„Materialermüdung“. Roman von Dietrich Brüggemann – Rezension

Um mich des Titels eines von Hildgard Knef gesungenen Songtextes zu bedienen: Von nun an geht’s bergab. Die Vertreibung von Jacob und Maya aus dem Garten von Jacobs Vater ist „der Anfang vom Ende“, heißt es im Ankündigungstext zum großartigen Debütroman „Materialermüdung“ von Dietrich Brüggemann, „ – vom Ende ihrer Beziehung, aber auch vom Ende der Welt“. Schon der Blick auf das Cover des Buches – kippender Berliner Fernsehturm, dessen Kuppel und Antennenspitze abgebrochen sind und herumfliegende Einzelteile – lassen das Schlimmste befürchten.

Geplante Obsoleszenz

Wer mit offenen Augen und auf Empfang gestellten Ohren durchs Leben geht, wird bereits gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt mit uns, mit unserer Welt, mit unseren Gesellschaften. Um es mit Nietzsche zu sagen: Wir blicken schon einige Zeit in den Abgrund. Und der Abgrund blickt längst in uns zurück. Merken wir eigentlich nichts? Die Ausgangsidee zu diesem Roman ist geradezu genial zu nennen.

Mit dem Satz „Ich weiss gar nicht ob sie’s wussten“, pflegte der Kabarettist Rüdiger Hoffmann immer seine Nummern zu beginnen. Ich übernehme das einmal und schreibe: Ich weiss gar nicht ob sie’s wussten, dass geplante Obsoleszenz schon lange zu einer m.E. verachtenswerten Praxis geworden ist. Obsoleszenz bedeutet laut Definition etwas sperrig „die [in seiner Herstellung, seinen Materialien und Ähnlichem angelegte] Alterung eines Produktes, das dadurch veraltet oder unbrauchbar wird“.

Durch die Untiefen eines Lebens

Weiter schreibt der Verlag: „Gemeinsam mit ihrem Freund Moses navigieren sie (Jacob und Maya; C.S.) einen Herbst lang durch die Untiefen eines Lebens zwischen Kulturszene, Social Media, künstlicher Intelligenz und postmoderner Ellbogengesellschaft. Doch spätestens, als Moses sich auf Twitter anmeldet, um dort seine verschollene Schwester zu suchen, wird deutlich, dass das Leben der drei Freunde sich mehr verändern wird, als sie es ahnen. Denn die geplante Obsoleszenz, aufgrund derer heute jedes Gerät nach vier Jahren den Geist aufgibt, hat schleichend die ganze Welt befallen, und eine große Materialermüdung breitet sich aus. Also kämpfen die drei in einer zerfallenden Welt um das, was ihnen wichtig ist: Ihre Freundschaft, ihre Familien, ihre Liebe – und die Menschheit, die sich stets Geschichten vom eigenen Untergang erzählt und sich darin immer wieder neu erfindet.“

Ein Roman, der in diese fürchterliche Zeit passt

„Materialermüdung“ ist – wie ich zumindest finde – ein Roman, der in diese fürchterliche Zeit passt, in welcher wir leben. Wie die Faust aufs Auge. In welche wir bereits lange schon geführt werden und immer noch einen Tacken mehr die Welt verschlimmernd weiter abwärts schlittern. Es erscheint einen beinahe wie eine Sucht, endlich ans Ende zu kommen, indem wir volles Rohr, ohne Rücksicht auf Verluste mit Karacho auf eine dicke Betonmauer zurasen. Derzeit macht unsere Bundesregierung in Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine alles noch schlimmer: sie runiniert die eigene Bevölkerung und die Wirtschaft dazu. Statt Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, wie es der Amtseid, der offenbar niemanden juckt, vorschreibt; ein Verstoß gegen ihn aber wohl nicht einmal geahndet werden wird. Es riecht inzwischen ziemlich streng nach „1914“. Damals war man ja – wie der australische Historiker Christopher Clark meinte – in den Ersten Weltkrieg geschlafwandelt.

Dietrich Brüggemann hat seinen Roman ohne Wissen von der Verschlimmerung der Weltsituation geschrieben – vor dem Ukraine-Krieg also. Allenfalls die Corona-Krise und der Umgang damit haben ihn gewiss stark beschäftigt – wie wir durch #allesdichtmachen-Video-Aktion, wo er Regie führte – wissen. (Hier zur Erinnerung.)

Dieser Roman ist genial. Wie genau und überzeugend die Roman auftretenden Personen gezeichnet sind, wie exakt der jeweilige Zeitgeist – der der Eltern der der drei Protagonisten, die in unseren Zeiten freilich ganz anders denken und leben – getroffen ist! Die Konflikte die daraus entstehen, sind überzeugend herausgearbeitet. Nicht selten muss man schmunzeln und sogar oft lauthals lachen. Was für Dialoge! Witzig und auch mal frech – bestens unterhaltend allemal. Und dennoch tiefgründig und hinterfragend. Da ist man als Leser von vornherein gefangen. Keine Angst vor 480 Buchseiten! Das liest sich mit großer Begeisterung weg – mit großem Gewinn.

