„Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will“ von Marco Bülow. Rezension

Am 23. Februar finden die Wahlen zum Deutschen Bundestag statt. Gerade noch rechtzeitig vorher hat der Westend Verlag ein interessantes Buch herausgebracht. Dessen Lektüre kann potenziellen Wählern oder auch Nichtwählern mit ziemlicher Sicherheit wichtige Denkanstöße liefern. Geschrieben hat es Marco Bülow. Marco Bülow zog 2002 als direkt gewählter Dortmunder Abgeordneter für die SPD in den Deutschen Bundestag ein. Dort war Bülow unter anderem Umwelt- und Energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2016 trat er aus der SPD aus und war noch drei Jahre fraktionsloser Abgeordneter. Seit 2021 ist er außerhalb des Parlaments politisch aktiv und arbeitet als Journalist, Publizist und Podcaster.

Seine politische Arbeit innerhalb in der SPD und seinem Wahlkreis in Dortmund nahm er stets sehr ernst. Doch während seiner Abgeordnetentätigkeit im Deutschen Bundestag beraubte ihn die Praxis dort bald so mancher Illusion. Er veröffentlichte 2010 das Buch „Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter“. Im Klappentext heißt es: «Wie viel Einfluss haben die Mitglieder des Bundestags eigentlich noch? Marco Bülow, SPD-Bundestagsabgeordneter, bricht erstmals das Schweigen der deutschen Parlamentarier. Er deckt auf, wie Abgeordnete zu vorgegebenen Entscheidungen gedrängt werden, wie mächtige Lobbyisten Abstimmungen immer stärker beeinflussen und wie die Medien Politik machen.
Anhand konkreter Beispiele zeigt der Autor, wie Fraktionszwang und Regierungshandeln die Vertreter des Volkes oft zu hilflosen Randfiguren degradieren, die Beschlüsse und Gesetzesvorlagen nur noch abnicken. Bülows Insiderbericht zeugt von einer handfesten Krise der parlamentarischen Demokratie. Er ruft zum Widerstand auf. Politiker müssen selbst vorangehen, mutiger werden und die Macht in die Mitte des Parlaments zurückholen. „Wozu sind Regierungsfraktionen denn noch gut: Zum Abnicken und Jasagen?“«

Damit zog Marco Bülow freilich Kritik aus der Politikerkaste und auch seitens diverser Medien auf sich. Auch aus der eigenen Partei, der SPD. Doch er blieb standhaft. Auch wenn er sich Einiges anhören musste. Was er sich leisten konnte, weil er in seinem Wahlkreis stets ein Direktmandat holte. Jemand anderes wäre gewiss gar nicht wieder aufgestellt oder auf einen aussichtslosen Listenplatz geschoben worden.

Letztlich – wie weiter oben ausgeführt – zog er aber die Reißleine. Auch wenn ihm dabei gewiss klar sein musste, dass er sich da einer wie auch immer gearteten Karriere berauben würde. Aber hätte er dann noch in den Spiegel schauen können? Dieser sicherlich nicht einfache Schritt war wohl der in ihm aufschrillenden Vorstellung geschuldet, dass er (fast) Lobbyist geworden wäre. In Wie ich (fast) Lobbyist wurde (S.43) lesen wir darüber.

Eigentlich, so Bülow, müsste die Überschrift heißen «Wie ich (fast) Lobbytarier wurde«. Und weiter: „Als Unterzeile könnte man schreiben; «Eine wahre Geschichte darüber, wie Politik sich korrumpieren lässt«

Zur Erklärung führt der Autor aus: „Parlamentarier, die gleichzeitig Lobbyisten sind, die ein oder mehreren Lobbys dienen, nenne ich «Lobbytarier« (S.43)

Und jetzt will Marco Bülow gemäß dem Buchuntertitel die Demokratie retten?

Da muss erst einmal die Frage geklärt werden, ob es überhaupt jemals eine Demokratie, sprich Volksherrschaft gegeben hat.

Demokratie bedeutet ja, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so? Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld – welchen Marco Bülow einige Male in seinem Buch zitierend erwähnt – hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon in den Anfängen der Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika, sei sie von vornherein so angelegt gewesen, dass sich durch sie nichts Wesentliches an den bestehenden Machtverhältnissen ändern konnte. Die Mehrheit des Volkes mochte wählen wie es wollte, die Interessen der (Minderheit) der Reichen, der Oligarchen, konnten nicht angetastet werden. Auch heute, bei uns, ist das im Grunde genommen so. Wenngleich noch nicht in den Dimensionen wie in den USA. Denn allein wer dort für das Präsidentenamt kandidiert, braucht ja ohne entsprechend hohe finanzielle Ausstattung erst gar nicht erst antreten. Quelle: Rezension zu „Hybris und Nemesis“ von Rainer Mausfeld.

Unser System: wir haben eine repräsentative Demokratie. Wir wählen also Parteien und deren (zuvor von den Parteien bestimmte, oft in Hinterzimmern ausgekungelte) Kandidaten, welche uns Bürger dann im Deutschen Bundestag und den Parlamenten der Bundesländer vertreten (sollen). In der Regel geben wir Wähler alle vier Jahre unsere Stimme ab [sic!]. Sie landet, was der inzwischen emeritierte Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Prof. Dr. Rainer Mausfeld als treffend bezeichnet, in der Urne.

