Prof. Albrecht Goeschel: „Gesundheitsfonds, Krankenkassen und die europäische Klassengesellschaft der billigen Arbeit“

Bittere Pillen für das Gesundheitssystem; Fotot: segovax via Pixelio.de

Bittere Pillen für das Gesundheitssystem; Fotot: segovax via Pixelio.de

Die Ökonomisierung von nahezu allem und jedem kennt in Zeiten ausuferndem Neoliberalismus längst keine Grenzen mehr. Auch das Gesundheitssystem steht permanent unter Beschuss. Freilich nur zum Wohle unserer immer älter werdenden Menschen. Es müsse effizienter werden, tönt es seit Jahrzehnten, damit auch morgen noch wichtige Leistungen am Patienten vollbracht werden könnten. Und Missbrauch müsse bekämpft werden. Überkapazitäten (etwa bei Krankenhausbetten) gehörten abgebaut. Wer könnte etwas dagegen haben? Allerdings erleben wir in praxi, dass bei den ein übers andere Mal von der Politik zu diesem Zwecken eingeleiteten Maßnahmen und verabschiedeten Gesetzen meist nur der Patient Opfer bringen musste. Aber auch Krankenhäuser und deren Personal kommen immer mehr unter (Kosten-)Druck. In Teilen des Landes sind Fachärzte knapp.

Nordrhein-Westfalen als „Gesundheitsinsel“ bald perdu?

In Nordrhein-Westfalen (NRW) ist die Situation diesbezüglich noch nicht so sehr brisant. Attac Dortmund meint, das Bundesland sei bislang noch eine Art „Gesundheitsinsel“. Und speziell im Ruhrgebiet die Ausstattung mit Krankenhäusern und Arztpraxen (noch) besser als in anderen Großregionen oder Bundesländern. Ein Erbe – so wird das erklärt – aus der Zeit, da das Ruhrgebiet das „Wirtschaftsherz Westdeutschlands“ war.

Doch ist nun NRW als „Gesundheitsinsel“ der Seligen nun in Gefahr? Wenn Prof. Albrecht Goeschel mit seiner Analyse richtig liegt, steht dies zumindest zu befürchten. Goeschel jedenfalls rät deshalb: „Attac täte gut daran, den neuen Krankenhausplan für Nordrhein-Westfalen sehr genau unter die Lupe zu nehmen.“
Kürzungs- und Sparangriffe von GroKo und EU, hat der Professor analysiert, richteten sich gezielt auf einen Abbau der Gesundheitsversorgung gerade in NRW.

Zur Person

Prof. Albrecht Goeschel ist ein ausgewiesener internationaler Experte für Wirtschaftspolitik, Raumordnung, Sozialsicherung und Gesundheitsversorgung. Beauftragter des Botschafters der Republik Angola a.D. Präsident der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona. Gast-Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Staatlichen Universität Rostow; Lehrtätigkeit an Universitäten und Hochschulen Gießen-Friedberg, Lüneburg, München, Rostow und Vechta. Wissenschaftlicher Direktor der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. München.

Albrecht Goeschel: Die sogenannten „Eliten“ in Europa konnten „einheitlich-europäische Klassengesellschaft“ durchsetzen

Sieben Jahre nach Finanzkrise zieht Professor Goeschel eine „Zwischenbilanz dieser schwersten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren“. Demnach ist es „den sogenannten ‚Eliten‘ in Europa gelungen, angeführt vom deutschen Machtkartell, eine neue, nun eine einheitlich-europäische Klassengesellschaft durchzusetzen:

1. Der europäische Fiskalpakt und seine „Strukturreformen“ sind an die Stelle der nationalen Sozialordnungen getreten: Zwar Mindestlöhne in fast allen EU-Ländern, aber dafür auch Alters-Lohnkürzungen, d.h. Rentenkürzungen in fast allen EU-Ländern.

2. Der europäische Juncker-Investitionsplan ist nichts anderes als eine großangelegte Kampagne zur Umwandlung der nationalen Infrastrukturen in privaten Kapitalbesitz: Autobahnen, Breitbandnetze, Universitäten und Krankenhäuser zukünftig im Eigentum von Versicherungskonzernen.

3. Klassengesellschaften brauchen zum Funktionieren Soziale Korruption, schön geredet als „Sozialer Frieden“ einerseits und militärisch-politische Spannungen andererseits. Schon einmal und jetzt wieder: „Kalten Krieg“. Europäische Klassengesellschaft und Europäischer Imperialismus – das ist also die (Zwischen-)Bilanz von sieben Jahren ökonomisch-politischer Krise.“

Auch im Gesundheitssektor zu Geld machen, was sich zu Geld machen lässt

Der neoliberal gesteuerte Raubtierkapitalismus bewirkt im Gesundheitssektor nichts anderes wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch: Alles was sich zu Geld machen lässt wird auch zu Geld gemacht. Koste es was es wolle. Zulasten der Gesamtgesellschaft. Und zum Schaden vieler Einzelner. Die herrschende Politik leistet willfährig Schützenhilfe, indem sie die nötigen Gesetze dafür macht. Kürzungen wurden eingestielt und Privatisierungen von Krankenhäusern bei gleichzeitiger Druck auf die Löhne der Belegschaften möglich gemacht.

Eine gigantische Umverteilung von unten nach oben ist seit mindestens 20 Jahren in vielen gesellschaftlichen Bereichen im Gange. Von den schwächsten (bzw. zu deren Lasten) hin zu den stärksten Mitgliedern der Gesellschaft. Das gilt nicht zuletzt auch für den Gesundheitssektor. Schwächere Bundesländern werden gegen finanziell stärkere Bundesländer ausgespielt. Willy Brandts Diktum, wonach starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, wird nicht nur in diesem Falle ad absurdum geführt. Man muss hinzufügen, seit der Ära Schröder leider auch von der SPD selbst.

Um das Wohl und Wehe des einzelnen (Kassen-)Patienten geht bei der Gesundheitspolitik höchstens am Rande. Allenfalls wird wird ein Feigenblatt bewahrt. Das machen auch regierungsamtliche Äußerungen vom immer noch anderen Systemen in anderen Ländern überlegenem deutschen Gesundheitssystem nicht besser.

Die 200 Milliarden Euro im Gesundheitsfond wecken Begehrlichkeiten

Schließlich geht es um viel Geld. Professor Albrecht Goeschel gibt zu bedenken: „Der Zentrale Gesundheitsfonds verteilt mittlerweile fast 200 Milliarden Euro jährlich zwischen den schwächeren und den stärkeren Regionen um – leider nimmt die Öffentlichkeit davon so gut wie keine Notiz. Heftig diskutiert wird dagegen der Föderale Finanzausgleich zwischen den Bundesländern mit seinen geradezu läppischen 8 Milliarden Euro Umverteilungsvolumen.

Die regionalen Umverteilungswirkungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, auch ganz unabhängig vom Zentralen Gesundheitsfonds, sind seit beinahe drei Jahrzehnten eine Art ‚finanzpolitisches Geheimthema‘ unter Experten – das Politische System hat aus gutem Grund stets dafür Sorge getragen, dass es ein ‚Geheimthema‘ bleibt.“ Die 200 Milliarden Euro, die der Zentrale Gesundheitsfond jährlich zu verteilen hat, weckt Begehrlichkeiten.

Deshalb oder vielleicht auch weil man nach der  von Jean-Claude Juncker freimütig offenbarten Methode verfährt, „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“, bleibt Protest oder gar heftiger Widerstand im Volke aus.

Das Geschäftsmodell Deutschland“ als fragwürdiges Vorbild

„Das Geschäftsmodell Deutschland“, so Goeschel, sei ein Vorbild dafür, „wie man unter Instrumentalisierung eines expandierenden, keineswegs eines stagnierenden „Sozialstaats“, eines wachsenden, keineswegs eines schrumpfenden „Sozialbudgets“ als Manipulationsmasse den Anteil der Lohneinkommen am Volkseinkommen senkt und den Anteil der Gewinneinkommen am Volkseinkommen erhöht.“ Das wirkt in andere europäische Länder hinein. Ein fragwürdiges Vorbild.

