse“) hin. Der Freund möge ihm doch ein Platz zeigen, wo die die NachDenkSeiten (NDS) den Begriff „Lügenpresse“ verwendet haben.

Es stellt sich heraus, dass die NDS Thinktanks oder Politikern durchaus Lügen vorgeworfen haben: „Aber nur dann, wenn wir das im konkreten Fall belegen konnten.“ Wenn bewusst gelogen wurde, ideologische Scheuklappen oder borniertes und Interessen bezogenes Handeln zu Lügen führte. Ein Fall: Das Ummodeln der Finanzkrise in eine „Staatsschuldenkrise“. Oder das Verfälschen oder Uminterpretieren von Statistiken im ideologischem Interesse u.s.w., sagt Lieb in Dortmund: „Es ist auch Ihnen bekannt, dass halbe Wahrheiten schlimmer sein können als ganze Lügen.“ Die NDS wolle aber Gegenöffentlichkeit sein gegen Mainstream und Meinungsmache. Schließlich sei klar: Wenn die Meinungsvielfalt stirbt, stirbt auch die Demokratie ein Stück weit.

Die NDS haben täglich 75000 bis 80000 Zugriffe

Gewiss: Die NDS sind ein David gegen die Goliaths der Medienwelt. Immerhin, wirft Lieb ein: Die NDS haben täglich 75000 bis 80000 Zugriffe und ungefähr zehn Millionen Seitenaufrufe. „Wenn man das dann mit Auflage der taz vergleicht isses ganz nett.“ Das Wort „Lügenpresse“ hält Dr. Lieb „für falsch und sogar für gefährlich.“ Gefährlich deshalb, weil man sich mit diesem historisch negativ belasteten Begriff in eine rechtspopulistische Ecke begebe und es „den etablierten Medien viel zu einfach macht, berechtigte Kritik abzuwehren.“ Vielmehr müsse ganz klar am Einzelfall nachgewiesen, wann und wie Medien im Sinne der Kontrolle von Politik und der Demokratie versagen.

Einfalt statt Vielfalt am Beispiel Ukraine-Krise sowie betreffs  Griechenland

Wolfgang Lieb nimmt die Ukraine-Krise genauer unter die Lupe. „Putin sei die Inkarnation des Bösen. Er ist an Allem schuld. ´Stoppt Putin‘, so titelte nicht nur die Bild-Zeitung sondern auch DER SPIEGEL und zwar mit gleichen Titelbild (den Opfern des Flugzeugabsturzes von MH17). Vom deutschen Presserat gerügt.“ Einseitigkeit müsse man hier nicht aus sich selbst heraus unterstellen, sondern nur den Programmbeirat der ARD (PDF via Selectra; Update vom 10.5.2019; C.S.) zitieren.

Auch betreffs der Berichterstattung über die Griechenland-Krise und der Finanzkrise übt Lieb Kritik an den Medien. Und benennt dabei besonders schlimme Finger in Sachen Meinungsmache und Einseitigkeit, wie die BILD und die „Bildzeitung für Intellektuelle, den Spiegel“ mit ihrem Kampagnen-Journalismus“. Sozusagen zur BeBILDerung hat der Referent zwei Bild-Zeitungen mit widerlichster Hetze gegen Griechenland nach der Abstimmung über das zweit sogenannte Rettungspaket) mitgebracht. Lieb: „Ich lese die Bild jeden Tag – sie erspart mir zwei Tassen Kaffee.“ Zu sehen sind u.a. zwei Seiten, auf denen alles Mitglieder des Deutschen Bundestages abgedruckt sind, die für das Rettungspaket gestimmt haben. Angegeben Wahlkreis und Internetadresse. „Man könnte so etwas auch als Nötigung bezeichnen“, sagt Wolfgang Lieb. Und er weist daraufhin, dass auch die anderen Zeitungen nicht besser seien – sie hetzten nur etwas verdeckter – bis in die sogenannten Qualitätsmedien hinein der gleiche (einseitige) Tenor zu Russland und gegenüber Athen. Bild gehe jedoch stets unverblümt zur Sache.

