„Die Konsensfabrik“ von Herman/Chomsky erstmalig auf Deutsch – Rezension

Da ist es nun endlich, 35 Jahre nach der Veröffentlichung in den USA – und zwar erstmalig auf Deutsch. Keine Ahnung warum es so lange dauern musste bis es in deutscher Übersetzung erschien. Der Titel: „Die Konsensfabrik“. Herausgegeben vom Westend Verlag. Michael Schiffmann hat es übersetzt. Nachdem er früher bereits Angela Davis und Noam Chomsky ins Deutsche übertragen hat. In einem dreiviertel bis einem Jahr sei es ihm gelungen, die Übersetzung fertigzustellen, erzählt Schiffmann in einem Video des Westend Verlags.

Wie einer der Herausgeber der deutschen Ausgabe, der Medienwissenschaftler Uwe Krüger im Video über das Buch sagt: „Ein ziemlicher Wälzer. Ein ordentlicher Ziegelstein.“ Ein blauer Ziegelstein, 704 Seiten stark und schwer. Aber bitte nicht gleich davor zurückschrecken, lieber Leserinnen und Leser. Nehmen Sie sich die Zeit – die Lektüre lohnt.

«Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media ist eine Monographie von Edward S. Herman und Noam Chomsky, die 1988 erstmals veröffentlicht wurde. 2002 wurde das Buch mit einem neuen Vorwort neu aufgelegt. 2023 erschien mit Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien die deutschsprachige Übersetzung«, heißt es auf Wikipedia.

«Mit „Manufacturing Consent“ haben die beiden großen Intellektuellen im Jahr 1988 ein umfassendes Werk zur Funktionsweise der Massenmedien in kapitalistischen Demokratien vorgelegt, das heute als eine der meistgelesenen Studien zum Thema gilt und nun am im September 2023 endlich und erstmals auf Deutsch erscheint«, schreibt der Westend Verlag, dem größter Dank für die eigentlich längst überfällig gewesene Herausgabe in deutscher Sprache gebührt. Und weiter:

«Fein und detailliert zeigen die Autoren, wie die Medien einen gesellschaftlichen Konsens herstellen, der den herrschenden wirtschaftlichen und politischen Interessen folgt. Diese Einflussnahme erfolgt aber nicht durch dunkle, verschwörerische Mächte im Hintergrund, sondern durch die ökonomischen Bedingungen der Medienlandschaft, die Chomsky und Herman analysieren und dabei Themen in den Blick nehmen wie: Eigentumsverhältnisse, Anzeigengeschäft, Quellenabhängigkeit, die Grenzen des Sagbaren und politische Einflussnahme sowie implizite gesellschaftliche Ideologien. Sie zeigen auf, wie Fragen formuliert und Themen ausgewählt werden, und machen die Doppelmoral sichtbar, die der Darstellung freier Wahlen, einer freien Presse und staatlicher Unterdrückung zugrunde liegt.«

Sie werden hier schon aufmerken, liebe Leserinnen und Leser, weil hier quasi schon ins Auge springt, dass die Studien in keiner Weise veraltet sind. Ganz im Gegenteil! Die darin dargelegten Erkenntnisse sind umso wichtiger für die heutige Generation, um zu verstehen, wie Medien arbeiten und deren Rezipienten beeinflusst werden. Zumal ja heute zusätzlich die sozialen Medien ein nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Nicht zu vergessen auch die Einmischung sogenannter „Faktenchecker“ (m. E. ein Übel unserer Zeit, wohinter auch wiederum bestimmte Interessen stecken) auf die dort veröffentlichten Inhalte. Wobei der Eindruck zu gewinnen ist, dass diese Faktenchecker Sendungen beispielsweise öffentlich-rechtliche Medien weniger stark – sprich: unkritischer – in den Blick nehmen. Obwohl die ja auch schon so manchen Bock geschossen haben.

Es geht um die Interessen einer mächtigen Minderheit

Die Medienwissenschaftler Uwe Krüger, Holger Pötzsch und Florian Zollmann haben eine ausführliche Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe verfasst über das Propagandamodell von Chomsky und Herman und seine heutige Bedeutung. Außerdem sind in dem Buch die beiden Vorworte der englischen Ausgabe von 1988 und 2002 enthalten.

In ihrer Einführung machen die Autoren klar, dass keine andere Theorie der Journalismusforschung so hart und unversöhnlich mit den kommerziellen Nachrichtenmedien ins Gericht gehe wie das Propaganda-Modell von Edward S. Herman und Noam Chomsky. Ihnen nach „haben die etablierten Medien in liberalen Demokratien eine Hauptfunktion, nämlich «Propaganda« zu betreiben. Das meint: Sie versuchen, etablierte Machtverhältnisse zu stabilisieren und in der Bevölkerung einen Konsens zu einer Politik und einem Wirtschaftssystem herzustellen, die vor allem den Interessen einer mächtigen Minderheit dienen.“ (S.7)

Sie verweisen darauf, dass „der öffentliche Raum in Deutschland seit etwa 2014 in den sozialen Netzwerken und oft auch auf den Straßen voll von Medienzynismus, Journalistenverachtung und Verschwörungsideologien á la Lügenpresse ist: Journalisten seien gekauft; Redaktionen seien von Politik, Geheimdiensten und Hochfinanz gesteuert und würden zusammen mit der Regierung die Bevölkerung manipulieren – solche Vorstellungen sind recht weit verbreitet (vgl. Krüger 2021; Schultz et al. 2023).“

Sie fragen. „Wozu dann dieses Buch, das vermeintlich in dieselbe Kerbe schlägt, jetzt auf Deutsch?“

Weiter: „Sollte man die Medien in Krisenzeiten wie diesen nicht eher die Medien in Schutz nehmen und eine Verteidigungsschrift der liberalen Demokratie inklusive der Infrastruktur ihrer Öffentlichkeit verfassen, anstatt die Gesellschaft weiter zu spalten?“

Die Autoren der Einleitung stehen für eine andere Meinung: „Tatsächlich ist, davon sind wir überzeugt, dieses Buch ein Mittel gegen die Spaltung der Gesellschaft, denn die Erosion des Vertrauens in demokratische Institutionen und Prozesse hat tiefere Ursachen als Verschwörungsfantasien und Twitter-Trolle. Ergebnisse aus der Forschung zu Medienvertrauen deutschen darauf hin, dass wirtschaftliche Ungleichheiten und neoliberale Postdemokratie-Verhältnisse politischen Ohnmachts- und Entfremdungsgefühle erzeugen (vgl. Krüger & Seiffert-Brockmann 2018), gegen die das vorliegende Buch gerade antritt.“ (S.9)

Diese Einleitung enthält wichtige Einordnungen und Gedanken, die auch die Gegenwart in den Blick nehmen. Deshalb empfehle ich den Text der drei Autoren unbedingt zu lesen und nicht zu überspringen.