In diesem Zusammenhang warnt der Soziologe vor einem „gefährlicheren Trugschluss“: „Es ist zwar richtig und es ist zwar merklich, dass die einzelnen Sozialleistungen in Geld oder in Diensten gekürzt oder verschlechtert werden – aber der Sozialstaat selbst, das Sozialbudget als solches wird dabei gerade nicht verringert oder verkleinert, sondern sogar noch ausgebaut und erhöht.“

Goeschels Feststellung „Der (kapitalistische) Sozialstaat ist keineswegs in Gefahr – der (kapitalistische) Sozialstaat selbst ist die Gefahr“, klingt zunächst einmal paradox. Es lohnt sich aber einmal genau darüber nachzudenken. Und: zu verstehen!

Ein schleichender Prozess

All das geschieht seit Jahren mehr oder weniger vor unser aller Augen. Zwar schleichend – das ist das Perfide – aber es geschieht. Der gesellschaftliche Schaden – auch der für die Demokratie – wird jährlich größer.

Professor Albrecht Goeschel hat am 19. Januar an der Auslandsgesellschaft Dortmund bei einem von der Regionalgruppe Attac organisierten „Nachdenktreff“ unter dem Titel „Gesundheitsfonds, Krankenkassen und die europäische Klassengesellschaft der billigen Arbeit“ gehalten.

Hinweis: Leider konnte ich bei diesem Termin am vergangenen Montag nicht zugegen sein. Peter Rath-Sangkhakorn (pad-Verlag) stellte mir jedoch den Vortragstext  dankenswerterweise zur Verfügung. Der Vortrag  ist inzwischen auch auf der Seite von LabourNet Germany als PDF-Dokument abrufbar. Ich empfehle ihn sehr zu Lektüre. Schließlich geht die Thematik Viele an.

Ende Januar 2015 erscheint eine Publikation zum hier besprochenen Thema von Prof. Albrecht Goeschel sowie eine weitere des Soziologen zu einer anderen Problematik. Bericht darüber an dieser Stelle. Beide werden Veröffentlichungen vom pad-Verlag herausgegeben.

Weitere im Zusammenhang mit dem pad-Verlag stehende Beiträge hier.

Katar – Spagat zwischen Tradition und Moderne

Die deutsche Botschafterin Angelika Renate Storz-Chakarji während ihres Vortrages an der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund; Foto: C.-D. Stille

Die deutsche Botschafterin Angelika Renate Storz-Chakarji während ihres Vortrages an der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund; Foto: C.-D. Stille

Katar. Die Fußballfans unter den Leserinnen und Lesern denken da gewiss augenblicklich an die Fußballweltmeisterschaft 2022. Und fragen sich, wie das mit der in diesem Emirat herrschenden Hitze ablaufen soll. Wieder andere müssen schmunzeln oder werden wütend, wenn sie an die peinlichen Äußerungen des Fußballkaisers Franz Beckenbauer – angesprochen auf die katastrophalen Zustände, die mehr als 1000 Zwangsarbeiter das Leben kosteten – denken: „Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Die laufen alle frei rum. Weder in Ketten, gefesselt noch mit Büßerkappe auf dem Kopf. Das habe ich noch nicht gesehen.“

Widersprüche

Vermutet und behauptet wird, es hätte seitens Katar Unterstützung für die radikal-islamistischer Kräfte in Syrien gegeben. Andererseits beteiligt sich das Emirat an Luftangriffen gegen Kräfte des sogenannten Islamischen Staats.

Widersprüchlich: Wieder andere Menschen werfen Katar vor den Terror des sogenannten Islamischen Staates zu unterstützen. Was, wie der 34-jährige Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani bei seinem kürzlich erfolgten Besuch in Deutschland beteuerte, nicht der Fall sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm das dem Emir ab.

Außenpolitik live“ an der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund

Vergangene Woche hatte die Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen e.V. Dortmund in Kooperation mit dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in der Reihe „Außenpolitik live – Diplomaten im Gespräch“ zu einem Abend mit der deutschen Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland, Angelika Renate Storz-Chakarji, eingeladen. Das ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) engagiert sich weltweit „für ein friedliches und bereicherndes Zusammenleben von Menschen und Kulturen“.

Die Veranstaltung stand unter dem Titel „Katar als Global Player im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne“. Begrüßt wurden Botschafterin und Publikum von Klaus Wegener, Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V. sowie Sebastian Körber, Stellvertretender Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen. Die Botschafterin war gegen 6 Uhr morgens (kurz nach Mitternacht deutscher Zeit) von Doha nach Deutschland abgeflogen.

Steckbrief Katar:

Gerade einmal 2,2 Millionen Einwohner zählt Katar, davon sind lediglich 10 Prozent Katarer. Seinen Reichtum – das kleine Emirat am Persischen Golf gilt mittlerweile als drittreichstes Land der Erde mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 100.000 US-Dollar – hat Katar vor allem seinen ertragreichen Erdgasfeldern zu verdanken. Neben der wirtschaftlichen Bedeutung will das Emirat auch außenpolitisch auf dem internationalen Parkett der Global Player mitspielen. Vom neutralen Vermittler entwickelte sich Katar in den letzten Jahren zunehmend zum selbstbewussten Akteur, was sich insbesondere in der aktiven Unterstützung der Muslimbrüder im Maghreb widerspiegelte und das Emirat zuletzt im arabischen Raum weitgehend isolierte.

Zur Referentin:

Angelika Renate Storz-Chakarji, 1953 geboren, trat 1979 nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften und International Affairs ins Auswärtige Amt ein. Nach Posten in Tokio, New York, Paris, Maskat und Positionen im Inland ist sie seit 2012 Botschafterin in Katar.

Das Referat

Folgendes sollte das Referat von Botschafterin Angelika Storz-Chakarji beleuchten: „Was sind die außenpolitischen Ambitionen Katars? Ist das Emirat ein verlässlicher strategischer Partner Europas? Katar gibt sich als moderner Staat, aber inwiefern lässt sich dieses Bild angesichts der kritischen Menschenrechtslage in dem monarchischen Staat aufrechterhalten?“

Reflect your respect“

In Doha sind derzeit hundert Länder durch Diplomaten vertreten. Davon sind acht Frauen. Diese sind, wie die Botschafterin ausführte, durch die in Katar sehr konservative, wahabitische Glaubensrichtung in keiner Weise beeinträchtigt. Allerdings gilt es bestimmte Regeln einzuhalten. Das wird durch die Kampagne „Reflect your respect“ – betreffend die Bekleidungsvorschriften – mittels Piktogrammen vermittelt. Allerdings, wandte die Diplomatin ein, seien ausländische Frauen keinen speziellen Kleidungsvorschriften unterworfen. So müssten sie z.B. keine Kopfbedeckungen oder wie auch immer geartete Verschleierungen tragen. Die Diplomatinnen werden ebenso behandelt wie ihre männlichen Kollegen. Die katarischen Regierungspartner seien „konsequent und pragmatisch“ im Umgang mit den Diplomatinnen.

Siebzig Prozent der Studierenden in Katar sind Frauen“

Die Mutter des jetzigen Emirs Scheicha Moza, die „eine absolute Ausnahmeerscheinung war (…), ist die treibende Kraft hinter einer Bildungsoffensive, die junge katarische Frauen zu nutzen wissen“. Deren Emanzipation sei jedoch nicht im westlichen Sinne zu verstehen. Universitäten schlössen sie mit Bestnoten ab: „Siebzig Prozent der Studierenden in Katar sind Frauen.“ Die einzige staatliche Universität Katars wird von einer Frau geleitet. Der Anteil der Frauen im hochbezahlten Öl- und Gasgeschäft (interessant: die Gasvorräte sollen erst in 150 Jahren erschöpft sein) liegt katarischen Regierungsangaben zu Folge bei inzwischen 41 Prozent. Die Geschlechtertrennung an Bildungseinrichtungen und auch am Arbeitsplatz werde von der tief religiösen Bevölkerung befürwortet. Eine voll verschleierte Frau am Volant eines Geländewagens sei in Katar kein Paradoxon. Für die Botschafterin ist durchaus nicht ungewöhnlich in einem Ministerium einer Mitarbeiterin mit bedecktem Gesicht gegenüber sitze. Etwa dann, wenn sich noch Männer im Raume befinden.

