Abgeschleppt. „Bist du verrückt? Das sind ja Russen!“

Vorwort

Es war einmal. In den 1980er Jahren der DDR…

Unsere Besatzungsmacht war die UdSSR. Während die Besatzungsmächte in Westdeutschland USA, Großbritannien und Frankreich hießen. Was meine Heimatstadt Halle an der Saale anbelangt, so war sie zunächst von amerikanischen Truppen besetzt worden. Perladesa informiert: Dass die Sowjetunion des Josef Stalin schon bald Halle/Saale übernehmen würde, soll schon vor Kriegsende zwischen den Alliierten ausgehandelt worden sein. Im Juli 1945 rückte dann die 8. Gardearmee der Roten Armee, die als 62. Armee Stalingrad verteidigt hatte, in die Stadt Halle ein.

Die „Russen“. Das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zu ihnen war durchaus ambivalent

Ich wurde also unter Besatzung der UdSSR groß. Die „Russen“ wie es im Volksmund immer pauschal hieß, bekam man – was Soldaten anging – nur in jeweils von einem Offizier geführten Gruppen zu Gesicht. Einzeln konnten sie nicht in Ausgang gehen. Ansonsten galten sie manches Mal als Ärgernis. Etwa wenn sie mit ihren Panzern durch unsere Straße rumpelten. Deren Ketten hinterließen kräftige Spuren auf dem Asphalt. Oder zerknackten die Betonplatten, in welchen die Straßenbahnschienen verliefen, in Stücke. Manche Leute schimpften: „Da waren wohl die «Freunde« wieder unterwegs.“ Ein anderes Wort für die sowjetischen Besatzer. Schließlich waren sie unsere Freunde, weil sie uns befreit hatten. Propagandistisch verordnet wurde das an allen Ecken und Enden der DDR mittels Plakaten verkündet: „Die Freundschaft mit der Sowjetunion ist unverbrüchlich“.

Die Stimmung in der DDR-Bevölkerung gegenüber den «Russen« durchaus ambivalent. Manche Leute hassten sie, anderen wiederum waren sie gleichgültig. Aber es gab ihnen bzw. der Sowjetunion gegenüber durchaus auch freundschaftliche Gefühle. Vor allem, wenn man sowjetische Menschen persönlich kennengelernt hatte. Zuweilen rauschten auch Lkws, vollbesetzt mit sowjetischen Soldaten durch die Stadt. Oft winkten sie den Passanten freundlich zu. Es wurde ihnen auch ebenso freundlich zurück gewunken. Nicht selten raunten Passanten dann: „Sind ja arme Schweine, die Soldaten.“ Sicher, das Soldatendasein dieser Männer, die aus allen möglichen Sowjetrepubliken – tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt – stammten, dürfte gewiss kein Zuckerschlecken gewesen sein. Aus späteren Gesprächen mit Sowjetsoldaten hörte ich jedenfalls heraus, dass sie durchaus sehr gern in der DDR waren. Angeblich bekamen sie 15 Mark pro Monat zur eigenen Verfügung. Sie sagten mir, es gebe durchaus Orte und Kasernen – auch im Inneren der UdSSR – in denen das Soldatenleben viel schlechter und weitaus beschwerlicher sei.

Die Sowjetarmee und die Kultur

Ansonsten traten in der DDR Kulturensemble, Orchester, Bands und einzelne Künstlerinnen und Künstler der Sowjetarmee immer wieder in öffentlichen Veranstaltungen auf.

Dass das Kulturleben in Halle nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auflebte, hat nicht zuletzt auch mit Wladimir Gall zu tun. Aus Mitteldeutsche Zeitung: «An einem Abend im Spätherbst 1947 begann alles: Gall war von den sowjetischen Truppen als Kulturoffizier in Halle eingesetzt worden. Blutjung war er damals, sprach fließend deutsch, liebte Goethe – und vor allem Halle. „Andere Kinder in meiner Klasse träumten von der Südsee, ich träumte von Halle“, erinnert sich der heute 87-Jährige. An seinem Namen lag das, denn: „Gall bedeutet so viel wie Halle.“ « Die Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Abschied von Wladimir Gall“

Haben wir denn rein gar nichts aus unserer Geschichte gelernt?

Warum schreibe ich das? Heute sind die Beziehungen Deutschlands zu Russland auf einen Tiefpunkt gebracht worden. Angefangen hatte das schon vor dem Ukrainekrieg. Wenn heute über Russen gesprochen wird, dann allzu oft als «RuZZen«. Verächtlich in den sozialen Netzwerken, besonders dort, wo sich woke Grüne tummeln, die offenbar völlig von Sinnen, Russen und Putin Nazis nennen. Und fast wieder in einem Ton, wie er in Hitlerdeutschland üblich gewesen war. Vor allem unsere Medien machen eine Propaganda gegen die Russische Föderation, die, weil voller Hetze, immer unerträglicher wird. Was nicht heißen soll, dass man den völkerrechtwidrigen Ukrainekrieg Russlands, rechtfertigen soll. Aber man darf immerhin fragen: Haben wir denn rein gar nichts aus unserer Geschichte gelernt? Zumal wieder einmal deutsche Leopard-Panzer mit dem Kreuz darauf in die Ukraine

rollen …

Auf der Strecke geblieben

… Nächtens auf der Fernverkehrsstraße 100 (heute B 100) gegen Viertel zwölf Uhr abends. Ich war zusammen mit meinen Kollegen der Beleuchtungsabteilung in meinem Wartburg 311 unterwegs auf dem Heimweg vom Kulturpalast Bitterfeld – wo wir eine Abstechervorstellung unseres Theater betreut hatten – zurück nach Halle an der Saale. Leichter Regen fiel. Wir hatten etwas mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns, als die alte Kiste verreckte. Den Wartburg in der fürchterlichen Farbe kackbraun hatte mir ein Mitarbeiter unseres Malsaals aufgeschwatzt. Und ich hatte ihn mir aufschwatzen lassen. Als Dreingabe erhielt einen Satz Räder. Ich habe sie nie benötigt. Des Weiteren etliche Dosen Kfz-Farbe – Grün! Ich habe den Wagen nie neu lackieren lassen.

