„Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann. Rezension

Über dreißig Jahre nun liegt die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands zurück. Dennoch existiert noch immer ein mehr oder weniger tiefer Graben, der Ost- und Westteil trennt.

Die Überstülpung des BRD-Systems auf die DDR war nicht von Pappe

Über vergossene Milch zu räsonieren bringt freilich nichts. Dennoch: Vielleicht war die Vereinigung beider deutscher Staaten 1990, so wie sie erfolgte, doch nicht der richtige Weg. Schließlich erfolgte ja der Beitritt der DDR nach Artikel 23 des westdeutschen Grundgesetzes. Das bedeutete von jetzt auf gleich ein Überstülpen aller Regeln und Vorgaben und Gesetze der alten Bundesrepublik auf die DDR. Was nicht von Pappe ist!

Irgendwer stellte einmal die freilich hypothetische Feststellung auf, wonach, wäre das umgekehrt der BRD statt der DDR geschehen von den Westdeutschen nicht verkraftet worden wäre. Aber den DDR-Bürgern verlangte man das Verkraften dieses Umrubelns mit der Abrissbirne wie selbstverständlich ab. Herrschte doch bei den Westdeutschen ganz selbstverständlich die Überzeugung vor (die man eben deshalb auch nicht gedachte hinterfragen zu müssen) stets auf der richtigen Seite gestanden – das „richtige“ Deutschland gewesen zu sein. Also nicht der Teil sein konnte, welcher sich zu ändern hatte. Punktum. Und so ging manch Westdeutscher auch später verbal mit Ostdeutschen um, sobald der großen Freudentaumel nach dem Fall der Mauer abgeklungen war.

Einschub:

Ich selbst war zu dieser Zeit bereits im September 1989 über Ungarn und Österreich in die BRD rübergemacht und erlebte Wende und Beitritt bereits im Westteil, wo man mich gewiss auch voll echter Freude herzlich als „Neudeutschen“ oder „Neubürger“ begrüßte, mich herzend und umarmend und mir auch schon einmal einen ausgab. Schließlich war ich ja dem bösen sozialistischen System entronnen und nun im „freien Westen“.

Wie die Meinung der Ostdeutschen geschickt gedreht wurde

Den zurückgebliebenen (sic!) DDR-Bürgern aber wurde die Westüberstülpung 1990 ohne mit der Wimper zu zucken zugemutet. Hatten die das nicht selbst gewollt, die Ossis? Als sie riefen: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr“ und dergleichen mehr. Wir wissen heute etwa von Daniela Dahn, die das in ihren Büchern (u.a. in Tamtam und Tabu“ zusammen mit Rainer Mausfeld), gut recherchiert und herausgearbeitet hat: Die westdeutschen Eliten zusammen mit der Presse haben an den bei betreffs der von den Ostdeutschen verwendeten Slogans so gedreht, dass sie ins „richtige“ Bild passten. Beispielsweise war die Hindrehung des Slogans „Wir sind das Volk“ plötzlich wie durch „Zufall“ in „Wir sind ein Volk“ erfolgt. Dementsprechende Schilder und Transparente waren dann bei Nacht und Nebel aus dem Westen herangekarrt worden.

Dirk Oschmanns Buch ist eine wichtige Schrift

Dirk Oschmann, Literaturwissenschaftler, Professor in Leipzig, geboren in Thüringen, hat mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ eine wichtige Schrift vorgelegt. Der Anstoß das Buch zu schreiben folgte einem Ruf an Oschmann, welcher nach seinem Beitrag mit selbigen Thema, welcher in der FAZ erschienen und stark beachtet worden war. Darin wird nichts neu erfunden. Wohl aber Vieles genauer gewichtet und uns der Blick für das Wesentliche geschärft. Geschrieben aus der Sicht eines Ostdeutschen, der es sozusagen auch in den Westen geschafft hat und sogar Professor wurde. Was nicht wenig ist.