Güterrecht der Scharia garantiert Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit

Der Mehrehe hat weiter Bestand. Jüngere katarische Frauen jedoch sähen das allerdings zunehmend kritisch. Die Scheidungsrate bei den Einheimischen liegt bei über 30 Prozent. Es gilt das eheliche Güterrecht der Scharia. Es garantiert eine wirtschaftliche Unabhängigkeit. „Es herrscht strikte Gütertrennung.“ Allein 3500 Unternehmen sind im Besitz katarischer Frauen. Überraschung: die Hälfte der an der katarischen Börse Aktien werden von lokalen Investorinnen gehandelt. Es gibt eine katarische Botschafterin bei den Vereinten Nationen in Genf. Die allerdings stammt aus der regierende Familie. „Und es gibt eine Ministerin für Informationstechnologie.“ In der beratenden Schura sitzt keine einzige Frau. Insgesamt ist Katar von Männern geprägt. Aufgrund der hohen Einwanderungsquote sind 75 Prozent der Bevölkerung männlich. Ein vielschichtiges Land voller Widersprüche, nennt die Botschafterin Katar.

Land der Superlative – „Qatar Deserves the Best

Das Land Katar mache „einen Spagat zwischen Tradition und Moderne“ und es gäbe das Statement, dass wir mit einem Land der Superlative: 2,2 Millionen Menschen – davon knapp 90 Prozent (sic!) Ausländer. Nur 25 Prozent Frauen. Die Arbeitslosenquote beträgt derzeit 0,3 Prozent. Das Land rangiert an 4. Stelle, „wenn es um die sogenannten ultrareichen Haushalte geht“. Das sind Haushalte, welche mehr als hundert Millionen Dollar Privatvermögen haben. Katar hat ebenfalls die höchste Millionärsdichte weltweit. Und mit 100.000 Dollar das höchste Einkommen weltweit pro Jahr und pro Kopf. Darin eingeschlossen schon die Niedriglohn Beschäftigten. Das selbstbewusste Credo von Katars lautet „Qatar Deserves the Best“ (Katar verdient das Beste). Der Bauboom ist gigantisch. Es wird an einem 216 Kilometer langen Metronetz „mit voraussichtlich 100 Stationen“ gebaut. Eine Retortenstadt für 200.000 Menschen ist im Entstehen. Schon jetzt existiert eine Shopping Mall. Sie ist mal eben 8,5 Kilometer (sic!) lang. Ebenso wächst ein neuer Industrie- und Marinehafen. Ein „architektonisch atemberaubendes Museum für nationale Geschichte“ durch den französischen Stararchitekten Jean Nouvel in Form einer Sandrose macht von sich reden. Nicht weniger atemberaubend auch die Skyline von Doha. Früher, so die Botschafterin, war dort nichts als Wüste soweit das Auge blickt. Nur ein Luxushotel – es wird gerade renoviert – stand dort einsam.

Katar verflüssigt Gas im großen Stil. Und unterhält die weltweit größte Tankerflotte. Doha soll auch ein bedeutendes internationales Drehkreuz für den Luftverkehr werden. Die 21 Jahre junge „Qatar Airways“ fliegt jetzt bereits 130 Destinationen weltweit an. Die Flotte ist brandneu. Sie umfasst 130 Flugzeuge. Weitere 280 Flugzeuge sind geordert.

Visionen für das Jahr 2030

Die Vision für Katar betreffs des Jahres 2030: Ein wohlhabendes und durch soziale Sicherheit gefestigtes Land, „ein Emirat, eines der fortschrittlichsten Länder der Welt unter Bewahrung der eigenen Kultur“.

In absehbarer Zeit könnte das kleine Katar, so die Botschafterin, Energieimporteur für Saudi-Arabien werden. Dort seien die Energievorräte dann erschöpft.

Die katarische Regierung hat ein Moratorium auf die Fördermenge erlassen. Um die Ressourcen zu schonen und „um eine finanzielle Überhitzung des Landes zu vermeiden“. Angelika Renate Storz-Chakarji: „Die Frage ist schlicht: Wohin mit dem vielen Geld?“ Die Staatseinnahmen sollen im letzten Jahr 210 Milliarden US-Dollar betragen haben. Bedeutet ca. 860 Millionen Einnahmen pro Katari.

Für Deutschland ist Katar mit Anteilen an Volkswagen, an Siemens, an Hochtief, auch an der Deutschen Bank (private Investoren) beteiligt.

Anspruch auf wichtige Position auf internationalem Parkett

Katar beansprucht eine wichtige Position auf dem internationalen Parkett. Die Gründung von Al Jazeera durch den Vater des jetzigen Emirs verschaffte Katar als weltoffenen Player Einfluss. Katar unterstützte ausgewählte Demokratiebewegungen in einigen Ländern im Arabischen Frühling. „Das Ansehen des einst so fortschrittlichen Senders Al Jazeera (am Vorbild BBC ausgerichtet; d. Autor) ist durch eine selektive und auch einseitige Berichterstattung über einige arabische Länder ramponiert.“

Nächste wichtige Ziele Katars sind die Weltausstellung 2020 sowie die Fußballweltmeisterschaft 2022. Längst wird international um die zur Realisierung nötigen Arbeitskräfte gebuhlt.

Auf jeden Katari kommen derzeit zehn Ausländer

Die Diplomatin: „Jeder Katari sieht sich derzeit zehn Ausländern gegenüber und lebt quasi auf einer Großbaustelle.“ Katar hat weltweit den größten Anteil an Wanderarbeitern. Für 2020 werden noch einmal mit zusätzlichen 500.000 Wanderbeitern gerechnet. Die internationale Kritik an den den Arbeitsverhältnissen habe nach anfänglicher Irritation seitens Katars inzwischen doch positiv zu nennende Reaktionen ausgelöst. Missstände würden mittlerweile beim Namen genannt und sanktioniert. „Das gesetzeswidrige Einbehalten des Passes ist schon jetzt eigentlich verboten.“ Kontrollen auf Baustellen und in den Unterkünften der Arbeiter seien verschärft worden. Gesundheitsfürsorge werde verbessert. Auch die rechtzeitige Zahlung der Löhne überprüfe man durch ein sukzessive einzuführendes elektronisches System. Das restriktive Aufenthaltsrecht werde unter Berücksichtigung der einheimischen Unternehmerschaft verändert. Was allerdings nicht bedeute das „sogenannte Kafala-System (Regelung des Aufenthalts von Ausländern; d. Autor)“ abgeschafft“ werde. Das System gilt für alles Ausländer. Ausgenommen sind lediglich Diplomaten. Jeder in Katar tätig Ausländer ist an seinen Arbeitgeber gebunden. Und kann nicht ohne Weiteres ausreisen. Man braucht eine spezielle Genehmigung.

Noch 1950 lebten in Katar nur 25.000 Einwohner

Katar hat den höchsten Bevölkerungszuwachs weltweit, verursacht durch Zuzug. Jedes Land hat ein spezielles Kontingent. Innerhalb der letzten 13 Jahre hat sich die Bevölkerung vervierfacht! Noch 1950 lebten in Katar nur 25.000 Menschen. Heute 2,2 Millionen. Eine Verhundertfachung! Das verursache natürlich „massive Verwerfungen“. Es herrscht Angst vor Identitätsverlust. Vor Überfremdung. Zur Verdeutlichung: Für Deutschland bedeutete das, dass den Deutschen 60 bis 70 Millionen zugezogene Ausländer gegenüberstünden, „die die deutsche Sprache nicht sprächen und mit unserer Kultur nichts gemein hätten“.

Angst vor Überfremdung

Katar steht also vor großen Herausforderungen. Es ist eines der trockensten Länder. Ohne Flüsse. Ohne Seen. Trinkwasser wird durch Meerwasserentsalzung gewonnen. Wasservorräte halten jeweils nur für 1,5 Tage. An der streng konservativen Verfasstheit der Kataris, meint die Botschafterin, werden sich wohl auch künftig nichts ändern. Der katarischen Gesellschaft mangele es an Fachkräften. In Bezug auf Max Frisch müsse sie inzwischen, wie der Schriftsteller schon vor 50 Jahren, die Gastarbeiter in Westeuropa betreffend, formuliert habe erkennen: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es sind Menschen gekommen.“ Doch vorerst bleibt die Angst der Kataris vor Überfremdung.

