Oberstarzt a.D. Reinhard Erös mit hochinteressantem Afghanistan-Vortrag in Dortmund

Afghanistan. Ich war sofort angetriggert. Das Land trat – wenn ich mich richtig erinnere – 1979 in mein Bewusstsein. Was in erster Linie damit zu tun hatte, dass die Sowjetunion im Dezember 1979 militärisch in einen innerafghanischen Konflikt intervenierte. Was mich und viele andere in der DDR damals schockierte. (1)

Über Afghanistan wussten wir damals bis dato praktisch nichts.

Was sich ändern sollte. Nicht nur über Nachrichten, die man dann zu sehen bekam. Ein für uns zunächst quasi weißer Fleck auf der inneren Weltkarte bekam nach und nach Konturen. Für mich nicht zuletzt deshalb, weil ein junger Afghane an meinem Theater als Beleuchter anfangen sollte. Farid war mit seiner Frau Nagiba in die DDR gekommen, um zu studieren. Mit ihm hatte es im Gegensatz zu seiner Frau an der Uni nicht geklappt. Nun hatte man ihn – der in Kabul beim Fernsehen gearbeitet hatte – in ein Praktikum in die Beleuchtungsabteilung des Theaters vermittelt, mit der Aussicht im Anschluss seinen Beleuchtungsmeister zu machen. Was er übrigens dann auch wurde.

Farid brachte uns sein Heimatland über Bildbänder (mit herrlichen Natur- und anderen Bildern) sowie über Erzählungen nahe. Farid tat das mit einer sehr leisen Stimme. Öfters wurden wir, seine Kollegen, ins Studentenheim, wo er mit seinen Landsleuten wohnte, eingeladen. Sie musizierten mit ihm. Wir tranken Tee zusammen.

Wir lernten, dass Afghanistan ein Land mit schöner Natur, aber teils auch ein karges Land mit hohen Bergen, mit vielen Ethnien und freundlichen, gastfreundlichen Menschen ist. Welches jedoch auch eines der ärmsten Länder der Erde ist, dass seit Jahrzehnten keinen Frieden kannte.

Afghanistan erlebte bis heute 40 Jahre Krieg.

Dass Dr. med. Reinhard Erös, welcher für vergangenen Donnerstag von der Auslandsgesellschaft in Dortmund angekündigt worden war, um zum Thema „Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime“ zu referieren, versprach interessant zu werden.

Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. Und er hatte in der Tat viel Interessantes zu erzählen.

Quo vadis Afghanistan?

Der studierte Arzt übersetzte das erst einmal aufs Medizinische. Brach die Frage auf das Verhältnis Arzt – Patient herunter. Und fragt somit bezüglich Afghanistan: Wie geht es dir? Wo gehst du hin? Wohin entwickelst du dich? Und er musste sich demzufolge zunächst fragen, wie kamst du dahin, wo du jetzt stehst?

Erös hält die Berichterstattung über Afghanistan für eine Katastrophe. Demnächst käme wieder so ein Artikel eines FAZ-Journalisten, der das Land kürzlich besucht hatte. Eine Katastrophe seien etwa 95 Prozent der Artikel über das Land. „Nicht weil die dumm sind, die Journalisten oder gar bösartig. Sondern weil sie halt überhaupt keine Ahnung haben vom Land. Ihnen fehlen die Sprachkenntnisse und Sprachführungskenntnisse, wie sie für Afghanistan unabdingbar wären. „Und natürlich die generelle Kulturkompetenz.“ Das betreffe auch Politiker und Bundeswehrgeneräle. Sie könnten sich eben so kein reales Bild vom Land zu machen. „Sie sind halt dann blind, taub und stumm.“

Wichtig zu wissen: Afghanistan war nie eine Kolonie und hat sich nie domestizieren lassen.

Erös hat in den 1970er Jahren Medizin und Politik studiert. Und er war fünf Jahre bei der Bundeswehr und dort bei den Fallschirmjägern. Er war für Hilfsorganisationen, u.a. die Nato, die EU, die WHO, das IKRK und das Auswärtige Amt in Sachen Entwicklungshilfe in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs.

Warum der Afghanistan-Einsatz nicht nur für die Bundeswehr in die Hose ging

Warum sind also die letzten zwanzig Jahre in Afghanistan nicht nur für die Bundeswehr in die Hose gegangen? Reinhard Erös: „Die Bundeswehr wurde rausgeschmissen!“

„Diese Barfußsoldaten, diese Taliban mit Waffen aus dem Mittelalter haben die größte Militärmacht der Welt, das größte Militärbündnis der Welt, mit den bestens ausgebildetsten Soldaten, mit dem besten Material der Welt, vernichtend geschlagen und vertrieben!“

Das sei bei uns auch nicht so richtig in die Köpfe reingegangen, was damals passiert ist.

Da hätten bei den ganzen Islamisten der Welt sozusagen „überall die Sektkorken geknallt“.

Bei unseren Medien sei das damals auch nicht so richtig dargestellt worden.

Überhaupt kenne er keinen einzigen Journalisten in Deutschland, der vom Militär eine Ahnung hat. Der letzte sei Peter Scholl-Latour gewesen.

Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“

Erös selbst habe zu Studentenzeiten auch nichts über Afghanistan gewusst. Allenfalls kannte man den „Schwarzen Afghanen“. Erös selbst habe das Kraut nie konsumiert: „Ich komme aus Bayern, das raucht man nicht.“ Das Kraut war teuer hierzulande. Weshalb damals zehntausende junge Leute aus Europa nach Afghanistan sich auf den sogenannten Hippie Trail begaben. Dort habe das Kraut so gut wie nichts gekostet.

In der Sterbehäusern von Kalkutta bei Mutter Teresa

Erös` erster Einsatz sei in Kalkutta in Slums des Molochs von Stadt bei Mutter Teresa gewesen. Wo er in den sogenannten „Sterbehäusern“ als Arzt gearbeitet habe. Jeden Tag seien dort bis zu vierhundert Kranke gekommen, weil bei man bei den „Sisters of Charity“ kostenlos behandelt wurde. Das wäre kaum zu bewältigen gewesen. Etwa sechzig Patienten habe er da am Tag zu behandeln geschafft. Wenn er abends nach Hause ging seien dort zehn, zwanzig Tote vor der Tür gelegen.

Thema der nächsten Jahrzehnte: Massenmigration

Damals hatten die Leute ja kein Internet und Fernsehen vielleicht auch nicht. Inzwischen fragten sich die Leute in der Dritten Welt, warum sie in ihrer Not bleiben sollten. Erös: „Die sind doch nicht bescheuert!“ Und so käme es massenweise zu Flucht. Das Migrationsthema werde das beherrschende Thema der nächsten Jahrzehnte sein. Ein britischer Migrationsforscher habe veröffentlicht: Wir müssen damit rechnen, dass wir in Europa – allein wegen der Probleme, die der Klimawandel verursacht – in den nächsten 30 Jahren bis zu 150 Millionen aus diesen Ländern an Migranten bekommen. Das werde er, so Erös, auch am nächsten Tag den Schülerinnen und Schülern an einem Dortmunder Gymnasium sagen und anmahnen: „Interessiert euch für Politik. Mischt euch ein!“

Afghanistan lässt sich nicht domestizieren

Nun wieder zu Afghanistan. Dort können man so momentan so sicher und frei wie vermutlich nirgends auf der Welt bewegen.

Das Ausland interessiere die Taliban überhaupt nicht. Da hätten sie keine Interessen.

Erös: „Es sei denn, das Ausland mischt sich wieder in Afghanistan ein.

Das britische Imperium hat das 1842 spüren müssen. Ihre Armee von 18.000 Mann sei damals in einer Schlucht in einen Hinterhalt geraten und von den Paschtunen aufgerieben und vernichtend geschlagen worden. Übrig seien nur ein Offizier, ein Arzt, sowie ein Hund des Bataillions wieder lebend aus Afghanistan herausgekomme. Der Hund wurde später von den Briten zusammen mit dem Major ausgezeichnet. Erös: „Das war das Stalingrad der britischen Armee.“ Theodor Fontane hat dazu das Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“ geschrieben.

Auch die Sowjetunion habe 1989 schmählich abziehen müssen.

Und auch die USA und die Nato hätten diese Erfahrung am 31. August 2021 machen müssen. Die „Barfußsoldaten“ hätten sie aus dem Land geworfen.

9/11 als Kriegsgrund – dabei hatte kein Afghane etwas mit dem Anschlag zu tun

Hätten die USA mal nach 9/11, machte Erös klar, daran gedacht! Stattdessen habe man sich von dem „dummen Bush“ in dieses Fiasko führen lassen. Den Briten war durch ihre fürchterliche Niederlage 1842 klar: In solche Länder geht man besser nicht. Ich erinnere mich auch, dass einstige Offiziere der Sowjetunion die USA damals warnten, als sie in Afghanistan einfielen.