Wichtig zu wissen ist, dass das sich von Herman/Chomsky skizzierte Propagandamodell die Ungleichheit von Reichtum und Macht und die vielfältigen Auswirkungen konzentriert, die sie auf die Interessen und Entscheidungen derer hat, die über Massenmedien bestimmen. Es werden die Mechanismen verfolgt, mittels derer Geld und Macht in der Lage sind, die Nachrichten herausfiltern «die es wert sind gedruckt zu werden«. Abweichende Meinungen werden unterdrückt oder abgeschwächt – als wertlos – dargestellt. Im Gegenzug ermöglicht man herrschenden staatlichen und einflussreichen privaten Interessen ihre Botschaften unters Volk zu bringen.

Dem Propagandamodell zufolge müssen Nachrichten fünf Nachrichten-«Filter« durchlaufen bevor sie in den Medien landen

Um darzustellen, wie die Berichterstattung trotz formaler Pressefreiheit beeinflusst wird, nennen Edward S. Herman und Noam Chomsky fünf Filter. Diese stellen die wirtschaftlichen und politischen Einflussfaktoren dar, die bestimmen, ob und wie eine Nachricht vermittelt wird. Dieser Prozess geschieht oftmals nicht öffentlich und von journalistischer Seite nicht einmal bewusst. Weshalb der Eindruck von Pressefreiheit, unabhängigen Medien und sowie eines auf der Demokratie fußenden Konsenses in der Bevölkerung in der Regel nicht in Zweifel gezogen wird.

Filter 1: Die Eigentümer und deren (finanziellen) Interessen im Sektor Massenmedien. Unbequeme Meinungen und Positionen werden aussortiert

Die Besitzerinteressen spielen bei der Berichterstattung ihrer Medien selbstredend eine Rolle. Beispielsweise gehörte der große US-Fernsehsender NBC bis 2009 zu 100 % und bis 2013 zu 49 % dem Großkonzern General Electric. Dieser Misch-Konzern war aber nicht nur in der Medienbranche tätig, sondern unter anderem auch in der Rüstungsindustrie. General Electric (GE) versuchte somit die Berichterstattung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Der Sender musste tendenziell potentielle Kriege unterstützen und negative Berichterstattung über Konflikte, in denen mit GE Waffen gekämpft wird, zurückhalten.

Die Besitzverhältnisse werden besonders durch zwei Faktoren geprägt werden. Erstens benötigt man enorm viel Geld, um ein Medium mit relevanter Reichweite zu gründen. Weshalb die Medienlandschaft hauptsächlich von großen Konzernen geprägt wird. Zweitens kann man einen Prozess der Medienkonzentration beobachten. Der normale Mediennutzer mag an eine scheinbare Medienvielfalt glauben. In Wirklichkeit besitzen einige wenige große Unternehmen die Mehrheit an Zeitungen, TV- und Radiosendern. Herman und Chomskys Analyse beschränkt sich zwar nur auf den US-Markt, sie gehen aber davon aus, dass diese Punkte für alle entwickelten Demokratien gelten.

Filter 2: Die Einnahmequellen: Werbung macht Inhalt

Um als Medium langfristig erfolgreich sein zu können, reicht es nicht, vermögende Besitzer zu haben. Diese wollen nämlich auch Profite sehen. Zeitungen decken beispielsweise ihre Kosten längst nicht mehr durch den Verkauf, sondern machen ihre Gewinne vor allem mit den Inseraten. Allerdings sind hierzulande die Anzeigeneinnahmen mittlerweile rückläufig.

Fernsehsender leben fast ausschließlich von TV-Spots. Um gewinnbringend wirtschaften zu können, ist man also von den Werbeeinnahmen und damit von anderen Unternehmen abhängig. Die inserierenden Konzerne bestimmen dadurch die Auswahl und Vielfalt der Medieninhalte wesentlich mit. Diese Abhängigkeit führt auch dazu, dass die Medien stark dazu neigen, von vornherein werbetaugliche Inhalte zu publizieren.

Banalisierung der Inhalte

Formate werden also für die Werbetreibenden erstellt und nur in zweiter Linie für die Rezipienten der jeweiligen Medien. Dadurch kommt es unter anderem zu einer Banalisierung des Angebotes. Unternehmen meiden beunruhigende oder kontroverse Inhalte als Plattform für ihre Produkte, da sie die Kaufstimmung beeinträchtigen könnten. Somit werden eher leichte Programminhalte produziert, da diese billiger zu erzeugen sind und vor allem auch mehr Werbeeinnahmen generieren.

Selbstzensur: Die Schere im Kopf

Eine weitere Auswirkung ist die Selbstzensur der Medien. Um Werbekunden nicht zu vergraulen, wird bewusst auf Inhalte verzichtet, die ihnen schaden würden. So wird ein Medium einen Bericht über vermehrte Fettleibigkeit unter Kindern eher zurückhalten, wenn ein großer Sponsor ein Fast-Food Konzern ist. Diese Einflussnahme auf die Blattlinie erfolgt oftmals ohne direktes Einwirken der Werbenden und wird durch vorauseilenden Gehorsam automatisch durchgeführt. Dieser Mechanismus wird auch „die Schere im Kopf“ genannt.

Filter 3: Quellen: Wer produziert die Nachrichten?

Medien brauchen für ihre Arbeit vor allem eines: Informationen. Der steigende Kostendruck in der Branche führt zu einer Ausdünnung der Redaktionen und somit nimmt der Anteil der selbst recherchierten Meldungen ab. Die Hauptzulieferer von Informationen sind heute PR- und Nachrichtenagenturen.
Wir erleben eine Professionalisierung der Pressearbeit von Unternehmen und politischen Gruppen, wobei auch hier gilt: Je finanzstärker diese sind, desto erfolgreicher können sie PR-Arbeit leisten.

Win-Win-Situation „Copy & Paste“

Oftmals übernehmen JournalistInnen einfach Meldungen, die sie auf Pressekonferenzen oder durch Pressemitteilungen erhalten, damit verwandeln sie PR-Berichte in vermeintlich journalistische Fakten. Für die PR-Arbeiter ist dies der optimale Fall, weil der Absender seine Argumente 1:1 und ohne Widerspruch ans Publikum bringt. Das Medium wiederum erspart sich Recherche und wirkliche Bearbeitung des Themas.