Und Lieb kommt da auch auf die Jauch-Sendung vom vergangenen Sonntag zurück. Da habe der CDU-Politiker Bosbach wieder weitgehend unwidersprochen behaupten können, die Griechen gingen 56 in Rente. Bei Eurostat könne man jedoch nachlesen, dass die Griechen durchschnittlich 61,4 Jahren und die Deutschen mit 61,7 Jahren in Rente gingen. Einmal in die Welt gesetzt, glaubten viele Menschen dies. Wolfgang Lieb wünschte, so mancher würde mal jetzt nach Griechenland fahren und sich sie Zustände dort anschauen. Lieb hat es getan. Ist mit der Straßenbahn durch Athen gefahren. „Wer meint man könne die Menschen dort noch mehr ausquetschen, der soll man darüber nachdenken was in Deutschland passieren würde, wenn das Bruttosozialprodukt um 30 Prozent sinkt, die Löhne um 20 Prozent, die 25 Prozent Arbeitslosigkeit beträgt und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht …“ Da habe es in Deutschland Zeiten gegeben, da aus solchen Situationen Führer entstanden. „Wer meint, er könne noch mehr auf diese Leute aufpacken, der hat meines Erachtens jeden Realitätsbezug verloren“, so Lieb.

Sturmgeschütz der Demokratie“, das war einmal

Der Referent resümiert, in puncto kritischer Medien sei da schon einiges weggebrochen in Deutschland. Man solle doch einmal an das einst „Sturmgeschütz der Demokratie“ genannte Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, an Panorama-Sendungen, an Henry Nannens Stern und die inzwischen eingestellte Financial Times Deutschland denken. Heute dagegen fast überall neoliberal geprägte Medien und entsprechende Meinungsmache. Stattdessen allenthalben eingebetteter Journalismus. Von der Mitgliedschaft in Thinktanks zur Verbreitung „sogenannter westlicher Werte und transatlantischer Interessen“ wie der Atlantikbrücke, Trilateralen Kommission, der Akademie für Sicherheitspolitik u.s.w. inspirierte oder tatsächlich in dieser Hinsicht überzeugte Journalisten wie z.B. Claus Kleber und Co. Lieb verweist bezüglich dessen auf die Studie von Uwe Krüger („Meinungsmacht“). Uwe Krüger verweise auf eine intellektuelle oder verstandesmäßige Vereinnahmung von Journalisten und sogenannter Eliten. Denn oft bekommt man „als elitekompatibler Journalist“ nur auf diese Weise Zugang zu den höchsten Kreisen, könne so Karriere machen. Eine kolossale Konzentration im Medienbereich könne konstatiert werden: Stichtag 31.12.2013 – Neunundfünfzig Prozent der verkauften Auflagen in Deutschland werden von zehn (!) Zeitungskonzernen herausgeben.

Medienvielfalt adé. Stattdessen monopolartige Zeitungsstrukturen

Vielerorts gebe es gar keine Medienvielfalt mehr. Stattdessen monopolartige Zeitungsstrukturen im Verbund mit Fernseh- und Radiostationen. Viele Journalisten schreiben für gleich mehrere Medien, höchstens um einen Halbsatz mehr oder weniger verändert. „Für den Verlust an Vielfalt“, sagt Wolfgang Lieb, sind am Wenigsten die Journalisten verantwortlich, meint Lieb. Im letzten Herbst seien etwas 5000 Journalisten bei der Bundesarbeitsagentur arbeitslos gemeldet gewesen. Als arbeitssuchend waren 9000 Journalisten verbucht. Der Arbeitsdruck ist enorm. Genauer Recherchen eigentlich kaum noch möglich. Vielfach schreibe ein Journalist nur noch beim anderen ab. Herauskomme das, was Kurt Tucholsky „Papageienjournalismus“ genannt habe. 30- 50000 PR-Mitarbeitern stünden hierzulande 48000 hauptamtliche Journalistinnen und Journalisten gegenüber. Die Einkommen sinken. Da ziehe es manche Journalisten in den PR-Bereich.

Konform, uniform, chloroform“ – Heribert Prantl beklagte es schon vor Jahren

Dr. Lieb beklagt, dass in den Talkshows immer wieder die gleichen Vertreter einer bestimmten (neoliberalen) Richtung zu finden sind. Oft welche, die mit der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verbunden sind. Obwohl es in Deutschland wohl an die 30000 Wirtschaftswissenschaftler gebe, säßen regelmäßig abwechselnd nur ein Dutzend von ihnen in TV-Shows. Selten werde etwas kritisch hinterfragt. Allein schon weil ein Gegenpart fehle. Oft würden in den Medien nur noch Presseerklärungen verlautbart, Studien wohl kaum vollständig gelesen und analysiert. Lieb weist auf ein früheres Buch von Heribert Prantl mit dem Titel „Kein schöner Land“ hin. Prantl schrieb einen Artikel zum Einzug des Neoliberalismus in Deutschland und wie die neoklassische Ökonomie zur allein herrschenden Lehre wurde: 4. Konform, uniform, chloroform („Die neue Scholastik in Wissenschaft und Medien“). Was sich eben seit Jahren auch tief im deutschen Mainstream-Journalismus niederschlägt.