Die Taliban hätten überhaupt nichts gewusst von dem Anschlag, meinte Reinhard Erös. Kein Afghane sei an dem Anschlag beteiligt gewesen. Keine Polizei der Welt und die CIA hätten einen einzigen Afghanen ermittelt, der an 9/11 beteiligt gewesen wäre. Aber Afghanistan musste herhalten!

Auch ein deutscher Bundeskanzler habe dann da mitgemacht und die Bundeswehr geschickt, sprach von „uneingeschränkter Solidarität“ mit Washington, kritisierte der Referent. „Uneingeschränkt heißt auf Deutsch, egal was du machst, ich mache mit.“ Etwa 60 Bundeswehrsoldaten ließen ihr Leben in Afghanistan.

Am Ende hätten auch die Deutschen abziehen müssen. Ein deutscher General hätte vorher noch gesagt, die afghanische Armee sei nun gut aufgestellt und könne das Land selbst verteidigen. Der Einsatz des Westens sei erfolgreich gewesen! Da rief Erös die Zeitung an, wo dieser Sager des Generals erschienen war. Der Mann war nüchtern gewesen, versicherte der Chefredakteur.

Ähnliches hätte nämlich ein General der sowjetischen Armee gesagt, obwohl der Einsatz Moskaus am Hindukusch ein einziger GAU gewesen sei. Eine Lüge. Nun log ein Bundeswehrgeneral in gleicher Weise.

Immerhin habe ein US-General ehrlich gesagt, ihre Erfolgsbilanz Afghanistan sei „beschissen“. Ungefähr 3500 US-Soldaten starben für Bushs Abenteuer.

Wie viele Afghanen getötet worden, könne nicht gesagt werden.

Auch nicht wie viele Kinder ums Leben gebracht wurden.

Allerdogs die Nachrichtenagentur AP recherchierte vor Ort über getötete Kinder und fand heraus: 346 in einem Jahr!

In keiner deutschen Zeitung habe das gestanden, skandalisierte Erös dies. Als er selbst das veröffentlichte, wurde er angegriffen.

Afghanistan wurde der Bayer Erös zur zweiten Heimat

Dem Bayer Erös ist Afghanistan zur zweiten Heimat geworden. Gründe: das Land geografisch, topografisch und historisch betrachtet. Und die Menschen.

In Afghanistan in vielerlei Beziehung komplex. Allein 50 ethnische Gruppen gibt es. Die sich untereinander nicht verstehen, so sie nicht die Sprache des anderen sprechen. Beziehungsweise wenn sie kein Paschtun (dem Persischen verwandt) sprechen.

Die Mehrheit der Afghanen sind Sunniten aber es gibt auch eine Minderheiten von Schiiten.

Das höchste Rechtsgut der Afghanen ist die Gastfreundschaft

Erös: Das höchste Rechtsgut in Afghanistan ist die Gastfreundschaft. „Wenn ich Gast eines Afghanen bin und er mich als solcher deklariert hat, dann tut der alles, damit es mir gut geht. Dann tut er alles, damit mir kein Leid geschieht.“ So wird auch niemand, der als Gast deklariert ist an eine andere Macht ausgeliefert.“ Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass die Taliban Osama bin Laden seinerzeit nicht an George Bush ausgeliefert wollten.

Das zwei höchste Rechtsgut ist die Blutrache

Habe man etwa jemand in einem Dorf einen Mensch umgebracht, oder die Tochter einer anderen Familie vergewaltigt, gelte die Blutrache. Ein Gericht wie bei uns, gebe es in Afghanistan nicht. Dann käme bei den Paschtunen die Dorf-Schura, der Rat des Dorfes, mit dem Verdächtigen zusammen. Irgendwann werde ein Urteil gefällt. In der Schura hat das letzte Wort – so es noch lebt – das Opfer oder die Familie des vergewaltigten Opfers. Die könnte sagen: den Täter müsse man eigentlich aufhängen. „Aber wir kennen seine Familie. Vielleicht seit Jahrzehnten. Eigentlich sind das anständige Leute.“ Sie könnten sagen, der Täter müsse der Opferfamilie zehn Kühe und zehn Schafe geben. Und er muss die hässlichste Tochter dieser Familie heiraten. „Dann gilt dieses Urteil.“

Außerhalb des Hauses spielen nur die Männer eine Rolle

Ob es uns das nun gefalle, bei den Taliban sei es halt so, dass die Frau außerhalb des Hauses keine Rolle spielen. Das ist den Männern vorbehalten.

Unter den Taliban gibt es – wie vorher durch die Besatzer eingeführt – nun keine Berufe für Frauen wie beispielsweise TV-Moderatorinnen oder andere Tätigkeitsfelder und schon gar nicht in Machtpositionen – wie das von der Sowjetunion und der westlichen Besatzung gefördert worden war – mehr.

Verstoßen Frauen gegen die islamischen Kleidungsvorschriften, würden die nicht etwa wie im Iran ausgepeitscht oder ins Gefängnis gesteckt. Nein, in Afghanistan werden die männlichen Verantwortlichen, die Väter oder Brüder zunächst wegen des falschen Verhaltens der Ehefrauen oder Schwestern „zur Brust genommen“, verwarnt und bei Wiederholung mit Knast bestraft.

Was nicht heiße, so Reinhard Erös, dass die Taliban die Frauen mögen – nein: Sie hielten sie halt wie Kinder einfach für zu dumm, um diese Vorschriften zu befolgen.

Allerdings, so der Referent, habe er letztens in Kabul auf der Straße neunzig Prozent der Frauen gesehen, die kein Kopftuch trugen. Und schon gar keine mit einer Burka. Was freilich auf den Lande anders sei. Da sei das schon sei 500 Jahren so.

Korruption ist eine westliche Erscheinung

Was interessant ist: Afghanistan ist in puncto Korruption auf Platz 15 – 20 heruntergegangen. Erös: „Korruption ist eine westliche Erscheinung.“

Der Afghanistan-Krieg ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit

Von den vielen Milliarden Dollar bzw. Euro, die nach Afghanistan gegangen seien, sei viel versickert, jedenfalls wäre es nicht den Afghanen zugute gekommen. Tausendzweihundert Milliarden Dollar habe der Westen in zwanzig Jahren in Afghanistan ausgegeben. Für Militär! „Es ist der teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit“, sagte der Referent. Nicht einmal zehn Prozent seien für zivile Infrastruktur ausgegeben worden.

Während „unserer Präsenz“ wurden 9000 Tonnen Opium produziert

Opium-Produktion habe es in Afghanistan immer schon gegeben. In 2001 habe die Produktion von Rohopium 180 Tonnen betragen. In „unseren Präsenz“, so Reinhard Erös, waren daraus 9000 Tonnen geworden. Wie Heroin hergestellt wird, hätten die USA in 1980er Jahren den Afghanen in ihrer Botschaft in Kabul erst beigebracht. Damit könne viel Geld verdient werden, sagte sie ihnen, dass man im Kampf gegen die Sowjets verwenden könne.

Unter den neuen Taliban sei der Anbau von Opium seit anderthalb Jahren wieder verboten worden. Alle Drogen einschließlich Alkohol sind laut deren Interpretation des Korans verboten.

Das Hauptziel der Taliban sei in den Himmel, respektive ins Paradies zu kommen. Ansonsten interessiere sie nichts. Erös bezeichnete sie als „strohdumm“. Sie lernten das, was Erös in seinem Religionsunterricht einst lernte: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher kommt ins Himmelreich.

Ein hochinteressanter Vortrag!

Kompakt

Afghanistan 2023 – die politische und soziale Lage unter dem neuen Taliban Regime

Der Referent, Dr. med. Reinhard Erös, Oberstarzt der Bundeswehr a.D., kennt das Land am Hindukusch seit 35 Jahren. In den 80 er Jahren, während der sowjetischen Besatzung des Landes, hat er über fünf Jahre unter Kriegsbedingungen die Bevölkerung in den Bergdörfern ärztlich versorgt. Nach dem Sturz der Taliban gründete er 2001 mit seiner siebenköpfigen Familie die Stiftung Kinderhilfe Afghanistan. (2) Seither wurden in ehemaligen Taliban-Hochburgen im Osten des Landes und im Westen Pakistans u.a. 30 Schulen mit ca. 60.000 Schüler*innen, drei Berufsschulen, eine Universität, zwei Waisenhäuser und drei Mutter-Kind-Kliniken gebaut und ausgestattet. Alle Projekte werden ausschließlich mit privaten Spenden, unter Verzicht auf öffentliche Mittel, finanziert. Mehr als 2.000 Afghanen finden dort Arbeit und Lohn.
Erös lebt und arbeitet die Hälfte des Jahres vor Ort. Er spricht die Sprache der Menschen und begegnet ihnen mit Respekt und auf Augenhöhe. Seit seiner Pensionierung 2002 hat Erös Polizeibeamte, Offiziere der NATO, Hilfsorganisationen und Journalisten für ihren Einsatz in Afghanistan ausgebildet. Er hat das Auswärtige Amt und den Bundestagsausschuss „Entwicklungshilfe“ beraten und in mehr als 3.000 Veranstaltungen im In- und Ausland zu Afghanistan vorgetragen. Für seine Arbeit wurde Erös u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, dem Bayerischen Verdienstorden, sowie dem Theodor Heuss- und dem Europäischen Sozial-Preis ausgezeichnet.
In seinen beiden Bestsellern „Tee mit dem Teufel – als Arzt in Afghanistan“ und „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ erklärt Erös Kultur und die jüngste Geschichte und schildert seine persönlichen Erfahrungen aus einem noch immer archaisch geprägten Land.