Fazit der Botschafterin betreffs der Entwicklung Katars:

„Katar stellt sich dar als ein Land der Extreme. Es ist eines der reichsten (jedoch mit erheblichen Einkommensunterschieden) und erfolgreichsten Länder der Welt. Es ist eines der kleinsten Länder. Ein Mikrostaat, könnte man sagen. Ein Land mit sehr ungewöhnlichen Gesellschaftsstrukturen. 10 Prozent Einheimische. 90 Prozent Ausländer. Eines der sozial und religiös konservativsten Ländern. Aber ein Land mit Visionen. Modernisierung: gesellschaftlich, wirtschaftlich mit Blick auf Infrastruktur. Außenpolitischen möchte es einen sichtbaren Platz auf der politischen Weltkarte. Es bewegt sich da in einem Spannungsbogen. Katars Ambitionen schaffen Probleme im Inneren wie im Äußeren. Katar ist zwar weit gekommen. Aber das Projekt ist noch nicht abgeschlossen.“ Es mangele „an ein wenig, zu wenig Postmoderne“.

Informationen der Botschafterin, resultierend aus Fragen des Publikums

Gesundheitsfürsorge für alle Kataris ist kostenlos. Ist eine OP im Ausland nötig, wird diese ermöglicht. Jeder Katari bekommt ein Stück Land geschenkt. Ebenso erhalten die Kataris Elektrizität und Wasser frei. Heiratet allerdings eine katarische Frau einen Ausländer, kann das Kind derzeit nicht katarischer Staatsbürger werden. Einbürgerungen von Ausländern gibt es im Augenblick allenfalls für Sportler. Wahlen sind zwar in der Verfassung in Form einer Absichtserklärung vorgesehen, aber bislang noch nicht in Erwägung gezogen worden. Und natürlich kam das Gespräch noch einmal auf König Fußball: Wie es in der Hitze aushalten? Die Botschafterin ist optimistisch. Bei der letzten Fußballweltmeisterschaft wohnte sie einem der Spiele in einer Art Mini-Stadion bei. Da habe man das Probleme mit Kühltürmen gelöst, die die Temperatur einigermaßen herunterkühlten. Und auf die Bekleidungsvorschriften anspielend, wollte eine Zuschauerin wissen, wie man das in den Griff bekommen wolle. Eingedenk dessen, dass manche Frauen gewiss mit Hemdchen mit Spaghettiträgern aufliefen und einige Fans doch recht „rustikal unterwegs“ seien. Die deutsche Botschafterin schmunzelte diplomatisch und strahlte Zuversicht aus.

Und noch etwas: Die verschiedenen Stämme zählte sehr in Katar. Noch werde untereinander geheiratet. Auch die eigene Cousine. Was wiederum zu Krankheiten führe. Aber ein leichter Wandel sei auch das zu verzeichnen. Übrigens unterhalten Deutschland und Katar seit nunmehr 42 Jahren diplomatische Beziehungen.

Titel treffend gewählt

Alles in allem ein hochinteressanter Vortrag der Botschafterin Angelika Renate Storz-Chakarji. Das Referat brachte uns das kleine immens reiche Emirat doch viel näher als es zumeist Nachrichtenmeldungen zu tun in der Lage sind. Dessen Titel „Katar als Global Player im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne“ war treffend gewählt. Gewiss werden nicht wenige der an diesem Abend gekommenen Gäste Katar mit etwas anderen Augen sehen. Der Auslandsgesellschaft NRW e.V. und dem kooperierenden Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) gebührt Dank für die Veranstaltungsreihe „Diplomaten im Dialog“. Auf weitere interessante Termine dürfen wir gespannt sein.

Piketty: „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – Professor Heinz-Josef Bontrup referierte in Dortmund

Professor Heinz-J. Bontrup während seines Vortrages an der Auslandsgesellschaft Dortmund; Fotos (2): Claus-D. Stille

Professor Heinz-J. Bontrup während seines Vortrages an der Auslandsgesellschaft Dortmund; Fotos (2): Claus-D. Stille

Inzwischen ist Thomas Piketty`s Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ auch
in deutscher Übersetzung erschienen und im Buchhandel zu erwerben. Piketty`s Buch hat einen wahren Hype ausgelöst. Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman nannte es „eine Erleuchtung“. Er spricht gar von einer Piketty-Revolution. Krugman ist sich sicher, das Buch werde die Art, wie wir über unsere Gesellschaft denken, sowie die Wirtschaftswissenschaften verändern. Der Papst („Diese Wirtschaft tötet“), wird gemunkelt, ist gerade dabei Piketty`s „Capital“ zu lesen. Was ist dran an diesem Piketty?

Dieser Frage u.a. ging Professor Heinz-J. Bontrup von der Westfälischen Hochschule Recklinghausen gestern auf einer Veranstaltung von Attac Dortmund  und dem Nachdenktreff in der Auslandsgesellschaft Dortmund nach. Der Saal platze beinahe aus den Nähten.Zusätzliche Stühle mussten gestellt werden.

Die Formel r > g

Thomas Piketty hat – wie es bis jetzt keiner der tonangebenden Ökonomen getan hat – mit seinem Buch die langfristige Entwicklung von
Einkommen und Vermögen in den westlichen Ländern untersucht. Und zu diesem Behufe ist der tief in die Geschichte zurückgegangen und hat da wohl gewiss viel Aktenstaub gefressen. Herausgekommen ist eine umfangreiche Datensammlung. Mit der weist er nach: wenn Profite und Einkommen größer sind als das Wachstum der Wirtschaft, verstärkt sich die
gesellschaftliche Ungleichheit. Konkret wird das durch die Formel r > g abgebildet:

„Sobald die Kapitalrendite („r“) größer als das Wirtschaftswachstum („g“) seien, also „r > g“, trete diese Entwicklung ein. In der Geschichte sei r in der Regel größer gewesen als g, im 19. Jahrhundert sei dann erstmals g > r gewesen. Allerdings hätten Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs die Kapitaleinkünfte gegenüber dem Wirtschaftswachstum stark zugenommen. Die starke Ungleichheit dieser (in Europa Belle Époque und in den USA Gilded Age genannten) Ära sei dann durch den Ersten Weltkrieg vorerst beendet worden. Dieser sowie die Great Depression und der Zweite Weltkrieg hätten zu einem Abbau der Vermögenskonzentration geführt und somit dazu, dass das Wirtschaftswachstum größer als die Kapitaleinkünfte gewesen sei (g > r). Diese Entwicklung habe Ende des 20. Jahrhunderts aufgehört.“ (Quelle: Wikipedia)“

Dem Kapitalismus sorgt immanent für Ungleichheit

Eingangs seines Referats wies Bontrup daraufhin, dass der Kapitalismus immanent für Ungleichheit sorgt. So Professor Bontrup, warne Thomas Piketty davor, „dass der Kapitalismus sich womöglich selbst immanent zerstört“. Der französische Ökonom sei „ein Kapitalismusfreund“ – wie sich Piketty selbst in einem Interview bezeichnet habe. Ähnlich also wie der Brite John Maynard Keynes. Piketty mache deutlich, dass ein unregulierter Kapitalismus unweigerlich zu steigender Vermögenskonzentration führt. Starke Vermögenskonzentration führe nicht nur zu einer stagnierenden Wirtschaft, sondern sei eine Bedrohung für die Demokratie. Piketty kritisierte den ausufernden Kapitalismus heftig, will ihm aber wieder mittels Leitplanken unter Kontrolle bringen, damit die Demokratie nicht unter die Räder kommt. Vulgo: Piketty will den Kapitalismus vor sich selber retten, damit der nicht den Ast auf dem er sitzt absägt.

Piketty mache einfach deutlich, dass der Kapitalismus, dem Krisen immanent sind, die Ungleichheit fördert. Empirische Studien belegten, „dass das kapitalistische System immer mehr aus den Fugen gerät“ und „dass das Einkommen und das Vermögen sich immer mehr (meint bei Wenigen; d. A.) konzentriert“. Die Schere zwischen Arm und Reich spreizt sich immer mehr. Wie es „ja immer mehr Menschen – auch in der Bundesrepublik Deutschland – in Summe eines der reichsten Länder der Erde (Bontrup)“ – spürten. „Der berühmte Mittelstand, der Mittelstandsbauch“, werde „immer mehr von den Rändern angefressen und zerstört. Heinz-J.Bontrup: „Dann wird natürlich eine Gesellschaft nervös. Vor allen der deutschen Mittelstand wird nervös, fühlt sich immer mehr bedroht von dieser Entwicklung der Ungleichheit“.