Beispiel: „Laut einer Untersuchung des britischen Journalisten Nick Davies gehen gerade mal 12 Prozent der Artikel in britischen Qualitätsmedien auf tatsächliche Eigenrecherche von Redakteuren zurück. 41 Prozent beinhalteten PR-Material und 13 Prozent unterschieden sich nur unwesentlich von PR-Texten. Zeitungssterben und Profitlogik haben auch die Arbeitsbedingungen in den Redaktionen verschlechtert: Journalisten haben heute um zwei Drittel weniger Zeit als noch in den 1980er Jahren. Während die Zahl der Redakteure leicht abgenommen hat, hat sich die Menge an Texten, die sie produzieren müssen verdreifacht. Dazu kommt, dass mittlerweile mehr Menschen dafür bezahlt werden, die öffentliche Meinung im Sinne der Unternehmen und Politiker zu beeinflussen als es Journalisten gibt.“

Die Rolle der Nachrichten-Agenturen

Die zweite wesentliche Nachrichten-Quelle sind wenige große Nachrichtenagenturen. Ein guter Teil aller Zeitungs-Nachrichten besteht lediglich aus mehr oder weniger gekürzten Agentur-Meldungen. Die Leser werden das oft gar nicht bemerken.

Unter anderem sind die Agenturen bei ihrer Arbeit sehr auf die Kooperationsbereitschaft von Regierungen und Konzernen angewiesen. Zudem sortieren sie Meldungen aus, die sie als wenig relevant oder nicht medientauglich erachten. Insgesamt schaffen es also vielfach Nachrichten nur in die Öffentlichkeit, wenn Institutionen ein Interesse daran haben und wenn sie den medialen Verwertbarkeitskriterien entsprechen.

Filter 4: «Flak« als Bestrafung für Abweichung: Öffentliche Kritik oder Geldentzug

Berichte oder Sendeformate, die den politisch und wirtschaftlich Mächtigen unangenehm sind, werden systematisch mit negativen Reaktionen beantwortet. Das können von PR-Agenturen gesteuerte negative Leserbriefe, Anrufe oder Forenkommentare sein, aber auch persönliche Drohungen, Beschwerden oder Werbekunden, die mit dem Stopp von Inseraten drohen.

Herman und Chomsky benutzen hier den Begriff «Flak« (nach der deutschen Abkürzung für Flugabwehrkanone). Auch kann man diese Praktik „Störfeuer“ nennen. «Flak« ist also ein Mittel zur Disziplinierung der Medien.

Filter 5: «Antikommunismus« als nationale Religion und als Kontrollmechanismus

Noam Chomsky und Edward S. Herman haben ihr Propaganda-Modell unter den Eindrücken einer bipolaren Welt im Kalten Krieg entwickelt. Darum nannten sie folgenden Filter erst Antikommunismus, später aktualisierte Herman den Begriff auf Antiideologie bzw. Neoliberalismus. Später noch: Krieg gegen den Terror vorgeschlagen. Starke Ideologien, die es jeweils erlauben die Welt in Gute und Böse aufzuteilen.

Im Wesentlichen geht es hierbei um das Setzen von Grenzen akzeptabler Meinungen. Darf etwa eine bestimmte Religion oder Religion an sich abgelehnt werden? Wie viele Wirtschaftsjournalisten haben während der Griechenland-Krise die fetischhafte Kürzungspolitik Deutschlands kritisiert? Werden in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen steigende Aktienkurse und Gewinne mit damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialen Kennzahlen verglichen?

All das interagiert miteinander und verstärkt sich so

Sind all die Filter durchlaufen, soll ein gesäuberter Rest übrigbleiben, der «es wert ist, gedruckt zu werden«.

Die Herrschaft der Elite über die Medien und die Marginalisierung von Vertretern abweichender Meinungen ergeben sich auf diese Weise. Die in den Medien tätigen Journalisten, die häufig vollkommen integer und guten Willens ihre Arbeit tun, können sich gar einreden, dass die Nachrichten «objektiv« sind sie die und aufgrund rein professioneller Standards auswählen und interpretieren. Wohl auch, weil sie innerhalb der durch Filter auferlegten Grenzen dann tatsächlich oft objektiv, aber die Beschränkungen sind so mächtig und so gut in das System integriert, dass alternative Kriterien der Nachrichtenauswahl oft nicht einmal vorstellbar sind.

Hochinteressante und spannende Kapitel seien genannt und besonders empfohlen für eine jüngere Leserschaft, die diese Zeit und die damit verbundenen Nachrichten nicht selbst erlebt haben.

(3) Legitimierende und bedeutungslose Wahlen in der Dritten Welt: El Salvador, Guatemala, Nicaragua (S.274)

(4) Das Komplott des KGB und Bulgariens zur Ermordung des Papstes: Marktwirtschaftliche Desinformation als «Nachrichten« (S.362)

(5) Die Indochinakriege: Vietnam (S.405)

(6) Die Indochinakriege: Laos und Kambodscha (S.545)

Dazu auch: die US-Einmischung in die Wahlen in El Salvador, die US-Einmischung in Wahlen in Guatemala, die Einmischung der USA in die Wahlen in Nicaragua, die angebliche Verschwörung des KGB und Bulgariens zur Ermordung des Papstes, der Vietnamkrieg: Vietnam, Kambodscha und die Herrschaft von Pol Pot, Laos.

Wertvolle und wertlose Opfer

Die Leser sollten sich auch intensiv mit dem Kapitel (2) Wertvolle und wertlose Opfer (S.194) beschäftigen.

Das Blut kocht einem, zu lesen, wie unterschiedlich Opfer in den Medien gewichtet werden. Die Opfer „unserer“ Kriege werden in den Westmedien im Grunde genommen als wertlos und unwichtig behandelt. Etwa die durch Saudi Arabien zu verantwortenden Opfer im Jemen. Was an Zynismus nicht zu übertreffen ist. Die Opfer in unseren Feindstaaten dagegen werden als wertvoll behandelt. Sie bekommen eine prominentere Berichterstattung.

Seinerzeit wurde etwa über den durch Leute des polnischen Staatssicherheitsdienstes während des 1984 in der Volksrepublik Polen verhängten Kriegsrechts auf fürchterlicher Weise ermordeten Priesters Jerzy Aleksander Popiełuszko lang und ausführlich über Tage hinweg berichtet. An prominenter Stelle in der New York Times und anderen Leitmedien in den USA. Darüber wurde viel mehr berichtet als über die ganzen religiösen Opfer, darunter Erzbischof Romero von San Salvador.

