Warnstreik der Beschäftigten des ÖPNV wegen verantwortungsloser Arbeitgeber. Ein Bericht aus Dortmund

Im bundesweiten Tarifkonflikt um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) hat ver.di heute mit einem zweiten Warnstreiktag in NRW den Druck auf die kommunalen Arbeitgeber erhöht, da die kommunalen Arbeitgeber (VKA) weiterhin nicht in Verhandlungen über einen bundesweiten Rahmentarifvertrag eintreten wollen. Nachdem bereits in der vergangenen Woche flächendeckend gestreikt wurde, nahmen am heutigen Donnerstag (8. Oktober) rund 13.000 Beschäftigte am ganztägigen Warnstreik teil. Auch in Dortmund standen am Donnerstag die Räder aller öffentlichen Verkehrsmittel still. Um 12 Uhr fand am DSW21-Betriebshof in Brünninghausen eine von ver.di organisierte Kundgebung statt. Das Bündnis „Dortmund Vereint: Für gutes Klima und gute Arbeit! Solidaritätsbündnis für attraktiven ÖPNV mit attraktiven Arbeitsbedingungen“ unterstützte die Kolleg*innen von DSW21 solidarisch. Sie revanchierten sich: Beim Klimastreik am 25.9. waren nämlich Gewerkschafter*innen stark vertreten gewesen.

Das Klimabündnis Dortmund unterstützte die Streikenden solidarisch. Fotos: C. Stille

Michael Kötzing erklärte, warum man zum Teufel mitten in einer Pandemie streiken „müsse“

Für manche Medien, Politiker und auch Menschen aus der Bevölkerung kommen ja bekanntlich Streiks immer ungelegen. Diesmal, sagte der Gewerkschafter Michael Kötzing, hört man da und dort schon einmal den Ausspruch: „Warum zum Teufel muss man denn gerade in mitten in einer Pandemie streiken?“ Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute, die viel Verständnis für die Streikenden und ihre berechtigten Forderungen haben. Der Dortmunder Ver.di-Bezirksgeschäftsführer Michael Kötzing kritisierte die Berichterstattung mancher Medien. Kötzing stellte klar: „Wir wollten diese Tarifrunde jetzt nicht.“ Es werde, sagte er in Brünninghausen, leider oft nicht mitgeteilt, dass die Gewerkschaft den Arbeitgebern (VKA) bereits im Juli vorgeschlagen habe die Tarifverhandlungen auf einen Zeitpunkt nach der Pandemie im kommenden Jahr zu verschieben. Für jetzt habe man lediglich um einen Inflationsausgleich als Einmalzahlung für die Beschäftigten gebeten. Das aber hätten die Arbeitgeber schnöde ignoriert. Es habe keinerlei Debatte über die Gestaltung eines Inflationsausgleichs gegeben. Auf den Hinweis der Gewerkschaft, dass man doch noch vor Wochen Wertschätzung für die Beschäftigten gefordert habe und für sie von Balkonen herab geklatscht habe, erhielt man eine unverschämte Reaktion. Der Verhandlungsführer des VKA lapidar dazu, so berichtete Kötzing: „Ein sicherer Arbeitsplatz ist doch Wertschätzung genug.“ Kötzing nannte das Tun der Arbeitgeber: „Eine bodenlose Frechheit und eine Verantwortungslosigkeit!“

Kötzing: „Sie wollen an das Portemonnaie der Beschäftigten und den Gewerkschaften den Rücken brechen“

Die einzige Möglichkeit dagegen anzugehen, sei, so Michael Kötzing, das grundgesetzlich geschützte Streikrecht.“ Die Arbeitgeber handelten seines Erachtes aus zwei Gründen so, meinte Kötzing. Sie hätten die Erwartungshaltung, die Mobilisierung der Kollegen gelinge nicht. Zum anderen rechneten sie damit, dass die Medien und die Bürger keinerlei Verständnis für diese Streiks aufbringen. Aber Streiks im öffentlichen Dienst würden nun einmal in der Öffentlichkeit gewonnen oder verloren. Kötzing bat die Kolleg*innen auch in den sozialen Medien zu kommunizieren, dass die Gewerkschaft jetzt diese Tarifauseinandersetzung nicht hätten haben wollen. Aber die Arbeitgeber suchten halt den Konflikt. Kötzing: „Sie wollen an das Portemonnaie der Beschäftigten und sie wollten den Gewerkschaften den Rücken brechen.“

Michael Kötzing

Leider kommunizierten viele Medien diese Wahrheiten nicht. Dass die Gewerkschaft nur 4,8 Prozent mehr Lohn bzw. 150 Euro Mindestbetrag fordere, sei ein Signal dafür, Verständnis zu zeigen, dass die Steuereinnahmen in den letzten Monaten massiv weggebrochen seien.