Der Mensch, der nicht nachgefragt wird, hat unter kapitalistischen Bedingungen keinen Wert

Dann referierte Bontrup an einer Tafel weiter. Notierte oben den BPW (Bruttoproduktionswert), minus „Vorleistungen“ ist gleich „Wertschöpfung“. Bontrup gab zu bedenken: „Ohne Menschen gibt es kein Neuwert, keinen Mehrwert, gibt es kein Überschussprodukt.“ Nun kam der Professor zur Verteilungsfrage. „Wer erhält von der Wirtschaft und wie viel? Alle wollten natürlich partizipieren.“ Bontrup zitiert den Moralphilosophen Adam Smith aus dem Jahre 1776 sinngemäß: Was der Eine bekommt, könne der Andere nicht mehr haben. „Der immanente Widerspruch einer kapitalistischen Ordnung“, so der Referent. „Steigt der Profit, gibt es weniger Lohn; das ist das Gesetz, aber gleichzeitig das Paradoxon.“ Der Mensch, der nicht nachgefragt werde, habe unter kapitalistischen Bedingungen keinen Wert. Deshalb könne eben auch „der Arbeitslose auch jederzeit diskreditiert und als faul bezeichnet werden“.

Heinz-J.Bontrup: Natürlich wolle aber der Lohnabhängige seinen Anteil an der Wertschöpfung. Werde dieser Anspruch bei Tarifverhandlungen angemeldet und halbwegs in einer Lohnerhöhung umgesetzt, dann sei die oft die Tinte unterm Tarifvertrag noch nicht trocken und der Zugewinn dahin. Weil das Paradoxon, der Widerspruch schon wieder da sei.

Shareholder-Value schlug wie eine Bombe ein

Nach der Wertschöpfungsart „Lohn“, kommen der „Zins“, „Miete“ und „Pacht“, sowie der „Gewinn“. Davon hätten Lohn, Zins und Pacht stets einen „Doppelcharakter“. Zum Beispiel der Lohn: Der Arbeiter sieht darin ein Einkommen, für den Unternehmer aber ist der Lohn ein Kostenfaktor. Beim Zins: Für den, der den Zins erhält, ist dieser Einkommen, für den Kreditnehmer sind es Kosten. Ebenso gelte das für Miete und Pacht: Doppelcharakter. Ausschließlich der Gewinn habe keinen Doppelcharakter. Er sollte eine Restgröße sein. Beim Unternehmer könne eben am Ende ein Gewinn oder ein Verlust stehen. Das „unternehmerische Risiko“ ist zu tragen. Nun aber Bontrup zum Knackpunkt: „Diese normale kapitalistische Logik ist spätestens durchbrochen worden, Mitte, einige sagen, Anfang der Neunziger Jahre … beigetragen von Alfred Rappaport 1986 in den USA verlegt worden unter – völlig langweiliger Titel“: „Shareholder-Value“. Zunächst habe das Buch gar keine Verbreitung gefunden. Doch nachdem es ein Journalist der „New York Times“ es mal richtig gelesen hatte, sei es weltweit „wie eine Bombe“ eingeschlagen.

Wieso ist der Gewinn in der kapitalistischen Logik eine Restgröße?

„Da steht nämlich drin“, erklärte Heinz-J. Bontrup: „Wieso ist der Gewinn in der kapitalistischen Logik eine Restgröße? Wieso werden kontraktbestimmte Einkommen vorher vergütet? Wir drehen das Ganze um. Wir machen die drei (Lohn, Zins, Miete/Pacht; d. A.) zur Restgröße und der Gewinn wird vorab bestimmt.“ Erinnern wir uns an den „berühmten Satz von Ex-Deutsch-Bank-Sprecher Josef Ackermann: Ab sofort beträgt die Rendite der Deutschen Bank 25 Prozent.“? Bontrup: Das ist die Umkehrung der kapitalistischen Logik, die Restgröße Gewinn vorab zur determinierten Größe zu machen. Und alle andern drei zur Restgröße zu machen.“ Miete- Zins-, und Pachtempfänger aber hätten das nicht mit sich machen lassen. „Dann haben sich die drei verbündet und haben alle dahin geguckt“ – Professor Bontrup zeigt auf die Tafel. Und da steht Lohn. Die drei hätten gesagt: Die Position machen wir zur Restgröße.

Piketty zeige dies sehr gut an seinen empirischen Daten: „Das ist Mitte der Siebziger Jahre“, wo in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern durchaus eine Umverteilung von oben nach unten stattgefunden habe. Das Kapital aber habe das ab Mitte der 1970er Jahre nicht mehr akzeptiert. Man drehte, so Bontrup, „an dieser Verteilungsschraube“. Das kapitalistische System wurde sozusagen umgeschwenkt auf die Straße des Neoliberalismus (ein Begriff, der eigentlich falsch sei, aber sich eingebürgert habe). Heinz-J. Bontrup nennt es „die Umkehr der kapitalistischen Logik“. Beobachten können man das auch an „der Prekarisierung der Arbeitsmärkte“. Was „nur unter der Bedingung von Massenarbeitslosigkeit“ habe ins Werk gesetzt werden können. Hinzu sei die Schwäche der Gewerkschaften gekommen.

All das führte „zu eine Aufspaltung der Gesellschaft geführt“. Bontrup: „Die neoliberale – ich nenne sie jetzt auch mal so – Umkehrung war voll erfolgreich.“ Im Sinne des Kapitals, versteht sich: „Sie wollten die Umverteilung von unten nach oben. Und das haben sie geschafft.“

Ist Verknappung eine Lösung?

Solange die Wertschöpfung halbwegs gerecht funktioniere sei „alles gut“. Was knapp werde, werde teuer. „Wen der Faktor Arbeit knapp wäre“, referierte Bontrup, „dann würde natürlich aus der Wertschöpfung hier (und er zeigt auf „Lohn“ auch viel ankommen. „Faktor Arbeit ist aber nicht knapp.“ In den Siebziger Jahren habe es geheißen: „Arbeit wird so billig wie Dreck.“ Gerade erlebe man, griff Heinz-J. Bontrup die jüngsten Streiks der Lokführer und der Piloten auf, dass Arbeit, die man auch – hier über Streik – verknappen könne zu Lohnerhöhungen führen könne. Und an dieser Stelle – wer will es dem Professor aus Recklinghausen verübeln? – kam Bontrup geschickt auf seine gemeinsame Arbeit „mit dem Kollegen Mohssen Massarrat“, zu sprechen: „Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stundenwoche fordern!“, erschienen im pad-Verlag.

Nebenbei bemerkt: Wenn aber Professor Bontrup den Gewerkschaften und damit den Arbeitnehmern zuruft „Verknappt euch!“ und meint, damit sei alles gut, dann hält das ein anderer Professor, nämlich der Ex-Chefvolkswirt der UNCTAD, Heiner Flassbeck, schlichtweg für „Unsinn“ (siehe hier). Im Moment befinden sich beide Professoren im Disput über das Thema Arbeitszeitverkürzung.

Recherchen bis zurück ins 18. Jahrhundert

Zurück zu Piketty: Der ist für seine Buch mit seinen Recherchen bis zurück ins 18. Jahrhundert gegangen. Und dafür Bontrup, „müssen wir ihm dankbar sein“. Schließlich hätte allen Ökonomen vor Thomas Piketty dieses Datenmaterial nicht zur Verfügung gestanden. Smith, Ricardo oder Karl Marx, „die hatten ja kein Datenmaterial.“ Sie hatten nur ihre Intuition, die reine Theorie „ohne jegliche Beweisführung“. Piketty aber fraß Papier, machte wie er selbst sagte eine „Schweinearbeit“, um die Daten empirisch zusammenzustellen. Professor Bontrup zitierte Piketty betreffs des derzeitigen Agierens des real existierenden Kapitalismus: „Das kann so nicht fortgeschrieben werden.“ Heinz-J. Bontrup hat bereits eine Rezension („Pikettys Kapitalismus-Analyse. Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden“); neben anderen Texten hier) zu Piketty´s vielbeachtetem Werk veröffentlicht.

Die Staaten verstanden Botschaft des Kapitals

Und der Staat, die Staaten? Ja, sagte  Bontrup, die hätten dem Kapital versichert: „Wir haben eure Botschaft verstanden.“ Hieß auf  Kapitalseite, „Ja, ihr habt die Botschaft verstanden. Dann handelt bitte auch danach.“ Und alle Parteien – die Sozialdemokratie mit einbezogen (Bontrup: „Ich hätte das ja nicht für möglich gehalten.“, Stichwort: Gerhard Schröder) – hätten gehorcht. In unserem Land liefe „eine Volksverdummung“. Mit sozialer Marktwirtschaft habe das ja alles nichts mehr zu tun. Benötigt werde „eine adäquate Steuer- und Abgabenpolitik“. Die heutige Politikergeneration habe den Begriff der sozialen Marktwirtschaft „auf den Kopf gestellt“. Sie hätten so die Gesellschaft unsozialer und ungleicher gemacht.