Über die Folterung, Ermordung von Linken, Gewerkschaftern und Nonnen unter Diktaturen in Mittel- und Südamerika in den 1980er Jahren, die unter dem Einfluss der USA stehend – bis hin zur direkten Unterstützung der Terror ausübenden Diktaturen durch Washington – dagegen wurde, vornehm ausgedrückt, nur zurückhaltend berichtet. 200 000 Opfer sind damals zu beklagen gewesen. In den Indochinakriegen der USA waren es dann schon Millionen von Menschen, die deren Kriegen zum Opfer fielen. Im Buch wird darüber ein statistischer Nachweis geführt – vor allem im Kapitel über Mittelamerika.

Zweierlei Maß halt und eine an den Interessen der USA ausgerichteten Medienberichterstattung.

Die Medien werden nach Herman und Chomsky ganz grundsätzlich von den Eliten als Instrument zur Sicherung ihrer Macht und Interessen missbraucht. Während die Eliten in totalitären Staaten Gewalt zu ihrer Legitimierung nützen, wird in Demokratien die Berichterstattung systematisch beeinflusst, um so Konsens im Interesse der Oberschichten zu erzeugen. Noam Chomsky selbst fasst das mit diesem Zitat zusammen:

„Ohne Knüppel, ohne Kontrolle durch Gewalt, muss man das Denken kontrollieren.
Dazu greift man zu dem, was in ehrlicheren Zeiten Propaganda genannt wurde.“

Das Buch ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Dennoch: absolute Leseempfehlung

Das Buch ist alles in allem eine gute und wichtige Analyse von Chomsky und Herman. Im Wesentlichen auf die USA bezogen. Aber sie ist auch für uns hier – obwohl wir einen viel größeren öffentlich-rechtlichen Mediensektor haben – hoch interessant und hat auch keineswegs an Aktualität verloren.

Chomsky meinte später, es gebe durchaus Möglichkeiten bezüglich der Medien und deren Berichterstattung Veränderungen zum Positiven zu erreichen. Propaganda verfehle heute oft ihre Wirkung. Gibt es also Hoffnungen? Gibt es tatsächlich auch in den Redaktionen heute eine größer Sensibilität und denkt man dort daran verschiedene Haltungen abzubilden?

Ich persönlich – schaue ich mir die heutige Medienrealität an – glaube daran eher nicht. Ist nicht eher das Gegenteil der Fall?

Meiner Meinung nach ist allein der Journalismus in der Bundesrepublik Deutschland – von viel zu wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – heftig auf den Hund gekommen. Auf einem schmerzenden Tiefpunkt angelangt. Nicht zuletzt erfüllt der Journalismus so nicht mehr die in einer Demokratie (welche nebenbei angemerkt – meinem Eindruck nach – auch immer mehr absandelt) unverzichtbare Aufgabe einer Vierten Gewalt.

Betrachten wir doch nur einmal das Agieren unserer Leitmedien und das der Öffentlich-Rechtlichen seit mindestens 2014, so erleben wir gerade in Zeiten des Ukraine-Krieges eine fürchterliche Zurichtung auf eine zunehmend immer unerträglichere Propaganda.

Das vorliegende Buch ist freilich nicht vergnügungsteuerpflichtig. Und mit über 700 Seiten nicht mal soeben weg gelesen. Trotzdem empfehle ich es unbedingt meinen Leserinnen und Lesern. Nicht zuletzt sollte es von angehenden oder bereits im Beruf stehenden Journalistinnen und Journalisten gelesen werden.

Selbstverständlich sollte das Buch reflektiert und mit auf vollen Empfang geschaltetem Verstand rezipiert werden.

Chomsky und Herman haben es zwar mit Blick auf die US-Verhältnisse geschrieben. Doch können wir ihre Studien ohne Weiteres auf unsere Verhältnisse herunterbrechen, verstehen und unsere Schlüsse daraus ziehen.

Letztlich sollten Journalisten und Leser ein hohes Interesse an kritischem, gutem Journalismus, welcher nicht den Interessen von einflussreichen Konzernen und Eigentümern untergeordnet ist, haben und diesen einfordern und befördern.

Klar: Gut gebrüllt Löwe, werden Sie ausrufen. Das Einfache, das schwer zu machen ist. Aber alles so laufen lassen wie momentan ist eben auch keine Lösung.

Der Autor:

Noam Chomsky, geboren 1928, ist Professor emeritus für Sprachwissenschaft und Philosophie am M.I.T. Er hat die moderne Linguistik revolutioniert und zahlreiche Bestseller verfasst. Chomsky ist einer der weltweit bekanntesten linken Intellektuellen und seit jeher ein prominenter Kritiker der amerikanischen Politik wie auch des globalen Kapitalismus.

Edward S. Herman, geboren 1925 war ein US-amerikanischer Ökonom und Medienanalyst, der zuletzt als Professor emeritus of Finance an der Wharton School der University of Pennsylvania beschäftigt war.

Aus dem Buch:

Die Massenmedien fungieren als ein System zur Kommunikation von Botschaften und Symbolen an die Bevölkerung als Ganzes. Sie sollen belustigen, unterhalten und informieren sowie dem Einzelnen die Werte, Meinungen und Verhaltensweisen vermitteln, die sie in die institutionellen Strukturen der Gesamtgesellschaft integrieren. In einer Welt, in der der Reichtum bei Wenigen konzentriert ist und in der gravierende Interessenskonflikte zwischen den Klassen bestehen, können sie diese Rolle nur durch systematische Propaganda ausfüllen.

Über das Buch

Erstmals auf Deutsch: Der Klassiker zur massenmedialen Meinungsmache

Die Medien haben die Macht, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, der den herrschenden wirtschaftlichen und politischen Interessen folgt – und nutzen sie. Diese Einflussnahme erfolgt jedoch keinesfalls durch verschwörerische Mächte im Hintergrund, sondern durch die ökonomischen Bedingungen der Medienlandschaft, die Chomsky und Herman schonungslos analysieren. Mit Manufacturing Consent legten sie ihr heute weltberühmtes Werk zur Medienkritik vor, das als der Klassiker zum Thema gilt – und nichts an Aktualität verloren hat. Die Autoren zeigen auf, auf welche Weise in den Medien Themen ausgewählt und besprochen werden, und machen so die Doppelmoral und die auf den Status quo ausgerichtete Voreingenommenheit sichtbar, die den Darstellungen der so viel gepriesenen „freien Presse“ zugrunde liegen.