Bereits vor 15 Jahren prägte Colin Crouch bezüglich des Zustands der Demokratie den Begriff „Postdemokratie“ (dazu mehr in einem Beitrag auf Deutschlandfunk. Gemeint war, wie Bülow ausführt, „eine aufrechterhaltene, demokratische Fassade mit freien Wahlen. Dahinter eine schleichende Demontage, zerfallende Diskurs- und Resonanzräume, übermächtige Lobbys.“

Ullrich Mies und Jens Wernicke (Hrsg) sowie die im Buch versammelten Autoren sahen eine Fassadendemokratie („Fassadendemokratie und Tiefer Staat“).

Auf beide Begriffe und Bücher nimmt Marco Bülow auch in seinem Buch Bezug. Weitere Titel zur Krise der Demokratie sind in einem Fließtext aufgereiht (S.88).

Bülow erklärt: „Es geht in diesem Buch um die (legale) Korruption in der Politik, die einseitige Beeinflussung und die Auswüchse des Profitlobbyismus -, aber nur als ein Ausgangspunkt, um aufzuzeigen, wie unsere Demokratie, unsere ganze Gesellschaft korrumpiert wird. Profit ist darin zur dominierenden Antriebskraft geworden, weil wir alle Lebensbereiche systematisch ökonomisiert haben. Alles, was sich nicht direkt zu Geld machen oder in Geld berechnen lässt, gilt in unserem System als wertlos.“ (S.18) Der Autor will das nicht „rein mit dem Wesen des Kapitalismus“ erklären.

Die Sache sei komplexer.

„Nicht nur die Marktwirtschaft hat sich als anpassungsfähig erwiesen. Demokratie und Gesellschaft sind dem Wesen des Kapitalismus angepasst worden. Wir haben uns mit Brot und Spielen korrumpieren lassen.“ […]

Angela Merkel wird zugeschrieben eine „marktkonforme Demokratie“ befürwortet zu haben. Was hätte das noch mit Demokratie zu tun? Eigentlich entlarvend. Fast hätte es die Wortverbindung zum Unwort des Jahres 2011 gebracht. Für Marco Bülow der „wohl passendste Begriff“. «Wenn Angela Merkel, wie Schirrmacher entgeistert bemerkt, die ‚marktkonforme Demokratie‘ gelobt, dann hat sie bereits kapituliert. Bürger und Staat haben keine Souveränität, sondern spielen nur.«

Marco Bülow weiter im Buch: „Geld und Profit sind zu unserem «Übergott« geworden, der viele Untergötter duldet, wenn sie den Profit von Wenigen nicht schmälern, sich anpassen, sich korrumpieren lassen. Ohne Verschwörung, sondern einfach durch den Druck und die Fliehkräfte, die bei dem Kampf um Geld und Macht entfacht werden. Die süße Lüge, dass alle profitieren und unendliches Wachstum möglich sei, wirkt wie eine Droge. Das Korrektiv und Gegenkollektiv zu dieser Entwicklung ist immer weiter zusammengeschrumpft, während Ohnmacht, Verunsicherung, Rückzug und Wut bei den Menschen spürbar anwachsen. Um daran etwas zu ändern, muss man sich zunächst ehrlich machen, Fehlentwicklungen und -verhalten aller Seiten offenlegen und nicht mit den ewig gleichen Antworten, Appellen und Aktionen vorgehen“

Bülow schreibt über die fragwürdigen Maskendeals, die Korruption von Mandatsträgern und Amtsmissbrauch in der Corona-Zeit. Auch die „Aufarbeitung“ dessen ist fragwürdig.

Das «böse« Wort korrupt werde bei uns gemieden, schreibt der Autor. (S.20)

„Korrupt sind Autokraten, Diktatoren in fernen Ländern. In der Politik wird über viel gestritten, aber nicht über das System, das sich entwickelt hat oder die Demokratie. Ihre Feinde sind Extremisten von rechts und links, alle anderen dagegen seriöse, aufrechte Demokraten.“

Es käme zum Ausverkauf der der Demokratie. „Die Grenzen, das Korrektiv zu dieser Entwicklung, lösen sich auf, während wir uns über Nebenthemen streiten. Sehen wir endlich mal hin und nennen das Kind beim Namen: Nahezu unsere ganze Gesellschaft wir korrumpiert.“

„Was heißt überhaupt «korrupt«?“ Bülow: „Der Ausdruck geht auf das lateinische Wort corruptus zurück, welches gleich mehrere Bedeutungen aufweist: «verdorben«, «sittenlos«, «bestochen«, «verkehrt«.

Unter Korrumpierte Knechte (S.23) zitiert der Autor Abraham Lincoln:

«Wir gehen einem Zeitalter der Korruption bis in hohe Positionen entgegen. Die Macht des Geldes in diesem Land wird ihren Einfluss durch Ausnutzung der Vorurteile im Volk so lange wir möglich zu halten versuchen, bis der Wohlstand in wenigen Händen versammelt und die Republik zerstört ist«

Also nichts Neues.