Brüggemann kam beim Schreiben ohne Zweifel seine Erfahrung als Filmemacher zu pass. Die präzise Personenzeichnung, die stimmigen Schilderungen der jeweilige Szenen bis ins Detail. Da kommt einem als Leser gleich der Wunsch in den Sinn, diesen Roman verfilmt zu sehen. Gleichwohl wir wissen, dass in den seltensten Fällen der Film an den Roman herankommt. Aber, weiß man’s?

„Materialermüdung“ – Welch treffender Titel!

„Materialermüdung“ – welch Titel! Kurz. Knackig. Treffend. Wikipedia weiß: „Materialermüdung beschreibt einen langsam voranschreitenden Schädigungsprozess in einem Werkstoff unter Umgebungseinflüssen wie wechselnder mechanischer Belastung, wechselnder Temperatur, UV-Strahlung, ionisierender Strahlung, eventuell unter zusätzlicher Einwirkung eines korrosiven Mediums.

Materialermüdung bedeutet, dass auch eine statisch unkritische Belastung (noch im elastischen Bereich, also noch unterhalb der Streckgrenze des Werkstoffs) zu einer Funktionsuntüchtigkeit (Ermüdungsrissbildung) oder auch zum Totalausfall (Ermüdungsbruch) eines Bauteils führen kann, wenn sie oft genug auf das Bauteil einwirkt.

Zyklisch belastete Teile haben daher prinzipiell eine begrenzte Lebensdauer. Deshalb muss man an kritischen Bauteilen vor dem Einsatz eine Lebensdauerbewertung, -berechnung oder Versuche durchführen, die eine Abschätzung der Haltbarkeit des Bauteils zulassen. Bauteile, die theoretisch unbegrenzt viele Zyklen ertragen (weil sie aus bestimmten, dafür geeigneten Werkstoffen bestehen), bezeichnet man als dauerfest.

Einfaches Beispiel: Die Halterung eines Kugelschreibers kann mehrmals elastisch hin- und hergebogen werden. Mit der Anzahl der Biegevorgänge nimmt allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Bruches zu. Die Redewendung „Steter Tropfen höhlt den Stein“ oder das philosophische Gesetz vom „Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative“ beschreibt dieses Phänomen.

Die genaue Betrachtung des Bruchbildes eines Bauteils zeigt, ob ein Gewalt- oder ein Ermüdungsbruch vorliegt. Daraus müssen Schlussfolgerungen gezogen werden, um das Bauteilversagen in Zukunft zu vermeiden.[1][2] Quelle: Wikipedia

Zerfallserscheinungen

Maya, die für das Kollektiv Impenetranza#62C an einem Theatertext arbeitet, schreibt: „Liebe Menschheit, ihr baut Scheiße. Ich habe euch eine Welt zur Verfügung gestellt, in der alles sich immer wieder regeneriert, sofern es nicht sowieso für die Ewigkeit gemacht ist, zum Beispiel Steine und Wasser und der Mond. Da hättet ihr euch ja mal ein Beispiel nehmen können. Aber nö. Ihr baut lauter Sachen, die nach ein paar Jahren kaputtgehen und dann bis zum jüngsten Tag als Müll herumliegen, und dann muss man sich neue Sachen kaufen und so weiter. Wiss ihr was, ich mach das jetzt auch. Eure Welt geht jetzt kaputt. Reparieren geht nicht, ätsch, kauft euch doch einfach eine neue von eurem ganzen Geld, Ihr könnt mich mal. Tschüs.“ (S.233)

Zuvor hatte Maya im Internet den Nachrichtenartikel mit der Überschrift „Zerfallserscheinungen“ gelesen: „Immer mehr Dinge zerbrechen ohne ersichtliche Gründe. Forscher und Ingenieure rätseln über die Gründe.“ (S.232)

Noch etwas davor hatte Maya eine Kolumne gelesen, worin von einer in Bremen aus den Schienen gesprungenen Straßenbahn die Rede gewesen war, welche einstweilen nicht repariert werde (S.231), „da das dazu benötigte Spezialwerkzeug beim Reparaturversuch seinerseits selbst zu Bruch gegangen ist, und damit nicht genug, auch die beschädigte Schiene unrepariert (bliebe), weil der einzige Ingenieur, der bei den Bremer Straßenbahnbetrieben dazu in der Lage wäre. mit Bandscheibenvorfall drei Wochen krankgeschrieben ist.“ (…)

Wenn das kein treffendes Bild vom äußerst bedenklichen Zustands unserer Gesellschaft ist – ihrem schleichenden Zerfallsprozess!

Es wird noch auf Rio Reiser (nach dem nebenbei bemerkt jetzt eine Straße in Berlin benannt worden ist) rekurriert: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“.