Edward S. Herman, Noam Chomsky, Uwe Krüger, Holger Pötzsch, Florian Zollmann

Die Konsensfabrik

Die politische Ökonomie der Massenmedien

704 Seiten

Klappenbroschur

Artikelnummer: 9783864893919

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Gespräch Michael Schiffmann mit Uwe Krüger:

Noam Chomsky: „Rebellion oder Untergang!“. Rezension

Corona, Corona, Corona – die wegen des Coronavirus ausgerufene Pandemie und damit verbundene Krise überdeckt seit fast einem Jahr im Grunde weltweit jegliche anderen Bedrohungen erheblicherer Natur. Und zwar existenzielle Bedrohungen! Eine davon ist der Klimawandel. Erinnern wir uns noch? Die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Aktivisten rüttelten in vielen Ländern der Welt Menschen und Medien wach. Sogar Politiker merkten zuweilen auf. Ebenso die schärfer fokussierten Aktionen von Extinction Rebellion. Auch wahr: einige dem Corona-Regime abgetrotzte Demonstrationen fanden zwar auch hie und da statt. Aber im großen und ganzen überdeckt das COVID-19-Geschehen den wichtigen Kampf. Eine weitere Bedrohung – in seiner Zerstörungswirkung viel gravierender, als die mit gewisser Verzögerung eintretende durch den Klimawandel – weil in der Lage, die Menschheit gründlicher ausrottend, ist die Bedrohung durch Atomwaffen!

Die Weltuntergangsuhr rückt dem Mitternachtspunkt immer näher

„Jedes Jahr“, gibt Noam Chomsky, einer der weltweit bekanntesten linken Intellektuellen, zu bedenken, „stellt eine vom Bulletin of Atmomic Experts berufene Expertengruppe die 1947 zu Beginn des Atomzeitalters eingeführte Doomsday Clock, das heißt die Weltuntergangsuhr, neu, bei der ‚Mitternacht‘ das endgültige Ende für uns alle bedeutet“. Und Chomsky weiter: „Vor zwei Jahren, 2014, stellte sie die Uhr auf drei Minuten vor Mitternacht, wo der Zeiger auch heute noch steht.“

Chomsky-Vortrag mit dem Titel „Internationalismus oder Untergang“ 2016 in Boston

Noam Chomsky sagte das Mitte Oktober 2016 auf einer „Chomsky-Veranstaltung“, wie sich Charles Derber, Suren Moodliar und Paul Shannon im Frühjahr 2020 erinnern, in der historischen Old South Church in Boston, wovor sich seinerzeit chon lange vor Beginn der Veranstaltung eine große Menschenmenge versammelt hatte. „Einige waren sogar aus dem Ausland angereist“, erinnern sie sich. Es fand eine der auf sehr besondere Art breit angelegten öffentlichen Vorlesung einschließlich Diskussion, auf welcher der bekannte Linguist und öffentliche Intellektuelle Noam Chomsky auftrat, statt. Diese Chomsky-Veranstaltung fand just nur einige Wochen vor der schicksalhaften Wahl im November 2016 statt, die dann Donald Trump, der dieser Tage im Januar 2021 aus dem Amt schied, ins Weiße Haus brachte. Derber, Moodliar und Shannon machen darauf aufmerksam, dass sich diese Abendveranstaltung im Oktober 2016 beträchtlich von vielen anderen vorher unterschied. Es sei nicht um „diese oder jede Gräueltat oder Rechtsverletzung einer Supermacht“ gegangen. „Stattdessen“ habe dieser Chomsky-Vortrag den Titel „Internationalismus oder Untergang“ getragen und sich nicht „auf irgendeine besondere innen- oder außenpolitische Maßnahme oder Katastrophe, sondern auf die drohende Gefahr des Untergangs so gut wie aller Lebensformen auf der Erde“ bezogen.

Chomsky-Buch „Rebellion oder Untergang im Westend Verlag erschienen

Nun ist jüngst im Westend Verlag ein Buch erschienen, das auf besagte Chomsky-Veranstaltung zurückgeht. Das Buch trägt auf gelbem Untergrund den Titel „Rebellion oder Untergang!“ und ist ein „Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation“ (Untertitel).

Im Kapitel „Die zweifache Bedrohung“ (S.19) führt Chomsky exakt aus, was damit im Zusammenhang steht. Er hebt an: „Der mögliche Untergang der menschlichen Spezies und die Frage des Internationalismus waren seit dem Augenblick, in dem die Gefahr des Untergangs zur einer realistischen Sorgen wurde, nämlich seit dem 6. August 1945, engstens miteinander verbunden.“

Ein Tag nämlich, welcher Noam Chomsky noch gut in Erinnerung ist. Chomsky:

„An jenem Tag wurde klar, dass die menschliche Intelligenz die Mittel ersonnen hatte, dem 200 000 Jahre alten menschlichen Experiment ein Ende zu machen.“

Schon da habe nie ernstlich ein Zweifel daran bestanden, (…) „dass die Fähigkeit zur Zerstörung der Welt immer größer werden, bald auch in andere Hände übergehen und so die Gefahr einer Selbstvernichtung noch steigern würde.“

Der Autor erinnert an die spätere Geschichte der „Beinahe-Desaster“: „Eine Untersuchung der Ereignisse zeigt klar, dass es fast ein Wunder ist, dass es in den letzten 70 Jahren noch nicht zur Katastrophe gekommen ist und wir uns keineswegs darauf verlassen können, dass dieses Wunder sich weiter fortsetzt.“ Wir erinnern uns an den Stand der „Doomsday-Clock“?

Die wachsende Gefahr eines katastrophalen Atomkriegs, die real und ernst sei, werde kaum irgendwie erwähnt, gab Chomsky auf dieser Veranstaltung in Boston seinen Zuhörer*innen zu Bedenken.

Bei der Wahl des Präsidenten des mächtigsten Landes der Weltgeschichte wären die zwei wichtigsten Fragen der gesamten Geschichte der Menschheit, von der das Schicksal der Spezies abhänge, so gut wie gar nicht vorgekommen, merkte Chomsky an.