Bülow weiß: „Die Krisendebatte ist also nicht neu – doch war die Demokratie immer schon nur Mittel zum Zweck? Ich denke nicht ganz und bleibe davon überzeugt, dass sie viel mehr als dem Ziel, die Bevölkerung im Zaum zu halten, dienen kann und soll. Aber eine wirkliche Demokratie, die alle beteiligt und vor allem das Gemeinwohl heute und morgen vor Augen hält, hat es nie gegeben. Daraus lässt sich auch ableiten, warum sie sich heute dem Markt unterordnet, der nur denen dient, die vor allem den eigenen Wohlstand im Blick haben und eine «Volksherrschaft« befürchten.“ (S.90)

Man kann es nicht abstreiten: „Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Finanzkapitalismus gleicht einem Gemisch aus zwei Flüssigkeiten in einem Kessel, der sich immer weiter erhitzt. Ihre Siedepunkte sind unterschiedlich und Druck kann nur abgebaut werden, wenn die Demokratie nach und nach verdampft und entweicht. Einzig übrig bleibt dann zusehends der Finanzkapitalismus.“

Marco Bülow fragt: „Und hat die marktkonforme Postdemokratie bereits das nächste Stadium erreicht? Klar ist, die Debatte wird rein akademisch geführt, die Politik will sie nicht wahrhaben und in der Öffentlichkeit kommt sie nur in Form eines unguten Bauchgefühls an. Die Folgen sind aber immer deutlicher zu spüren, weshalb sich auch die Unzufriedenheit weiter ausbreiten wird. Irgendwann ist die Demokratie aus dem Kessel raus und dann ist nicht mal sicher, ob sich die Erhitzung stoppen, die Schmelze vermeiden lässt.“ (S.91)

Der Autor hat seinen Finger in viele gesellschaftliche Wunden gelegt. Was spannend zu lesen ist.

Und den Lesern zu denken gibt sowie zum Nachdenken anregt.

Gegliedert hat das Marco Bülow in drei interessante Kapitel:

I. (Demokratie-)Demontage.

Die Fragen des Lobbyismus und der Korruption werden an Beispielen konkret benannt. So handelt er unter der Überschrift „Monetarisiert“ das aktuelle Beispiel Cum-Ex mit dem Schaden von 36 Mrd. Euro für den Staat, d.h. für alle Bürger ab. Sein aktuelles Fazit: Die Finanzlobby wird weiter gestärkt werden. „Was Scholz kann, kann Merz schon lange“. „Geld ist die einzige Sache der Welt, deren Qualität sich allein an der Quantität bemisst, wusste bereits Karl Marx. Die Schulden der einen, sind die Gewinne der anderen, Geld verschwindet nicht. „Die Schuldenbremse eine Ablenkung“?

II. (Demokratie-)Karambolage

Was ist der Wert des Menschen, des Bürgers bei einer aufrechterhaltenen, demokratischen Fassade mit freien Wahlen? Bereits bei der ersten Trump Periode „America first“ sah Kanzlerin Angela Merkel die „marktkonforme Demokratie“ als Zielsetzung. Die Aushöhlung der sozialen Marktwirtschaft, der demokratischen Mitwirkung wird bei dem Erstarken der weltweiten Oligopole drängender Wer kennt schon Broligarchien – ( Broligarchie – eine Oligarchie, in der enorme Macht an die Bosse der Technologie- und Finanzbranche fließt, an Magnaten, von denen einige den demokratischen Traditionen gleichgültig oder sogar offen feindlich gegenüberstehen.)
Ausgehend von einer weitreichenden Kritik, führt der Autor über ein weiteres Kapitel

III. (Demokratie-)Montage

zu den Lösungsansätzen.
Kann der Leser den Gedanken vom ÜberLEBEN zum Guten Leben folgen und sieht er auch die Alternativen? Wir brauchen das notwendige Bewusstsein für unsere Situation. Nur wenn wir die Gesellschaft wieder als Demokratie (er)leben und wir mitwirken wird sich etwas ändern. Das Kapitel schließt dem Nachspiel: Permanente Revolte ab.

Überschrieben mit einem Zitat von Albert Camus:

«Ich revoltiere, also bin ich«

«Die wahre Großzügigkeit der Zukunft besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben. Die Revolte beweist dadurch, dass sie die Bewegung des Lebens selbst ist und dass man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben zu verzichten«. (S.186)

Thesen zur den drei Kapiteln

Es folgen jeweils Thesen zu den drei vorangestellten Kapiteln. Sie fassen kurz und bündig den Kern der 3 Kapitel zusammen.

Die Leser können sich schließlich, vom Autor gründlich informiert, aufgefordert fühlen, sich selbst Gedanken über das Gelesene und die darin beschriebene Problematik zu machen und überlegen, wie ob und wie sie selbst daran beteiligt werden wollen.

Ab Seite 192 lesen Sie einen 9-Punkte-Plan zur Kooperativen Demokratie.

Fazit

Marco Bülows Buch ist ein Augenöffner, inhaltlich informativ sowie tief schürfender Aufrüttler. Wir müssen nämlich unbedingt konstatieren, dass der Hut längst brennt und es höchste Eisenbahn ist, etwas zu tun. Schließlich stecken wir in einer multiplen Krise, die unsere Gesellschaft, die Wirtschaft und unser Land bedroht und schon beträchtlich ruiniert hat. Ich möchte einmal etwas anders und provokativ formulieren als auf der Buchrückseite so geschrieben steht: «Wer die Demokratie retten will, muss erkennen, wer sie demontiert«. Und zwar so: «Wer eine echte, wirkliche Demokratie schaffen will, muss erkennen, wer das verhindert«. Denn klar ist, man kann nur retten, was tatsächlich existiert.