Fotos: C. Stille

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan

(2) https://www.kinderhilfe-afghanistan.de/

Bericht im ARD-Weltspiegel.

„Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan“ – Çiğdem Akyol las in Dortmund aus ihrem neuen Buch

Selbst erst nach einem längeren Aufenthalt vor Kurzem aus der Türkei zurückgekommen, hatte ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass die Journalistin und Autorin Çiğdem Akyol in die Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund würde. Im Mai 2015 war sie schon einmal dort zu Gast, um aus ihrem Buch „Generation Erdoğan“ zu lesen (mein damaliger Bericht dazu).

Çiğdem Akyol ist ein Kind Ruhrgebiets

Dortmund ist Çiğdem Akyol nicht nur aus diesem Grund kein fremdes Terrain. Ist sie doch ein Kind der Ruhrgebietsstadt Herne – eine aus dem Pott also. Sie zählt sich zur „Generation Kohl“. Will heißen: Der CDU-Bundeskanzler war über viele Jahre allgegenwärtig. Man kannte nichts anderes. Cigdem Akyol, das Herner Kind von einst, war also damals zu Gast in Dortmund, nahegelegene Großstadt, in die zwecks Freizeitgestaltung gefahren gerne wurde, um Herne – das für Jugendliche schnell zu klein wurde – für einige Stunden zu entfliehen.

2006 begann Akyol als Redakteurin bei der taz in Berlin.

Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie schrieb u.a. für den Standard, die Presse, die österreichische Nachrichtenagentur APA, die NZZ, die WOZ, die Zeit online und die FAZ.

Inzwischen lebt sie in der Schweiz.

Sie sträubte sich lange ein neues Buch zu schreiben

Der Präsident der Auslandsgesellschaft NRW, Klaus Wegener (Foto) und Nevzat Izci, Deutsch-Türkische Gesellschaft, (Foto unten) begrüßten Çiğdem Akyol herzlich.

Im Anschluss daran erklärte die Autorin, dass sie einige Anfragen, ein neues Buch zu schreiben zunächst immer abgelehnt hatte. Als allerdings der 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik (ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk) heranrückte, gebar sie die Idee zum neuen Buch. Akyol fand, es gebe ja so viel über die Türkei, dass in Deutschland noch nicht erzählt worden war.

Der Arbeitstitel zum geplanten Buch war „Biografie eines Landes“. Sie wollte nicht wieder den Namen Erdoğan im Titel haben. Schließlich sei ja Erdoğan, obwohl er „absolut eine historische Figur – wenn gleich eine „umstrittene historische Figur“ – sei nicht die Türkei. Journalisten jedoch würden seinen Namen gerne im Titel ihrer Artikel haben. Im Journalismus nenne man so etwas Clickmonster. So generiere man halt mehr Aufmerksamkeit.

Auch ihr Verlag dachte wohl so. Er schlug einen anderen Titel vor.

So heißt das Buch nun: „Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan“.

Foto: Çiğdem Akyol

Akyol fing im Buch mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik durch Atatürk an

Ihre Schwierigkeit bei dem Buch zunächst: „Wo anfangen, wo aufhören?“ Sie entschloss sich mit dem Gründungsdatum der Türkischen Republik bzw. mit Atatürk anzufangen. Hätte sie mit Osmanischen Reich begonnen, wäre das Buch zu sehr ausgeufert. Womöglich hätte sie den Leser auch „unterwegs“ verloren.

So habe sie chronologisch gearbeitet. Das in fünfzig Seiten zu erzählen sei eine Herausforderung – „fast schon eine Unmöglichkeit“ – gewesen.

Im Buch gebe es immer wieder Einschübe über gesellschaftspolitische Themen . Auch über türkische Schriftsteller, wovon es in der Türkei interessante Figuren gibt bzw. gab – um nur einige zu nennen: Yasar Kemal, Nazim Hikmet – die Weltliteratur geschrieben haben.

Des Weiteren habe sie die „Kopftuchfrage“ behandelt. Die laizistische Türkei habe ja das Kopftuchverbot am restriktivsten durchgesetzt. Man muss wissen, dass dieses Kopftuchverbot auch in den Universitäten betroffen hatte. Wächter ließen keine Studentinnen mit Kopftuch ein. Erst Recep Tayyip Erdoğan kippte dieses Verbot. Was wiederum Çiğdem Akyol – egal, ob man das Kopftuch nun mag oder nicht – für richtig erachtet.

Der Putsch

Auch über den Putschversuch 2015 hat Çiğdem Akyol ein Kapitel geschrieben. Damals, erzählte sie eine Anekdote, habe sie ja noch in Istanbul – nahe dem Taksim-Platz – gelebt und zunächst gar nichts davon mitbekommen. Am Abend hatte sie in einem Café ein paar Straßen weiter einen Tee getrunken. Und keines ihrer zwei Handys dabei gehabt. Wieder zuhause sah sie, dass ihre Mutter aus Deutschland mehrfach angerufen hatte. Sie rief zurück und die Mutter sagte ihr: „Bei euch gibt es einen Putsch.“ Zwar hatte sie zuvor Düsenjäger wahrgenommen, die die Schallmauer durchbrachen – dies aber, so Akyol, sei eigentlich öfters vorgekommen und war für gewöhnlich kein Grund zur Beunruhigung. Ungläubig zunächst habe sie letztlich in den Medien die Bestätigung dafür gefunden und dann darüber geschrieben.

Das Militär

Ein weiteres wichtiges Thema in ihrem Buch: das einst so mächtige türkische Militär. Erdoğan hatte es auf Wunsch der EU – der ja die Türkei beitreten wollte – wesentlich entmachtet. Was, so Akyol, auch Erdoğan in die Hände spielte.

Interviewpartner zu finden war nicht schwer: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen“

Weiters, berichtete die Autorin, habe es ziemlicher Anstrengungen bedurft, Interviewpartner zu finden: „In der Türkei läuft sehr vieles über Vertrauen.“ Da habe man über E-Mails selten Erfolg. Für ihr Buch hat sie ungefähr hundert E-Mails geschrieben. Antworten dagegen bekam sie wenige. Auch Anrufe führen da kaum zum Erfolg. Kenne man jemanden, der eine Begegnung befördern, liefe es schon besser. Schließlich sei sie den Menschen nicht bekannt. Wenn dann ein Treffen zustande kam, lerne man sich erst einmal vorsichtig kennen. Dann werde einfach erst mal ein Tee zusammen getrunken. „Dann kriegt man später ein Statement. Oder auch nicht.“

Viele Menschen hätten auch einfach Angst, sich kritisch zu äußern.

Es sei ja für Interviewte fatal, wenn sie Fehler gemacht habe und der Text gedruckt erscheint.

„Das freie Wort steht unter großem Druck.“

Dass deshalb Leute vorsichtig seien, dafür hat Akyol Verständnis geäußert. Wobei sie in der Türkei lebende Menschen aber nun wiederum auch brauchte. Sie wollte ja keine Reportage schreiben, die lediglich auf den Blick durch die eigene Brille fuße. Sie meinte, zwanzig Interviews geführt zu haben, was „wahnsinnig anstrengend“ gewesen sei.

Probleme der Türkei

Bedenklich nannte Akyol den Braindrain, welcher derzeit in der Türkei zu registrieren ist. Die wirtschaftliche Situation, die Inflation, nahezu täglich steigende Preise und fehlende Arbeitsplätze mache vor allem den jungen Menschen zu schaffen, die um ihre Zukunft fürchten. Die Arbeitslosenquote steigt. Zur Info: Als Erdoğan 2003 an die Macht kam waren für ein Euro 5,3 Türkische Lira zu bekommen. Momentan ist das Verhältnis 1 zu 29.