An keiner Stelle langweilig

Brüggemanns Romanerstling ist flott und humorvoll geschrieben und wird an keiner Stelle langweilig. Die Figuren sind prägnant ausgearbeitet sowie überzeugend und glaubwürdig herübergebracht. Man glaubt solche Figuren zu kennen. Und man kennt sie auch! In den beschriebenen Milieus kennt sich der Autor offenbar gut aus. Ob bundesrepublikanische Geschichte und Lebensart der Elterngeneration der Protagonisten, deren menschliche Irrtümer im Wandel der Zeiten – das ist authentisch ge- und beschrieben. Liebesleid und Liebesschmerz und das Scheitern von Menschen werden nicht ausgeklammert. Denn so ist das Leben! All das liest sich flüssig. Einen Lesestopp zu vollziehen, fällt einen nicht leicht. So fliegen die Seiten dahin und die Handlung wird vorangetrieben.

Wie kaputt unser Leben ist – ja wie mehr oder weniger wir selbst sind – ist in Moses‘ langem Monolog eingewoben (S.130):

„Alles, was das Leben lebenswert macht, also Freundschaft, Liebe, Kunst, Gemeinsamkeit, gibt es nur noch als Simulation im Netz. Liebe passiert auf Tinder, Freundschaft auf Facebook, private Kommunnikation auf Whatsapp, politisches Debatte auf Twitter, Waren des täglichen Bedarfs auf Amazon, Unterhaltung auf Netflix, Teilhabe an der Welt auf Instagram. Das einzige, was wir noch in der echten Welt tun, ist aufs Klo gehen. Wir scheißen analog, und alles andere hat sich in Scheiße verwandelt.“ (…)

Moses weiter (S.131): „Facebook vergiftet die Freundschaft, Twitter vergiftet die Debatte, Amazon vergiftet die Waren, Netflix vergiftet den Film, Spotify vergiftet die Musik, Tinder vergiftet die Liebe, Instagram vergiftet das Essen, das du fotografierst, Und Instagram vergiftet dein Gesicht, wenn du es als Selfie fotografierst und da reinstellst. Hab ich was vergessen?“

„‚Uber“, sagte Maya. ‚Airnb‘, ergänzte Jacob. ‚Genau‘, rief Moses, ‚Airnb vergiftet die Gastfreundschaft, Uber vergiftet das Taxifahren, und alle zusammen vergiften sie die Welt. Hinter all den schönen Oberflächen lauert das Grauen!'“

Wir wissen, spüren oder ahnen das zumindest. Manche allerdings merken nichts (mehr). Und wir machen weiter so. Noch Fragen?

Auch das, was Moses auf Twitter erlebt, ist symptomatisch für unsere Zeit. Er, der sich dort den Namen @fakekanake gegeben hat – sein Profilbild eine halbierte Kokosnuss – räsoniert über Buße und Rassismus: „Im evangelischen Religionsunterricht an seiner Schule war es nie um Sünde, sondern immer nur um die Dritte Welt gegangen. Wo man im traditionellen Christentum aber seine Schuld bekennen msst, da war im traditionellen Christentum aber seine Schuld bekenn musst, da war ess beim Kampf gegen denn Rassismus vor allem wichtig, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Man führte damit zu Ende, was den Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime nicht gelungen war, man vollendete das Werk von Sophie Scholl, das war der historische Auftrag jedes Deutschen, sofern er sich überhaupt für höhere Dinge als Fußball, Autos und Bier interessierte. Und anders als seinerzeit Sophie Scholl bekam man heute dafür jede Menge Applaus. Wenn also in der deutschen Öffentlichkeit jemand äußerte, das als rechts verstanden werden konnte, dann wurde er von einem Mob aus tausenden Möchtegern-Sophie-Scholls gesteinigt. Damit war sichergestellt, dass die Geschichte sich niemals wiederholen würde.“

Volltreffer!

Da sind harte Themen und die Probleme unserer Zeit in einem äußerst unterhaltsamen Roman mit spannender Handlung verpackt. Wo, bei wem, hat man das in letzter Zeit gelesen? Prima!

Und der Schluß? Alles im Eimer, Christina-Marie? Materialermüdung eben. Lebe wohl, fällt mir da gerade ein, singt das nicht Papageno in der „Zauberflöte“ gegen Ende?, du schnöde Welt – den Strick schon um den Hals. Da kommt …

Ach, lesen Sie den glänzenden Roman doch selbst. Es lohnt sich! Versprochen.

Dietrich Brüggemann

Materialermüdung

Seitenzahl: 480
Ausstattung: HCoSU
Artikelnummer: 9783949671036
  • Buch

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Edition W

Zum Autor

Dietrich Brüggemann, geboren 1976 in München, ist Filmemacher, Musiker und Autor. Aufgewachsen in Deutschland und Südafrika, Regiestudium an der Babelsberger Filmhochschule. Erster Spielfilm „Neun Szenen“, danach „Renn, wenn du kannst“ und „3 Zimmer Küche Bad“, der zum langlaufenden Geheimtipp wurde. Zuletzt „Nö“, der den Preis für die beste Regie beim Festival in Karlovy Vary erhielt. Regisseur vieler Musikvideos, Komponist der Musik für alle seine Filme, Gründer der Band „Theodor Shitstorm“, gemeinsam mit Desiree Klaeukens. Brüggemann lebt in Berlin.

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