Die Arbeitergeber aber blieben stur. Den Kolleg*innen erklärte er: „Da könnt ihr euch eine Vorstellung davon machen, wer diese Pandemie refinanzieren soll! Ihr sollt ein Teil dieser Pandemie refinanzieren. Dabei gebe es – Stichwort: Steuerpolitik – eine Menge anderer Möglichkeiten. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes aber dürften dafür nicht herhalten.

Der Gewerkschafter sprach Tacheles: Mit uns gibt es keine Nullrunden!

Bedauerlicherweise seien die Arbeitgeber in der Tarifauseinandersetzung noch immer nicht bereit über Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im ÖPNV überhaupt zu verhandeln. Weshalb ver.di auch in Dortmund erneut zu Streiks aufgerufen habe, beklagt die Gewerkschaft. Seit zwanzig Jahren schon sage man den Arbeitergebern, dass die Personalprobleme vielleicht mit gerechter Entlohnung und guten Arbeitsbedingungen zu tun haben könnten. Doch begriffen hätten sie es bis heute nicht. Ein Skandal nannte es Michael Kötzing, dass die Arbeitergeber stattdessen „Sonderopfer“ von den Beschäftigten – auch beim ÖPNV, weil es Einnahmeausfälle beim Ticketverkauf gebe – forderen. „Wenn es im öffentlichen Dienst so etwas wie Sozialpartnerschaft gegeben haben sollte, dann sage ich an dieser Stelle ganz offen: Das hat mit Sozialpartnerschaft überhaupt nichts mehr zu tun, was im Augenblick passiert.“ ÖPNV buchstabiert Michael Kötzing inzwischen so: „Öffentliches Personal Nicht Verarschen!“ Wer den Konflikt mitten in der Pandemie will, der kriege in mitten in der Pandemie, machte der Gewerkschafter unmissverständlich deutlich. Und er versprach: „Wir sehen uns in der nächsten Woche in der Dortmunder Innenstadt! Mit Abstand, aber wieder mit tausenden Kollegen des Öffentlichen Dienstes. Und in der darauffolgenden Woche wieder in der Innenstadt! Mit uns gibt es keine Nullrunden!“

Ein gerechter ÖPNV, eine gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen hat auch etwas mit der Klimawende zu tun

Kirsten Rupieper, ver.di – Fachbereichsleiterin für Verkehr, hatte die Beschäftigten auf dem Betriebshof willkommen geheißen und dabei besonders herzlich die Abordnung „Dortmund Vereint: Für gutes Klima und gute Arbeit! Solidaritätsbündnis für attraktiven ÖPNV mit attraktiven Arbeitsbedingungen“ begrüßt. Die Gewerkschaft ver.di ist Mitglied im Klimabündnis und hat sich selbst auch schon solidarisch an Aktionen dieser Aktivisten beteiligt. Nun standen sie den DSW21-Leuten solidarisch bei. Rupieper betonte, das ein gerechter ÖPNV, eine gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen auch etwas mit der Klimawende zu tun hätten, da man so mehr und gutes Personal bekäme und die Klimawende entsprechend gelingen könne. Rupieper unterrichtete die Kolleg*innen über den Stand der Dinge.

Kirsten Rupieper.