Die Landeswährung verliere immer mehr an Wert. Ständig senke die Zentralbank auf Druck Erdoğans die Leitzinsen, wo sie doch eigentlich erhöht werden müssten, liest die Autorin aus ihrem Buch.

Erdoğan scheine all das nicht zu schaden. Letztes gewann er sogar die Wahlen wieder. Er überstand bisher eine Gefängnisstrafe (wegen Zitat eines Gedichts), Drohungen des Militärs, die Gezi-Demonstrationen, den Putschversuch und den Kampf mit der Gülen-Bewegung. Allerdings brächten ihn die anhaltenden Wirtschaftskrise sowie die innenpolitischen Probleme in Bedrängnis.

Die Berichterstattung der Medien in Deutschland, gab Akyol zu bedenken, finde sie „manchmal sehr einseitig“.

Als die Autorin mit einem AKP-Politiker spricht, kritisierte dieser die EU. Sie spiele bestimmte Vorwürfe hoch. Etwa die, welche sie der Türkei in puncto Menschenrechten mache. Es gebe Länder in der EU, die in Sachen Menschenrechte schlechter dran seien oder zumindest auf der gleichen Stufe wie die Türkei stünden. Die EU habe die Türkei fallenlassen und die ganze Zeit immer nur betrogen. Das sage nicht nur er, sondern die Kritik teile die öffentliche Meinung im Lande.

Die Opposition hat seit Jahren keinen Erfolg die Regierung abzulösen

Akyol stellte fest, seit zwanzig Jahren habe es die Opposition nicht geschafft gegenüber der AKP-Regierung (zusammen mit der nationalistischen rechten MHP) eine Alternative darzustellen. Zuletzt war Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) im Bunde mit sechs verschiedenen Parteien (der „Sechsertisch“) damit gescheitert die Regierung abzulösen. Çiğdem Akyol vermutet, das habe neben Anderem daran gelegen, dass Kılıçdaroğlu noch nie ein Ministeramt bekleidet habe und vielleicht auch daran, dass er sich kurz vor der Wahl in sozialen Netzwerken als Alewit geoutet habe. Alewiten (in der Türkei leben etwa 15% von ihnen). Alewiten wird in der Türkei nicht selten mit Misstrauen und alten Vorbehalten begegnet.

Erdoğan ist immer für eine Überraschung gut

Auf eine Zuhörerfrage hin wollte Akyol in ihrer Antwort nicht über die Zukunft spekulieren und darüber, ob mit Erdoğan noch länger zu rechnen sei. Sie vergaß nicht zu erwähnen, dass dieser in den ersten Jahren der AKP-Regierung durchaus vieles in der Türkei erreicht hatte. Er habe ja zwar nun angekündigt in fünf Jahren nicht wieder anzutreten. Doch der Mann sei immer wieder für Überraschungen gut gewesen zu sein. Es sei denn, gesundheitliche Gründen stünden dagegen.

Ein wirklich informativer Abend mit einer sympathischen Autorin, die offenbar mit einem weiteren, auf Kenntnisreichtum zurückgreifend und über behutsam geführte Interviews zustande gekommen Buch aufwartet.

Çiğdem Akyol bedankte sich herzlich bei der Auslandsgesellschaft und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für die Einladung an sie. Sie verlieh ihrer Freude Ausdruck, dass so viele Menschen gekommen waren, um der Lesung beizuwohnen und sich mit Interesse an der Diskussion beteiligt hätten.

Çiğdem Akyol

Die gespaltene Republik

Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan

Spannend und voller Empathie für das Land erzählt Çiğdem Akyol die Geschichte derTürkischen Republik, ausgerufen am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk. Er schuf auf den
Trümmern des Osmanischen Reiches seine Vision einer modernen Türkei. Die Schattenseiten der verordneten Modernisierung sind bis in die Gegenwart spürbar: So erlebte das Land nach Atatürk mehrere Militärputsche und eine brutale Minderheitenpolitik. Doch die Entwicklung der Republik ist auch eine Erfolgsgeschichte: Die heutige Türkei ist ein aktiver außenpolitischer Gestalter in der Weltpolitik – und eine starke Volkswirtschaft.
Çiğdem Akyol beleuchtet die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hinter der Geschichte – das ideologisch geprägte Justizsystem, die Macht des Militärs, die Verfolgung von Schriftstellern und die Debatte um Religion und Säkularismus. Zu Wort kommen dabei auch Menschen aus der Türkei, die persönliche Eindrücke schildern, unter anderen die Journalisten Bülent Mumay und Can Dündar, die Feministin Büşra Cebeci und der ehemaligen Außenminister Yaşar Yakış. Überdies kommen ehemalige AKP-Mitglieder und -Mitarbeiter mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen zu Wort.
Eine umfassende, lebendige Geschichte der Republik, die uns auch die Gegenwart nahebringt und die jüngsten Entwicklungen nachvollziehbar macht. Die Lesung hat sozusagen Appetit auf das neue Buch von Akyol gemacht

Erscheinungstermin: 25.04.2023

Gebundene Ausgabe: 26,00 €

S. Fischer Verlage

Anbei:

Çiğdem Akyol im Literaturhaus Zürich

Karl Schenk Graf von Stauffenberg fordert mehr demokratisches Engagement: „Der Staat sind wir alle“

Wie Rechtsextremismus und menschenfeindlicher Hetze am Besten zu begegnen sei und was diesbezüglich von Claus Schenk von Stauffenberg zu lernen wäre, darüber wurde in der Auslandsgesellschaft Dortmund gesprochen. Zu Gast war der Enkel des Hitler-Attentäters Karl Schenk Graf von Stauffenberg. Einig war man sich, dass sich der Einzelne mehr in die Demokratie einbringen und die Stadtgesellschaft positive Zeichen setzen muss.

In den letzten Jahren hat sich die politische Kultur nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa sehr verändert. Durch die Anonymität sozialer Medien ist menschenfeindliche Hetze alltäglich und auf erschreckende Weise sozusagen salonfähig geworden. Der rechtsterroristische Anschlag in Halle am 9. Oktober verdeutlicht, welche Konsequenzen dieses veränderte Klima haben kann und unterstreicht die Notwendigkeit von zivilem Widerstand in der heutigen Zeit.

Stauffenberg zu heißen ist kein Privileg, sondern eine Verpflichtung“

Das war Thema bei einer Veranstaltung von Multikulturelles Forum e.V. in der Auslandsgesellschaft in Dortmund. Um Widerstand gestern und heute ging es dort bei einem Vortrag von Karl Schenk Graf von Stauffenberg, dem Enkel von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dessen Bombenattentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 scheiterte. Dem Vortrag, welchem sich eine Podiumsdiskussion anschloss, war der Titel „Stauffenberg zu heißen ist kein Privileg, sondern eine Verpflichtung“ gegeben worden.

Karl Schenk von Stauffenberg zeichnete ein Bild von seinem Großvater und der Zeit in der aufwuchs und lebte

Dem Gast aus Franken war freilich klar, dass ZuhörerInnen auch gekommen waren, um etwas über seinen Großvater erfahren, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 75. Mal jährte. Dabei ging es ihm, wie er sagte, auch darum mit einen oder anderen Legende aufzuräumen bzw. Sachverhalte aus Sicht der Familie darzustellen. Zu diesem Behufe zeichnete Karl Schenk von Stauffenberg zunächst einmal ein Bild der Menschen, die mit dem Attentat auf Hitler im Zusammenhang standen. In letzter Zeit sei sozusagen eine „dunkle Wolke über die Offiziere des 20. Juli, die Offiziere des Widerstandes“ heraufbeschworen worden. Es habe geheißen, diese Offiziere hätten nicht aus Gewissensgründen gehandelt, sondern deshalb, „weil Adolf Hitler ein schlechter Feldherr gewesen und der Krieg augenscheinlich schon verloren sei“ und sie mit diesem Attentat „schlimmeres von deutschen Volk“ hätten abwenden wollen. Selbst wenn es wirklich so gewesen wäre, so Von Stauffenberg, wäre das ja auch nachvollziehbar.

Karl Schenk Graf von Stauffenberg. Foto: Alexander Völkel.

Notwendig wäre, so der Gast, erst einmal zu schauen, was diese Reichswehr- und später Wehrmachtsoffiziere anfangs des 20. Jahrhunderts für Menschen gewesen sind. In erster Linie seien sie eben Offiziere und mit meisten anderen Menschen nicht zu vergleichen gewesen wären. Als Berufssoldaten hatten sie apolitisch zu sein und deshalb während der Weimarer Republik noch nicht mal über ein Wahlrecht verfügt. Dies alles bedenkend, sei über seinen Großvater zu sagen: ein Demokrat war er nicht. „Aber“, gab Stauffenberg zu bedenken, „nicht jeder Nichtdemokrat ist gleichzeitig ein Nazi gewesen“. Ein Held sei sei Großvater nicht gewesen.