Piketty: Einst gab es eine Politikerklasse, die anders dachte

Piketty erinnere nun aber daran, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg einmal eine andere Politikerklasse gehabt. „Die haben anders gedacht. Das sind dann solche Begriffe entstanden, wie Rheinischer Kapitalismus (Leben und leben lassen). Davon hat man sich verabschiedet. Professor Bontrup: „Darum hat es ja auch noch einmal eine Abspaltung von der SPD gegeben!“ Eine Partei wie die SPD könne das auch gar nicht aushalten. Bontrup: „Man müsse kein großer Prophet sein. Nach dieser Periode der Großen Koalition kriegt sie noch 15 Prozent.“ Immer mehr Splitterparteien hätte das zur Folge. Auch die CDU sei davon betroffen (AfD!).

„Der deutsche Michel denkt so“, stellt Heinz-J. Bontrup resigniert fest. „Kleinkariert. Spießig. Die Mittelschichten hier in Deutschland denken so. Sie fühlen sich bedroht.“ Wir bekämen es nicht hin, die eigentliche Ursache für diese Umverteilung von unten nach oben zu beseitigen: „Die Massenarbeitslosigkeit.“ Keiner rede mehr darüber. Stattdessen höre man, dem deutsche Arbeitsmarkt sei es noch nie so gut gegangen wie heute. „Das ist eine blanke Lüge!“ Bontrup: „In Deutschland fehlen 10 Milliarden Arbeitsstunden. Bei einem Volumen von 56 Milliarden!“

Niemand will Steuern erhöhen

Gerade im öffentlichen Sektor sei Luft nach oben. Aber niemand wolle die Steuern erhöhen, was dafür nötig wäre. Nach dem Desaster bei letzten Wahl redeten nun auch die Grünen nicht mehr von Steuererhöhungen. Obwohl sie „ein vernünftiges Steuerkonzept“ vorgelegt hatten. Aber da sei eben der Deutsche Michel vor.

20141020_191114Der Arbeitsplatzabbau, prophezeite Bontrup, werden massiv voranschreiten weil die Robotertechnik „bis in den tertiären Bereich vordringen werde“. Ingenieure redeten bereits von „der Fabrik 4.0“. Roboterfabrik. „Da ist nichts mehr zu erwarten.“ Oswald von Nell-Breuning habe, und Professor Bontrup wendet sich an den anwesenden Peter Rath-Sanghakorn (pad-Verlag; auf dem Foto links), hätte einst zu diesem gesagt: „Mein junger Freund“ als man damals über die 40-Stundenwoche diskutierte, „fünf Stunden reichten eigentlich heute schon.“

Heinz-J. Bontrup: „Die Verdummung läuft auf Hochtouren“

Je mehr sich die Kapitalisten nähmen (und den anderen dabei wegnehmen), desto mehr sägten sie an ihrem eigenen Ast. Den Verzicht übenden Leuten würde dann erzählt, dafür entstünden Arbeitsplätze. „Die Verdummung läuft auf Hochtouren“, meint Bontrup: „Und die Medien haben große Schuld auf sich geladen.“ Sie hätten das nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ in die Köpfe der Menschen gehämmert.

„Wir müssen endlich zur Besinnung kommen!“

Sonst befürchte er, Bontrup, wie Piketty oder andere Ökonomen abseits des Mainstreams, das uns „ansonsten das ganze Ding um die Ohren fliegen“ wird. „Und“, denkt der Professor, „das wird auch nicht mehr lange dauern.“ Nichts sei seit der Finanzkrise  gelöst. Wieder hätte das Kapital die Politik geknebelt: „Ihr werdet die ganze Last der Finanzkrise aufs Konto Staatsverschuldung buchen!“ So machten man aus einer Bankenkrise eine Staatsschuldenkrise. Daraus folgte die Austeritätspolitik. „Ein Bastard-Keynesianismus.“ Nun fehle das Wachstum.

Bontrup erinnert sich noch gut an die Finazkrise und das Auftreten der leichenblassen Kanzlerin Merkel und ihres Finanzministers Steinbrück: „Ihre Ersparnisse sind sicher.“  Das seien sie ohnehin gewesen.

Jetzt merkten sie, dass „diese Rechnung des Bastards nicht aufgeht. Oder nur kurzfristig. „Nun sind sie wieder am Ende.“ Restgrößen (Lohn, Soziales) würden wieder mehr unterdrückt. Es werde gekürzt und noch Flexibilisierung gefordert. Aber welcher Unternehmer wolle denn investieren? – sein Gewinn ist ohnehin gestiegen. „Unternehmerische Freiheit – niemand kann den Unternehmer zwingen irgendeinen Arbeitsmarkt nachzufragen.“

Piketty´s brutale Lösung

„Wo ist die Lösung? „Piketty hat`ne brutale: drastische Besteuerung der Reichen und Vermögenden.“ Da aber sage die SPD nein und auch die Grünen würden abwinken. Die CDU/CSU und auch die FDP sage nein. Einzig die Linkspartei sage ja. Doch die bleibe  marginal. Nein, keiner wolle etwas ändern und lieber „sehenden Auges in den Abgrund laufen“. Weitere Segmentierung und auch Verelendung der Gesellschaft werden die Folge sein. Bontrup: Wo das endet? Ich weiß es nicht. Die Menschen werden ja weiter da sein.“ Abschließend meinte der Referent: „Eins ist mal klar. Natürlich ist in der Ökonomie immer nicht der absolute Begriff der entscheidende, sondern der relative. Freilich ginge es uns „relativ besser“ als den europäischen Krisenstaaten.

Über unsere Verhältnisse gelebt? Von wegen!

Eine Arbeitslosigkeit wie in Spanien oder Griechenland mag sich Bontrup hier nicht vorstellen. Wie würde da der deutsche Michel reagieren? Und stellte  er fest. „Wir leben auf Kosten der anderen Länder. Wir exportieren, obwohl wir Massenarbeitslosigkeit selbst im Land haben!“ Und exportierten damit die Arbeitslosigkeit. Eine Gesellschaft, die mehr exportiert als importiert, lebt unter ihren Verhältnissen. Bei den Griechen sei es umgekehrt gewesen: das Land lebte über seine Verhältnisse. Und Merkel betone, wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt! Wir konnten mehr exportieren als importieren. Bontrup: „Der Saldo ist null.“

Wir würfen den Griechen ihre Fehler vor. Bontrup: „Was wäre denn gewesen, wenn die gesamten Volkswirtschaften nicht mehr importiert als exportiert hätten? Dann hätten wir auch nicht mehr exportieren als importieren können.“ Hier wäre massiv Nachfrage ausgefallen. „Dann hätten wir nicht fünf bis sechs Millionen Unterbeschäftigte im Land gehabt, sondern zehn Millionen. Dann bin ich mal auf die Antwort von den Dumpfbacken gespannt, was dann in diesen Land in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren passiert wäre!“

Das Ausland hat sich verschuldet. Was wäre, wenn es sich nicht verschuldet hätte?

In diesen Jahren seien riesige Vermögenszuwächse in der BRD zu verzeichnen gewesen. Uns geht’s gut, sagt Merkel. Soll doch einmal jeder von uns gucken, wo sein Anteil daran geblieben ist! Auf der einen Seite Verfall, Niedergang, Massenarbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und die Reichen werden trotzdem eklatant reicher. Angesichts dessen könne man eine Aussage, wonach wir Deutschen über unsere Verhältnisse gelebt hätten einfach nicht mehr fassen, schüttelt Bontrup fassungslos den Kopf. „Aber diese Aussage verfängt in den Massen. Wir müssen alle ins Büßergewand. Weil, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Bei einem Zuwachs des Vermögens, des Reichtums von 2,2 Billionen Euro!“ Und: „Die Hälfte der Haushalte hat nichts. Wenn sie sterben, ist der Haushalt in zwei Stunden abgewickelt.“ Das Ausland hat sich verschuldet. Was wäre, wenn es sich nicht verschuldet hätte?