So, hat Oschmann herausgefunden, wie es nämlich um die Vertretung und Beteiligung Ostdeutscher in Führungspositionen im vereinigten Deutschland bestellt ist:

„Ob das die Wissenschaft ist, die Wirtschaft, die Medien, da liegen die Prozentzahlen ja nicht bei 18 oder 19%, wie es dem Bevölkerungsanteil entsprechen würde, sondern sie liegen bei 2 bis 4% maximal. Im Militär liegen sie bei 0,0 Prozent. Da gibt es überhaupt keine Ostdeutschen in irgendwelchen Spitzenpositionen bei der Bundeswehr. Und das teilt sich natürlich der Gesamtgesellschaft mit als etwas, was bedeutet, dass man hier nicht mitmachen können soll.“

Es gibt einen bestimmten materiellen Wohlstand. Aber es gibt natürlich trotzdem ein scharfes Bewusstsein dafür, als Ostdeutscher nicht wirklich Teil dieser Mitgestaltung der Wirklichkeit zu sein in der Demokratie.“

Des Weiteren verweist Oschmann auf den immer noch bis zu 20 % bestehenden Lohnunterschied zwischen Ost und West ins Feld und auf die Tatsache, dass ostdeutsche Führungskräfte beispielsweise viel stärker in der Minderheit als Frauen seien.

Als die mit „Buschzulage“ versehenen Westler in den Osten kamen

Sicher bestand nach dem Anschluss eine gewisse Notwendigkeit Westbeamte in den Ostteil zu schicken. Um die Kollegen im Osten mit der westdeutschen Bürokratie vertraut zu machen. So hielten also Beamte und Verwaltungsangestellte aus Westdeutschland Einzug in ostdeutschen Verwaltungen und Einrichtungen. Um das den Westdeutschen schmackhaft zu machen zahlten man ihnen zum Gehalt einen Zustupf. Genannt „Buschzulage“. Mir wurde erst jetzt deutlich woher dieser Begriff herrührte:

«Ursprünglich war „Buschzulage“ eine redensartliche Wortschöpfung für die Zulage der kaiserlich-deutschen Beamten, die in die Kolonialländer Afrikas entsandt wurden – analog zu Wortbildungen wie Buschmann oder Buschmesser.[1][2]« (Quelle: Wikipedia)

Wie musste diese Bezeichnung auf die einstigen DDR-Bürger wirken – doch gewiss abwertend.

Und die Führungskräfte – wohl bemerkt nicht alle – die dann mit Buschzulage ausgestattet in den Osten kamen, waren nicht immer die Besten. In manchen Fällen handelt sich um die dritte oder vierte Garnitur. Ihnen fehlte es manchmal nicht nur an der entsprechenden Qualifikation sondern vor allem auch an Aufstiegsmöglichkeiten in Westdeutschland. Da kam eine winkende Stelle im Osten samt Aufstieg durchaus wie gerufen.

So geschehen auch im universitären Bereich. So gut wie jeder DDR-Professor wurde einer Evaluation unterzogen. Und wurde SED-Mitgliedschaft oder zu viel Nähe zur Partei festgestellt oder gar eine wie auch immer geartete Stasi-Verstrickung ruchbar, war der Lehrstuhl futsch. Frei für Nachrücker aus dem Westen. So manch Betroffener suchte den Freitod.

Oft hörte man auch aus Mündern von Westdeutschen Ungeheuerliches. Was sie sich entweder selbst so zusammengereimt hatten oder aus bestimmten Medien (vielleicht via Bildzeitung) verinnerlicht hatten. Die Ostdeutschen müssten erst einmal arbeiten lernen. Es hätte noch gefehlt, dass man ausgesprochen hätte, ihnen müsse erst einmal das Essen mit Messer und Gabel beigebracht werden.

Dirk Oschmann:

„Ich habe das Gefühl, dass sich die Zuschreibungen plötzlich zunehmend als normal anfühlen, dass der Osten eben zurückgeblieben ist, dass er unterentwickelt ist in allen möglichen Hinsichten, dass er sich vielleicht verhaltensauffällig zeigt, dass er sich pathologisch verhält, dass er Dinge anders versteht oder gar nicht versteht. Und das hat sich doch in einer Weise schematisiert, die das fast als zweite Natur erscheinen lässt.“

Und erst recht seit dem Erscheinen von Pegida in Sachsen und dann dem Aufkommen der AfD, war ausgemacht, dass der Ossi irgendwie dumpfbackig, rechts, ausländerfeindlich und eigentlich auch Nazi ist. Sigmar Gabriel schmetterte ihnen bei einem Besuch im Osten schon einmal verächtlich zu: Pack!