Foto: LutzBruno Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert. Via Wikipedia.

Ich startete den Wagen neu. Nichts. Der Motor sprang nicht an. Auch weitere Startversuche blieben erfolglos. Also: Warnblinkanlage an und Motorhaube auf. Ich überprüfte die Zündkerzen. Den Ölstand etc. Sprit war auch genügend da. Nichts. Der Motor wollte nicht anspringen. Was machen? Zur nächsten Tankstelle laufen? Irgendwo telefonieren? Ich weiß gar nicht mehr, ob es auf der F 100 Rufsäulen gab wie auf der Autobahn. Die Kollegen machten lange Gesichter. Sie hatten gehofft mit mir schneller zu sein als der Bus vom VEB Kraftverkehr Halle, welcher stets vom Theater für die Rückfahrt bestellt wurde. Hinzu transportierte er die Künstler, die Requisite, die Maske, die Ankleiderinnen usw. Zurück die Künstler, Bühnentechniker und Beleuchter.

Nun mitten auf der Strecke im Regen dürften meine Kollege es bereut haben mit mir gefahren zu sein. Nun sahen sie ihre Felle wegschwimmen. Sie fürchten nun viel später als der Bus in Halle anzukommen. Die Kollegen zuppelten hier und an diversen Kabeln herum – aber einen Fehler fanden auch sie nicht. Mit guten Ratschlägen sparten sie nicht. Schließlich schlugen sie vor, den Wartburg anzuschieben. Sie schwitzten, keuchten und fluchten. Nichts davon nutzte. Ich stellte das Warndreieck auf.

An sich war der Abstecher wirklich gut gelaufen. In der Arbeitspause nach dem beleuchtungstechnischen Einrichten – die Umsetzung der halleschen Lichtstimmungen auf die Bitterfelder Anlage – der Vorstellung am Nachmittag, war ich in die dem Kulturpalast direkt benachbarte Schwimmhalle gegangen und hatte meine Runden gedreht. Mit den Kollegen und unserem Meister ging ich in dieser Pause damals schon länger nicht mehr zusammen außerhalb in eine Kneipe. Deren oft blödsinniges Gequatsche – erst recht das arrogante Gesäusel des von sich sehr eingenommen Meisters! – ging mir einfach auf den Senkel. Vor der Vorstellung fanden wir uns allerdings quasi traditionell wie immer Kulturpalast-Restaurant ein. Sie hatten eine gute Speisekarte. Meist aßen wir Zigeunersteak (darf man das überhaupt noch schreiben?). Das Mahl war stets lecker. Dazu Bier …

Nun war guter Rat teuer! Ich versuchte noch einmal zu starten. Vergeblich. Also beschlossen wir einen anderen Wagen anzuhalten, der uns vielleicht abschleppen würde. Doch entweder rauschten ein paar Autos – mein Winken ignorierend – an uns vorbei oder es kam zu dieser späten Zeit kein Wagen mehr.

Die Kollegen rauchten im Innern des Wagens. Endlich sah ich ein Scheinwerferpaar in der Ferne! Ich stellte mich hinter meinen Wartburg und winkte. Tatsächlich schien der Wagen halten zu wollen. Und ja: er fuhr langsam rechts heran. Es war ein Lkw. Als sich mich ihm näherte, sah ich, dass es ein Pritschenwagen mit Plane der Marke Sil handelte. Als der Beifahrer seine Tür öffnete, sah ich das runde, rotweiße Emblem mit den kyrillischen Buchstaben CA. Der Sil stellte sich also als Militärfahrzeug heraus. Eines der Sowjetarmee.

Ich radebrechte mit dem Beifahrer, einem Offizier recht und schlecht auf Russisch. Wir hatten zwar in Schule ab der fünften Klasse Russischunterricht gehabt, doch davon war bei mir wenig hängen geblieben. Da kam mir ein Kollege aufgeregt entgegen und zog mich beiseite und zischte mir ins Ohr: „Bist du verrückt? Das sind ja Russen!“

Ich zischte zurück: „Na und? Wie lange willst du hier noch stehen?“

Der sowjetische Offizier winkte mir. Und macht mir ein Zeichen. Ich verstand. Und holte mein Abschleppseil aus dem Wartburg. In der Zwischenzeit fuhr der Armeelastkraftwagen an, überholte meinen Pkw und setzte sich vor ihn.

Der Kollege, der mich angesprochen hatte, blies den Rauch seiner Zigarette trotzig in die Luft, trat die Kippe aus und schüttelte mit den Kopf.

Die zwei anderen Kollegen, die die angelaufenen Fenster mit der Hand frei gewischt hatten, guckten besorgt, aber auch neugierig durch das so entstandene Guckloch.