Wir lesen dort: «Soziale Marktwirtschaft und Herrschaft des Volkes sind Fassade, so Bülow, Täuschungen eines Profit-Systems, welches immer weniger Menschen nutzt. Korrumpierungen, fatale Denkstrukturen und unfaire Spielregeln setzen sich fest. Bülow ruft zum Widerstand auf und macht Auswege deutlich. Statt wehrlose Sündenböcke zu suchen, müssen wir uns bewusst mit den Mächtigen anlegen, fordert er, und setzt auf das Korrektiv und Kollektiv.«

Pardon! Unappetitlich, dass mir da ein von Robert Habeck in Dortmund noch vor seiner Ministerzeit getätigter Ausspruch in den Sinn kommt: «Wir haben verlernt politisch zu denken und müssen es schaffen uns mit den wahrhaft Mächtigen anzulegen«. (dazu: claussstille.blog)

Als er sich dann anschickte schlechtester Wirtschaftsminister zu sein, welchen die BRD je hatte, las sich das dann während seines Besuches 2022 in den USA so: «Habeck sieht „dienende Führungsrolle“ für Deutschland« (Quelle: t-online.de)

Von Marco Bülow dürfte derlei nicht zu erwarten sein. Sonst hätte er nicht die Notbremse gezogen und einen anderen Weg eingeschlagen. Martin Sonneborn – deutscher Satiriker, Journalist und Politiker (Die PARTEI); MdEP – sagt über Marco Bülow: «Last Sozialdemokrat Standing!“

Für dieses wichtige Buch sollten wir Bülow dankbar sein. Gut, dass es noch vor der Bundestagswahl am 23. Februar erschienen ist. Es sollte der Orientierung der Wählerinnen und Wähler und über die Wahl hinaus dienen können. Für andere der allgemeinen Information. Empfehlen Sie es gerne weiter. Nutzen Sie es!

Zum Autor:

Marco Bülow zog 2002 als direkt gewählter Dortmunder Abgeordneter für die SPD in den Deutschen Bundestag ein. Dort war Bülow unter anderem Umwelt- und Energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2016 trat er aus der SPD aus und war noch drei Jahre fraktionsloser Abgeordneter. Seit 2021 ist außerhalb des Parlaments politisch aktiv und arbeitet als Journalist, Publizist und Podcaster.

Foto: ©Claus Stille

Aus dem Inhalt:

Unsere Demokratie war nie eine wirkliche Herrschaft des Volkes. Selbst die reale repräsentative Demokratie – wie wir sie nennen – wird zunehmend ausgehöhlt. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat längst die Politik erreicht. Ausufernder Profitlobbyismus, bröckelnde Gewalten- und Machtteilung, sowie zusammenbrechende Korrektive sind die Folge. Wir haben uns korrumpieren lassen, zu viele haben oder wollen mitprofitieren. Und noch mehr ergeben sich den Bedingungen oder ihrer Ohnmacht.

Marco Bülow

Korrumpiert

Erscheinungstermin 10.02.2025
Einbandart kartoniert
Seitenanzahl 208
ISBN9783864894848
Preis inkl. MwSt.20,00 €

Westend Verlag

Dazu passend Marco Bülow auf Radio München:

Martin Sonneborn spricht mit dem Autor

Altbundespräsident Christian Wulff zu Gast in Dortmund: Statt Spaltern brauchen wir Brückenbauer

Altbundespräsident zu Gast bei „Train of Hope“ Dortmund. Fotos: Claus Stille

Jugendliche vom Dortmunder Flüchtlingshilfeverein „Train of Hope e.V.“ hatten sich für Veranstaltungsreihe „Jugend im Dialog“ als Gast Altbundespräsident Christian Wulff gewünscht. Aus gutem Grund: Wulff war nämlich 2010 der erste, der mit Aygül Özkan bundesweit eine Sozialministerin mit Migrationshintergrund in seine damalige Landesregierung in Niedersachsen holte. Und der Wunsch wurde wahr. Christian Wulff sagte zu und enttäuschte die Jugendlichen in der Diskussion auf Augenhöhe nicht. Am vergangenen Montag weilte Wulff in Dortmund.

Christian Wulff sieht heute mehr denn je, dass seine einst umstrittene Aussage „Der Islam gehört zu Deutschland und Europa“ richtig war und ist

Sowohl vor den Jugendlichen wie auch auf Abendveranstaltung in der FH Dortmund und Prof. Ahmet Topraks neuer Veranstaltungsreihe „Gehört der Islam zu Deutschland?“ blieb Christian Wulff bei seiner seinerzeit stark polarisierenden Aussage am Tag der Deutschen Einheit 2010, der Islam gehöre zu Deutschland und Europa. Mit der er damals eine Anmerkung des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble auf der ersten Islamkonferenz er aufgenommen hatte, zu der selbst stand. Und heute mehr denn je der Meinung sei, dass sein Satz richtig war und ist. Das zu sagen sei ihm damals auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte, welche das Klima in Deutschland vergiftet hatte, eine Herzensangelegenheit gewesen. Von vielen Einwanderern und Migranten mit muslimischen Glauben sei seine Aussage, so Wulff, als wirkliches Zeichen aufgefasst worden. Damals hätten ihm laut Umfragen 60 Prozent der befragten Menschen zugestimmt, 40 Prozent hätten ihm widersprochen. Heute, sagte Wulff, habe sich das Verhältnis umgekehrt. Woran das liege, darüber müsse man reden.