Alle Ostler wurden sächsisch gemacht

Nicht zuletzt, schreibt Oschmann, dass der in den Ohren vieler Westdeutscher fürchterlich tönende sächsische Dialekt dazu beitrage, dass da ein kaum wegzuwischendes schräges Bild vom Ostdeutschen entstehe. Was nicht zuletzt auch mit den Tonaufnahmen des mit Fistelstimme sächselnden einstigen DDR-Staatsratsvorsitzen Walter Ubricht zu tun haben könnte. Dabei werde nicht selten der ganze Osten als generell sächsisch abgestempelt. Dass es da auch andere Regionen und andere Dialekte gibt, wird schlicht missachtet, nicht wahrgenommen. Heute führt das nicht selten dazu, dass Ostdeutsche ihren Kindern versuchen etwa das Sächsische auszutreiben. Ihnen einschärfen, bloß nicht Dialekt zu sprechen – schon gar nicht bei einem Bewerbungs- oder Einstellungsgespräch.

Oschmann:

„Es geht nicht um den konkreten historischen, geografischen Osten mit den Millionen verschiedenen Menschen und verschiedenen Lebensentwürfen, sondern es geht darum, wie der Westen den Osten als monolithischen diskursiven Block zurichtet, von dem er schon immer meint zu wissen, was da vor sich geht. Die Leute werden ja überhaupt nicht mehr in ihrer differenzierten Individualität wahrgenommen, sondern, sie werden wahrgenommen als Ostdeutsche. Und dieser ganze semantische Raum, der mit Ost anfängt, ostdeutsch, Ossi, Osten und so weiter. Dieser ganze semantische Raum ist verseucht. Das ist im Grunde nicht mehr zu gebrauchen.“

Oschmann verwies in diesem Zusammenhang einmal auf die Spiegelausgabe vom August 2019. Vor den Wahlen in Brandenburg und Sachsen und 30 Jahre nach der friedlichen Revolution titelt das Magazin bescheidwisserisch: „So isser, der Ossi“.
 
Oschmann sieht darin das Indiz für eine westdeutsch dominierte Perspektive und, auf eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung verweisend, die Wahrnehmung des Ostens überwiegend als Abweichung von der westdeutschen Norm.

Paranthese:

Dominiert und definiert wird das Narrativ über die DDR, über den Osten und die Menschen dort vom Westen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und es hält sich noch bestens konserviert Jahrzehnte nach dem Anschluss der DDR an die BRD. Ich selbst – schon im Westen lebend – musste mir von Westdeutschen oft anhören wie ich in der DDR gelebt hatte. Und dass, obwohl ich die DDR und das Leben dort nie als rosarot beschrieben und das Falsche dort benannt habe. Man beschied mir trotzdem: So und so war das doch bei euch. Eigentlich bin ich geduldig wie ein Schaf. Bis mir dann gegenüber einem so tönenden Kollegen einmal der Kragen geplatzt war. Was dann gesessen hatte. Der Kollege hielt sich von da an entsprechend zurück. Aber dachte vielleicht weiter so?

Das Leben der Ostdeutschen wurde entwertet

Wie schmerzlich musste dergleichen erst meine einstigen DDR-Mitbürger tief in der Magengrube treffen. Denn ihnen wurde ja sozusagen ein bitteres Zeugnis ausgestellt: Dein Leben war doch im Grunde nichts wert. Und das, obwohl die Leute in der DDR auch Spaß hatten, lebten und liebten und gar nicht so selten mit ihrem Betrieb verwachsen waren!

Nun ja, Dirk Oschmann schreibt nebenbei bemerkt auch vom Unrechtsstaat DDR. Da würde ich ihm Gregor Gysi andere Einschätzung entgegenhalten: „Die DDR war kein Unrechtsstaat“ (Quelle: Stern), aber in der DDR habe es auch Unrecht gegeben. Was stimmt.

Ein Leben in der DDR sollte nun nichts und erst rechts nichts wert gewesen sein? Manch einer war dann schnell mit dem Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ zur Stelle.

„Bei diesem Satz handelt es sich um eine Sentenz des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno aus dessen Minima Moralia. Das geflügelte Wort gilt heute als sein berühmtester Satz, als sprichwörtlich gewordene Wendung.“ (Quelle: Wikipedia)

Der einstige Justizminister Klaus Kinkel hatte sogar die „Delegitimierung“ der DDR gefordert, angewiesen!

Dirk Oschmann hat ein wirklich wichtiges Buch geschrieben. Es sollte viele Leser – vor allem auch im Westen der Bundesrepublik – finden.

Der Leipziger Literaturprofessor schreibt von den frustriert Zufriedenen. Dirk Oschmanns Befürchtung ist, dass deren Unmut sich zunehmend ins Undemokratische auslagert.