Bontrup beendete sein Referat mit Shakespeares Kaufmann von Venedig, der „von dem erbärmlichen Schuldner die Schulden einfordert. Der Richter sagt:

‚Schuldner, begleiche deine Schuld‘. Der Schulder sagt: ‚Ich kann sie nicht begleichen‘. Der Kaufmann sagt: ‚Dann soll man ihm ein Kilo aus dem lebendigen Körper schneiden, damit er seine Schuld begleicht, dieser erbärmliche Schuldner‘. Der Richter sagt: ‚Ja, du hast recht. Aber er schuldet dir nicht auch noch sein Blut:.‘

 

Und Professor Bontrup fragte  in die Runde: „Was tun wir zur Zeit in Griechenland? Wir fordern mehr als Blut.“

Heinz-J . Bontrups Fazit:

„… nach seinem Buch (Piketty’s Buch, d. A.) und der
auf Fakten beruhenden langfristigen empirischen Beweisführung (kann) endgültig niemand mehr behaupten, der Kapitalismus sei ein auf Leistung  basierendes gerechtes Wirtschaftssystem. Die Linken wussten das schon
immer, dass dies falsch ist. Hoffentlich akzeptieren dies jetzt endlich  auch die Rechten und die Liberalen um wirklich eine bessere Welt für  alle zu schaffen.“

Ob das augenblicklich einen wahren Hype auslösende Buch von Thomas Piketty diese Akzeptanz bewirkt, ist indes fraglich. Zu wünschen wäre es. Denn die Wand, auf die wir zurasen kommt täglich näher.

 

Piketty, Thomas

Das Kapital im 21. Jahrhundert

2014. 816 S.: mit 97 Grafiken und 18 Tabellen. Gebunden

ISBN 978-3-406-67131-9

Auch als E-Book lieferbar.

Von Thomas Piketty. Aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer

Erschienen: 07.10.2014, sofort lieferbar!

29,95 € inkl. MwSt.

Dazu:

Heinz-J. Bontrup: Pikettys Kapitalismus-Analyse. Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. pad-Verlag, Bergkamen, 61 Seiten, 5.– Euro
Bezug: pad-verlag@gmx.net

Zum Schluss noch der Link zu einem Youtube-Video des Liedermachers Sigismund Ruestig. Das Lied „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ passt – wie ich finde –  zum Thema:

 

Dortmund: Erstes Roma-Kulturfestival „Djelem Djelem“

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion in der Auslandsgesellschaft Dortmund; Fotos: C. - D. StilleJeder dritte für eine Studie in Deutschland Befragte gab an, Roma nicht als Nachbarn haben zu wollen. Roma klauen. Roma sind schmutzig. Daran denken Viele, wenn sie das Wort Roma hören oder lesen. Wo Roma sind, da sind Probleme, meint mancher. Aber was wissen wir schon über die Roma? Roma sind immerhin in Europa die größte Minderheit. Ihre Zahl wird mit 10 bis 12 Millionen angegeben.

Die Dortmunder Nordstadt ist schon seit Jahrzehnten Integrationsstadtteil

Dortmund ist neben Duisburg u.a. einer der Städte in Nordrhein-Westfalen mit hoher Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Unter den Menschen befinden sich auch Roma. Die Dortmunder Nordstadt schon seit Jahrzehnten ein Integrationsstadtteil ist. Nicht zuletzt durch die Medien wird die Diskussion zum Thema Zuwanderung aus Südosteuropa häufig defizitär geführt, ohne auf die Bedürfnisse der Zugewanderten sowie die Ressourcen, die sie mitbringen, einzugehen. Zudem wird häufig über und nicht mit den Menschen geredet. Die gesellschaftliche Folge sind verstärkte Diskriminierung und Ausgrenzung. Das sind die Menschen – besonders die Roma – bereits aus ihren Herkunftsländern gewohnt.

Einwanderer-Kultur(en) sichtbar werden lassen

Nun findet vom 18. September – 21. September 2014 unter der Schirmherrschaft von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft das erste Roma-Kulturfestival „DJELEM DJELEM“ in Dortmund statt. „Djelem, Djelem“ ist der Name der internationalen Roma-Hymne. Man kann es mit „Ich gehe“ übersetzen.

Die Veranstaltung war gut besucht.

Die Veranstaltung war gut besucht.

Die Veranstalter AWO UB Dortmund , das Theater im Depot, das Kulturdezernat der Stadt Dortmund, Terno Drom/ MIGoVITA unter Beteiligung der Auslandsgesellschaft NRW, des Quartierbüros Nordstadt und des Planerladens möchten an unterschiedlichen Orten in der Nordstadt Einwanderer-Kultur(en) sichtbar werden lassen und Willkommenskultur fördern.

Podiumsdiskussion

Gestern Abend war zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Roma im Gespräch – Lebensweg und Selbstorganisation“ in den Großen Saal der Auslandsgesellschaft Dortmund geladen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf dem Podium hatten u.a. Platz genommen Sami Dzemailovski (MIGOViTa; Terno Drom e. V.), eine Vertreterin des Freundschaftsvereins der Neuzuwanderer Dortmund e.V., Ismeta Stojkovic (Terno Drom e.V.) und Mirza Demirovic (AWO Streetwork). Die Moderation besorgte Johanna Esch (WDR Funkhaus Europa). Übrigens erwies sich die Moderatorin geradezu prädestiniert für das Thema des Abends. Hatte sie doch an der Universität Dortmund beim Journalistikstudium eine Arbeit über Roma und Sinti verfasst. Kollegen, so Esch, hätten sie damals noch ob der Wahl des Themas belächelt.

Musikalisch stimmte „The Old Bridge“ auf das Thema ein.

Stadtdirektor Jörg Stüdemann: Festival war längst überfällig

Der Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann tritt für würdevolle Behandlung der Zuwanderer ein.

Der Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann tritt für würdevolle Behandlung der Zuwanderer ein.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann erinnerte in einer kurzen Ansprache daran, dass Zuwanderer ein große eigne Kultur mitbrächten. Sowie spannende Ergebnisse oder Kenntnisse aus Bulgarien und Rumänien – dem Balkan, von dem man nur träumen könne. All das sei nicht mehr gesehen worden. Eigentlich sei dieses „Festival längst überfällig“ gewesen. In Bezug auf die Zuwanderung käme es darauf an, „Veränderung der Wahrnehmung einzuläuten und einzuleiten“. Dortmund sei immer schon Einwanderer- und Ankunftsstadt gewesen. Stüdemann meinte, wenn wir als Stadtgesellschaft mit 170 bis 180 verschiedenen Nationalitäten würdevoll umgehen wollen, dann sei es notwendig, die Gäste die kommen oder in Zukunft hier leben wollen, würdevoll behandeln. „Und nicht unter fiskalischen, sozialstatistischen, sozialarbeiterischen Wahrnehmungen allein betrachten“. Das Kulturfestival solle zur gegenseitigen Begegnung beitragen. Das Wichtigste solle die Botschaft sein, „dass in Dortmund niemand Sorge haben muss, oder Angst haben muss, wenn er sagt, ich bin Rom. Ich komme von Rumänien, Bulgarien und ich bin Rom. Ich muss nicht sagen, ich bin Bulgare, Rumäne. Ich kann sagen, ich bin Rom und ich bin stolz drauf.“

Stüdemann regte an, auch politisch darauf hin zu wirken, dass Situationen „fürchterlicher Diskriminierung“, die Herkunftsländer in denen Roma leben mit heraufbeschworen haben, sodass Rom und Roma aus diesen Ländern auf die Wanderschaft gegangen sind, einer Veränderung abgestellt würden. Das seien „keine tragfähigen Zustände für die europäische Gemeinschaft. Sie sind zum Teil skandalös.“

Gerda Kieninger): Herkunft, der Glaube oder die Weltsicht eines Menschen nicht ausschlaggebend für das gleichberechtigte Leben aller Menschen in Deutschland

Landtagsabgeordnete Gerda Kieninger für die AWO: Alles Menschen gleich behandeln.

Landtagsabgeordnete Gerda Kieninger für die AWO: Alles Menschen gleich behandeln.