Wulff: Ängste ab- statt aufbauen

Mit Vehemenz setzte sich Christian Wulff in Dortmund dafür ein Demokratie zu leben. Ängste gehörten ab- statt aufgebaut. Nach dem Kriege habe man hierzulande Millionen Menschen integriert, wie auch nach dem Ende der DDR viele Millionen von deren einstigen BürgerInnen. Nun gelte es in der dritten Phase der Migration wieder Menschen zu integrieren. Wulff: Wäre es denn angesichts von 500 Millionen EU-Bürgern ein Problem, drei Millionen Geflüchtete aufzunehmen?

Der Altbundespräsident zu den Jugendlichen: Nichts ist gottgegeben: Demokratie leben, sich einmischen: „Sie haben alle Chancen“

Wulff warnte betreffs der Demokratie: Nichts sei gottgegeben. Alles kann sich wieder ändern. Sein Vater, ein Sozialdemokrat, habe den Untergang der Weimarer Republik erlebt und ihm früh zu auf den Weg mitgegeben: „Engagiere dich für eine demokratische Partei!“ Demokratie sei die stärkste

Altbundespräsident Christian Wulff (Bildmitte) auf Spaziergang durch die Dortmunder Nordstadt (links Ümithan Yagmur, rechts Fatma Karacakurtoglu) Foto: Mohammed Mohamad Al Kaddah.

Staatsform, aber auch die schwächste Staatsform, wenn sie angegriffen werde. Denn sie gebe auch denen die dazugehörigen Rechte (Pressefreiheit, Meinungsfreiheit), die sie abschaffen wollten. Christian Wulff redete einer Vielfalt Europas das Wort. Die Gleichförmigkeit unserer Städte – wo überall nur noch die selben Ladenketten zu finden seien – beunruhige die Menschen. Dabei gehe es nicht um Nationalismus. Die Menschen wollten einfach ihre Besonderheiten bewahren. Das habe in gewissen Weise gewiss auch die Zustimmung zum Brexit befeuert. Die Parteien bräuchten Verjüngung, machte er den jungen Leuten von „Train of Hope“ Mut sich einzumischen: „Sie haben alle Chancen.“

Die Gruppe „Music of Hope“.

Bundespräsident a.D. Wulff machte vor der Veranstaltung einen Spaziergang durch die Dortmunder Nordstadt

Bevor „Jugend im Dialog“ startete, hatte der Bundespräsident a.D. einen Spaziergang durch einen Teil der Dortmunder Nordstadt, begleitet u.a von Fatma Karacakurtoglu (1. Vorsitzende von „Train of Hope“), unternommen. Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch die Gruppe „Music of Hope“, die arabische Weisen intonierte.

Das Ehrenamt darf nie ersetzen was des Staates Aufgabe ist

Seine ersten Eindrücke waren durchaus positiv: viele Menschen, wie sie ihm im Gespräch gesagt hätten, wären zufrieden in der Nordstadt: „Das sie mit ihrer Kultur, ihrer Art zu leben, hier leben können wie wollen.“ Um die Situation wirklich beurteilen zu können, so Wulff, müsste man das länger beobachten und auch „nachtens noch mal kommen“ und mit Vertretern verschiedener Generationen sprechen. Und darüber „wie die Bürger sich die Friedlichkeit und das Zusammenleben in der Nordstadt mit all den Problemen, auch der Armut, das Miteinander vorstellen. Jedenfalls stelle sich den Menschen das Leben im Stadtteil ganz anders dar, als die, die zuweilen „darüber schreiben“. Auf die Frage des Moderators, wie er das Ehrenamt in Deutschland einschätze, schätzte Wulff ein, dies sei „etwas sehr Besonderes in Deutschland“. Wo immer Deutsche gewesen seien, hätten sie stets viele Vereine gegründet. Vor ein paar Wochen sei er in China, in Tsingtau, einer einstigen deutschen Kolonie, gewesen. Die Chinesen hätten ihm gegenüber bekannt, dass die Deutschen seinerzeit auch mittels von ihnen gegründeter Vereine viele Dinge nach Tsingtau gebracht, von denen man sich einiges abgeschaut habe. Dank wissenschaftlicher Studien sei heute bekannt, sagte Christian Wulff, dass

Großes Interesse der Zuschauer bei der Diskussion mit Christian Wulff.

ehrenamtlich tätige länger leben. Weil man etwas gibt, aber gleichzeitig auch ganz viel zurückbekommt. Nicht zuletzt sehe man das etwa an einem traumatisierten, unsicheren, nicht Deutsch sprechenden Geflüchteten, den man als Mentor betreue. „Wenn man sieht, was dieser Mensch leistet nach einem Jahr, nach zwei Jahren – dann hat man ständig Erfolgserlebnisse“, machte Wulff an diesem Beispiel deutlich. Allerdings dürfe das Ehrenamt nie ersetzen was eigentlich Aufgabe des Staates sei. Es solle den Staat ergänzen, aber nicht ersetzen, unterstrich der Altbundespräsident. Er hoffe in diesem Sinne, dass die Stadt Dortmund wisse, was sie an der Flüchtlingshilfe hat und die Flüchtlingshilfe weiß, was sie an der Stadt Dortmund hat und man gut miteinander kooperiert. Wulff: „Das menschliche Wort, die Aufmunterung, die Ermunterung, das ist durch nichts zu ersetzen.“