Noam Chomsky (S.28): „Es ist schwer, die Ungeheuerlichkeit dieser monströsen Blindheit mit Worten zu fassen, außer vielleicht diesen (nämlich die aus einem Zitat von James Madison von 1791 entnommenen):

„… meine Vorstellungskraft reicht nicht für die freche Verderbtheit der Zeiten, in der die Börsenspekulanten zur Prätorianergarde der Regierung werden, deren Werkzeuge und Tyrannen sie in einem sind, indem sie sich von ihrer Freigiebigkeit bestechen lassen und sie mit ihrem Geschrei und ihren Schlichen überwältigen.“

Mutige Männer verhinderten Beinahe-Desaster und somit Atomkriege

Chomsky erwähnt die „Operation Able Archer“ (hier) mit welcher die Regierung unter US-Präsident Ronald Reagan im November 1983 die sowjetischen Verteidigungssysteme testen wollte. Zuzeiten großer internationaler Spannungen! Moskau nahm „Able Archer“ sehr ernst. Sie versetzten ihre Streitkräfte in einen, wie es hieß, „ungewöhnlichen“ Alarmzustand. Eigentlich hätten die USA nun dasselbe tun müssen. Glücklicherweise fasste jedoch Leonard Perroots, ein hoher Offizier der Luftwaffe, den einsamen Beschluss, statt dem eigentlich vorgesehen Verfahren zu folgen. nichts zu tun.

Ebenfalls wurde bekannt, dass kurz vor diesem Vorfall sowjetische automatische Systeme (…)“einen vermeintlich bevorstehenden umfassenden Atomangriff der USA gemeldet hatten“ (S.33).

„Der diensthabende Offizier, Stanislav Petrov, entschied sich ebenfalls nichts zu tun, statt diese Information an die höheren Ebenen weiterzuleiten und damit möglicherweise einen massiven Atomschlag auszulösen.“

Dem Nicht-Handeln dieser beiden Militärs hat es die Menschheit damals zu verdanken, dass sie ihrer Auslöschung entkam.

Zu recht wünscht Noam Chomsky die großen Männer Leonard Peroots und Stanislaw Petrow, sowie Wassili Archipow, der sich 1962 als sowjetischer U-Boot-Kommandeur während eines der gefährlichsten Momente der kubanischen Raketenkrise als Einziger dem Befehl zum Angriff mit atombestückten Torpedos widersetzte, obwohl zwei seiner Offizierskollegen in einem von US-Einheiten eingekreisten U-Boot erteilen wollte, auf eine Ehrenliste zu setzen. Auch hier hätte ein Atomkrieg ausgelöst werden können.

Die zweite Bedrohung: der Klimawandel

Auch auf die zweite Bedrohung, die durch den Klimawandel, geht Chomsky ausführlich ein. Nennt die bereits seit einiger Zeit spürbaren Auswirkungen: Hurricanes, Überschwemmungen, Hitzewellen und das gravierendste Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten seit Menschengedenken. Alle nötigen Aspekte zum Punkt „Zwei Bedrohungen“ können im Buch gefunden werden. Sie hier alle zu nennen, würde hier den Rahmen sprengen.

Kapitel 2: „Wie erreichen wir die Menschen?“

Im Anschluss an den tiefschürfenden Vortrag Noam Chomskys, der dessen umfangreichen Kenntnis- und Wissensstand offenbarte, wurde an diesem Abend die Frage „Wie erreichen wir die Menschen?“ (Kapitel 2, ab S.44) erörtert.

Der vom Referat verständlicherweise begeisterte Paul Shannon befragt Chomsky. Klug schlussfolgernd, hatte er natürlich erkannt: „Aber wenn wir für den Fortbestand der Menschheit sorgen wollen, müssen wir ja vor allem die Leute, die heute Abend nicht hier sind, davon überzeugen, sich ebenfalls zu engagieren.“ Die Frag sei aber nur: „Wie?“. „Wissen sie vielleicht gar nicht, dass diese Gefahren sehr real sind, oder geht ihnen die Fähigkeit ab, sich allzu sehr um Dinge zu kümmern, die nicht konkret greifbar sind?“

Chomsky antwortet auf diese berechtigte und den Kern des Problems treffende Frage, indem seinem Gegenüber bedeutet, wie leicht es doch eigentlich gewesen wäre, die Atomkrise um den Iran zu lösen. Doch davon hätten damals viele Leute nichts gehört.

Vor dem Aktivismus muss die Verbreitung von Bewusstsein stehen

Shawn merkt an, dass, wenn Chomsky von Aktivismus rede, als Erstes die Verbreitung von Bewusstsein meine.

Und er fragt nach dem Grund dafür, warum die „Mainstreammedien, die New York Times und all die anderen, darüber so wenig auf eine Art berichten, die es Aktivisten ermöglicht, eine größere Zahl von Menschen zu erreichen?“

Shawn: „Unter diesen Bedingungen wirken dann alle Aktivisten wie Idioten, weil sie von Dingen reden, von denen noch nie jemand etwas gehört hat.“

Da ist etwas dran! Merken wir das nicht auch hin und wieder – gerade in der Corona-Krise?

Chomsky führt daraufhin aus, da müsse nicht unbedingt böser Wille dahinterstecken. Wer eine journalistische Ausbildung absolviert habe, werde wissen, dass dort ein Begriff gelehrt werde, der größte Hochachtung genieße: nämlich „Objektivität“. Er habe die Bedeutung: „nämlich die einer korrekten und fairen Berichterstattung über das, was innerhalb des Dunstkreises von Washington, Weißem Haus und Kongress vor sich geht“ Chomsky: „Wenn also Donald Trump um drei Uhr morgens irgendeine Obszönität getwittert hat, wird das zur Titelgeschichte der New York Times und wenn Hillary Clinton sagt, was immer sie gesagt hat, ist eben das die große Story.“

Doch sei ein Thema nicht Diskussionsthema der kleinen Schicht des politischen und wirtschaftlichen Establishments, dürfe man nicht darüber berichten. Das gelte dann als parteiisch oder emotional. Jedenfalls würde heißen, man sei nicht objektiv. Chomsky: „Das ist ein Credo des Journalismus. Fall Sie jetzt gedacht haben, in der akademischen Welt sei das anders, liegen Sie nicht ganz falsch.“

Noam Chomsky: Auch mit Leuten sprechen, die betreffs bestimmter Themen ganz anderer Meinung sind

Noam Chomsky wirbt überzeugend dafür auch mit Leuten, die bestimmten Themen ganz anderer Meinung sind: „Ich glaube nicht, dass viele Leute der Meinung sind, man sollte nicht versuchen, die Welt in einer Form zu erhalten, in der auch ihre Enkel überleben können.“ Man sollte praktisch mit allen Menschen reden, „jedenfalls allen, die halbwegs bei Sinnen sind“.

Chomsky fährt fort: „Wenn Menschen über wichtige Dinge nicht Bescheid wissen, bringt sie das oft zu sehr irrationalen Entscheidungen – rational in ihrer eigenen Interpretation, nur dass in dieser Interpretation einige entscheidende Fakten fehlen.“ (S.49)

Freilich sei es „vermutlich nicht möglich jedes Publikum zu erreichen, und so glaube ich zum Beispiel nicht, das der Harvard Faculty Club mir zuhören würde, aber ansonsten sind die meisten Leute schon erreichbar“.