Der Großvater wuchs am Hof des Königs von Baden-Württemberg auf – wo der Urgroßvater Kammerherr gewesen sei -, wo er zusammen mit den Königskindern im Königsschloss in Stuttgart spielte.

Dann sei er unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs mit 18 Jahren Soldat geworden. Der Großvater habe erlebt, dass mit der Weimarer Republik der erste deutsche Demokratieversuch gescheitert war. Dann kam 1933 und Hitler an die Macht. Das erste, was Hitler tat, war den Versailler Vertrag von 1918 zu kündigen. Das sei bei den Deutschen auf große Zustimmung gestoßen. Denn dieser Vertrag hatte dazu geführt, so Stauffenberg, „dass Deutschland seiner Schätze beraubt wurde“. Das Ruhrgebiet etwa war von den Franzosen besetzt und die hier abgebaute Kohle ging nach Frankreich. Das Saarland war von Frankreich annektiert.

Claus Schenk von Stauffenberg habe die Kündigung des Versailler Vertrags wohl begrüßt, sei aber dennoch „kein Freund des Nationalsozialismus, so wie wir ihn heute kennen“, sondern „ein königstreuer Mensch“, ein sehr gläubiger Christ und musisch begabter Cellist gewesen, der eigentlich Architekt oder Musiker hätte werden wollen.

Auch habe er sehr unter dem Eindruck des damals sehr bekannten Dichters Stefan George gestanden.

Das müsse über seinen Großvater gewusst werden, merkte Karl Schenk Graf von Stauffenberg an. Und im jugendlichen Alter von 25 Jahren sei dieser gewiss noch kein Gegner von Hitler von Anfang an gewesen.

Allerdings gebe es in Reaktion auf den Überfall der Wehrmacht auf Polen „ein verbrieftes Zitat“ von seinem Großvater: „Jetzt macht der Narr Krieg.“ Als Soldat war er aber Befehlsempfänger und habe seine Arbeit machen müssen.

Stauffenberg fragt sich, warum es wieder extreme Parteien in unsere Parlamente schaffen

Schließlich ging Stauffenberg auf den derzeitigen gesellschaftlichen Zustand ein. Er fragte, wie wir eigentlich dazu kämen, dass „nach der Geschichte, die wir haben bzw. unsere Vorfahren hatten“ – heute weit an den politischen Rändern wieder extreme Parteien in unsere Parlamente schaffen.

Er sprach von zwei „Unrechtsstaaten“, die wir hinter uns hätten. Und meinte damit auch die DDR und kritisierte, dass eine Ministerpräsidentin und ein Ministerpräsident hierzulande diese nicht als „Unrechtsstaat“ sehen wollten.

Stauffenberg: Das Grundgesetz garantiert uns Freiheit – die aber hat eine Kehrseite

Wir alle, bemerkte der Gast, hätten in den vergangenen sieben Jahrzehnten kriegerische Auseinandersetzungen auf deutschen Boden nicht mehr erlebt. Das Grundgesetz garantiere uns Freiheit. Diese Freiheit habe aber auch eine Kehrseite: die Verantwortung des Einzelnen. Die Freiheit nähmen wir als eine Selbstverständlichkeit hin – sozusagen als „Naturgesetz“.

Karl Schenk Graf von Stauffenberg malte ein (im Vergleich zu anderen Ländern auf der Welt) ein äußerst positives Bild vom gegenwärtigen Deutschland. Und fragte sich, „wie man so unzufrieden sein kann mit dem was wir hier erreicht haben, dass man wiederum anfängt, Parteien zu wählen, die am liebsten um Deutschland herum eine Mauer bauen möchten“. Wir müssten doch alle etwas für unsere Gesellschaft tun. Doch diesbezüglich habe gewissermaßen unsere Politik ein bisschen Schuld. Die Parteien sagten: „Seid ihr mal frei und wir kümmern uns um den Rest“. Das könne gar nicht funktionieren.

Menschen, die sich nicht bemühten der Gesellschaft zurückzugeben, was diese ihnen als Hilfe gegeben habe, sollten sanktioniert werden. Das findet Stauffenberg gerecht

Dann präsentierte Stauffenberg das – wie er selbst zugab – „populistische Beispiel“ eines jungen Menschen, der „lieber vor seine Spielkonsole sitzt als in die Schule zu gehen“. Letztlich lande der ohne Schulabschluss und Lehrstelle in Hartz IV. Dort habe er sich gut eingerichtet. Dann käme irgendwann die Gesellschaft und die sage ihm, er habe die letzten Jahre auf Kosten der Gesellschaft gelebt und nun verlange man von ihm, dass er dieses Geld in Form von eigener Leistung zurückzugeben. Man sei nicht unsozial und gebe ihm einige Umschulungsmaßnahmen und später Vorstellungsgespräche. Der junge Mann habe aber letztlich keine Lust. Dann käme die Gesellschaft, in den Fall die Agentur für Arbeit, daher und kürze diesem jungen Mann sein Hartz IV-Satz. Stauffenberg: „Ist das gerecht? Ist das menschenunwürdig, wie bestimmte Politiker sagen? Ich behaupte, es ist gerecht.“

Er sei sehr wohl dafür Menschen im sozialen Netz aufzufangen. Aber es könne nicht zugelassen werden, Menschen zu finanzieren, die nichts für ihren Lebensunterhalt tun wollen, obwohl sie dies könnten. Das findet Stauffenberg „zutiefst ungerecht“.

Der Staat sind wir alle“

Ebenso wenig könne er verstehen, dass Leute nicht mehr wählen gingen.

Wir müssten doch verstehen, dass wir selber für unser Land Verantwortung trügen!

Warum, skandalisierte der Gast, gingen nicht zehntausende Menschen für unseren Rechtsstaat auf die Straße? Stattdessen müsse man Pegida erleben, die gegen Ausländer demonstrierten.

Wann gehe denn „die große Mitte“ – die Menschen, die mit dem Leben hier sehr zufrieden sind auf die Straße und sagten: „Wir lassen uns die öffentliche Wahrnehmung nicht von Extremisten wegnehmen!“

Überall in der Gesellschaft müssten wir extremistischen Meinungen vehement entgegentreten, forderte Von Stauffenberg. Wir müssten uns klarmachen und hätten ein Verantwortung zu übernehmen: „Der Staat sind wir alle!“

Mit Platon war Stauffenberg auch einer Meinung: „Wenn die Guten nicht kämpfen, gewinnen die Schlechten.“

Stauffenberg kann Forderungen nach Verstaatlichung und Enteignung nicht verstehen und erntete Widerspruch

Stauffenberg prangerte Menschen an, die grundgesetzwidrig laut darüber nachdenken dürften, ob man Unternehmen wie BMW verstaatlichen und kollektivieren sollte.

Auch gebe es „Leute vom linken Rand“, die laut darüber nachdächten, Wohnungsbaugesellschaften in Berlin zu enteignen. Stauffenberg habe da den „großen kollektiven Aufschrei unserer Gesellschaft“ vermisst: „Wir glauben es ist ungerecht, wenn Mieten in Berlin höher werden.“

Ein Herr aus dem Publikum fand diese Sicht „sehr vereinfacht und oberflächlich“ und, dass Stauffenberg die Auswirkungen des „Neoliberalismus völlig außer Acht gelassen“ habe. Überdies sei in Deutschland „die Schere zwischen arm und reich extrem auseinandergegangen“. Und auf das Beispiel mit dem Jungen mit der Spielkonsole anspielend, sagte der Herr: „Wir haben inzwischen sechzig Prozent prekär verdienende Menschen“. Auch habe der Staat Kontrolle und Grenzen aufgegeben, wie sie früher gegenüber Auswüchsen des Kapitalismus hätten Wirkung entfalten können.

Das sei schwierig geworden, so Stauffenberg, verwies auf die Globalisierung und meinte, das stünde auf einem anderen Blatt Papier.

Ob der Stauffenbergschen Einschätzung der Thüringen-Wahl bekam eine Dame Bauchschmerzen

Zur Thüringen-Wahl meinte Stauffenberg, „beide Ränder zusammennehmend“ hätten über fünfzig Prozent der WählerInnen dort Parteien gewählt, die in ihren Parteien Funktionsträger duldeten, die das System Deutschland verändern wollten, die „Nichtdemokraten, Nazis oder Kommunisten in ihren eigenen Reihen dulden“.

Eine Dame aus dem Publikum bekannte gegenüber dieser Aussage Bauchschmerzen bekommen zu haben. In Wirklichkeit habe man Bodo Ramelow in Thüringen ganz viel zu verdanken. Die AfD hätte ohne seine Person womöglich 30 oder sogar mehr Prozent bekommen. „Die Partei DIE LINKE aber mit der AfD in irgendeiner Weise in Zusammenhang zu bringen, dass ist nicht richtig“, wendete die Dame ein. Gerade in Richtung Chancengleicheit und Bildung habe sich die Partei in Thüringen stark gemacht.