Christian Wulff beantwortete viele Fragen der jungen Menschen erfrischend sachkundig und wenn nötig ausführlich

Der Altbundespräsident bekam hausgemachtes arabisches Gebäck und original marokkanischen Tee serviert. Von welchem er aber nur hin und wieder nippen konnte, denn es wurden ihm sogleich viele Fragen gestellt. Von denen er jede einzelne bereitwillig, erfrischend sachkundig und wenn nötig ausführlich zu beantworten verstand. Um Verständnis bat Wulff allerdings, dass er Fragen zur aktuellen Politik nicht beantworte. Es sei üblich, dass sich Altbundespräsidenten da traditionell zurückhielten.

Wulff vermittelte den Eindruck, dass er um die Sorgen, Nöte und Befindlichkeiten von Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind, weiß. Dabei sprach er auch über die vielleicht ungewohnte, hierzulande aber übliche Bürokratie. Ob er denn die gleichen Probleme damit habe wie „das normale Volk“, wollte der Moderator dann vom Gast wissen. Christian Wulff antwortete: „Also wenn Sie die Hoffnung haben, dass Sie irgendwann mal in Deutschland, Deutscher sind und integriert sind, Kinder haben und dann keine Bürokratie mehr haben, dann muss ich Ihnen die Hoffnung komplett

Der Gast bekam arabisches Gebäck und marokkanischen Tee serviert. Links im Bild Moderator Qussai Shikh Sulaiman.

rauben.“ Aber die Bürokratie sei ja ein Grund, warum in Deutschland vieles funktioniert, meinte der Bundespräsident a.D., der auch heute noch seine Steuererklärung machen müsse, wie jeder andere auch. Erlebe er denn das Gleiche wie andere Bürger, oder werde das vereinfacht, fragte der Moderator nach. Schmunzelnd gab Wulff zurück: „Ich bin so ein Fall“, und spielte damit gewiss auf die ihm im Amte des Bundespräsidenten gegenüber gemachten, im Grunde lächerlichen Vorwürfe an, die letztlich zu seinem Rücktritt führten, „bei mir ist alles so genau angeguckt worden.“ Und Christian Wulff setzte hinzu: „Bei allem was ich auch immer ausführe, es morgen in der Zeitung stehen können und Bestand haben.“

Er wollte aber aus der Frage des Moderators Qussai Shikh Sulaiman auch herausgehört haben, dass es ihm auch um die Belange von Migranten und Vorbehalten gegenüber ihnen gegangen war. Er glaube wir seien diesbezüglich auf einem besseren Weg. Dass das Grundgesetz, die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar, zunehmend die Amtstuben, die Behörden durchdringe – ein Umdenken habe eingesetzt. Manche Vorgänge in diesem Lande hätten uns da sehr nachdenklich gemacht. Als Beispiel nannte er die NSU-Morde und erinnerte auch an den in Dortmund, welcher „gar nicht weit von hier“ stattgefunden habe.

Altbundespräsident Wulff ist nach wie vor vielfältig gesellschaftlich engagiert

Jemand aus dem Publikum wollte ein Mitglied vom Verein Junger Deutsch-Afrikaner wissen, ob Wulff denn auch nach seiner Amtszeit noch Dinge bewegen könne. Es war zu erfahren, dass Christian Wulff Vorsitzender Deutschlandstiftung Integration mit fast tausend Stipendiaten. Des Weiteren sei er Präsident des Deutschen Chorverbandes. Er glaube daran, dass Musik Menschen unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen Sprachen zusammenführt und damit auch Traumatisierungen aufgearbeitet werden können. Intensiv setze sich Christian Wulff, den Fragesteller persönlich ansprechend, für die Entwicklung afrikanischer Länder ein. Auch sei er für die Demokratiebewegung in Nordafrika engagiert. Besonders fördere er Kontakte nach Tunesien. Ebenfalls unterwegs sei er betreffs des Dialogs der Religionen.

Die „hochpolitische Frage“ einer Lehrerin aus Oberhausen

Eine Lehrerin aus Oberhausen war mit SchülerInnen nach Dortmund gekommen, lobte deren Kreativität, kritisierte jedoch die Bedingungen unter denen man an ihrer Schule unterrichten müsse als „steinzeitmäßig“: Kaputte Fenster, defekte Toiletten und obwohl man das Jahr 2018 schreibe habe

man kein WLAN. Warum, fragte sie, investiere man in einem der reichsten Länder der Welt so wenig Geld in Bildung. Dies sei „sehr eine hochpolitische Frage“, merkte Christian Wulff an. Er schließe aber nicht aus die Elsa-Brändström-Schule in Oberhausen einmal zu besuchen. Die spezielle Problematik

Train of Hope Gruppenbild mit Christian Wulff. Foto: Mohammed M. Al Kaddah.

sah Wulff in der Situation der Stadt Oberhausen, sprich: „öffentlicher Armut“ begründet. Der Altbundespräsident zitierte einen US-Präsidenten Abraham Lincoln, der einmal gesagt habe, die meisten Zinsen brächten Investitionen in Bildung. Sein Rat an die Lehrerin: das Problem in den örtlichen Ratsfraktionen thematisieren und laden den Oberbürgermeister von Oberhausen einladen. Der würde schon kommen, „wenn Sie ihm sagen, ich hätte Ihnen gesagt, dass die kommen“, sagte der Altbundespräsident lächelnd. Unter Umständen würde er selbst dazu kommen.