Zivilen Ungehorsam hält Chomsky für sinnvoll, „wenn er andere zur Anerkennung der Tatsache bringt, dass es Dinge gibt, sie so wichtig sind, dass manche Leute ihretwegen zu allen möglichen Risiken bereit sind, und wenn er sie dazu bringt, darüber nachzudenken und dann vielleicht selbst etwas zu tun.“

Als Shawn ihn darüber fragt, wie er über zivilen Ungehorsam denke, wobei man sich irgendwo ankettet und leicht dann vielleicht dafür eingesperrt wird, denkt, gibt Chomsky zu bedenken, er selbst habe sich ja oft an solchen Aktionen beteiligt und sei dafür sogar im Gefängnis gewesen, möglicherweise von einer langen Haftstrafe bedroht.

Für ihn sei ziviler Ungehorsam „eine legitime Taktik“, jedoch „die Art und Weise, wie er durchgeführt wird, ist meiner Ansicht nach nicht legitim.“ (S.51)

Zivilen Ungehorsam hält Chomsky für sinnvoll, „wenn er andere zur Anerkennung der Tatsache bringt, dass es Dinge gibt, sie so wichtig sind, dass manche Leute ihretwegen zu allen möglichen Risiken bereit sind, und wenn er sie dazu bringt, darüber nachzudenken und dann vielleicht selbst etwas zu tun.“

Allerdings müsse der Boden dafür bereitet sein. Andernfalls sei ziviler Ungehorsam schädlich.

Noam Chomsky bedauert, „dass das auch für Aktionen von Leuten gilt, die ich sehr schätze und bewundere und mit denen ich gut befreundet bin. Dabei spielt er auf eine Aktion an, bei der Friedensaktivisten ohne öffentliche Vorbereitung in einen U-Boot-Stützpunkt eindrangen und die Spitzen irgendwelcher Raketen zertrümmerten. Damit brachten sie die Arbeiter gegen sich auf, die um ihre Jobs fürchteten.

Sich zunächst in der eigenen Umgebung mit Aktionen engagieren

In Sachen Aktionen empfiehlt Chomsky sozusagen nicht immer gleich mit dem großem Besteck anzufangen. Regional gebe es sehr viele Probleme von Menschen für die man sich engagieren könne. Durchaus existierten Beispiele, wo man sich für etwas einsetzen kann, das auf den ersten Blick nicht sonderlich wichtig scheine. Er führt (S.56) beispielsweise eine Ampel an, es Kindern erlaube, sicher die Straße zu ihrer Schule zu überqueren. „Schließlich bekommen sie die Ampel und haben damit etwas erreicht. Beispiele wie diese beweisen, dass wir etwas tun können: Wir sind nicht allein. Und wir können natürlich noch weitere Dinge tun, und darauf bauen wir dann auf; so kann sich eine Bewegung entwickeln.“

Selbst „in unseren angeblich so ‚gebildeten‘ Gemeinden“ gebe es zu tun.

„Die Ahnungslosigkeit gerade unter den ‚Gebildeten‘ ist erschreckend.“

Betreffs des größten Teils dessen, worüber er am Vortragsabend gesprochen habe, nehme er an, dass nicht einmal ein winziger Teil der hochgebildeten Akademiker in Boston und New York je davon gehört hat. Chomsky: „Und das genau hier, wo wir selbst leben.“

Jede Seite des Chomsky-Buches ist Papier und Druckerschwärze wert. Nicht weniger interessant als Noam Chomskys Ausführungen ist Kapitel „Fragen der Strategie“ (ab S.58). Darin werden Fragen und Anmerkungen von Teilnehmer*innen wiedergegeben, welche sich nach dem Vortragsabend von Noam Chomsky ergeben haben. Und welcher er im Dialog beantwortet.

Ebenso von Interesse das Kapitel 4 „Aktuelle Gedanken über Bewegungen der Zukunft“ (ab S.70), worin der Herausgeber im Gespräch mit Noam Chomsky ist.

Die dritte Gefahr: die Auslöschung der Demokratie

Sicher haben Sie, liebe Leser*innen, bei der bisherigen Schilderungen des Buchinhalts etwas vermisst.

Aber keine Angst, ein kluger Mann wie Noam Chomsky hat selbstredend daran gedacht, dass die Menschheit zwar schon mit den bisher von ihm benannten Gefahren schwer genug unter (Lebens-)Bedrohung steht; dass es aber noch eine dritte Gefahr gibt, die zusehends zunimmt. Gerade in diesen Zeiten müssten wir sie eigentlich spüren! Und so wird diese natürlich auch benannt: im Kapitel 5 „Die dritte Gefahr: die Aushöhlung der Demokratie“ (ab S.80).

Internationalismus oder Untergang“

Zweieinhalb Jahre nach seinem Vortrag vor den US-Wahlen von 2016 war Noam Chomsky am 11. April 2019 noch einmal zur Old South Church nach Boston zurückgekehrt. Und er sprach abermals vor vollem Saal. Diesmal zum Thema „Internationalismus oder Untergang“.

Dort ergänzte er seine Darstellung der existenziellen Gefahren, vor denen die Menschheit heute steht, „durch Überlegungen zum politischen Prozess selbst, nämlich zur Subversion der Demokratie durch die Interessen der fossilen Brennstoffindustrie, der Großkonzerne und die Kräfte des Nationalismus“, wie Die Herausgeber zu Beginn des Kapitels anmerken.

Seit Januar 2019 steht die Weltuntergangsuhr auf zwei Minuten vor Mitternacht!

Noam Chomsky bringt die Zuhörer*innen mit folgendem Satz zum Aufmerken: „Inzwischen, im Januar 2019, wurde die Weltuntergangsuhr des Bulletin of Atomic Scientists auf zwei Minuten vor Mitternacht vorgestellt.“ Und: „So nah war sie dem endgültigen Untergang seit 1947 noch nie gewesen.“

Chomsky: „Die Erklärung der Experten zur Umstellung der Uhr erwähnte die beiden uns nun schon bekannten Gefahren, nämlich die wachsende Gefahr eines Atomkrieges und die ebenfalls wachsende Gefahr des Klimawandels. Und zum ersten Mal sprach sie auch von einer dritten Gefahr, der Aushöhlung und Schwächung der Demokratie.“

Es brennt also der Hut!

Was kommt nach Trump?