Auf der Senderstation während der Armeezeit

Ich war nicht beunruhigt. Schließlich hatte ich noch nie schlechte Erfahrungen mit russischen Soldaten gemacht. Während meines 18-monatigen Dienstes bei der Nationalen Volksarmee musste ich aller paar Wochen als Senderwart jeweils für eine Woche auf einen Sonderposten außerhalb der Kaserne. Mit einem Kameraden zusammen als Senderwache. Unsere Nachbarn waren Sowjetsoldaten aus einer dem alten Flugplatz nahegelegenen Kaserne. Sicher war uns der Kontakt zu ihnen nicht erlaubt, obwohl sie doch von den „Freunden“ – wie es stets hieß – waren. Aber es kam dennoch öfters zu Kontakten. Einmal verkaufte mir ein junger Soldat, der aus Kasan stammte, eine ganz gute sowjetische Armbanduhr. Später schenkte ich sie meiner Mutter. Andere Geschenke der „Russen“ waren sowjetische Abzeichen oder Kokarden. Einmal tauschten wir unsere NVA-Kokarden mit den sowjetischen und fuhren so später in unsere Kaserne zurück. Der Torwache fiel das nicht einmal auf.

Den unserer Senderstation benachbarten einfachen Sowjetsoldaten schenkten wir „Zwei vom Sender“ schon ab und an ein paar Flaschen Bier. Die sie heimlich austranken. Die brachte uns der Einsatzfahrer zusammen mit dem Essen, das er täglich von der Kaserne zu uns transportierte in seinem G 5 mit. Was natürlich verboten war. Ein paar Mal hatten wir kein Bier. Da ging ich in das nächste Dorf mit meiner großen schwarzen Tasche und holte dort im Konsum so viel Flaschen, wie da hinein passten. Fast der Inhalt eines Kastens. Der in der Station zurückgebliebene Kamerad musste dann, wenn von der Kaserne jemand anrief, eine Ausrede erfinden, um zu erklären, warum ich nicht anwesend war, wenn der Offizier verlangt hätte mich zu sprechen. Und wie es der Teufel wollte: Einmal geschah das tatsächlich. Ich war gerade ein paar Minuten aus dem Haus! Der Kamerad log, ich sei in der Badewanne. Ja, wir hatten von unserer Station, die sich am Ende eines einstigen Flugplatzes der Firma Juncker befand, etwa 30 Meter entfernt ein kleines Bad! Mit warmem Wasser sogar. Erhitzt musste es durch einen Badeofen werden, welcher vorher mit Kohle anzuheizen war. Der Oberleutnant, der angerufen hatte, nahm die Geschichte ab! Bis heute glaube ich, dass er in Wirklichkeit Lunte gerochen hatte, aber sozusagen beide Augen zudrückte. Wenn das anders gelaufen wäre, hätte mich das in die Militärstrafanstalt Schwedt bringen können!

Der „Pfiffikus“ und die Benzindusche

Später als Elektriker im Dienste der Energieversorgung Halle hatten wir ab und zu in einer großen Kaserne der Sowjetarmee zu tun, in die wir zu fahren hatten, wenn es dort ein größeres Problem mit der Elektrik gab. Die kleinen Reparaturen übernahm ein älterer deutscher Zivilangestellte. Der war schon Rentner. Er erzählte uns, dass er bereits früher gegen Ende der Hitler-Zeit dort gearbeitet hatte. Sie ließen ihn einfach nicht gehen, weil er die Kaserne und die elektrischen Anlagen wie seine eigene Westentasche kannte. Brauchte er Hilfe, kommandierte man ihm einen Trupp Soldaten ab und unterstellte sie dem Kasernenelektriker.

Wir hatten aber mit der Kaserne auch von außerhalb zu schaffen. Ein älterer Kollege von uns – ein wahrer Pfiffikus im Organisieren von jeglichem Brauchbaren – hatte Beziehungen zu bestimmten Wachposten der Sowjetarmee aufgenommen. Sie schritten innerhalb der Kaserne die Mauer ab. Wir fuhren also mit unserem Wagen von der anderen Seite an die Mauer heran. Unser Pfiffikus stieg auf unseren Wagen und machte den Soldaten ein Zeichen. Über diesen Kontakt kamen wir an billigen Sprit heran. Die Soldaten reichten uns 20-Liter-Plastekanister über die Mauer. Einmal war ich dran, diesen Kanister anzunehmen. Das Gewicht hatte es in sich. Ich hatte Schwierigkeiten das Behältnis anzunehmen. Ich kippelte leicht. Da schwappte mir ein Schwall Benzin über den Kopf! Ein Glück, dass niemand meiner Kollegen rauchte! Die Ursache für die Benzindusche: Der Kanister hatte keinen Verschluss! Aber alles ging gut. Wir füllten das Benzin in unsere normalen metallenen Benzinkanister um und gaben den Kanister wieder zurück über die Mauer. Auf diese Weise hatten die Kollegen immer einmal eine Ration Benzin für ihren Trabant für kleines Geld. Und ich für mein Moped der Marke „Star“. Die Sowjetsoldaten erhielten im Tausch etwas Geld, für die sich im Magasin Zigaretten kaufen konnten …

Gen Halle!