Ehrenamtliches und bürgerliches Engagement gegen die besorgniserregende Rechtsentwicklung in der EU ist gefragt

Mit großer Sorge betrachte Christian Wulff im Vorfeld der Europawahl 2019 das Vorhandensein vieler rechter, rechtsextremistische Kreise, „die die Nation hochhalten, Nationalismus hochhalten und gegen internationale Zusammenarbeit, gegen europäische Zusammenarbeit, gegen die Europäische Union Stimmung machen und versuchen, zum Teil von Amerika gesteuert“ – er nannte den Trumps Chefideologen Stephen Bannon, der in Europa versuche mit Stärkung rechter Kräfte den Zerfall der EU in Nationalstaaten voranzutreiben. Dagegen sollten sich die BürgerInnen Europas stark machen, protestieren und demonstrieren. Ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement, so antwortete Christian Wulff auf die dem vorausgegangene Frage, sei da deshalb sehr gefragt.

An der FH Dortmund nahm Christian Wulff sein Publikum mit auf eine Reise mit sechs Stationen unter dem Titel „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Vielfalt und Respekt – über Offenheit und Haltung“

Ein hochinteressiertes Publikum an der FH Dortmund.

Später an der Fachhochschule Dortmund in der Sonnenstraße referierte Altbundespräsident Wulff in einem einstündigen Impulsvortrag – „einer Reise mit sechs Stationen“ – unter dem Titel „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Vielfalt und Respekt – über Offenheit und Haltung“. Es war gleichzeitig die erste Veranstaltung im Rahmen der neuen Vortragsreihe „Gehört der Islam zu Deutschland“.

Er sprach über eine auch in Deutschland zu spürende explosive Mischung aus Ängsten, aus Gefühlen, Vertrautes zu verlieren, das viele Menschen Unsicherheit empfänden über die Globalisierung oder befürchteten in einer Flut von Nachrichten in einer digitalisierten Welt unterzugehen.

Christian Wulff Verweis eine Feststellung des Soziologen Luhmann: Vertrauen ist wichtig

In drei Stationen befasste sich Christian Wulff mit den möglichen Ursachen von schlechter Stimmung in Deutschland: Terror, Ungerechtigkeiten bei der Globalisierung und die fortschreitende Digitalisierung. Sowie in weiteren drei Station damit, wie man die Situation zum Positiven wenden könnte. Nämlich: Bekenntnis zur Vielfalt, Bekenntnis zu Europa, internationaler Zusammenarbeit und das Verteidigen unserer Heimat als etwas Schützenswertem. Wulff erinnerte daran, das einst schon der Soziologe Niklas Luhmann daraufhin gewiesen habe wie wichtig Vertrauen sei. Erst recht in Zeiten wie heute, die äußerst unübersichtlich seien, bemerkte seinerseits Christian Wulff.

Über Vielfalt ganz neu nachdenken

Der Referent regte an, dass über Vielfalt ganz neu nachgedacht werden müsse und wir uns positiv positionieren müssten. Wulff gestand ein: „Vielfalt ist anstrengend. Viele sind verschieden nach Sprachen, Aussehen, Geschichte und Herkommen. Aber die Alternative zur Vielfalt ist Einfalt. Die Vielfalt hat Deutschland in der Vergangenheit stark gemacht. Diversität hat ab dem 17. Jahrhundert zu einer kulturellen Blüte geführt.“

Das Ruhrgebiet habe von polnischen Einwanderern und von den südeuropäischen Gastarbeitern profitiert.

Aus bloßer Akzeptanz und Toleranz muss Respekt, Anerkennung und gegenseitiges Verständnis erwachsen

In Deutschland funktioniere das Nebeneinander und ein immer besseres Miteinander von Tempeln Moscheen, Synagogen und Kirchen. Aus bloßer Akzeptanz und Toleranz müsse Respekt, Anerkennung gegenseitiges Verständnis erwachsen. Denn nur darauf könne ein dauerhafter Frieden gedeihen.

Christian Wulff warb um Verständnis, dass all das Zeit, viel Zeit benötige. Und wies daraufhin, wie schwierig einst das Verhältnis in deutschen Landen zwischen Katholiken und Protestanten gewesen sei. Er erinnerte sich in diesem Zusammenhang an die einstige Umstrittenheit, ob die Juden zu Deutschland gehören, an das Wort des Reichstagsabgeordneten Ludwig Windthorst (1812-1891), der der Meinung war, dass man fest entschlossen sein müsse, die Andersdenkenden wie Brüder zu behandeln und zu lieben. Das müsse heute, so Wulff, auch für die Muslime gelten.