Im Kapitel 6 „Was kommt nach Trump?“ ist das von Michael Schiffmann am 16. Dezember 2020 mit Noam Chomsky geführte Interview zu dieser Frage abgedruckt.

Übrigens verfällt Chomsky nicht in die Euphorie, die etwa unsere US-hörigen Medien, welche seit der Inauguration Joe Bidens als US-Präsident nahezu in Dauerschleife an den Tag legen.

Aus der jahrzehntelangen Erfahrung und gepaart mit seinem umfangreichen Wissensreservoir, schätzt Chomsky auf Seite 101 ein: „Nun, es wird genügend Dinge geben, bei denen Biden schwach aussieht und die man dann den Demokraten in die Schuhe schieben kann, und dann könnten die Republikaner 2022 und 2024 in einer gewaltigen Welle zurückkommen.“ (…)“Das könnte eine Katastrophe werden.“

Was getan werden sollte. Die Progressive Internationale nennt Noam Chomsky als ein Beispiel

Betreffs der Frage, was getan werden sollte, sieht Noam Chomsky, dass bereits etwas getan werde – nur nicht in genügendem Ausmaß. Er nennt als Beispiel (…)„die Progressive Internationale, die grade in Island, dessen Premierminister Mitglied ihres Leitungsgremiums ist, ihre erste internationale Konferenz hatte“. Sie entstand aus der Sanders-Bewegung in den USA und DiEM25, der Bewegung von Yanis Varoufakis in Europa, einer progressiven internationalen Bewegung in Europa. (S.114) – Zur Information mein älterer Artikel Die Progressive Internationale will vereinen, organisieren und mobilisieren. Progressive Kräfte für eine gemeinsame Vision einer anderen Welt – Mit dabei Noam Chomsky, Aruna Roy, Carola Rackete, Yanis Varoufakis und Srecko Horvat“.

Chomsky erinnert daran, dass alle unsere Probleme international seien und keine Grenzen kennen. Das betrifft die Erderwärmung, die alle Grenzen ignoriere. Ein Nuklearkrieg werde uns alle vernichten. Und aufgemerkt: „Und die Zerstörung der Demokratie hat leider einen ansteckenden Charakter.“ (S.115)

Erkenne dich selbst

All diese Gedanken sollten und müssen möglichst vielen Menschen bekannt gemacht werden. Dass, so der weltbekannte Linguist, seien Dinge, die zumindest von Sprachwissenschaftlern verstanden werden sollten.

Noam Chomsky: „Nicht umsonst hat der Philosoph David Hume das Studium der menschlichen Natur als die höchste Form von Wissenschaft bezeichnet.“ (S.120)

Andere Wissenschaften sollten dem untergeordnet sein, findet Chomsky.

Das sei eine lange Tradition, welche bis zum vorsokratischen Orakel von Delphi zurückgehe.

„Die Botschaft der Priesterin war: Erkenne dich selbst. Das ist das Wichtigste. Erkenne und begreife, was für ein Wesen du bist; alles andere ist daraus nur abgeleitet. Ich denke, dass die Botschaft von vor 2.500 Jahren auch für uns wichtig sein sollte.“

Ich pflichte dem Interviewer Michael Schiffmann bei: Ein wunderbares Schlusswort für dieses Interview, das gleichzeitig auch das rundum empfehlenswerte Buch abschließt. Lesen, weiterempfehlen!

Ein Aufruf zur Rettung unserer Zivilisation (Westend Verlag)

„Niemand außer Noam Chomsky verbindet so leidenschaftlich die beiden vom Menschen verursachten Bedrohungen mit unserer Existenz
– den katastrophalen Klimawandel und die nuklearen Weltuntergangsmaschinen.“
Daniel Ellsberg, Whistleblower der Pentagon-Papiere

Eindrücklich wie nie zuvor klärt Chomsky über die existentiellen Bedrohungen durch Atomwaffen und den Klimawandel auf. Er stellt diese Bedrohungen in den Kontext einer nie dagewesenen globalen Macht der Konzerne, die mittlerweile die führende Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft übernommen haben. Noam Chomsky zeigt, dass sich globale Volksbewegungen mobilisieren müssen, um die Regierungen zu zwingen, sich der beispiellosen Herausforderung für das Überleben unserer Zivilisation zu stellen.

Über den Autor (Westend Verlag)

Noam Chomsky, geboren 1928, ist Professor emeritus für Sprachwissenschaft und Philosophie am M.I.T. Er hat die moderne Linguistik revolutioniert und zahlreiche Bestseller verfasst. Chomsky ist einer der weltweit bekanntesten linken Intellektuellen und seit jeher ein prominenter Kritiker der amerikanischen Politik wie auch des globalen Kapitalismus.

Noam Chomsky schrieb die Einführung zum Buch im Januar 2019

Die Dringlichkeit der „Gefahr des Untergangs“ ist unübersehbar. Sie sollte der konstante Gegenstand von Aufklärungsprogrammen, Organisationen und Aktivismus sein und den Hintergrund für unser Engagement in allen anderen Kämpfen bilden.Aber sie kann diese Kämpfe nicht ersetzen, zum einen, weil viele dieser anderen Kämpfe ihrerseits entscheidend wichtig sind, und zum anderen, weil diese grundlegende Gefahr nicht effektiv angegangen werden kann, solange es kein allgemeines Verständnis für ihre Dringlichkeit gibt. Aber ein solches Verständnis setzt eine wesentlich größere Sensibilität gegenüber den weltweit verbreiteten Formen von Leid und Unrecht voraus – ein tieferes Bewusstsein, das zu Aktivismus und Engagement sowie zu tieferen Einsichten in deren Wurzeln und wechselseitige Verbindungen inspirieren kann. Es nutzlos, zu mehr Militanz aufzurufen, wenn die Bevölkerung noch nicht dazu bereit ist, und diese Bereitschaft kann nur durch geduldige Arbeit geschaffen werden. Das mag frustrierend sein, wenn wir an die nur reale Dringlichkeit der existenziellen Gefahren denken. Aber egal, ob das frustrierend ist oder nicht, wir können diese vorbereitenden Stufen nicht überspringen.“

Der Philosoph und Linguist Noam Chomsky steht am 09.09.2016 in seinem Büro im Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA. Foto: Martin Bialecki/dpa (zu dpa „Noam Chomsky: Wir erleben eine tiefe Krise der Demokratie“ vom 16.09.2016) | Verwendung weltweit

Noam Chomsky

Rebellion oder Untergang!

Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation

Seitenzahl:128
Ausstattung:Klappenbroschur
Artikelnummer:9783864893148

15,00 Euro

Übersetzer Michael Schiffmann interviewt Noam Chomsky