Meine persönliche Beobachtung ist, dass die Demokratie ohnehin in Gesamtdeutschland bedenklich angeschlagen ist. Und die derzeit am Ruder stehende Bundesregierung gefährdet unsere Demokratie – ja sogar den Frieden – noch zusätzlich. Eine Feststellung, die uns alle dringend alarmieren sollte!

»Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird«, lesen wir und sollten das unbedingt verinnerlichen.

Der Schriftsteller Ingo Schulze befindet: »Wer über den Beitritt und die Folgen sprechen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.«

Dirk Oschmann hat mit angesammelter, verständlicher Wut und bei blitzscharfem Verstand ein Buch geschrieben, auf das wir lange gewartet haben. Viel zu lange …

Der Ullstein Verlag zum Buch:

«Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte.«

„Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung

Verlag: Ullstein

ISBN: 9788437201

Erscheinungstag: 23.02.2023

224 Seiten

Preise: D: 19,90 €/ E-Book: 16,99 €, A: 20,60 €

Dirk Oschmann, Literaturwissenschaftler, Uni Leipzig

Oschmann kommt aus dem thüringischen Gotha. Er hat Germanistik und Amerikanistik in Jena und New York studiert und ist einer der wenigen Ostdeutschen, die eine Professur haben. Üblicherweise beschäftigt er sich mit Benjamin und Kafka. Doch jetzt hat er eine Art Zornesausbruch geschrieben, einen Erfahrungsbericht mit dem pointierten Titel: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“.

Neu im pad-Verlag: Aufstand der Massen? Rechtspopulistische Mobilisierung und linke Gegenstrategien

Protest am Heumarkt. Foto via Pixelio.de: Berthold Bronisz

Ein gewisse Empfänglichkeit von Bürgerinnen und Bürgern für rechte Ideologien, einhergehend mit Ausländerfeindlichkeit, hat es in der BRD immer gegeben. Das drückte sich zu bestimmten Zeiten auch an den Wahlurnen in vermehrten Stimmen für die NPD oder Republikaner aus. Doch opportun, rechtsdrehendes Gedankengut öffentlich und in Medien zu äußern war das freilich nach 1945 nicht. Doch verschwunden war es nie. Derlei Gerede blieb zumeist von den alkohol- und rauchgeschwängerten Dunstglocken über Stammtischen gedeckelt oder wurde hinter zugezogenen Gardinen bzw. hinter vorgehaltenen Händen getuschelt. Erst die rassistisch gefärbten, niedergeschriebenen Ergüsse „des geistigen Brandstifters Sarrazin“ (S. 5) machte bislang Zurückgehaltenes bis in bürgerliche Kreise hinein in größerem Maße salonfähig.

Der Schoß war fruchtbar noch

Die Autoren der Broschüre „Aufstand der Massen? Rechtspopulistische Mobilisierung und linke Gegenstrategien“, Peter Rath-Sangkhakorn und Werner Seppmann, halten es allerdings „trotz der großen Zustimmungswelle die Sarrazin auslöste, für eine Fehleinschätzung“ (S.6 oben), dessen „Aktivitäten als ursächlich für die aktuelle Rechtsentwicklung anzusehen“. Vielmehr sei dessen Erfolg „selbst nur Symptom einer mal schleichenden, mal offensichtlichen Rechtsentwicklung seit den ‚Wendezeiten‘.“

Sarrazin habe zunächst verunsicherte, mittelständische Existenzen erreicht. Zugleich aber „ein Publikum weit über die den Kreis einer ‚gefestigten‘ Rechten hinaus“ (S. 6 Mitte) erreicht. Da schon hätten sich „die Konturen eines rechts-populistischen Blocks“ abgezeichnet. Was aber durchaus „keine Neukonstituierung“ dargestellt habe: „Es trat nur zu Tage, was latent schon vorhanden war: Der Schoß war „fruchtbar noch, aus dem das kroch“ (Bert Brecht).

