Call the Glacier! Ruft doch mal beim Gletscher an

„Alle Welt redet vom Klimawandel. Es ist
sogar ein bisschen modern geworden, den Klimawandel auf die eine oder andere Weise im Munde zu führen“, schrieb ich im April 2008 auf Readers Edition. Das Portal gibt es längst nicht mehr. Den Klimawandel schon. Allerdings hat es nach wie vor Kritiker, die sagen, das Klima habe sich immer schon gewandelt und das sei auch gar nicht menschengemacht. Wie dem auch sei. Heute gibt es eine regelrechte Klimahysterie und extrem besorgte, sich „Letzte Generation“ nennende, junge Leute, die sich auf Straßen festkleben …

Weiter in meinem alten Text: „Selbst aus dem Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten – dem weltweit größten Umweltsünder, den USA – kommen zarte Signale: Man will etwas dagegen tun. Und schon gehen dank dicker Filmgagen einige Hollywood-Stars mit gutem Beispiel wegweisend voran, indem sie sich stolz mit ihren neuen Autos ablichten lassen, welche den allerneuesten Umweltnormen gerecht werden…

Mein Beitrag von 2008.

Witzen zum Trotz: das Klima ändert sich, beängstigend
Wie dem auch immer sei, eines steht fest: Unser Klima ändert sich. Das merken selbst wir in unseren Breiten immer öfters. Die Winter werden wärmer, Sommer oft unerträglich heiß; und verheerende Unwetter mehren sich, zeitigen teils schlimme Folgen. Und uns schwant: irgendetwas stimmt da nicht mehr! Kann es da beruhigen, wenn uns bestimmte Experten auf unsere berechtigten Bedenken hin lapidar mitteilen, dass es solche Wandel im Klima schon immer
gegeben habe? Und Menschen, meinen diese Beschwichtiger zudem, hätten weit weniger damit
zutun – wie es uns wiederum andere Experten weismachen wollten – denn: Klimaschwankungen hätten nämlich schon stattgefunden, da es Menschen überhaupt noch nicht gab. Pro und Contra. Hin und her. Das Klima ändert sich. Beängstigend. Und dieser Wandel der klimatischen
Verhältnisse wird schlimme Folgen für unsere Erde haben. Selbst, wenn die Katastrophen zunächst einmal wieder zuallererst nur die ärmsten der Armen (etwa in Afrika) treffen wird (und aktuell schon trifft): auch wir Europäer werden auf Dauer nicht verschont bleiben. Noch kann man Witze über tausende Niederländer machen, welche sich – wenn ihr flaches Holland zu großen Teilen überflutet werden sollte – mit ihren von manch Deutschen so gefürchteten
Wohnwagengespannen auf den Weg nach Duitsland machen, um bei uns Asyl zu finden…


Anläuten beim Gletscher – Ein Projekt von Kalle Laar


(1] Kalle Laar, ein Musiker und DJ lettisch-estnischer Herkunft, beschäftigt sich seit den 1990er
Jahren mit experimentellen Klängen und sammelt in diesem Zusammenhang als Sound-Historiker
Tondokumente verschiedenster Art. Auf der Biennale 2007 sorgte sein Projekt [2] „calling the
glaclier“ für nicht wenig Aufsehen.

Kalle Laar installierte in fast 3000 Meter Höhe ein Mikrofon am Vernagtferner Gletscher in den Ötztaler Alpen in Österreich. Aufgestellt ist es im Bereich der Pegelstation der Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und nimmt die Geräusche aus dem
Gletscher auf. Sie werden dann über ein Mobiltelefon (dessen Signale – der nächste Sendemast ist
nicht in Sichtlinie – gelangen über Reflexionen in ein italienisches Mobilfunknetz) in Echtzeit an
die österreichische Telefonnummer 0043 5254 30089 übermittelt.

Dadurch werden wir in die einmalige
Lage versetzt, quasi unmittelbar beim Gletscher anzuläuten. Mit ihm direkt verbunden, hören wir
live die von ihm produzierten Töne. Die Anlage ist witterungsunabhängig.