Nachdem ich mein Abschleppseil an der dafür vorgesehenen Öse an meinem Wartburg befestigt hatte, hatte auch der Fahrer des Sil, ein einfacher Soldat, das andere Ende an der Kupplung an der Rückseite des Lkw befestigt. Ich machte ihm klar, er sollte schön langsam anfahren, bis das Seil straff sein würde. Und dann auf mein mit der Lichthupe gegebenes Signal langsam anfahren. Es regnete nach wie vor. Der Soldat fuhr tatsächlich vorsichtig an. Das klappte hervorragend! Ich nahm den Fuß von der Bremse und wir fuhren an. Wir rollten gen Halle! Die bislang immer noch besorgt dreingeblickt habenden Kollegen entspannten sich etwas und zündeten Zigaretten. Na, also, dachte ich! Dann aber passierte es: Der Militärtransporter hatte kurz abgebremst. Der Chauffeur hatte wohl gekuppelt und einen höheren Gang eingelegt. Das Seil wurde ein wenig schlaff. Ehe ich mich versah, machte der Lkw ein Satz nach vorne. Der Fahrer musste Gas gegeben haben. Zuviel. Dann fiel er wieder ein Stück zurück. Ich versuchte leicht abbremsend auszugleichen. Doch dann machte der Lkw ein noch heftigeren Satz nach vorn und das Abschleppseil löste sich, durch die Luft flippend, vom Lkw! War es gerissen? Meine Kollegen waren nicht weniger erschrocken als ich. Der Lkw fuhr weiter! Ich betätigte mein Signalhorn und mehrmals die Lichthupe. Nichts! Ich verfuhr verzweifelt mehrfach so. Der Lkw fuhr – zwar nicht schnell – weiter. Wollten die uns quasi in der nächtlichen Pampa zurücklassen? Wieder betätigte ich abwechselnd beide Hupen, die akustische und die optische. Endlich stoppte der Sil. Fahrer und Offizier stiegen aus. Ich ebenfalls. Erleichtert stellte ich fest, dass das Seil nicht gerissen war. Weiß der Kuckuck, warum es aus der Kupplung des Lkw’s herausgeflutscht war. Schließlich hatte der Offizier eine Idee: Er schlang das Ende des Abschleppseils um den Rahmen des Lkw. Dann kam der Soldat mit einem großen Schäkel. Mit dem verband der Offizier Seil und Öse. Das hielt! Ich gab mir alle Mühe dem Fahrer einzuschärfen, jegliches heftiges Anrucken zu vermeiden und dann ja bloß sachte zu fahren. „Da, da!“ versicherten mir der Sowjetsoldat bejahend. Also: ein neuer Versuch konnte starten.

Es ging tatsächlich gut. Wir hatten uns offenbar eingespielt. An der Ampel an der Abfahrt der F 100 an der Dessauer Brücke, wo es dann nach links über die Straßenbahnschienen in die Stadt geht, war glücklicherweise grün. Der Fahrer des Sil nahm die Kurve vorsichtig. Ich schwitzte mit dem Fuß auf der Bremse Blut und Wasser, um jeder Zeit eingreifen zu können. Ein Stück nach einer Linkskurve sah ich den Arm des Offiziers, welcher mir aus dem Fenster der Beifahrertür ein Zeichen machte, dass wir stoppen sollten.

Dann kam er zu mir. Ich war ausgestiegen. Klar! Ich musste ihm ja sagen, wohin ich überhaupt wollte. Der Offizier sagte, wo ihr Ziel war. Das sowjetische Krankenhaus am Mühlweg. Das lag nicht sehr weit von der Straße, wo ich wohnte. Ich zeigte ihm eine Abkürzung. Schließlich gab ich Lichthupe bevor die Goethestraße auf die Ludwig-Wucherer-Straße stieß. Der Sil bremste ab. Ich ebenfalls. Wir lösten das Abschleppseil von beiden Wagen. Ich machte ihm klar, dass ich den Wartburg stehenlassen würde. Und den Rest des Weges zu meiner Wohnung zu Fuß gehen wolle.

Die anderen zwei Soldaten waren nun auch zu uns herangekommen. Ich drückte allen herzlich die Hände und umarmte sie abwechselnd. Dann kramte ich in meiner Hosentasche. Dort fand ich zwanzig Mark. Ich hielt sie dem Offizier hin und sagte: „Spasibo!“ Er wich heftig zurück. Und sagte: „Nein, nein!“ Als ich insistierte setzte er hinzu: „Freundschaft! Druschba! Nix Geld.“ Fast wären mir die Tränen gekommen. Schließlich zeigte ich auf alle Drei: „Kauft euch etwas. Papirossa vielleicht?“ Der Offizier schüttelte immer noch den Kopf. Ich drückte ihn noch einmal und steckte ihm das Geld bei der Gelegenheit in die Uniformjacke. Dann wies ich den dreien den Weg.

Ich hoffe sehr, dass sie damals den Weg gefunden haben und keinen Ärger von ihren Vorgesetzten bekommen haben. Dann ruckte der Sil, eine schwarze Abgaswolke ausstoßend an und fuhr davon. Wir drei winkten dem Lkw von der Straße aus nach, der Offizier mit seinem Arm aus dem Seitenfenster des Sil, bis er auf die Ludwig-Wucherer-Straße abbog und verschwand.

Ein Kollege stieß mich an und sagte auflachend: „Das werden uns die Kollegen am Theater niemals glauben!“ Und anderer Kollege fiel in dessen Lachen ein: „Tatsächlich! Das gibt es ja in keinem Russenfilm!“ Dieser Ausspruch fiel damals öfters, wenn einem etwas passierte, das unfassbar war.

Epilog

Was werden diese Soldaten und der Offizier wohl heute machen? Wird es ihnen gutgehen? Werden sie womöglich zusammen mit ihren Familien in den russischen Fernsehnachrichten hören, dass die deutsche Regierung Leopard-Panzer in die Ukraine schickt? Aus der Geschichte oder von ihren Großvätern werden sie wissen, dass schon einmal deutsche Panzer mit dem Kreuz über die Ukraine kamen und dann weiter hinein in die Sowjetunion rollten und den Tod brachten? Was werden sie darüber denken?