Kirsten Rupieper an die sturen Arbeitgeber: „Kommt endlich aus den Puschen und redet mit uns!“

Ein Stellvertreter des DSW21-Betriebsrates wies darauf hin, dass der Hintergrund des Streiks ausschließlich die Verhandlungsverweigerung der Arbeitgeber sei. Der VKA habe den Tarifkampf ausdrücklich zum jetzigen Zeitpunkt gewollt. Das empfinde man „als unverschämt und zynisch“, so Martin Mürmann. Die Arbeitgeber rechneten offenbar mit dem Unverständnis der Bürgerinnen und Bürger und darüber hinaus damit, dass es in der Corona-Krise nicht gelänge alle Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Das sei aber nicht eingetreten, sagte Kirsten Rupieper. Bei den vorangegangenen Streiks hätten sich bundesweit beim ÖPNV-Streik über 80 Prozent der Betriebe beteiligt. Leider aber hätten die Arbeitgeber wohl nicht verstanden. Auf eine erneute Verhandlungsaufforderung der Gewerkschaft hätte der VKA schlicht nicht reagiert und die Frist verstreichen lassen. Kirsten Rupieper empfindet es als skandalös, dass, wenn ein Busfahrer am Feierabend mit 15 Minuten Verspätung auf den Hof fahre, keinen Cent mehr bekäme. Und das sei durchaus nicht selten. Aber als Arbeitszeit gelte das nicht. Das müsse geändert werden. Auch, dass Mitarbeitern, die unter dem Jahr krank gewesen seien, die Jahresendzahlung gekürzt werde, sei empörend. Dabei erwarte man, dass die Leute womöglich mit Fieber und Erkältung zu Arbeit gingen, weil Leute fehlten. Nicht weniger skandalös sei das Ansinnen der Arbeitergeber die Unkündbarkeit aus den Tarifverträgen zu streichen. Den Arbeitgebern rief Rupieper zu: „Kommt endlich aus den Puschen und redet mit uns!“

Stellvertretender DSW21-Betriebsratsvorsitzender: Der Druck auf die Arbeitgeber müsse unbedingt erhöht werden: „Schluss jetzt mit Streik light!

Der VKA, so Mürmann weiter, trüge ihre Verhandlungsverweigerung auf den Rücken der Fahrgäste aus. Noch vor wenigen Wochen, so erinnerte der Betriebsrat, hätten die Arbeitgeber den Beschäftigten noch vollmundig gedankt und sie „Helden des Alltags“ genannt „und aus sicherer Entfernung auch mal geklatscht“.

Mürmann dazu: „Aber Klatschen reicht nicht. Unsere Belastungsgrenze ist erreicht.“ Seit dem Jahr 2000 seien 15.000 Stellen im ÖPNV abgebaut worden, dass Fahrgastaufkommen jedoch im gleichen Zeitraum um über 25 Prozent angewachsen. Es sei ein hoher Krankenstand zu beklagen. Fachkräfte fehlten. Die Mitarbeiter*innen hätten ein Durchschnittsalter von 49 Jahren.

Martin Mürmann.

Der Druck auf die Arbeitgeber müsse unbedingt erhöht werden: „Schluss jetzt mit Streik light! Es gilt jetzt in den nächsten Wochen Außenpräsenz zu zeigen. Wir müssen den Wall sperren und große Kundgebungen auf dem Friedensplatz machen.“

Die Gewerkschaft ver.di fordert in dem Tarifkonflikt für bundesweit 87.000 Beschäftigte einheitliche Regelungen in Fragen wie Nachwuchsförderung, Entlastung sowie den Ausgleich von Überstunden und Zulagen für Schichtdienste

Peter Büddicker, Fachbereichsleiter Verkehr in NRW erklärte in einer Pressemitteilung: „Die Beschäftigten in NRW stehen hinter der Forderung einer bundesweiten Vereinheitlichung der Bedingungen im öffentlichen Nahverkehr. Das haben sie mit der erneut sehr hohen Beteiligung, die sogar eine Steigerung zur vergangenen Woche darstellt, klar gezeigt. Krankmachende Arbeitsbedingungen müssen der Vergangenheit angehören, denn nur mit einem gestärkten ÖPNV kann die dringend benötigte Mobilitätswende gelingen. Wir fordern die Arbeitgeber deshalb erneut auf, sich mit uns an den Verhandlungstisch zu begeben!“ 