Grundgesetz und Freiheitlich Demokratische Grundordnung sind verbindlich für alle sein. Wulff: Nie aber dürfen wir selbstgerecht sein

Indes müsse für alle hier lebenden Menschen das Grundgesetz, die Freiheitlich Demokratische Grundordnung und selbstredend verbindlich sein. Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau habe akzeptiert zu werden. All das dies sei bei uns über eine lange Zeit erkämpft worden, das werde man,

Prof. Dr. Schwick, Rektor FH Dortmund, Christian Wulff und Prof. Dr. Ahmet Toprak, Dekan FH Dortmund, Fachbereich Erziehungswissenschaften (v.l.n.r.).

unterstrich Wulff unmissverständlich, nicht preisgeben.

Allerdings hüte er sich, schaltete der Altbundespräsident ein, etwa Ländern wie Afghanistan da von oben herab Ratschläge zu erteilen. Müssten wir doch wissen, wie lange es bei uns gedauert habe die Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen. Es sei doch noch gar nicht so lange her, dass Frauen in Westdeutschland noch ihren Ehegatten fragen mussten, wenn sie eine Arbeit aufnehmen wollten.

Nie, gab Christian Wulff seinen ZuhörerInnen mit, dürften wir zu selbstgerecht sein.

Für Bekleidungsverbote hierzulande sei er nicht. Allerdings müsse alles dafür getan werden, dass muslimische Frauen keine Burka tragen. Denn in unserer Gesellschaft sei es üblich sein Gesicht zu zeigen. Auch ein Kopftuchverbot unterstützt er nicht. Er sei dafür, dass auch Beamtinnen eines tragen könnten, wenn sie das wollten. Es gebe ausgezeichnete muslimische Lehrerinnen, die wegen eines Kopftuchverbots gezwungen seien an Privatschulen zu gehen. Das bedeute ein Verlust für die Gesellschaft.

Apokalyptischen Panikmachern nicht auf den Leim gehen

Er ermutigte die Menschen sich für eine liberale, offene Demokratie, sich für Europa als Friedensprojekt in der Geschichte der Menschheit einzusetzen im Geiste von Haltung, von Mut, von Offenheit, von Zukunft und nicht zu ängstlich, apokalyptischen Panikmachern auf den Leim zu gehen. Da wo Probleme sind, müssten sie angesprochen werden. Demütig sein sollten wir und Hilfe anbieten, wo sie nötig ist. Wir würden sehen, dass uns das viel mehr zurückgibt, als wir hineingegeben haben.

Während der interessanten Fragerunde betonte Christian Wulff die Gemeinsamkeiten der Religionen und forderte, beide Seiten müssten offen für Integration sein

In der sich anschließenden Fragerunde wurden viele weitere interessante gesellschaftliche, politische und religiöse Aspekte – auch kontroverser Natur – angesprochen und zwischen den ZuhörerInnen und dem Altbundespräsidenten engagiert, aber sachlich diskutiert.

Christian Wulff empfahl die Gemeinsamkeiten zwischen den monotheistischen Weltreligionen zu betonen – denn in all denen sei der Mensch das Wichtigste. Das Gemeinsame überwiege, das Trennende sei eine Minderheit. Jeder Jude, jeder Moslem, jeder Christ müsse später Rechenschaft ablegen. Ansonsten fand Altbundespräsident Wulff, dass sich alle in unserer Gesellschaft lebenden Menschen an die bestehenden Regeln dieser Gesellschaft halten müssten. Der Altbundespräsident weiter: „Um so vielfältiger die Gesellschaft, desto mehr sich versammeln, um so wichtiger werde es, dass die Regeln die man sich gegeben hat, nicht infrage gestellt sondern gelebt werden. Und Integration gelinge auch nicht, wenn sich nur eine Seite darum bemühe und alte Vorbehalte weiter behalte. Sie erfordere auch, offen zu sein, die andere Seite sich integrieren zu lassen. Wer beispielsweise den Koran Vorrang vor weltlichen Recht gebe und nicht in der Zeit seiner Entstehung auslegt, ihn als absolut setze, sei – antwortete Wulff auf eine entsprechende Frage – für ihn ein Islamist.

Im Übrigen wäre es gut, meinte Wulff, die Kirche, die Moschee, die Synagoge, den Tempel im Dorf zu lassen.

Lob für’s Dortmunder Publikum: Wir müssen im Gespräch bleiben

Zum Ende des Abends gab sich Christian Wulff von seinen Dortmunder ZuhörerInnen beeindruckt. Selten erlebe er zweieinhalb Stunden Veranstaltungen mit einem sehr interessiertem Publikum. Er hoffe für die Zukunft, dass sich „die Dinge in Dortmund weiter zusammengeruckelt“ haben werden. Wir müssten – ob einer Meinung oder nicht – weiter im gemeinsamen Gespräch bleiben. Von nichts komme nichts. Statt Spalter brauche es Brückenbauer.

Video vom Rundgang von Altbundespräsident Christian Wulff durch die Dortmunder Nordstadt (via Train of Hope Dortmund/Facebook)

Chistian Wulff informiert sich über die Situation in der Dortmunder Nordstadt. Foto: Mohammed M. Al Kaddah.

Christian Wulff unterwegs in der Dortmunder Nordstadt. Foto: Mohammed M. Al Kaddah.