Wie mir die Prager Polizei zu einem zweiten Leben verhalf. Ein aufregendes Vor-der-Wende-Urlaubserlebnis

Der Artikel in der Prager Volkszeitung. Repro: C. Stille

Und nochmals: Ein Artikelfund …

Für Judith, das Kind, das leider in den 1990er Jahren viel zu früh verstarb.

Repro: C. Stille

Ohne ihn der Mensch aufgeschmissen und verloren. Ohne ihn ist der Mensch da, existiert aber nicht, ist für die Behörden eine Null. Schon auf seiner ersten Seite stand deutlich und unmissverständlich:

Dieser Personalausweis ist ihr wichtiges Dokument. Sie haben deshalb – den Personalausweis stets bei sich zu tragen, vor Verlust zu schützen und auf Verlangen den Angehörigen der Sicherheitsorgane der Deutschen Demokratischen Republik auszuhändigen bzw. anderen dazu berechtigten Personen vorzuzeigen …“

Was sollte ich bloß machen? Ich saß gewaltig in der Patsche. Hatte ich mich nicht gewaltig auf denn Abschluss unseres Urlaubs in Prag gefreut? War nicht der bisherige Urlaub genügend aufreibend und nervenverzerrend gewesen? Bereits die Hinfahrt hatte es in sich. Einen Tag vor Antritt unserer Fahrt war mit Hängen und Würgen der Trabi vom Lackierer zurückgekehrt. Dem war es doch egal, ob ich rechtzeitig in den Urlaub fuhr oder nicht, ihm war sein saftiger Lohn sicher.

Also ließ er sich Zeit.

Vom Einbauen der Verkleidungen und der Sitze fix und fertig starteten wir knackevoll beladen.

Das Kind bekundete seine Urlaubs-Vorfreude durch ohrenbetäubendes Geschrei. Wir waren alle glücklich!

Schon an der Grenze die erste Überraschung die erste Überraschung: Etwa zwanzig Kilometer vor Zinnwald überholte uns in einer Kurve (!) ein blauer Sattelschlepper des ČSAD aus Aussig/Usti. Es ging alles sehr schnell, und bis heute ist mir unerklärlich, wie dieses Fahrzeug dermaßen rasch an uns vorbeiziehen konnte. Und das alles noch bergauf!

Der Fahrer dieses Ungetüms nahm unsere Nuckelpinne wohl nicht ernst, da er er kurzentschlossen wieder rechts einscherte. Dass uns der Spaß fast unser Leben gekostet hätte, scherte ihn scheinbar wenig.

Wir jedenfalls spürten einen gewaltigen Stoß von links, schleuderten gegen den rechten Bordstein und erhielten von ihm einen zweiten Stüber, worauf der Wagen endlich zum Stehen kam.

Kreidebleich und wir versteinert saßen wir drei da, nur das Kind schlummerte selig. Ich dachte noch: „Jetzt ist der Urlaub vorbei.“

Ein Rundgang um den Wagen ergab: nur der linke Kotflügel war hinüber. Schnell gab ich dem Gefährt die Sporen, wir mussten den Kerl aus Aussig noch an der Grenze erwischen!

In einem Trabant 601, wie diesen, fuhren wir damals in die CSSR. Foto: Joachim Reisig  / pixelio.de

An der Grenze hatte ich es dann so eilig aus dem Auto zu kommen, dass ich fast im Fahren ausstieg.

Rasch war der Sachverhalt dem Oberleutnant der Grenztruppen verklickert, doch auf die Verkehrspolizei – so meinte er – müssten wir mindestens eine Stunde warten, da unterwegs ein Unfall mit einem schwedischen PKW passiert sei. Das stimmte, wir hatten den auf dem Dach liegenden Volvo gesehen.

„Sie können sich aber auch so mit dem tschechischen Bürger einigen“, schlug der Grenzer vor.

Kriminalistisch, wie man nun einmal nach jahrelangem Genuss von „Polizeiruf 110“ oder „Major Zeman“ vorgebildet war., rückte ich mit schwer zu widerlegenden Fakten und dem Oberleutnant an meiner Seite beim Fahrer des Aussiger LKW an, um ihn zur Rede zu stellen. Eindeutig haftete an meinem Kotflügel die blaue Farbe des CSAD-Fahrzeugs und -logischerweise – an der rechten Seite seines Gefährts die meine.

Nun, was interessierte mich, dass der Bursche es eilig hatte nach Hause zu kommen, weil er in Schottland war. Musste er uns deshalb umbringen? Er palaverte etwas von „grüner Karte“, doch konnte ich mit seiner grünen Versicherungskarte meinen Kotflügel nicht reparieren. Erst einmal einen neuen kriegen!

Endlich klappte er die Brieftasche auf, die gefüllt war mit allerlei Währungen. „Neunzig?“ – Ich war doch nicht verrückt. Neunzig Kronen reichten niemals. Auch der Oberleutnant schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal war mir ein Grenzer sympathisch. Mutig geworden, setzte ich alles auf eine Karte: „Dveste korun!“ (200 Kronen; d. A.) Der Ritter der Landstraße fiel die Kinnlade herunter. Aber er zahlte, nicht aber ohne mir sein Missfallen auszudrücken: „Du musst haben ein Kotflügel von Gold …“

Hatte der eine Ahnung, was mich ein neuer Kotflügel kosten würde, falls ich überhaupt einen bekam.