Die Gewerkschaft ver.di fordert in dem Tarifkonflikt für bundesweit 87.000 Beschäftigte einheitliche Regelungen in Fragen wie Nachwuchsförderung, Entlastung sowie den Ausgleich von Überstunden und Zulagen für Schichtdienste. Darüber hinaus soll die Ungleichbehandlung in den Bundesländern beendet und zentrale Regelungen wie 30 Urlaubstage oder Sonderzahlungen künftig bundesweit vereinheitlicht werden. Mit einer Forderung für Auszubildende sollen Anreize zum Einstieg in den Beruf und zur Nachwuchsförderung geschaffen werden. Seit März fordert die Gewerkschaft hierzu die Verhandlung eines bundesweiten Rahmentarifvertrages. Am 19. September hatte sich die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) gegen die Aufnahme von Verhandlungen ausgesprochen. 

Die Beschäftigten im kommunalen Nahverkehr in NRW sind auch von der parallel laufenden Entgeltrunde im öffentlichen Dienst betroffen, da Entgeltsteigerungen in der Vergangenheit an diese gekoppelt waren. In der ersten Verhandlungsrunde am 18. September gab es noch kein verhandlungsfähiges Angebot. Die Positionen lagen vor allem in der Einschätzung zu Belastungen und ungleicher Bezahlung für gleiche Arbeit noch stark auseinander.

Hinweis: Für den morgigen Freitag (9. 10.) ist die zweite Verhandlungsrunde zum Spartentarifvertrag Nahverkehr in NRW mit den kommunalen Arbeitgebern in NRW (KAV NW) in Bochum geplant. Ab 09:30 Uhr werden Beschäftigte vor dem Verhandlungsort in Bochum (Bogestra, Engelsburg) ihre Unterstützung für die Verhandlung zum Ausdruck bringen. Die Verhandlungen beginnen gegen 10:00 Uhr.

Solidaritätserklärung mit den streikenden Beschäftigten im ÖPNV des Bündnisses „Dortmund Vereint: Für gutes Klima und gute Arbeit! Solidaritätsbündnis für attraktiven ÖPNV mit attraktiven Arbeitsbedingungen“

Anlässlich der bundesweiten Tarifverhandlungen im ÖPNV hat die Gewerkschaft ver.di für Donnerstag zu erneuten Warnstreiks in Dortmund und ganz Nordrhein-Westfalen aufgerufen. Fridays for Future Ortsgruppe Dortmund, das Klimabündnis Dortmund, Attac Gruppe Dortmund, Greenpeace Dortmund, DIE GRÜNEN Kreisverband Dortmund sowie DIE LINKE Kreisverband Dortmund veröffentlichten heute eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich mit den Warnstreiks der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft ver.di solidarisieren und die Politik auffordern, jetzt in Personal und Infrastruktur des Öffentlichen Nahverkehrs zu investieren.  

Das Bündnis ruft auch zu einer Solidaritätskundgebung auf. Am Donnerstag um 12.00 Uhr am DSW21 Betriebshof Brünninghausen, Stockumer Str. 60, 44225 Dortmund, treffen sich die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivsten um gemeinsam mit den Beschäftigten des ÖPNV für gute Arbeit und gutes Klima zu demonstrieren. Die Aktionen erfolgen unter Einhaltung der Corona-Maßnahmen.

Text der Solidaritätserklärung:

Wenn wir die Klimakatastrophe noch stoppen wollen, müssen wir den Autoverkehr deutlich reduzieren.  Nur mit einem guten öffentlichen Nahverkehr können die  CO2-Emissionen im Verkehr deutlich verringert und damit dafür gesorgt werden, dass der Verkehrsbereich endlich seinen Beitrag  zur Einhaltung der Pariser Klimaziele beiträgt. Gute Bus- und Bahnanbindung mit kurzen Wartezeiten, verlässlichen Anschlüssen, dichterer Taktung, neuen Haltestellen und Linien sind Voraussetzung für das Gelingen der Mobilitätswende.
Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr:  ausreichende Personalausstattung und gute Bezahlung. Die Arbeitgeber haben in den laufenden Tarifverhandlungen die Chance einen ersten Schritt zu machen, indem sie bundesweit attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Leider geben sie bisher kein Signal, dies auch zu tun.
Es ist deshalb nachvollziehbar und notwendig, dass Beschäftigte gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di mit Warnstreiks auf den Stillstand bei den Verhandlungen reagieren.. Als Fahrgäste sind Streiks im Nahverkehr für uns alle zunächst natürlich anstrengend, aber wir alle profitieren von ausgeruhten und gut entlohnten und damit motivierten Bus- und Bahnfahrer*innen. Wir unterstützen die Bus- und Bahnfahrer*innen in ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen: Volle Solidarität mit unseren Klimaretter*innen!
Wir fordern die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen auf, jetzt zu investieren, damit die Nutzung des ÖPNVs für alle Bürger*innen und die Arbeitsbedingungen von Bus- und Bahnfahrer*innen attraktiv werden. So kann die Mobilitätswende endlich vorankommen. Dann können wir die Klimakatastrophe noch aufhalten.

