Über einen Ukrainer, der sagte „Deitschland gutt, Hitler gutt!“, einen „Vogelfreien“ und die Weisheit: „Die Politik ist die größte Hure!“

Wie sooft um Ostern war es noch sehr kalt. Eine Privatunterkunft nahegelegen eines Dorfes fernab von Liberec war rasch gefunden. Am späten nächsten Morgen erkundeten wir zu Fuß die nähere Umgebung. Der ausgewählte Weg sollte uns hinein in die Berge führen. Doch am Fuß des Weges lockte eine Kneipe. Mein Kollege meinte zum kühlen Wetter passe ein Rum und ein leckeres tschechisches Pils. Was stimmte. Nun aber hinauf in die Berge. Doch da war ein Zigeuner* vor. Lange schwarze schulterlange Haare. Er spielte auf einer Gitarre. „Ahoj!“ grüßten wir freundlich. Er grüßte zurück und fragte nach einer Zigarette. Die sollte er haben. Sogar eine halbe Schachtel der Marke „Mars“. Zum Dank spielte er irgendeine Weise. Nun aber hinauf!

Der dunkle Wald nahm uns kühl aber freundlich auf. Aber nach einer guten halben Stunde begann es stark zu regnen. Da passte es, dass wir bald an einer Art Baude aus Holz anlangten. Bier und Kräuterschnaps sollten uns die Zeit überbrücken, solange es regnete. Die Beine wurden von Bestellung zu Bestellung schwerer. Unser Gemüt lockerte sich auf. Was sollte es? Wir hatten doch schließlich Urlaub. Noch ein Bier. Noch ein Schnaps … Die Gaststube füllte sich. Das Gemurmel verstärkte sich. Gläser klangen. Zigaretten wurden geraucht. Bald sahen wir die Hand fast nicht mehr vor Augen. Die Stunden vergingen. Der Regen blieb. Und wir blieben auch.

Mit zunehmenden Konsum von Alkohol schwoll das Stimmengewirr in der gastlichen Stätte an. Plötzlich fiel uns ein Mann auf. Er trug eine Kordhose und ein Holzfällerhemd. Sein Gesicht war rot. Offenbar hatte er schon einige Gläser intus. Ein Halbliterglas Pils in der Hand klapperte er die um liegende Tisch ab. Augenscheinlich suchte er einen Platz an einem der Tische. Er sprach die Leute an. Sie machten ablehnende Gesten.

Dann kam was kommen musste: er erreichte unsere Tisch. Nachdem er eine Weile, die Ohren spitzend, in dessen Nähe gestanden hatte, schritt er dicht an unseren Tisch heran. Sein bislang düstere Blick hellte sich einem Male auf. „Ihr Deitsch?“, fuhr er uns regelrecht an und reichte uns seine Hand zum Gruß. Perplex schlugen wir ein. „Nemec, ja wir sind Deutsche“, brachte ich leicht stotternd hervor. Unaufgefordert nahm er an unserem Tisch Platz. Er mochte um die Sechzig gewesen sein. Seine gläsernen Augen leuchteten glückselig auf. Dann forderte er uns dazu auf mit ihm anzustoßen. Der Alte knallte sein Glas gegen unsere Biergläser und rief sehr laut aus: „Deitschland gutt! Hitler gutt!“ Erschrocken drehte ich mich nach Reaktionen um. Nichts. Dann setzte er hinzu: „Kommunismus scheiße, Hitler gutt“ Ich blickte meinen Gefährten an und machte ihm eine Andeutung, dass wir vielleicht besser verschwinden sollten. Was, wenn der Mann ein Provokateur der Staatssicherheit war? „Hitler“, sagte ich rasch mit Schweiß auf der Stirn, aber ernstgemeint: „nicht gut. Faschismus, Krieg.“ Da sprang der Alte auf. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Immerhin hatte er noch immer sein halbvolles Glas in der Hand, aus welchem etwas Bier schwappte. Stolz warf er seinen Kopf in den Nacken und reckte sein Kinn in die Höhe und brüllte leicht lallend: „Ich Ukraine! Deitschland gutt! Hitler gutt! Wir Kameraden!“ Mein Kollege sagte noch: „Wir sind keine Kameraden! Und außerdem aus der DDR.“