Angekommen bei meinem slowakischen Freund Ivan, musste ich die Geschichte immer wieder erzählen. Wir hatten eine Menge Spaß dabei.

Wie überhaupt beim Urlaub in der herrlichen Natur. Am besten war die Ruhe. Wir genossen sie in vollen Zügen. Auch das Kind war ruhig, sehr ruhig. Seit einer guten Stunde schien es, als sei es verschwunden. Ich muss zugeben, ich wäre nicht böse gewesen, denn es war ein kleiner Teufel. Der Mutter schwante ob dieser ungewöhnlichen Stille nichts Gutes.

Als sie aus dem Haus zurückkehrte, hörte man das Kind wir am Spieße schreien. Zu mir sagte sie dann ganz ruhig: „Du musst jetzt ganz tapfer sein.“ Und da ich nickte, fuhr sie fort: „Dein Ausweis ist tausend Stücken, wie ein Puzzle.“ – „Was? Wie ein Puzzle?!“

Wie von einer Tarantel gestochen stürzte ich in das Zimmer zu dem weinenden Kind. Und da lag er, mein Ausweis, mein Personaldokument! Schon im Alter von vierzehn Jahren, als wir stolz den Ausweis überreicht bekamen, schärfte man uns ein, dass wir mit ihm sorgfältig umzugehen hätten.“

Und nun? Mir fielen die ganzen Behördengänge ein, hörte die dummen Fragen. Grauenvoll! Mein schöner Ausweis lag in unzähligen Stücken am Boden verteilt. Eine Ecke, wo noch der Geburtsort und „ledig“ zu lesen waren, konnte ich gerade noch aus dem Mund des kleinen Teufels klauben.

Natürlich hielt mich nichts mehr länger im Urlaubsort. Ich hatte keine Ruhe mehr und startete in Richtung Prag.

Je näher wir der Goldenen Stadt kamen, desto mulmiger wurde mir in der Magengegend. „Würde auf der Botschaft alles gutgehen?“

Mit klopfenden Herzen stand ich am nächsten Tag vor der DDR-Botschaft am Moldau-Kai vor einer mickrigen und unscheinbaren Tür. Mit mir warteten noch einige Vietnamesen, die offenbar ein Einreisevisum in die DDR brauchten. Endlich an der Reihe, schilderte ich mit hochrotem Kopf meine Misere, hegte die leise Hoffnung, der Genosse Diplomat würde mir ein Ersatzdokument ausstellen. Doch – weit gefehlt. Er hörte sich alles an, verzog nicht einmal die Miene, schalt mich aber auch nicht. Dann schickte er mich, mit einer fotokopierten Lageskizze, zur Polizeistelle von Prag-Mitte. Prima! Warum sollte ich nicht auch mal die Prager Polizei kennenlernen?

Ich fuhr also die Nationalstraße lang, bog in eine Seitengasse ein und stand bald vor der Machtzentrale des Reviers Mitte.

An einer Tür enträtselte ich eine Schrift, die „Diensthabender“ bedeuten konnte und hatte recht. Hinter der Glasscheibe saß ein gemütlich, aber dennoch streng wirkender Oberleutnant Mitte vierzig, der einem Mädchen sprach, das keinen besonderen Eindruck auf mich machte.

Um was es ging, war mir nicht ganz klar, vielleicht war es bestohlen worden.

Mit „Prosim, pane?“ (Bitte, mein Herr; d. Autor) wandte er sich mir zu. Radebrechend machte ich dem arg in sein Uniformhemd gezwängten Genossen mein Unglück klar. Er hatte wohl Schwierigkeiten, mir zu folgen und fragte: „Jak, prosim?“. Ich begann zu zittern und schaute mich um, ob nicht um die Ecke zwei Polizisten stehen, die mich wegen Irreführung der Behörden in Gewahrsam nehmen würden. Ich begann also noch einmal von vorn, die Reste meines Personaldokuments unter den Schlitz der Glasscheibe hin und her schiebend: „Dite, je cert, delat toto! Je nemesti! Rozumet?“ (Ein Kind, ein Teufel, tat dies. Verstehen Sie?; d. Autor)

Der Diensthabende begann schallend zu lachen und rief zwei seiner Kollegen in sein Kabuff, um sie an dieser lustigen Begebenheit teilhaben zu lassen. Vielleicht ging es sonst auf dem Revier weniger lustig zu.

Nachdem er sich vor Lachen immer noch den Bauch haltend, mir wieder zuwandte, sagte er fast väterlich-verständnisvol: „Ano, rozumim, deti, deti. Keine Problema, ja schreiben ein Papiert, ano? (Ja, ich verstehe, Kind, Kind. Kein Problem, ich schreibe ein Papier, ja?; d. Autor)

Mir fiel ein Stein vom Herzen, sofort sprudelte ich hervor: „Ano, dekuji!“ (Ja, danke; d. Autor)

Ich erhielt ein Dokument, einmalig auf der ganzen Welt, so schien mir. Geschrieben stand da, sinngemäß übersetzt: „Dem Inhaber dieses Papiers hat ein kleines Kind seinen Personalausweis kaputtgemacht.“ Unter dieser in Schreibschrift gehaltenen Erklärung prangte – wie es sich für eine anständige Polizeibehörde gehört – der prächtige Stempel der Sicherheitsbehörde.