Die Macht der Finanzmärkte

Die Finanzmärkte hätten doch „in eklatanter Weise versagt“. Der Politik ging es nur darum das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen. Die Medien tönten entsprechend. Lieb: „Was den Parlamenten nicht gelang, den Märkten gelang es: Sie zwingen Regierungen aus ihren Ämtern, sie setzen drastische Sparmaßnahmen durch, die nicht von der Bevölkerungsmehrheit goutiert werden, weil zur Verarmung führen. Wie z.B. in Griechenland. „Angela Merkel spricht ganz offen von marktkonformer Demokratie und meint damit nichts anderes, dass die Politik das zu exekutieren hat, was die Finanzmärkte angeblich verlangen.“ Und Dr. Lieb nennt noch ein weiteres Beispiel für „gelungene Gehirnwäsche“: Die „Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise umzudrehen.“ Wolfgang Lieb ruft dann noch einige Beispiele ins Gedächtnis der Zuhörerinnen und Zuhörer, die unter „Neusprech“ zu rubrifizieren sind: Die sogenannten „Lohnnebenkosten“. Deren Absenkung angeregt durch die INSM gebetsmühlenartig mithilfe der Medien gefordert und schließlich von der Politik umgesetzt wurde. „Kein Arbeitgeber, sagt Lieb, „unterscheidet zwischen Lohn- und Lohnnebenkosten. Sondern nur für das Kapital und des Faktor Arbeit.“ Bei der Senkung der Lohnnebenkosten würden ja nur die Kosten des Unternehmens gesenkt. Und die Kosten für Gesundheit und Rente auf die Arbeitnehmer verlagert. Die Krankenkassenbeiträge für Arbeitgeber wurden gedeckelt. Für alles was zusätzlich anfällt, zahlen die Arbeitnehmer. „Agenda 2010“, „Personalserviceagenturen“ und „Umbau des Sozialstaates“ – all das höre man nun auch bezogen auf Griechenland.: das Land soll „fit gemacht werden für die Zukunft“ und der skandalöse Gerede von der „Überalterung der Gesellschaft“ und vieles andere mehr – das seien fast tagtäglich ventilierte „alles Falschwörter“, so Lieb. Die dahinter steckende Ideologie müsse aufgedeckt werden. Was die NachDenkSeiten täglich leisten.

Der Arbeitsmarkt ist kein Kartoffelmarkt

Dahinter stecke die Ideologie der „angebotsorientierten Wirtschaftstheorie“. Alles was die Investitionsbedingungen der Unternehmen erleichtert, würde Wachstum und damit Wohlstand schaffen. „Der Arbeitsmarkt wird betrachtet wie ein Kartoffelmarkt. Das heißt, wenn der Marktt zu Ende geht gegen zwei Uhr, dann gibt es die Kartoffeln die es vorher für drei Euro gab für ein Euro. Und wenn der Kartoffelpreis tief genug gesunken ist wird der Markt geräumt. So stellen sich die angebotsorientierten Ökonomen den Arbeitsmarkt vor. Das der Arbeitsmarkt auch über die Löhne eine Nachfragekomponente hat und dass die Nachfrage in einer Volkswirtschaft immer noch den größten Anteil am wirtschaftlichen Wachstum ausmacht, dass wird völlig venachlässigt.“

Links der Union darf es keine linke Alternative geben

Es werde alles daran gesetzt, jede politische Alternative links der Union zu verhindern. So würde auch immer gegen Linke gearbeitet. Gegen den „Warmduscher“ Brandt wurde Helmut Schmidt hochgelobt, bei den Grünen Stimmung gegen die „Fundis“ gemacht. So ergeht es auch der Linkspartei: da lobt man die „guten Reformer aus dem Osten“ und macht die „Radikalos aus dem Westen“ nieder. Und die SPD habe durch die „Abgrenzeritis“ bis heute nicht begriffen, dass für sie damit jede Regierungsoption obsolet wird.

Welche Möglichkeiten gibt es die Vermachtung der veröffentlichten Meinung aufzubrechen – kann das Internet da eine Rolle spielen?

Sicherlich könnten Blogs – Social Media wie Facebook und Twitter überhaupt- und auch Kleinverlage wie der pad-Verlag von Peter Rath-Sangkhakorn (der übrigens Wolfgang Lieb nach Dortmund eingeladen hat) oder das Mittel der Demonstrationen Chancen darstellen mit denen die Einzelnen ohne viel Kapital der Vermachtung entgegentreten könnten. Allerdings, macht Wolfgang Lieb klar, könne mit alldem kaum ein politische Bewegung mit konkreten Forderungen oder Zielen aufbauen.