Unterzeichner*innen aus Dortmund:

Fridays for Future Ortsgruppe Dortmund
das Klimabündnis Dortmund
Attac Gruppe Dortmund
Greenpeace Dortmund
Die Grünen Kreisverband Dortmund
DIE LINKE Kreisverband Dortmund

Unterzeichnerinnen deutschlandweit:

fridays for future Germany 
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)
Campact
BUNDjugend 
Naturfreunde 
attac
Grüne Jugend Berlin 
PowerShift e.V. – Verein für eine ökologisch-solidarische Energie- & Weltwirtschaft 
Sand im Getriebe
Parents for future München 
Linksjugend Solid 
Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 
Verkehrswendebündnis Köln
Die Linke. SDS

Das Bürgerticket, ein Beitrag zur Verkehrswende? Dr. Gregor Waluga referierte in Dortmund

Dr. Gregor Waluga. Foto: Claus Stille

Die Veranstalter Crossover Dortmund*, Attac Dortmund, DGB Dortmund-Hellweg und Nachdenktreff hatten am vergangenen Montag zu einem Vortrag von Dr. Gregor Waluga (Wuppertal Institut) in die Auslandsgesellschaft in Dortmund eingeladen.

*Crossover Dortmund besteht aus aktiven Mitgliedern aus folgenen drei Parteien in Dortmund:

Bündnis 90 / Die Grünen, Die Linke, SPD.

Hintergrund

Die Weiterentwicklung und Nutzung des ÖPNV ist ein zentraler Baustein der sich unbedingt nötig machenden Verkehrswende. Wie aber kann es gelingen das Nahverkehrsangebot massiv auszuweiten, trotzdem bezahlbar zu bleiben und mehr Menschen zu dessen Nutzung zu bewegen? Der Vortrag zum Thema: „Das BürgerTicket für den Nahverkehr“ skizzierte eine alternative Finanzierungsform des ÖPNV mit automatisch freier Nutzung des Nahverkehrs.

Zum Referenten

Dr. Gregor Waluga ist Diplom-Geograph und war Doktorand am Wuppertal Institut, Referent bei der ÖPNV Enquetekommission im Landtag NRW. Er hat beim Hamburg Institut mehrere Studien und Rechtsgutachten zu alternativen ÖPNV-Finanzierungsinstrumenten mitverfasst.

Hinweis: Gregor Walugas Diplomarbeit unter dem Titel „Zentrenerreichbarkeit mit öffentlichem Nahverkehr in Rheinland-Pfalz“ ist hier nachlesbar.

Dr. Gregor Waluga gilt als renommierter Forscher betreffs des Themas „Bürgerticket“

Für viele Studierende an deutschen Universitäten ist es geradezu unverzichtbar während Studiums, den Öffentlichen Personennahverkehr nutzen zu können. Zumal sie an vielen Unis einen Teil des Semestergebühren für den ÖPNV in der Kommune und dem Land zahlen, nutzen sie so ein Bürgerticket im Kleinen.

Gregor Waluga, ehemaliger Doktorand am Wuppertal Institut hat zum Bürgerticket seine Doktorarbeit verfasst. Er gilt als ein renommierter Forscher betreffs des Themas Bürgerticket. In Dortmund referierte er über die Relevanz des Themas, die Finanzierung und das Real-Experiment, das Grundlage seiner Arbeit war.