Der neuausgestellte Personalausweis. Repro: C. Stille

Stolz war ich damals auf dieses Dokument. Leider habe ich es nicht mehr. Die Volkspolizei der DDR hat es wahrscheinlich in ihrem Archiv verschwinden lassen. Schade!

In einem Weinberger Hotel wurde das Ereignis mit einem prächtigen Tafelspitz gebührend gefeiert, wobei weiter nichts passierte, als dass dass Kind bei Tische ein Wasserglas zerbiß. Aber was ist schon ein Wasserglas gegen ein Ausweisdokument?

An der Grenze angekommen, vermochte das Prager Papier die tschechischen Grenzorgane noch einmal in Heiterkeit versetzen. Nachdem sie einem Blick auf den maly cert, den kleinen Teufel, geworfen hatten, ließen sie uns lachend passieren. Nur die Unsrigen prüften alles mit deutscher Gründlichkeit und fanden die Sache überhaupt nicht zum Lachen.

Ihr Problem, finde ich.

Erstmals erschien mein Text am 10.9.1993 in der Prager Volkszeitung (2006 eingestellt).

Beitragbild: Grafik Prager Volkszeitung

Ohrenkuss … da rein, da raus

OHRENKUSS - Chefredakteurin Katja de Braganca und mit Achim; Foto: Britt Schilling mit freundlicher Genehmigung; Ohrenkuss.

OHRENKUSS – Chefredakteurin Katja de Braganca und mit Achim; Foto: Britt Schilling mit freundlicher Genehmigung; Ohrenkuss.

Was als temporäres Forschungsprojekt der Uni Bonn vorgesehen war, behauptet sich zur Freude vieler als nicht mehr wegzudenkendes journalistisches Medium. OHRENKUSS  erfährt viel Medieninteresse.  Die Zahl der Abonennten erhöhte sich von Jahr zu Jahr. Es dürften jetzt um die 5000 sein.  Das Bonner Magazin wurde bereits mit Preisen geehrt. Im vergangenen Jahr wurde der OHRENKUSS fünfzehn Jahre alt.

Zu meiner Kindheit sagte man noch unbedacht Neger zu farbigen Menschen. Jedenfalls dann, wenn wir dieses Wort von unseren Eltern zuvor gehört und damit verinnerlicht hatten. Zumindest traf dieses Nicht-Bedenken wohl in der Regel auf uns Kinder zu. Als die wir den – bei farbigen Mitmenschen (die zu dieser Zeit im Stadtbild meiner Heimatstadt Halle zumeist nur in Gestalt von afrikanischen Studenten vorkamen), wie wir erst später lernten, freilich zu recht negativ besetzten Begriff – ja für völlig normal hielten. Die Dinge aber bleiben nicht so wie sind sind…

Die sind krank, Punkt

Ähnlich unbedacht übernahmen wir später, schon in der frühen Schulzeit, in Bezug auf ab und an im Straßenbild augenscheinlich – im Gegensatz zu uns – eindeutig anders aussehenden Menschen, andere Bezeichnungen, die heute – dem gesellschaftlich errungenen Fortschritt sei es gedankt – ebenfalls längst aus unserem Vokabular gestrichen sind. Wenn wir zu jener Zeit, wohl etwas verwirrt angesichts dieser andersartig wirkenden, uns zuweilen, meist in der Gruppe begegnenden Menschen, Erwachsene über diese befragten, erhielten wir unterschiedliche Antworten. Manche der Erwachsenen sagten uns, es handele sich um mongoloide Menschen. Und Mongolismus sei eben eine Krankheit, Punkt. Oder einfach: Die sind krank. Andere hielten diese Menschen schlicht für bekloppt. Was uns verstörte. Näher nachzufragen, getrauten wir uns nicht. Den meisten Erwachsenen wäre das wohl auch unangenehm gewesen. Das war zu spüren.

Andere Kinder ließen sich sogar dazu verleiten, die Mongoloiden zu verspotten. Man sagt: Kinder können grausam sein. Und es stimmt. Mongoloid bedeutete nichts weiter als dem Mongolen ähnlich. Später, so erinnere ich, hörte ich betreffs dieser Krankheit auch noch die Bezeichnung trisomaler Schwachsinn.

Das Down-Syndrom

Unterschiedliche Begriffe für ein und dieselbe Krankheit, die mehr oder weniger einmal entweder hier oder dort gang und gäbe waren. Inzwischen gehören sie der Vergangenheit an. Nicht nur aus Rücksichtnahme auf das Volk der Mongolen. Man spricht heute betreffs dieser genetisch bedingten Entwicklungshemmungen und Veränderungen des Erscheinungsbildes eines Menschen vom Down-Syndrom. Benannt nach dem britischen Arzt J. L. H. Down. Menschen mit Down-Syndrom haben 47 Chromosomen, eines mehr als die anderen. Bei ihnen ist das 21. Chromosom dreimal vorhanden. Weshalb man auch von einer Trisomie 21 spricht.