Stauffenberg ruderte darauf leicht zurück: Er habe die Linke mit der AfD nicht in einen Topf schmeißen wollen. Aber eine Partei sei für ihn nicht wählbar, in ihren Reihen Funktionäre oder Mandatsträger habe dulde, die das System unserer Demokratie hier ablehnten. Einen Beweis dafür blieb Stauffenberg allerdings schuldig.

Podiumsdiskussion mit Micha Neumann (Projekt Quartiersdemokraten) und Alexander Völkel (Nordstadtblogger) zusammen mit dem Gast

Im der sich anschließenden Podiumsdiskussion wurde gemeinsam mit Micha Neumann (Projekt „Quartiersdemokraten“) und Alexander Völkel (Leitender Redakteur der Nordtstadtblogger) über aktuelle Formen des Widerstandes unter besonderer Berücksichtigung der Aktivitäten in Dortmund gegen Rassismus und Antisemitismus diskutiert.

Von Links: Micha Neumann, Moderatorin, Karl Schenk Graf von Stauffenberg und Alexander Völkel.

Alexander Völkel stellte bezüglich der von Karl Schenk von Stauffenberg Empörung über Forderungen nach der Enteignung von Wohnungsgesellschaften in Berlin zunächst einmal klar: Dass dort „massenhaft soziale und kommunale Wohnungen privatisiert und den Hedge-Fonds überlassen werden und Menschen aus ihren Quartieren verdrängt werden“. Und ihr Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Das gehöre auch zur Wirklichkeit. Aus Völkels Sicht sind das Auswirkungen einer verfehlten Politik „Privat vor Staat“, die sehr viele Probleme verursacht und wenig gelöst habe.

Auf die Entgegnung von Stauffenberg, einem privatwirtschaftlichen Unternehmen könne man schwer vorwerfen, wenn sie günstig Wohnungen kaufen darf, sie dann auch zu kaufen, „warf

Völkel ein: „Die sind für’n Appel und Ei verramscht worden.“

Stauffenberg: Verantwortung übernehmen, Despoten bekämpfen

Dann schwenkte die Runde auf das eigentliche Thema Widerstand ein. Karl Schenk von Stauffenberg sah es als unsere Aufgabe an, eingedenk der Tat seines Großvaters, Verantwortung zu übernehmen. Und zwar da, wo sie zwingend geboten ist, wie im Dritten Reich. Ein Despot, der der ganzen Welt Schaden zufügt müsse bekämpft werden. Seinen Großvater beschrieb er als ambivalente Person – wie wir alle welche seien -, die keine jungfräuliche Person gewesen, die ohne Sünde war.

Micha Neuman zur Erinnerungsarbeit in Dorstfeld

Was hinsichtlich dem bevorstehenden Gedenken angemessene Erinnerungsarbeit Dorstfeld zu leisten sei, darüber stand Micha Neumann vom Projekt Quartiersdemokraten Rede und Antwort. Am Freitag steht ja die Erinnerung an die Pogromnacht an. Am Mahnmal der ehemaligen Synagoge in Dorstfeld, wo sich einst ein Zentrum des Judentums befunden habe, werde am Freitag abermals eine Gedenkveranstaltung abgehalten. Neumann erinnerte daran, dass diese in den letzten Jahren von den im Stadtbezirk wohnenden Neonazis massiv angegriffen worden war. Es komme neben dem auf die Vergangenheit bezogenem Gedenken auch darauf an, eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen und den Antisemitismus und Rassismus von heute zu thematisieren. In Schulklassen werde in diesem Sinne eine hervorragende Arbeit geleistet.

Die Stadtgesellschaft muss „positive Zeichen“ setzen, meint Alexander Völkel

Alexander Völkel meinte, es sei sehr wichtig zu hinterfragen, was all das heute mit uns zu tun habe. Dortmund habe ja eine sehr bunte Stadtgesellschaft. Auf die Nordstadt bezogen müsse gesagt werden, dass die erwähnte Geschichte im Zweifelsfall für sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung im Stadtbezirk nicht die ihre ist, dennoch aber etwas mit ihnen zu tun habe. Bestimmte Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen seien nämlich dieselben – damals wie heute. Als Problem benannte Völkel Ritualisierungen und als Beispiel das städtische Gedenken am Volkstrauertag. In den letzten Jahren träten dort auch um die sechzig Neonazis in Erscheinung, die nach dem offiziellen Teil dort ihr „Heldengedenken“ abhielten. Auch der erste Mai werde von Neonazis mit dem Spruch „Arbeitsfrei seit 1933“ instrumentalisiert und somit missbraucht.

Da müsse die Stadtgesellschaft „positive Zeichen“ setzen. In dem Sinne, so Völkel, könnten auch positive Beispiele in Dortmund genannt werden, wie das mittlerweile gut etablierte Gedenken in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache und im Rombergpark das Karfreitagsgedenken für die in den letzten Kriegstagen von den Nazis ermordeten Kriegsgefangenen und politisch anders denkenden Menschen. Es existiere also eine gute Gedenkkultur in Dortmund, bei der junge Menschen als „Botschafter der Erinnerung“ eine hervorragende Rolle spielten. So werde der Wert der Demokratie deutlich gemacht.

Karl Schenk Graf von Stauffenberg ist vom Dortmunder Engagement gegen Rechts begeistert

Karl Schenk Graf von Stauffenberg engagiert sich im Verein „Mittendrin statt EXTREM daneben“, die eine eine Gemeinschaft von Menschen sein will, die mit demokratischen Mitteln gegen jegliche Form des Extremismus und Radikalität kämpfen.

Von dem Engagement gegen Rechts in Dortmund zeigte er sich begeistert. Dortmund sei wohl „so eine Art ideelle Insel im deutschen Großstadtdschungel, was er sehr bewundernswert finde. Das fände sich etwa in München in dieser Form nicht. Das sei etwas, dass er auch gerne mitnehme als Anregung von Dortmund.

Micha Neumann erklärte, dass habe ja auch mit einer sehr vitalen Neonaziszene hier in Dortmund zu tun, die in anderen westdeutschen Städten so nicht existiere. Aber ja, Dortmund habe mittlerweile ein Vorreiterrolle. Zeit etwa zehn Jahren werde im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus in Dortmund auch einiges an Geld investiert. Hier sei auch die erste Beratungsstelle für Opfer von rassistischer Gewalt eingerichtet worden. Auch gebe es andere Träger, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Neumann erinnerte daran, dass in Dortmund in der Vergangenheit bereits fünf Menschen – drei davon waren Polizisten – von Neonazis ermordet wurden. Micha Neumann zeigte sich empört darüber, dass in Deutschland Gelder für wichtige Präventionsarbeit befristet oder gar gestrichen werden.

Alexander Völkel: Rechtsextremismus und Linksextremismus nicht reflexartig gleichsetzen: „Wir haben seit 1990 zweihundert politische Morde von Rechts!“

Alexander Völkel erwähnte die Aussage eines CDU/CSU-Innenexperte im Bundestag, der nach dem als Mord mit rechtsextremen Hintergrund am CDU-Politiker Lübcke davon gesagt habe: Wenn sich der rechtsextremen Hintergrund bestätige, dann wäre das der erste politisch motivierte Mord seit 1945. Völkel habe da gedacht: „Guter Mann, wo hast du denn gelebt in den letzten Jahren?“

Stauffenberg sprach diesbezüglich von einem „politischen Wachkoma der Union“. Völkel weiter: „Wir haben seit 1990 zweihundert politisch motivierte Morde von Rechts!“ Auf der linken Seite sei seit der RAF „nicht wirklich was präsent“.

Der Journalist wollte nicht falsch verstanden werden: Gewalt sei für ihn überhaupt keine Lösung und abzulehnen. „Nur das Reflexartige, wenn wir etwas gegen Rechts machen, müssen wir auch etwas gegen Linksextremismus machen“, kritisiere er. Völkel merkte an: „Auf der einen Seite brennen Autos, auf der anderen Seite brennen Menschen!“

Das Thema Anfeindungen habe man ganz massiv auch im Journalismus. Es kämen Todesdrohungen, man erhalten Briefumschläge mit Pulver und Schweineschnauzen und Kollegen hatten rote Winkel in der Post.

Wegbereiter eines solchen Tuns seien auch bestimmte AfD-Politiker mittels verbaler Ausfälle.

Was also kann man von Claus Schenk von Stauffenberg lernen und in Dortmund besser machen?