Die SPD-Landtagsabgeordnete Gerda Kieninger (Arbeiterwohlfahrt) ging es in ihrer Rede darum, dafür zu werben, dass eine über viele Jahrhunderten in Europa lebende, vielfach verfolgte, unterdrückte und – „leider auch und immer noch in Deutschland“ – unterdrückte Minderheit wie die Roma in Dortmund willkommen zu heißen. Wir wüssten, so Kieninger, über keine Minderheit in Europa so wenig wie über die Roma. „Gleichzeitig haben wir gegenüber keiner Bevölkerungsgruppe mehr Vorurteile.“ Dabei seien diese Menschen wie wir Europäer und Teil unserer Gesellschaft und sollten auch genauso behandelt werden. Der Arbeiterwohlfahrt sei wichtig, „dass die Herkunft, der Glaube oder die Weltsicht eines Menschen nicht ausschlaggebend für das gleichberechtigte Leben aller Menschen in Deutschland sein wird.“

Eine Angehörige der Roma aus Rumänien, die nach Spanien gegangen, dort Arbeit gefunden, aber durch die Wirtschaftskrise wieder verloren hatte, erzählte, dass sich nun in Dortmund schon wohlfühle, jedoch durchaus Vorbehalte gegenüber ihr spüre. Beispielsweise in der Form, dass bei vorbeifahrenden Autos die Knöpfe der Türen heruntergedrückt würden. Die Frau wies daraufhin, dass Respekt in der Roma-Kultur eine große Rolle spiele.

Die Sprache der Roma ist Heimat

Ismeta Stojkovic, studierte Philologin, von Rom e.V. aus Köln, schilderte, dass ihre Roma-Herkunft während ihrer Zeit in Jugoslawien eigentlich keine Rolle besondere gespielt habe. Sie habe auch nicht gesagt, dass sie Roma ist. Und keiner habe auch gefragt. Es sei nicht so wichtig gewesen. Später habe sie das bearbeitet. Mitschüler jedoch hätten damals jedoch nie gedacht, dass sie sich zum Studium in Belgrad anmelden würde. Heute sei sie stolz eine Roma zu sein. Bei der Arbeit etwa mit Jugendlichen Roma heute werde sie als Vorbild gesehen: „Auch eine von uns kann es schaffen.“ Da die Roma in Staatsform keine Heimat hätten, sei sozusagen ihre Sprache Romanes die Heimat der Roma. Auf die Frage der Moderatorin Johanna Esch, ob denn der Wunsch nach einem eignen Staat da sei antwortete Ismeta Stojkovic: „Ich wünsche mir so was, aber halte das in jetziger Zeit nicht mehr machbar.“

Moderatorin Johanna (WDR) hat sich an der Uni mit Roma und Sinti befasst.

Moderatorin Johanna (WDR) hat sich an der Uni mit Roma und Sinti befasst.

Dankenswerterweise sprach die Moderatorin die bedauerliche Tatsache an, dass während des Nationalsozialismus in Deutschland 500000 Sinti und Roma ermordet worden waren.

Sami Dzemailovski: „Sichtbarkeit der Roma“ unabdingbar

Sami Dzemailovski  (Bildmitte) hat sich nicht gleich als Roma geoutet.

Sami Dzemailovski (Bildmitte) hat sich nicht gleich als Roma geoutet.

Sami Dzemailovski, der als Siebenjähriger mit seinen Eltern, Gastarbeiter, darauf angesprochen – sie waren damals gar nicht einmal solange nach dem Ende des Krieges – in den 1960er Jahren – nach Westdeutschland gekommen, schilderte, die damaligen Vorbehalte. „Ja, da war doch was. Die Deutschen fahren mit Panzern rum …“ Aber dann, als sie in Westdeutschland waren, sahen sie, dass die Leute Hüte anstelle von Stahlhelmen trugen und auch nicht Panzern herumfuhren. Und beruhigten sich. Sami Dzemailovski erzählte, seine Familie hätte sich anfangs nicht als „Roma geoutet“. Man war eben Jugoslawe.

Die Eltern vergatterten ihn, sagten: „Du bist Mohammedaner.“ Acht, neun Kinder seien sie in der Schule gewesen, die voneinander wussten, dass sie Roma sind. Aber den anderen hätten sie das nicht gesagt. Bis ungefähr 1990 sei das so gewesen. Bis die ersten Flüchtlinge aufgrund der Jugoslawien-Kriege gekommen seien. Die geflüchteten Roma engagierten sich für ihre Rechte. Dzemailovksi: „Wir haben dann nachgezogen.“ Man outete sich. Dzemailovsci findet das auch nötig. So sähen etwa Roma-Jugendliche heute, dass Angehörige ihres Volkes normal arbeiteten, lernten und studierten. Schon jahrzehntelang einen Platz in der deutschen Gesellschaft gefunden hätten, ein Teil der Gesellschaft seien.

Der mit Verve engagierte Sami Dzemailovksi hält die „Sichtbarkeit der Roma“ für unabdingbar. Seine Mutter ist wohl nicht so begeistert, sie halte ihm sein exponiertes Auftreten als Rom öfters vor. Eine Veränderung des Verhaltens der Menschen gegenüber den Roma hält der Mann für möglich. Freilich wüsste er aber auch, dass jahrhundertealte gepflegte Vorurteile nicht von heute auf morgen verschwänden. Er hofft jedoch, dass irgendwann einmal nicht mehr betreffs der Roma nur immer nur ausschließlich von „Armutszuwanderer“ und „Problemfällen“ die Rede sein werde.

Mirza Demirovic – Man versucht zu helfen, wo man kann

Etwa 5000 Menschen aus Bulgarien und Roma leben augenblicklich in Dortmund. Wovon freilich längst nicht alle der Minderheit der Roma angehören. Streetworker Mirza Demirovic berichtete von den Nöten der in Dortmund aus unterschiedlichen Gründen  angelandeten Menschen. Sie auf der Straße leben, eine Stelle zum Schlafen oder auch medizinische Hilfe suchen. Betroffen sind auch Kinder. Kinder, die bürokratisch betrachtet „gar nicht da sind“ und infolgedessen nicht in der Schule untergebracht werden könnten. Oft würde zudem auch gefragt, wo man Deutsch lernen könne. Auch Kinder zeigten sich ausdrücklich lernbegierig. Man versucht in jedem Fall zu helfen, wo man kann.

Die Vertreterin des Freundschaftsvereins der Neuzuwanderer Dortmund e.V., die eine Bulgarin der dortigen türkischen Minderheit mitgebracht hatte, zeigte auf, wie zum Beispiel Frau Hakan sich gerade auch mit ihren Sprachkenntnissen sehr nützlich für die Vereinsarbeit erweisen. Allein schon die Tatsache, dass Zuwanderer oft mehrere Sprachen sprächen erbrächte einen Beweis dafür, dass sie nicht nur als Problemfälle kämen, sondern auch Nützliches für die Aufnahmegesellschaft mitbringen.

Integration ist keine Einbahnstraße

Und eines zeigte die Podiumsdiskussion und die anschließende Frage-Antwort-Runde im Anschluss ebenfalls auf: Integration ist keine Einbahnstraße. Unter der Einbeziehung der Neuzuwanderer und ihrer Vereine mit Empowerment und Selbstorganisation muss sich die Gesellschaft intensiver beschäftigen. Vorbehalten und Berührungsängsten sollten positive Beispiele entgegengestellt. Dortmund stellt sich den Herausforderungen. Längst hat die Stadt, haben entsprechende Hilfsorganisationen Mittel und Wege gefunden, einen vielleicht noch als bescheiden zu bezeichnenden Anfang gemacht, die Sorgen und Nöte – die Wünsche – der Zuwanderer einerseits verstehen zu versuchen und andererseits begonnen, Wege hin zu einer Willkommenskultur gestalten. Fakt ist: Andere Städte schauen bereits auf Dortmund, um vielleicht dort nützliche Anregungen für das künftige eigene Handeln zu finden.

Das erste Roma-Kulturfestival endet am Sonntag mit dem polnischen Film „Papusza“

Noch bis zum kommenden Sonntag wird es im Rahmen des ersten Roma-Kulturfestivals Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte aus dem sozialen Bereich über Musik, Theater und Film bis hin zum Familienfest auf dem Nordmarkt geben. Mehr Informationen hier. Ein thematischer Filmabend im Sweet Sixteen Kino im Depot wird am Sonntag das Festival abrunden. Zu sehen sein wird der Film „Papusza“ von Joanna Kos-Krause und Kizysztot Krause (Polen 2013).

Schon gestern nach dem Ende der Veranstaltung in der Auslandsgesellschaft Dortmund – bei einem kleinen Imbiss und musikalischer Begleitung von „The Old Bridge“ – sowie diversen persönlichen Gesprächen dürfte ein Wunsch stark im Raume gestanden haben: Möge dieses erste Roma-Kulturfestival in Dortmund keine Eintagsfliege bleiben.