Katja de Bragança kam in Madrid die Idee zum Projekt OHRENKUSS

Im Allgemeinen gingen zunächst auch Experten davon aus, dass Kinder mit Down-Syndrom nicht lesen, geschweige denn schreiben können. Vorkommende, scheinbare Gegenbeweise wurden auch von Humangenetikern in der Regel so erklärt: Die Betreffenden hätten die Texte wahrscheinlich irgendwo abgeschrieben. Umso mehr staunte die Humangenetikerin Katja de Braganca, die 1987 auf einer Tagung in Madrid einem interessanten Vortrag mit dem Thema “Lesen und Schreiben – Lernen bei Kindern mit Down-Syndrom” lauscht: Plötzlich bleibt ihr Blick auf einer Overhead-Projektion haften. Darauf zu lesen ist die Geschichte von Robin Hood, geschrieben von einem Jungen mit Down-Syndrom.  Katja de Bragança   ist damals spontan begeistert. Hauptsächlich von dem witzigen Schreibstil des Autors. Auf der Stelle erinnert sie sich an die Zeit ihrer Diplom- und Doktorarbeit am Bonner Institut für Humangenetik, in der sie viele Menschen mit Down-Syndrom kennengelernt hatte. Unter ihnen befanden sich viele Jugendliche. Und es war durchaus vorgekommen, dass bei Gesprächen mit denen plötzlich jemand äußerst stolz etwas Geschriebene präsentierte. Katja de Braganca verband beide Erlebnisse. Eine Idee begann Gestalt anzunehmen: Eine Zeitschrift, gemacht von Menschen mit Down-Syndrom. Die Idee wurde in die Tat umgesetzt. Die Zeitschrift erhielt den Namen OHRENKUSS. Warum?  Es ist leicht erklärt. Ein –  “Ohrenkuss…da rein, da raus” –  ist so demonstriert: Mit dem Zeigefinger der linken Hand zum linken Ohr hin weisen. Und mit dem Daumen der rechten Hand vom rechten Ohr weg zeigen:

Michael Häger demonstriert den OHRENKUSS; Copyright mit freundlicher Genehmigung  von Ohrenkuss.

Michael Häger demonstriert den OHRENKUSS; Copyright mit freundlicher Genehmigung von Ohrenkuss.

Da rein, da raus. Was das bedeutet? Vieles geht in den Kopf hinein. Das Meiste geht aber auch wieder hinaus. Nur das Wichtigste bleibt drin. Und dies ist ein OHRENKUSS.

OHRENKUSS fand inzwischen viele Unterstützerinnen und Unterstützer
Vor Jahren sorgte Alfred Biolek , der Dr. Katja de Bragança  in seine Talkshow eingeladen hatte dafür,  dass das Projekt OHRENKUSS einem breiteren Publikum bekannt wurde. Nicht zuletzt dadurch gewann OHRENKUSS zahlreiche Förderer und hat inzwischen viele Unterstützerinnen und Unterstützer landauf landab. Und den Autoren und der Redaktion von OHRENKUSS macht die Arbeit jedesmal wieder aufs Neue Spass. Der Erfolg gibt dem Projekt recht und macht unablässig Lust, die Arbeit weiter fortzusetzen. Die Volkswagen-Stiftung föderte das Magazin. Das Projekt wurde prämiert. Es erhielt u. a. eine Auszeichnung im Wettbewerb “Demokratie leben”, seitens des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse.

Scheinbar Gewohntes mit anderen Augen neu erblicken

Den OHRENKUSS zu lesen ist jedesmal wieder ein außergewöhnliches Erlebnis. Die in dem Magazin versammelten Texte kleiden eine auf den ersten Blick ungewohnte Autoren-Sicht auf die Welt und die Dinge des Lebens in oft tief berührende Worte, welche einem als Leser so sicherlich noch nie gekommen sind und uns deshalb in die Lage versetzen können, manches – scheinbar Gewohntes – mit ganz anderen Augen völlig neu zu erblicken.

Die OHRENKUSS-Autoren schreiben ihre Texte selbst auf dem Papier oder am Computer oder diktieren sie. Auf die Schreibweise wird kein Einfluss genommen. Die Texte werden somit auch nicht verbessert. Sie erscheinen dann im Heft genauso wie sie von den Autoren erdacht und geschrieben wurden. Gerade dies verleiht den Texten einen ganz besonders außergewöhnlichen Charakter und hinerläßt bei den Rezipienten des Magazins einen nachhaltigen, wie gleichermaßen nachdenklich stimmenden, nicht selten auch heiteren Eindruck.

In diesen Zustand können sich Interessierte leicht  versetzen und dabei gleichzeitig auch noch ein tolles Projekt unterstützen. OHRENKUSS kann nämlich abonniert werden.

Warum mir am Anfang dieses Textes eingefallen ist, dass wir als Kinder nichts dabei fanden, farbige Mitmenschen Neger zu nennen? Ganz einfach: Weil Dinge sich ändern und Menschen zu neuen Erkenntnissen kommen können…

Ältere Berichte über Ohrenkuss finden Sie auf Readers Edtion hier und hier. Recherchen und Redaktion besorgt eine inzwischen aufeinander eingeschworene Journalistentruppe um Chefredakteurin Dr. Katja de Bragança von Bonn aus. Ohrenkuss hat mehrfach mit außergewöhnlichen Texten und Reportagen auf sich aufmerksam gemacht. Zu empfehlen ist die  Internetseite des Magazins sowie der  Facebook – Aufritt von Ohrenkuss.

Inzwischen existiert sogar ein  Film zur Ohrenkuss-Erfindung (produziert von uni-bonn.tv). Alumna der Universität Bonn Dr. Katja de Bragança erzählt darin, wie einst alles begonnen hatte. Und sozusagen eins zum anderen gekommen war. Eigentlich als temporäres Forschungsobjekt  geplant, wurde  Ohrenkuss inzwischen zu einem nicht mehr wegzudenkenden und viel beachteten journalistischen Medium in Deutschland. Es bereichert die deutsche Presselandschaft wirklich außerordentlich..

Hier geht’s direkt zum Film.