Alexander Völkel meinte dazu in der Schlussrunde, man müsse sich gegenüber bestimmten Strukturen nicht gefangen geben. Gesellschaftspolitisch gebe es viele Möglichkeiten sich demokratisch einzubringen. Er habe allmählich die Sorge, dass der Kabarettist Volker Pispers recht habe, der einmal gesagt habe, es sei offenbar das Problem in dieser Demokratie, dass man nicht in der Lage ist, eine Politik zu machen, von der achtzig Prozent der Menschen etwas haben. Völkel fürchtet, im Moment gehe durch entsprechenden Lobbyismus und die immer stärker werdende Ungleichheit gerade in Deutschland die Reise wohl leider eher in die andere Richtung. Doch, wenn mehr Menschen bereit seien, das nicht mehr zu akzeptieren und sich entsprechend artikulieren, könne man vielleicht doch wieder ein lebenswerteres Deutschland gestalten.

Karl Schenk Graf von Stauffenbergs Fazit an diesem Abend: Gegenüber dem Eindruck, den er über die letzten fünf Jahre gewonnen hatte, habe ihn Dortmund eines Besseren belehrt, weil die öffentliche Anstrengung dem Rechtsextremismus zu begegnen hier wirklich greifbar sei.

Auf dem 10. Afro Ruhr Festival: „Bald 60 Jahre Unabhängigkeit. Immer noch in den Fängen des Kolonialismus? – Podiumsdiskussion mit Experten

Moderator, Dr. Boniface Mabanza Bambu, Martial Ze Belinga und Dr. Dereje Alemayyehu (v.l.). Fotos: C. Stille

Ein interessanter Programmpunkt neben vielen kulturellen Höhepunkten auf dem 10. Afrika Ruhr Festival (28.6 bis 30.6.2019) im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund waren Vorträge und eine sich anschließende Podiumsdiskussion unter dem Titel „Bald 60 Jahre Unabhängigkeit. Immer noch in den Fängen des Kolonialismus?“. Ins Visier genommen waren diesbezüglich afrikanische Staaten

Die brillant und kenntnisreich vortragenden und bis in kleinste Detail überzeugend argumentierenden Experten, die Impulsvorträge hielten, waren Dr. Boniface Mabanza Bambu (Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika KASA), der Wirtschaftswissenschaftler Martial Ze Belinga und Dr. Dereje Alemayehu (Executive Coordinator der Global Alliance for Tax Justice).

60 Jahre Unabhängigkeit – Haben 17 afrikanische Ländern nächstes Jahr Grund zum feiern?

Im Jahre 2020 können 17 afrikanische Länder 60 Jahre Unabhängigkeit von ihren einstigen Kolonialstaaten feiern. Viele Afrikaner dürften allerdings der Meinung sein, dass diese Jubiläen weniger einen Anlass zum Feiern als vielmehr zum Nachdenken bieten. Wenn schon gefeiert wird, hätten gewiss einige afrikanische Staaten

Dr. Boniface Mabenza Bambu. Fotos: C. Stille

mehr als andere zu feiern, merkte eingangs der Moderator der Veranstaltung an.

Dr. Boniface Mabanza Bambu sprach davon, dass etwa Botswana ab der Unabhängigkeit einen Weg genommen habe, der möglicherweise Grund zum Feiern gibt. Der Umgang mit Ressourcen sei vonseiten der Eliten Botswanas von Anfang an klug geregelt worden. Sie schrieben fest, dass das Land an den Gewinnen etwa aus dem Abbau von Diamanten beteiligt wird und die multinationalen Konzerne besteuert werden.

Dagegen gebe es auf den afrikanischen Kontinent jedoch Länder die rohstoffreicher sind als Botswana, aber unterproportional wenig Nutzen für sich daraus ziehen könnten.

Was Kolonialismus bedeutete

Es sei aus seiner Sicht, so Dr. Mabanza, daran zu erinnern, was Kolonialismus bedeutete. Er zitierte zu diesem Behufe einen Staatsekretär des deutschen Reichskolonialamtes, der 1907 über Kolonialisierung gesagt habe:

Kolonisation heißt, die Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze, der Flora, der Fauna und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonialisierenden Nation. Und diese ist dafür mit der Gegengabe ihrer höheren Kultur, ihrer sittlichen Begriffe und ihrer besseren Methoden verpflichtet.“

Dr. Mabanza: „Wir kommen aus dem Kontext einer deklarierten Überlegenheit. Und aus dieser Überlegenheit wird ein Recht abgeleitet, andere auszubeuten.“

Dieser „Logik“ hätten Dekolonialisierungsbewegungen versucht ein Ende zu setzen. Doch schon am Vorabend der Unabhängigkeit hätten die Kolonialmächte Mechanismen entwickelt, die ihnen ermöglichen sollten, den Zugriff sowohl auf die Ressourcen als auch auf Menschen aufrechtzuerhalten. So sei die Unabhängigkeit für die so viele gekämpft hatten, – u.a. Patrice Lumumba (im Gedenken an ihn trug Dr. Mabanza ein T-Shirt, dessen Aufdruck an ihn erinnerte) im Kongo – von vornherein auf formelle Verfahren reduziert worden. Boniface Mabanza:

Die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen ist die gleiche geblieben, nur die Formen haben sich geändert.“

Anstelle der Kolonialverwaltungen seien Konzerne getreten, die die Vorherrschaft übernahmen.

Betreffs des Handels seien die afrikanischen entkolonialisierten Staat stets benachteiligt gewesen. Das setze sich heute erst wieder mittels der seit 2020 verhandelten „Freihandelsabkommen“ der EU und den Ländern Afrikas (EPA). Alles diese Instrumente hätten eines gemeinsam, so Mabanza: Sie sollten den Zugriff auf die Rohstoffe dieser Länder sichern. Gleichzeitig wurde und wird eine Industrialisierung (um die Rohstoffe vor Ort zu verarbeiten) in den afrikanischen Staaten verhindert. Momentan hätten sich die Elfenbeiküste und Ghana mit einem Exportstopp für Kakao zu Wort gemeldet. Mabanza: „Was hätte passieren können, wenn diese Länder von Anfang an die Möglichkeit gehabt hätten diese Rohstoffe und andere Rohstoffen vor Ort zu verarbeiten?“ Das habe man aber verhindert durch tarifäre und nichttarifäre Maßnahmen.

Hausgemachte Probleme und die Verhinderung einer Industrialisierung afrikanischer Länder seitens der Länder des Westens

Freilich wären damit noch nicht alle Probleme der Länder Afrikas gelöst gewesen, weiß Mabanza. Auf dem afrikanischen Kontinent gebe es hausgemachte Probleme, aber eben auch welche, die mit den postkolonialen Entwicklung der jeweiligen Ländern zu tun hätten.

Auch sei die wirtschaftliche Entwicklung in manchen dieser Länder zu wenig diversifiziert, weil sie sich auf Druck ehemaliger Kolonialstaaten auf bestimmte Produkte spezialisiert hätten (Blumen, Kaffee, Tee usw.). Für alles was verarbeitet werden müsse, seien sie auf die Staaten angewiesen, an welche sie ihre Rohstoffe liefern. Die verarbeiteten Produkte kämen dann zum teureren Preis zurück auf den afrikanischen Kontinent. Die entsprechenden afrikanischen Länder seien zu Absatzmärkten der Länder des Westens reduziert worden. Man denke nur an von der EU subventionierte und beispielsweise nach Ghana exportierten Tomaten, an Schweinefleisch oder Hähnchenteile. Die afrikanischen Bauern können mit diese Preisen nicht mithalten und gingen pleite. Was wiederum Flüchtlinge produziere.

Grundlegende Reformierung der Bildungssysteme blieb aus

Hinzu käme, gab Dr. Mabanza zu bedenken, dass ein koloniales Bildungssystem in afrikanischen Ländern nach wie vor zum Blick nach außen erziehe. Eine generelle grundlegende Reformierung der Bildungssystem – wenngleich es auch löbliche Ausnahmen gebe – sei ausgeblieben.

Allerdings wäre eine solche Entwicklung auch nicht möglich gewesen durch, wenn nicht bestimmten afrikanische Eliten da mitgemacht hätten, sagte Mabanza.

Den Menschen in Afrika müsse endlich vermittelt werden, dass nicht alles was von außen, aus dem Westen gut und passend für sie ist. Genauso aber auch, dass nicht alles, was zu den Traditionen gehört, automatisch gut ist.

Kritiker sagen: Der CFA-Franc spielt eine negative Rolle. Er induzierte ein System „freiwilliger Knechtschaft“, ist ein „imperiales Machtinstrument“ und hält afrikanische Länder bis heute in Abhängigkeit

Der Ökonom und Soziologe Martial Ze Belinga hielt seinen Vortrag mit dem Titel „Der CFA-Franc, eine hyperkoloniale Währung“ auf Französisch. Ze

Martial Ze Belinga.