Was machte ein Ukrainer in der ČSSR? War er ausgewandert? Hatte er eine Tschechin geheiratet?Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Und wie konnte ein Ukrainer – vielleicht ein Bürger oder ehemaliger Bürger der Sowjetunion, die doch 27 Millionen Tote – davon nicht wenige Ukrainer – im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte; zu verantworten durch das faschistische Hitlerdeutschland – Hitler und „Deitschland gutt“ finden? Ohne Zweifel ein Nazi reinsten Wassers! Was wir damals unerklärlich fanden. Da hatte ich wohl noch einige Wissenslücken in Geschichte. Von Stepan Bandera, dem Nazikollaborateur, von dem heutzutage der ukrainische Botschafter in Deutschland offenbar soviel hält, hatte ich seinerzeit auch nichts gewusst.

Schließlich beglichen wir nach dieser unschönen Begegnung einigermaßen verwirrt die Rechnung und verließen die Baude. Der Ukrainer schrie uns noch hinterher: „Kommunistenschweine!“ Und spuckte aus. Es hatte aufgehört zu regnen. Als wir uns auf den Weg nach unten in den Ort wendeten, trafen wir auf zwei junge Mädchen. Jünger jedenfalls als wir, die wir Mitte zwanzig waren damals. Mein Kollege, vom Alkohol aufgedreht begann sogleich mit ihnen zu flirten. Dabei sprachen die beiden Mädchen kein Deutsch und der Kollege kein Wort Tschechisch. Lange Rede kurzer Sinn: Das eine Mädchen war meinem Kollegen durchaus zu getan. Keine Ahnung wieso? Eng umschlungen verknoteten sie ihre Zungen und wollten sich gar nicht wieder voneinander lösen.Das andere Mädchen, sie hieß Ivana, war schüchterner. Und ich auch. Da wollte sich nichts richten. Ich wurde eifersüchtig auf meinen Kollegen. Ich rief ihm, der sich mit dem Mädchen etwas entfernt hatte, hinterher: „Die sind doch noch viel zu jung! In Wirklichkeit hätte ich es ihm doch gern gleichgetan. Mein Kollege und auch das Mädchen waren nicht zu bremsen. Was sagt man da? Herz, Schmerz und dies und das …Unten, wo der Weg auf die Hauptstraße stieß, trennten sich die Mädchen von uns. Sogar ich bekam von der schüchternen Ivana ein Küsschen. Dann waren die beiden weg. Als sei nichts gewesen.

Inzwischen war es längst dunkel geworden. Wo jetzt noch Alkohol herkriegen, fragte ich mich. Nach diesen Begebenheiten. Da gab es was zum runterspülen! Doch wir fanden die wenigen Geschäfte und Kneipen geschlossen. Und die Bürgersteige sozusagen hochgeklappt.Plötzlich kam aus einer Seitenstraße ein Mann gelaufen mit zwei dieser riesigen tschechischen einfachen Tischweinflaschen. Eine hatte er am Hals. Die andere in er Hand.Er kam näher und sprach uns auf Deutsch an. Im breitesten Sächsisch. Der Dialekt ließ mich aber auch ans Vogtländische denken. Während der NVA-Zeit hatten wir einen Vogtländer auf der Stube. Den man fast nicht verstand. Sein Dialekt hörte sich an wie eine Mischung aus Sächsisch und Bayerisch.

Der Mann fragte uns nach unserer Herkunft und die Pläne für unseren Urlaub. Zudem bot er von seinem Wein an. Es war Kirschwein. Schließlich fragte ich neugierig: „Woher kommst du denn? Machst du auch Urlaub?Der Mann lachte und antwortete: „Ich wohne hier. Ich bin vogelfrei.“ Ursprünglich stamme er wie wir auch aus der DDR. Er habe aber keinen Ausweis mehr. Auch keinen der ČSSR. Wir stutzten: Vogelfrei?