Ursachen der Rechtsentwicklung

Die Autoren arbeiten sehr gut heraus, dass die Ursachen für die Rechtsentwicklung bei weitem nicht allein bei Sarrazin und der heraufgekommenen AfD zu suchen sind. Vielmehr sei das in einer nach 1990 forcierten Neoliberalisierung der Gesellschaft und auch der wiederum damit in direktem Zusammenhang stehenden Finanz- und Weltwirtschaftskrise zu verorten. Entwicklungen, aus welchen die AfD bestens Nektar ziehen konnte. Eine auseinanderfallende Gesellschaft und eine nicht zuletzt durch die Agenda 2010 zunehmende Prekarisierung und die damit verbundene „Produktion“ von immer mehr gesellschaftlichen Verlierern und an den Rand gedrängten, in und von den Jobcentern gedemütigten und gegängelten, Menschen taten das Übrige. Die 2015 nach Deutschland gekommen Flüchtlinge verstärkte die Ängste vieler Menschen. Was der AfD wie gerufen kam. Die AfD bietet scheinbar einfache Lösungen. Das verfängt. Obwohl kaum Menschen das Wahlprogramm dieser Partei lesen. Täten sie es, begriffen deren Wähler, dass diese Partei mitnichten ihre Interessen vertritt.

Linkspartei und Gewerkschaften in der Kritik

Ungeschickt, kritisieren die Autoren, auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, wie auf die AfD, reagierten auch Linkspartei und Gewerkschaften. Auf Seite 19 lesen wir:

„Grundsätzlich gilt – und das lehrt die Erfahrung aus den sozialen Kämpfen der Vergangenheit – dass wer den den herrschenden Kräften etwas was abringen will, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen muss! Orientiert man sich vorrangig auf die Perspektive des Mitregierens und richtet man seine Politik am Horizont möglicher Koalitionspartner aus, gerät man schnell in den Ruf, selbst zu ‚denen da Oben‘ zu gehören, denen nicht zu trauen ist. Man wird vom Modergeruch des Leichnams Sozialdemokratie affiziert, wenn man glaubt um ‚Regierungsfähig‘ zu werden, in der Friedensfrage (Nato-Mitgliedschaft) oder hinsichtlich des Hartz-IV-Skandals ‚Kompromisse‘ eingehen zu müssen.“

Darüber hinaus wird auf Seite 31 thematisiert, dass es an entsprechenden Informationen fehle, warum es Arbeitslosigkeit gibt und sich gesellschaftliche Armutszonen trotz der ständig in Regierungsmund geführter Aufschwungsentwicklung ausbreiteten.

Doch wer sollte diese Aufklärung der Menschen übernehmen? Viele Menschen seien nicht zuletzt durch den „Hartz-Schlag“ (S. 36), der „eine soziale Abstiegsautomatik installiert“ habe, stigmatisiert und „auf eine schiefe und rutschige Bahn des sozialen Abstiegs gesetzt“. Dieser dem „zugrunde liegende Zwangsmechanismus funktioniert auf der Grundlage der arbeits- und sozialrechtlichen Konterreformen der Schröder/Fischer-Regierung“ reibungslos. Sie bewirkten Armut per Gesetz bedeuteten gleichzeitig auch Diskreditierung per Gesetz.

Die etablierten Parteien haben ihren Anteil an der Entwicklung

Beim Lesen der Broschüre wird klar, dass nicht nur die SPD (Agenda 2010) zusammen mit den Grünen mit ihrer Regierungspolitik, sondern auch die Unionsparteien mittels Äußerungen über die Jahrzehnte hinweg Rechtsentwicklungen zumindest befeuert haben. Beispielsweise wird der bayrische Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber zitiert, welcher einst von einer „durchrassten Gesellschaft“ gesprochen hatte.

Auch müsste die FDP hier genannt werden. Sie kommt in der Broschüre jedoch nicht vor. Guido Westerwelle hat mit Blick auf Hartz-IV-Empfänger in einem Beitrag für die „Welt“ von „anstrengungslosem Wohlstand“ und „spätrömischer Dekadenz “ gesprochen.

Rechtsextremismus auch Antwort auf Unglaubwürdigkeit etablierter Politik

Auf Seite 44 wird herausgearbeitet, „dass der Rechtsextremismus auch eine Antwort auf die Unglaubwürdigkeit der etablierten Politik, auf die Sprachlosigkeit derer Repräsentanten angesichts des elementaren sozialen Wandels und der tiefgreifenden gesellschaftlichen Positionsverschiebungen ist.“

AfD-Wähler hätten dagegen das Gefühl „ernst genommen“ zu werden.

Dazu käme, dass es bei den etablierten Parteien eine „Profillosigkeit gegen rechts“ gebe. Rechtsextreme wie rechts-konservative Parteien hätten „die gleiche schweigende Mehrheit der Deutschen im Auge, die sie für sich gewinnen oder behalten wollen“.