Das Wohin muss klar sein

Zwar könne die Occupy-Bewegung zu einer politischen Massenbewegung werden, wenn es ihr gelänge genau zu vermitteln, wohin die Bewegung gehen solle. „Offene Bewegungen sind gut, Aktivismus ist gut, soziale Bewegungen sind gut. Aber irgendwann müsse die Diskussion zu einer Meinungsfindung kommen, irgendwann müsste man wissen, was die Aktivisten konkret wollen.“ Alternativen müssten aufscheinen.

Blogs leisten einen beachtlichen Beitrag zur Meinungsvielfalt, können am nur „eine wenig Sand im Getriebe der Maschinerie einer gelenkten Demokratie sein“

Blogs seien momentan allenfalls in der Lage „ein wenig Sand ins Getriebe der Maschinerie einer gelenkten Demokratie zu streuen“. Politische Blogs, gibt Lieb zu bedenken, hätten es in Deutschland nicht einfach. „Unter den ersten zwanzig sind es gerade einmal vier neben den NachDenkSeiten.“ Man brauche da noch einen ziemlich langen Atem, viel Kraft und Fleiß, konstatierte der Referent. Dazu kommt: „Nur jeder Fünfte Deutsche liest überhaupt Blogs.“

„Der Vorteil des Internets, dass jeder seine Stimme erheben kann, ist gleichzeitig sein Nachteil“, sagt Lieb. Es gibt 500000 Blogs in Deutschland. Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit ist es ungeheuer schwierig mit einem einzelnen Blog durchzudringen.“ Immerhin leistete die Blogs eine beachtlichen Beitrag zur Meinungsvielfalt. Dennoch seien „Blogs eher ein Rauschen im Hintergrund“.

Nach wohin wird sich die allgemeine Unzufriedenheit mit der Demokratie ihr Ventil verschaffen?

Längst jedoch sei „ein hoher Prozentsatz der Menschen in Deutschland mit der Funktionsweise der Demokratie weniger oder gar nicht zufrieden“. Alarmzeichen für die Demokratie. Wolfgang Lieb mahnt jedoch zur Aufmerksamkeit: Es sei bei weitem nicht klar, wo sich diese allgemeine Unzufriedenheit mit der Demokratie ein Ventil verschafft: „Ob es eher eine rechtspopulistische Wendung nimmt oder eine fortschrittliche, emanzipatorische Entwicklung“. Man müsse sich ja nur einmal bei unseren europäischen Nachbarn umschauen, wo rechtspopulistische Parteien bei Wahlen erhebliche Zugewinne einfahren. „Fortschrittliche Kräfte – und ich denke, die sind hier mehrheitlich unter uns – sollten alles in ihrer Kraft stehende tun, um zu helfen, dass die Entwicklung und die Unzufriedenheit ihren Ausweg in eine fortschrittlichen, in einer friedlichen, in einer sozialen Politik findet. Und nicht in einer Politik, die der einfachen Rezepte, der einfachen Sündenböcke. In der man alles auf den Islam – oder was noch schlimmer ist – schon wieder auf Zionisten schiebt. Und damit von den wirklichen Problemen und den Inhalten der Politik ablenkt.“

Fazit: Spannend von A -Z

Ein von A – Z spannender Vortrag des Herausgebers der NachDenkSeiten, Dr. Wolfgang Lieb, in der Auslandsgesellschaft Dortmund. Und ein voller Saal, mit mit- und nachdenkenden Zuhörerinnen und Zuhörern. Von Bürgerinnen und Bürgern, denen die Demokratie und eine gerechte Gesellschaft Herzensanliegen sind. Mitmenschen, die wohl tagtäglich nach oder vor dem Frühstück gegen 9 Uhr die Hinweise des Tages der NachDenkSeiten lesen. Die nicht mehr ohne diese kritische Website leben mögen. Oder Leute, die künftig zu deren Lesern gehören werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die anwesenden Stammleser ihre Erfahrungen mit den NachDenkSeiten auch Freunden und Kollegen mitteilen. Um auch sie dazu ermuntern, etwas kritischer zu denken. Auch wenn das – wer wüsste das besser als ich – bei Mitmenschen, die jahrelang einem Feuerwerk von neoliberaler Meinungsmache ausgesetzt waren und weiter sind, äußerst schwierig bis zuweilen unmöglich ist. Aber wie heißt es: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wolfgang Lieb kann da Mut machen: Er machte die Erfahrung, dass sich selbst schwer verknöcherte gesellschaftliche Zustände sich schnell ändern können.

Dem interessanten Referat von Wolfgang Lieb schloss sich eine lebhafte, nicht weniger interessante Diskussion an. Dazu mehr in einem gesonderten Beitrag.