Wie konnte das sein. Man erklärt jemanden für vogelfrei, wenn man ihm bisher gewährten Schutz entzieht, ihn aus dem Schutz der Gesellschaft ausstößt. Derjenige ist also schutzlos. War so etwas möglich? Schließlich lebten wir nicht mehr im Mittelalter! Diese Redensart ist schon sehr alt, las ich später, jedoch sei sie früher anders verwendet als heute. Noch zu Zeiten Luthers verstand man unter einem Vogelfreien jemanden der „frei wie ein Vogel“ lebt. Das deutete eigentlich auf ein unbeschwertes, vielleicht sogar im Wesentlichen glücklichen Menschen hin. So wirkte aber der etwa 30-jährige ganz und gar nicht …

Er könne jederzeit verhaftet werden, meinte er. Er müsse sehen, nirgends aufzufallen. Hatte er Arbeit? Von was lebte er? So recht wollte er nicht mit Sprache heraus.Dass interessierte mich, als jemanden, der schon damals ehrenamtlich journalistisch arbeitete.Kurzerhand luden wir den jungen Mann ein, mit in unsere Privatunterkunft zu kommen. Wir bangten zunächst erwischt zu werden. Aber die Fenster des Vermieters waren dunkel. Außerdem hatten wir einen separaten Eingang. Oben in unserer Kemenate sprachen wir reichlich dem Wein zu. Und unterhielten uns. Unterhielten? Es war schwierig den nuschligen Dialekt unseres Gastes zu entschlüsseln. Was hieß, immer wieder nachzufragen. Stimmte das überhaupt, was der erzählte? Vielleicht band er uns einen Bären auf. Aber wie das nachprüfen? Wir sprachen durchaus über Politisches. Darüber etwa, dass das so mit dem Sozialismus nicht weitergehen könne. Aber die Nacht war vorangeschritten. Der Alkohol tat seine Wirkung. Nicht besonders guten Gewissens baten wir den „Vogelfreien“ schließlich zu gehen. Was würde der Vermieter sagen, wenn er früh einen „Gast“ bei uns anträfe.

Um noch eine Mütze Schlaf zu nehmen, legten wir uns nach der Verabschiedung hin. Als ich vor acht Uhr früh als erster erwachte, blickte ich aus dem Fenster und erschrak: Es hatte geschneit! In der Ferne sah ich wir ein mit gelben Rundumleuchten bestückter Schneeflug eine Straße vom Schnee räumte. Mein Trabant hatte keine Winterreifen! Auch Schneeketten hatte ich nicht mit. Dann beruhigte ich mich: Solange die wichtigsten Straßen geräumt sein würden, bekämen wir gewiss keine Probleme. Nur den Ausflug zur Schneekoppe den konnten wir wohl abschminken. Am nächsten Tag erfuhren wir vom Vermieter ohnehin, hinauf zur Schneekoppe (tschechisch: Sněžka) könne man momentan nicht. Schließlich lag die andere Seite der Schneekoppe (polnisch: Śnieżka) auf polnischer Seite. Da gelte bekanntlich noch Kriegsrecht. Weshalb man von tschechischer Seite niemanden herauflasse.

Denn oben könne ja die Grenze nach Polen übertreten werden.

Wir beschlossen unseren Kurzurlaub noch mit einer kleinen Tour durch das Riesengebirge. Der Schnee war glücklicherweise bald getaut. Als es nach einer Wanderung wieder einmal regnete, suchten wir abermals ein Kneipe auf. Am letzten Tag sollte es noch einmal einen heißen Grog mit tschechischem Rum geben. Wieder einmal kamen wir mit einem Menschen ins Gespräch. Es handelte sich um einen älteren Herrn, einen Sudetendeutschen. Einer der nach 1945 offenbar nicht hatte auswandern müssen. Vielleicht war er mit einer Tschechin verheiratet? Zum Abschluss des Abends gab er uns seine Lebensweisheit mahnend mit auf dem Weg: „Denkt daran Burschen, die Politik ist die größte Hure!“Das machte uns nachdenklich. Aber hatten wir es wirklich richtig verstanden? Heute besteht in höchstem Male darüber Gewissheit. Klar, der Sinn der Lebensweisheit des sudetendeutschen Mannes ist verstanden. Aber auch hundertprozentig stimmig?Ich wende ein: Betrachte ich die heute Verantwortung tragenden Politiker*innen so und das, was sie über die Jahrzehnte angerichtet haben und gegenwärtig weiter anrichten, dann würde ich gern meine Hand schützend über die Huren halten. Mit diesen Leuten in Verbindung gebracht zu werden – das haben sie nicht verdient. Viele von ihnen haben nämlich eine gute Seele und so manche der Sexarbeiterinnen hat auch ein großes Herz.

*Die Bezeichnung Zigeuner war damals gebräuchlich. Im Tschechischen: Cikán.

Beitragsbild: via Pixelio.de – Foto: Renate Tröße. Eine Aufnahme aus dem Riesengebirge.

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