Den Klimawandel mit den Sinnen erspüren
Der Einfall für dieses Projekt kam Kalle Laar während einer gemeinsamen Expedition von
Künstlern, Wissenschaftlern und Journalisten nach Island. Dort begann sich der Klangkünstler für Gletscher zu interessieren. Kalle Laar selbst sieht sich nicht in der Rolle eines Umweltaktivisten.Nichtsdestotrotz sind Gletscher für ihn „ein Symbol des Klimawandels“. Laar: „Als ich den
Gletscher besucht habe, wurde mir klar, dass er ein Lebewesen ist, das wirklich stirbt.“ Seine
Installation verfolgt den Zweck, dass die Menschen die Folgen des Klimawandels nicht nur mit
dem Sachverstand begreifen, sondern mit ihren Sinnen erspüren. „Wenn man das Rauschen hört,
weiß man, da stimmt etwas nicht“, so Kalle Laar.

Ruf(t) an!

Ich empfehle, die Probe aufs Exempel zu machen, sich das einmalige Hörerlebnis anzutun, und
zu diesem Behufe einmal beim Gletscher anzurufen. Am besten öfters einmal und zu
unterschiedlichen Zeiten. Mal ist nämlich nur ein liebliches, verspielt klingendes Plätschern oder Glucksen zu hören, dann wieder ein starkes, fast bedrohlich wirkendes Rauschen, ein gurgelndes Röcheln, Knacken oder Krachen.
Man kommt nicht immer durch. Meistens sind die Verbindungen jedoch stabil. Legt man nach
einiger Zeit den Hörer wieder auf, ist wohl auch einem selbst klar: man wurde Ohrenzeuge eines
stattfindenden Sterbeprozesses. So schön das Plätschern der Gletscher womöglich auch beim
ersten Hineinhören anmutet – wir dürfen uns nicht täuschen lassen und müssen uns vor Augen führen, was es tatsächlich bedeutet: Die Gletscher nämlich schmelzen, verschwinden.

Das von den Gletscher talwärts fließende Wasser speist (noch) Seen und Flüsse. Erhöhen sich die
Temperaturen aber von Jahr zu Jahr aufgrund des Klimawandels weiter wie bisher, verhindert
dieser Effekt den Erhalt unserer Gletscher. Sie entgleiten uns förmlich. Im weiteren Verlauf sinken
die Pegel der Seen und Flüsse trocknen aus. Wie das aussieht, ist schon jetzt in der Po-Ebene zu
besichtigen…

Aktueller Beitrag im Falter

Wie kam ich jetzt wieder auf dieses Gletscher-Telefon? Stefanie Panzenböck vom Falter veröffentlichte am 26. Januar 2024 den Beitrag „Call me! Der Gletscher am Telefon“.

Sie schreibt: „Haben Sie schon einmal mit einem Gletscher telefoniert? Seit 2007 ist es möglich, unter der Nummer +43525430089 den Vernagtferner im Ötztal zu erreichen und ihm beim Schmelzen zuzuhören.

Es rauscht, quietscht ein bisschen, wummert, rauscht weiter. Nach einer Minute 30 Sekunden wird die Verbindung unterbrochen. Da hat man 90 Sekunden lang den Klimawandel im Ohr gehabt.

Die Idee zum Projekt „Call me!“ kam dem Soundkünstler Kalle Laar während einer Islandreise im Jahr 2006. Auf dieser Kunstexpedition machte er Tonaufnahmen zum Thema „Wasser“. „Gleichzeitig war der Rückgang der Gletscher unübersehbar“, erinnert sich Laar.“ […]

Liebe Leserinnen und Leser, ruft einfach mal beim Gletscher an.

1] Kalle Laar: http://www.klangmuseum.de
2] calling the glacier: http://callingtheglacier.org

Beitragsbild: Persgletscher Erich Westendarp via Pixelio.de