Ein trockener Stoff. Nicht einfach für das zahlreich im Großen Saal der Auslandsgesellschaft versammelte Publikum. Gewiss nicht bei allen Zuhörer*innen sofort zündet bzw. in jeder Hinsicht einleuchtend.

Zum Bürgerticket und dem von Dr. Waluga ins Werk gesetzten Experiment

Das Bürgerticket ist ein Ticket für Bus und Bahn in einem bestimmten Bereich, das durch möglichst alle Bürger finanziert werden soll. Um zu testen, wie die Akzeptanz dafür aussieht, hat Waluga drei Gruppen aus je 14 Personen zusammengestellt und denen mit Hilfe von WSW (Wuppertaler Stadtwerke) und VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) Pauschaltickets für 27 Euro je Monat für die Dauer von drei Monaten angeboten. Der Untersuchungsgegenstand war den Probanden nicht bekannt

Das Ergebnis: Die Probanden haben deutlich öfter Bus und Bahn genutzt (von zehn auf 34 Prozent) und dafür das Auto stehen lassen (von 73 auf 55 Prozent) — wer ein Ticket hat, der nutzt es offenbar auch. .Nach dem Experiment ging jedoch die Nutzung in Wuppertal wieder auf den Ursprungswert zurück. Hier mehr zum Wuppertaler Experiment.

Wichtigstes Ziel des Bürgertickets: Es sollen weniger Autos fahren und damit weniger CO2 ausgestoßen werden, mehr Platz in der Stadt entstehen, sowie mehr Busse und Bahnen fahren.

Laut Dr. Waluga hat sich herausgestellt: Es ist durchaus nicht so, dass die Bürger nicht für den ÖPNV zahlen wollten. Aber das Angebot müsse dafür auch besser werden. Waluga: „Um 20 Prozent mehr ÖPNV-Nutzung zu erreichen, müssen 50 Prozent mehr Busse fahren.“

Grundlage für das Bürgerticket sei eine solide Finanzierung. Bisher werde der ÖPNV z.B. in Wuppertal durch öffentliche Mittel, Querfinanzierung durch die Energiesparte der WSW und die Erlöse von Bus und Bahn finanziert. Wie und in welcher Höhe die Bürger eine der Säulen auffangen könnten, müsste diskutiert werden, so Waluga. „Administrativ ist die Umsetzung kein Problem, die Politik muss es aber wollen.“ Man müsse aber auch mehr in den ÖPNV investieren, um diese Verkehrsform interessanter zu machen. Tarifgrenzen beispielsweise stünden der heute üblichen Mobilität grundsätzlich im Wege.

Kölner Studie zum ÖPNV: Weniger Stau, mehr Arbeitsplätze, sauberere Luft und weniger Verletzte durch Busse und Bahnen als durch Pkw

Eine Kölner Studie geht von einem Plus von 5,30 Euro pro investiertem Euro in den ÖPNV aus — durch weniger Stau, mehr Arbeitsplätze, sauberere Luft und weniger Krankheiten. Vor allem gebe es weniger Verletzte durch Busse und Bahnen als durch Autos.

Auch würde ein Bürgerticket das Tarifsystem vereinfachen — ganz ohne Tarife, Waben und Geltungsbedingungen. „

Gerade gebe es eine Wechselstimmung (gewiss nicht zuletzt durch die akuelle Klimadiskussion) auch, weil viele junge Menschen nicht mehr zwingend ein Auto haben wollten. Das sei eine Chance, meinte Waluga. Eine Chance auch auf eine vernünftige Verkehrswende?

Screenshot via pdf SPD Siegen-Wittgenstein, Folie Dr. Gregor Waluga.

Grundsätzlich unterstütze er das Konzept „Bürgerticket“, sagte Waluga. „Der ÖPNV wird allein wegen des Klimaschutzes immer wichtiger.“

Von einem Nulltarif hält Dr. Gregor Waluga nichts

Führen die Menschen denn mehr mit dem Bus, wenn die Fahrt kostenlos ist?