Belinga spricht zwar Deutsch. Aber, sagte er entschuldigend, er habe es sehr lange nicht mehr benutzt. Er stützte sein Referat auf die Veröffentlichung des Buches „Kako Nubukpo, Martial Ze Belinga, Bruno Tinel & Demba Mussa Dembele (Hg.): Sortir l‘Afrique de la servitude monétaire. À qui profi te le franc CFA?“ (leider nur auf Französisch erhältlich: hier).

Ein anwesender Herr von der Auslandsgesellschaft NRW e.V. Dortmund erklärte sich freundlicherweise bereit, den Vortrag auf Deutsch zu übersetzen. Zusätzlich wurden Ausdrucke auf Deutsch von wesentlichen Teilen des Vortrags zum Mitlesen ans Publikum ausgeteilt.

Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit blieben bis heute viele afrikanische Staaten in Abhängigkeit der einstigen Kolonialherren. Ein negative Rolle dabei spielt der CFA-Franc, erfuhren die interessierten ZuhörerInnen im voll besetzen Raum 204 des DKH. 14 ehemalige französische Kolonien benutzen seit 1945 eine Währung, die in der Kolonialzeit von französischen Kolonialherren eingeführt worden war. Kritiker sprechen von einen System „freiwilliger Knechtschaft“ und verurteilen den CFA-Franc als „imperiales Machtinstrument“. Wirtschaftswissenschaftler Martial Ze Belinga erklärte, wie der CFA-Franc afrikanische Länder, einstige Kolonien, bis dato in Abhängigkeit gefangen hält.

Die entscheidende Frage in Afrika sei: Wer ist abhängig von wem? Andererseits sei auch die Welt von Afrika abhängiger geworden als man annehme. Weiterhin seien, Ze Belinga, im Westen weiterhin negative Diskurse über Afrika im Umlauf.

Der CFA-Franc bedinge es, dass von den afrikanischen Ländnern erwirtschaftete Devisen in Frankreich deponiert werden: Afrikanische Länder haben exportiert, Devisen kassiert – diese müssen aber dann nach Frankreich (als Sicherheit für den Wechselkurs) geschickt werden.

Martial Ze Belingas Fazit: „Alternativen zum CFA-Franc müssen kreativ bleiben und offen für Optionen auf gemeinsame Währungen, lokale Währungen und Steuerwährungen sein. Das wichtigste ist die industrielle, sozial nachhaltige und ökologische Transformation. Dies bedeutet eine Abkehr von den klassischen Kriterien der nicht-interventionistischen Makroökonomie, die Annahme einer Dosis wirtschaftlichen Schutzes.“ Und weiter: „Die Afrikaner müssen auch die Werte, die ihnen wichtig sind, wie Ubuntu*, in ihre Institutionen integrieren, denn Geld vermittelt Werte. So wie der CFA-Franc die Kolonialbeziehungen (Zwangsarbeit, Rohstoffe usw.) vermittelt hat, müssen sich die Post-CFA-Währungen auf die alten monetären Vorstellungen des Kontinents (Nzimbu, Shat usw. und auf andere Erfahrungen der Welt stützen, um an afrikanischen Werten und Projekten in der heutigen Welt angepasten Währungsinstitutionen aufzubauen.“

Über den CFA-Franc lesen Sie bitte hier und hier mehr.

*Über Ubuntu hier mehr

Dr. Dereje Alemayehu: Die Länder des globalen Südens leiden am stärksten unter der Gewinnverschiebung multinationaler Konzerne

Dr. Dereje Alemayehu ist derzeit Executive Coordinator der Global Alliance for Tax Justice, war ander Gründung des Steuergerechtigkeitsnetzwerks

Dr. Dereje Alemayehu.

Afrika beteiligt und Vorsitzender des Globalen Bündnisse für Steuergerechtigkeit.

Dereje Alemayehu spricht sehr gut Deutsch. Dennoch bat er das Publikum vor eventuellen Fehlern in seinem Vortrag im Vorhinein um Verständnis. Mit seinem Bonmot „Deutsche Grammatik war immer ausländerfeindlich“, sorgte Dr. Dereje Alemayehu für zustimmende allgemeine Heiterkeit im Raume.

In seinem Vortrag erinnerte Alemayehu an den 100. Jahrestag der Berlin-Konferenz (auch Kongo-Konferenz genannt) im Jahre 1985, auf welcher der afrikanische Kontinent an westliche Kolonialmächte verteilt wurde. Damals sei Willy Brandt (Vorsitzender der Nord-Südkommission) gewesen.

Während einer Podiumsdiskussion habe deren Moderator den Präsidenten von Tansania Julius Kambarage Nyerere, Vorsitzender der Süd-Kommission („Nyerere-Kommission“)

gefragt, für was alles dem Kolonialismus die Schuld gegeben werden könne. Dereje Alemayehu erinnert sich noch heute genau an die Antwort: Julius Kambarage Nyerere, der wie ein guter Onkel wirkte, habe sinngemäß Folgendes geantwortet: Von hundert Jahren habe der Kolonialismus 70 Jahre regiert und 30 Jahre das unabhängige Tansania. Die Verantwortung liege demnach bei 70 zu 30.

NGOs, so Alemayehu, hätten einmal gefragt, wer für Geldabflüsse, resp. Ressourcenabflüsse, aus Afrika verantwortlich sei. Ressourcenabflüsse Die Masse dürfte antworten: korrupte afrikanische Länder. Dass Korruption ein ernstzunehmendes Problem sei, wolle er nicht bestreiten, räumte der Referent ein. Da gebe es auch nichts daran zu verteidigen. Allerdings stünde Korruption bei weitem nicht an erster Stelle, der Geldabflüsse. 2013 sei die UN-Kommsission für Wirtschaft dieser Frage nachgegangen. Das Ergebnis: Zu 60 Prozent resultierten Ressourcenabflüsse aus Afrika aus Handelstätigkeiten und wirtschaftlichen Tätigkeiten. Vierzig Prozent gingen auf das Konto von Korruption und Kriminalität. OSZE-Generalsekretär habe einmal in einem Bericht zu bedenken gegeben, dass für jeden Dollar, der als Entwicklungshilfe in die Entwicklungsländer kommt, drei Dollar als illegale Ressourcenabflüsse die Länder verlassen.

Ein Beispiel, das wir auch in Europa betreffs der Steuerzahlungen großer Konzerne kennten, wurde genannt: Ein Kiosk in Accra zahle mehr Steuern als ein großer Brauereikonzern in Ghana.

Ein weiteres Beispiel, dass einen die Haare zu Berge stehen lasse, sei die Tatsache, dass die britische Kanalinsel Jersey als größter Bananen-Exporteur nach Europa gelte. Und das, obwohl dort keine einzige Bananenpalme gedeihe!

Und noch etwas, dass bezeichnend ist und dem Fass den Boden ausschlage: Im Steuerparadies Cayman Islands seien an einer Adresse 18 000 Firmen registriert.

Es müsse doch gefragt werden, warum es solche Strukturen gibt.

Ginge es nach Transperency International wäre die Schweiz eines der saubersten Länder der Welt. Indes, wir wüssten es besser, warf der Referent in den Raum.

Bestechung sei nur ein Teil von Korruption. Wenn ein Polizist in Afrika bestochen werde, sei das sichtbar. Unsichtbar dagegen seien die Praktiken der großen Bonzen weltweit.

Die Schweiz verdiene mehr Geld an Kupfer als der Kupferexporteur Sambia, obwohl im Land der Eidgenossen kein Kupfer vorkäme. Steuerflucht, Steuerhinterziehung und vielfältiger Betrug seien ein weltweites Problem. Dr. Dereje Alemayehu mit seiner schmunzelnd hervorgebrachten Feststellung:

„Korrupte afrikanische Eliten haben die Schweiz nicht gegründet.“

Afrikanische Staaten seien mehr von Steuern abhängig als reiche Länder. Afrika sei heute ein Gläubigerkontinent gegenüber Westen.

Dr. Dereje Alemayehus Fazit:

Korruption ist eine Krankheit, aber bei weitem nicht die einzige. Hinzu kämen Steuerflucht und Steuervermeidung. Das System werde global von reichen Ländern beibehalten. Ressourcen würden abgesaug, was die Reichen immer reicher mache und die Kluft zwischen Arm und Reich stetig besorgniserregend vergrößere. Die Länder des globalen Südens leiden am stärksten unter der Gewinnverschiebung multinationaler Konzerne – auch aus Deutschland – und illegitimen Finanzströmen in Richtung der internationalen Finanzmärkte. Geld, das dringend für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung benötigt wird.

(Dazu passend ein Interview mit Dr. Dereje Alemayehu via africavenir2009/You Tube)