Herauskristallisieren die beiden Autoren auf Seite 53: „Das faschistische Gedankengut wurde in den Nachkriegsjahrzehnten nicht wirklich überwunden, sondern nur verdrängt.“

Und sie zitieren Adorno:

„Was die Menschen sagen, und in etwa auch, was sie wirklich denken, hängt weitgehend vom geistigen Klima ab, in dem sie leben; ändert sich dieses Klima, passt sich sich der eine schneller an als der andere.“

„Eine unmittelbare faschistische Gefahr“ sehen die Autoren indes gegenwärtig nicht. Verbreitete „Skepsis über die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus werde durch die Belanglosigkeit „postdemokratischer“ Politikrituale, die Einbindung des politischen Widerspruchsbegehrens in inhaltsleere Politikinszenierungen neutralisiert“.

Eine Gefahr immerhin wird darin gesehen, dass es („wie vor 1933“) gelingen könnte „Massenprotest umzulenken“ und den „Verzweifelten Orientierungsmöglichkeiten zu bieten, ohne die bestehende Gesellschaftsstruktur zu gefährden“. „Dass sie diese Effekte zu erzielen in der Lage ist, hat die AfD schon jetzt unter Beweis gestellt! Auch 1933 ‚erfolgte die Machteroberung durch die faschistische Partei mit der aktiven Unterstützung oder wohlwollenden Duldung der in der bürgerlichen Demokratie herrschenden Gruppen‘ (K. Kliem/J. Kammler/R. Griepenburg)“.

Warnend geben Sanghkakorn und Seppmann zu bedenken:

„Es ist – gelinde gesagt – naiv, aus dem leidlichen Funktionieren des Verfassungsstaates in einer politischen Schönwetterperiode auf die universale Geltung von demokratischen Prinzipien zu schließen.“

Sie treten damit Jürgen Habermas und dem von ihm gegen Rechts als Abwehrmechanismus ins Feld geführten „Verfassungspatriotismus“. Dieser sei „kaum mehr als die ideologische Spiegelung einer „Wohlstandsgesellschaft“, die ihren Zenit schon lange überschritten hat.“

Partielle Korrekturen reichen nicht. Eine große soziale Bewegung wird gebraucht

Partielle „Korrekturen“ würden an der gesellschaftlichen Situation nichts ändern, heißt es. Wohlhabende müssten „in angemessener Weise an den Gemeinschaftsausgaben beteiligt werden“.

Ein Bollwerk gegen den rechten Formierungsblock könne letztlich nur eine große soziale Bewegung sein, welche mehr als nur Aufklärungsarbeit leiste und deshalb „neue Lebensperspektiven und eine realistische Zuversicht“ vermitteln müsse.

Derweil ist ein große soziale Bewegung – obwohl dazu keine Alternative bestehe -, die das leisten könne nicht Sicht. Ein Verzicht auf überschreitendes Denken, die Unentschlossenheit, die linke Kräfte heute bei der Entwicklung einer sozialistischen Alternative samt gesellschaftsverändernden Konzepten als Voraussetzung ihrer Durchsetzung an den Tag lege, spiele und arbeite den restaurativen Kräfte in die Arme“.

Auf der Rückseite der Broschüre lesen wir:

„Die vor allem unter Rot-Grün forcierte sozialdarwinistische Politik – Stichwort Agenda-Politik – war das neoliberale Treibhaus, in dem der Zustand der Verwirrung und Desorientierung in Politik und Gesellschaft befördert wurde. Das inhumane Weltbild der neuen Rechten stellt die ‚alternativlose‘ Fortsetzung einer visionslos gewordenen Politik dar, die Symptome statt Ursachen und Opfer statt Täter bekämpft.“

Gleichzeitig wirft die Broschüre freilich die Frage auf – bzw. beantwortet diese – warum von den negativen gesellschaftlichen Entwicklungen in Folge eines rücksichtslosen Neoliberalismus nicht die linken Kräfte profitieren.

Unbedingte Leseempfehlung!

Die Broschüre:

Peter Rath-Sangkhakorn/Werner Seppmann

Aufstand der Massen?

Rechtspopulistische Mobilisierung und linke Gegenstrategien

72 Seiten, 5 Euro

pad-Verlag – Am Schlehdorn 6 – 59192 Bergkamen / pad-Verlag@gmx.net

ISBN 978-3-88515-282-8