Das Stichwort „Bürgerticket“ mag bei manch einer/einem auch impliziert haben, es ginge an diesem Abend um ein kostenloses Ticket für den Nahverkehr. Gregor Walugas Vortrag aber machte klar, dass es das nicht der Fall und auch nicht Intension seiner Doktorarbeit war. Nebenbei streute er das (angeblich) von Albert Einstein stammende Zitat ein: „Was nichts kostet, ist nichts wert.“

(Albert Einstein hat sich dieses Sprichwort am 20. Juni 1927 notiert, aber es ist wohl doch nicht korrekt, es als Einstein-Aphorismus zu bezeichnen, da das Sprichwort schon Jahrzehnte vor seiner Geburt im Jahr 1848 eine bekannte Maxime war, und zum Beispiel im Württembergischen Landtag zitiert wurde. Zwanzig Jahre später verfasste Einstein folgenden Aphorismus: „Die besten Dinge im Leben sind nicht die, die man für Geld bekommt.“) Quelle: falschzitate.blogspot)

Einem Nulltarif erteilte Waluga somit eine klare Absage: „Das Bürgerticket kostet etwas.“ Fast alle Bürger zahlen dabei einen monatlichen Beitrag und erhalten dafür eine Fahrtberechtigung für den ÖPNV. „Ein Semesterticket für alle Bürger“ sei das Bürgerticket gewissermaßen, erklärte der Experte. Grundsätzlich sei das Bürgerticket kein Zwangsticket, sondern eine Zwangsverfügbarkeit. Die Zahlung motiviere zur Nutzung.

Bürgerticket – wie finanzieren?

Im Zentrum der Diskussion um ein Bürgerticket steht die Frage nach der Finanzierung. Auf der Kostenseite stehen der Geltungsbereich, eine eventuelle Kontingentierung, mögliche Zusatzmodule oder auch der gewünschte Takt. Bei der Finanzierung müssten laut Waluga vor allem die Kompensation von Finanzierungssäulen, eine denkbare Drittnutzerfinanzierung und auch die Anzahl der Zahlungspflichtigen beachtet werden.

Auch der Geltungsbereich müsse bedacht werden. „Gilt das Ticket in der Stadt, im Verbund, im Bundesland oder deutschlandweit?“ Hier sei derzeit wohl nur eine regionale Lösung möglich, die jedoch die Akzeptanz einschränke. In jedem Fall müsse der ÖPNV ausgebaut werden, was deutliche steigende Gesamtkosten zur Folge haben werde.

Lösung Bürgerticket?

Zurzeit wird der ÖPNV aus sehr unterschiedlichen Töpfen finanziert. Das Fahrgeld macht nur etwa 43 Prozent aus, der Rest wird direkt und indirekt durch Steuern finanziert. Gleichzeitig gelte der ÖPNV, sagte Waluga, als teuer und kompliziert. Hier könne ein einfach funktionierendes Bürgerticket helfen, zeigte sich Waluga sicher.

Rechtliche Grundlagen

Dr. Gregor Waluga. Foto: Claus Stille

Ähnlich wie bei der Rundfunkgebühr könne ein für alle Bürger verpflichtender ÖPNV-Beitrag aber wohl nur dann erhoben werden, wenn diesem ein entsprechendes Angebot gegenübersteht. Bei der Rundfunkgebühr muss eine „Mindestqualität“ geboten werden. Für das Bürgerticket bedeute dies, dass Mindestbedienungsstandards festgelegt werden müssen. Nötig ist auf jeden Fall ein Infrastrukturausbau. Die Landesgesetzgebung muss angepasst werden. Waluga geht von mindestens zehn Jahren notwendigen Vorlaufs aus.

Ein Beispiel, Osnabrück betreffend: So könnten die Bürger aus vielen Landgemeinden zwar problemlos mit dem Bus ins Osnabrücker Theater fahren – kommen nach der Vorstellung aber nicht mehr nach Hause. Der Wissenschaftler sieht vor allem die Politik in der Verantwortung. Sie müsse den Mut haben, ein neues System für den ÖPNV einfach einmal auszuprobieren.

Zum selber nachlesen

Finanzierungsmöglichkeit Bürgerticket. Kosten – Nutzen – Klimaschutz

Dr.-Ing. Gregor Waluga SPD Siegen-Wittgenstein„Alternative Finanzierungsmöglichkeiten des ÖPNV“ 27. Oktober 2017, Siegen. Quelle: SPD-Fraktion Siegen-Wittgenstein