Auf den Autoren Rainer Mausfeld, emeritierter Professor an der Universität Kiel, wo er bis 2016 den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung innehatte, stieß ich einst durch dessen auf You Tube veröffentlichten Vortrag „Warum schweigen die Lämmer?“, der durch die Rezeption Hunderttausender Zuschauer zu einem wahren Renner wurde. Später kam ein Buch Mausfelds mit gleichem Titel heraus. Ich überschrieb meine Rezension seinerzeit so: „Ein Leseereignis, dass zur Erweckung aus der Lethargie führen kann“.
Ich war begeistert. War doch viel von dem, was Rainer Mausfeld darin aufs Tapet brachte, augenöffnend. Nicht so, dass man vieles davon nicht gewusst hätte. Aber im Leben – in der Schule und den Medien wurde so manches davon allenfalls gestreift, als Geschichte, weit in der Vergangenheit liegend, gedanklich schließlich hinter uns gelassen. Manches auch verschwiegen oder umgeschrieben. Was nicht zuletzt wohl durchaus auch von den jeweils Herrschenden so gewollt ist. Und vielleicht in der Wirkung letztlich ein Grund dafür ist, dass die Lämmer (also wir!) schweigen. Zusätzlich schlägt noch zu Buche, was Noam Chomsky postulierte: «Die allgemeine Bevölkerung weiß nicht, was passiert, und sie weiß nicht einmal, dass sie es nicht weiß.«
Seither bin ich auf der Hut, möglichst kein neues Buch von Rainer Mausfeld zu verpassen.
Zuletzt gefesselt war ich von dessen Werk „Hybris und Nemesis“. Um was es ging? Hochinteressant und spannend zugleich: „Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren“ Meine Rezension zum Buch lesen Sie gerne hier.
Indem ich nun Mausfelds neuestes Buch «Hegemonie oder Untergang« rezipierte, bin ich versucht, den Abgrund schon gefährlich nahe spüren und unseren harten Aufschlag bereits in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu wähnen. Zudem, wenn ich an die derzeitige Politik des Westens und Deutschlands im Besonderen – und unsere führenden, unfähigen Politiker in ihrer sich offenbarenden Geschichtsvergessenheit denke. Welche uns wie Verteidigungsminister Pistorius kriegstüchtig (lässt an Ausführungen von Joseph Goebbels denken) machen wollen, sowie die Kriegshetzer unserer Hauptstrom-Medien mit zunehmendem Ekel kaum mehr ertrage, weil das, was sie als vorgebliche Journalisten tun und auch noch wagen ihren Lesern und Zuschauern anzubieten, nichts mehr mit Journalismus zu tun hat, wie er im Buche steht.
Da nun kommt mir Nietzsche in den Sinn: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich.“
Haben wir nicht bereits lange in einen Abgrund geblickt? Und blickt dieser nicht längst auch in uns? Merken wir noch etwas? Ich fürchte, nein.
Manche Denker allerdings schon. Etwa Emmanuel Todd. Von ihm stammt das Buch «Der Westen im Niedergang«. Manch Schlaumeier und dies und jene Schlaumeierin (*Zwinkersmiley*) lachen über den Titel und verhöhnen Todd. Doch halt! Hatte Todd nicht einst den Zusammenbuch der Sowjetunion – anhand steigender Kindersterblichkeit – vorhergesagt? Eben. Wer zuletzt lacht, lacht am Besten! Auch wenn es noch so düster kommt und einem das Lachen vergeht. Meine Rezension zu Todds Buch finden Sie hier.
Schon in der Konstruktion sozusagen der Demokratie ist der Samen für den späteren Niedergang zu finden. Nicht etwa, weil sich Erschaffer der Demokratie in den USA vertan hatten. Es war hart kalkulierte Absicht! Und zwar, um die Macht der nicht aus heiterem Himmel reich und mächtig gewordenen Mitglieder der Gesellschaft, die sich als Elite verstanden, zu bewahren.
In meiner Rezension zu Mausfelds „Hybris und Nemesis“ schrieb ich, mich auf dessen Schrift berufend: „Demokratie bedeutet also, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ist das bei uns so? War das jemals so?
Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld hat sich u.a. ausführlich mit der Demokratie wie wir sie kennengelernt haben beschäftigt. Und festgestellt: Schon im Mutterland der Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, war sie von vornherein so angelegt, dass sich durch sie nichts an den Machtverhältnissen ändern konnte. Die Mehrheit des Volkes mochte wählen wie es wollte, die Interessen der (Minderheit) der Reichen, der Oligarchen, konnten nicht angetastet werden. Auch heute, bei uns, ist das im Grunde genommen so. Wenngleich noch nicht in den Dimensionen wie in den USA. Allein wer dort für das Präsidentenamt kandidiert, braucht ja ohne entsprechende finanzielle Ausstattung gar nicht erst antreten. Die repräsentative Demokratie – wie wir sie hierzulande haben – hat gravierende Mängel. Das fängt ja schon bei der Auswahl und Aufstellung der Kandidaten der einzelnen Parteien an. Auf die wir Wähler – und nicht einmal alle Mitglieder einer Partei – keinerlei Einfluss haben.“
Mausfeld nimmt seine eigenen Worte aus dem Jahr 2023 noch einmal hervor. Das sollte diejenigen, welche die „Väter des Grundgesetzes“ (plus drei Mütter) von jeglicher Kritik ausnehmen wenigstens irritieren:
„Der Siegeszug der ›Demokratie‹ im Westen wurde, wie historische Studien im Detail nachweisen, überhaupt erst dadurch möglich, dass die »Väter der amerikanischen Verfassung« das Wort »Demokratie« seiner ursprünglichen Bedeutung beraubten und unter der neuen Bezeichnung »repräsentative Demokratie« ausdrücklich eine Form der Elitenherrschaft einführten.“
Für Mausfeld ist das „Wortbetrug“. Wird jedoch leider kaum als solcher erkannt, aber stets von Politikern und Journalisten im Munde geführt. Die herrschende Klasse wird nicht müde diesen Betrug mit allen möglichen Mitteln aufrechtzuerhalten. Nicht ohne bei noch viel zu vielen Bürgerinnen und Bürger zu verfangen.
„Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat« so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint. In der Gegenwart verzichtet nun der Westen immer offener auf eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen.“
Mausfeld: „Es wäre jedoch nicht sinnvoll, die gegenwärtige gesellschaftliche Krise eine Krise der Demokratie zu nennen. Jedenfalls nicht im ursprünglichen Sinne der egalitären Leitidee von Demokratie als individueller und somit auch gesellschaftlicher Selbstbestimmung.“
„Der Westen scheint seinem Wesen nach demokratieunfähig zu sein.“
Rainer Mausfeld: „Für die Organisationsform [Demokratie] des Staates beinhaltet diese zivilisatorische Leitidee eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis. Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein. Es gibt indessen gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Krise handelt, deren Wurzeln gerade in der jahrhundertelangen Verhinderung von Demokratie zu finden sind. Mehr noch: Diese Krise und ihre lange Vorgeschichte lassen deutlicher erkennen, dass das westliche Denken auf einem Fundament von Ressentiments errichtet ist, das sich grundsätzlich nicht mit der Leitidee einer egalitären Demokratie vereinbaren lässt. Der Westen scheint seinem Wesen nach demokratieunfähig zu sein.“
„Ihre tieferen Wurzeln hat diese Krise in grundlegenden inneren Widersprüchen des Westens.“
Die da wären?
Ursula von der Leyen macht sich die Welt, wie es ihr gefällt. Fällt das unter Chuzpe?
„Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte 2025 die Dramatik der Situation, mit der die gesamte westliche Zivilisation konfrontiert sei und erklärte, dass »der Westen, wie wir ihn kannten, nicht mehr existiert«. Wie man diese Behauptung versteht, wird selbstverständlich davon abhängen, wer mit diesem »wir« gemeint ist und auf welcher Seite des Gewehrlaufes man steht.“
In anderen Arbeiten stellte Mausfeld auch fest: Kapitalismus und Demokratie seien eigentlich unvereinbar.
Eingestehen muss man sich allerdings, dass es diesem System immer wieder gelang, sich zu wandeln und so zu überleben. Trotz des schon schlimmen Neoliberalismus. Allerdings geht es noch schlimmer. Die Krisen häufen sich. Die Einschläge kommen näher. Die Herrschaftscliquen stemmen sich mit immer irrer werdenden Mitteln gegen Machtverlust. Es hat den Anschein als bissen sie sich verzweifel an der Klippe über den Abhang fest. Selbst eine schwere Zerstörung – so fürchtet Rainer Mausfeld – dürften sie bereit sein in Kauf zu nehmen. Wie lange noch? Hat man nicht schon zu sehr überzogen? Rutscht nun die Machtelite Westeuropas in einen Dritten Weltkrieg? Fast möchte einen die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den Sinn kommen. Ich empfehle Stefan Zweig: „Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers“ zur Lektüre.
Allerdings scheint dieses System nun wirklich über einen längeren Zeitraum und verschiedene mit Ach und Krach durchgemachte gravierende Krisen hinweg an bestimmte Grenzen sowie in einer im Wandel begriffenen Welt auf nicht einfach wegzuwischende Widerstände zu stoßen. Und die Mächtigen greifen immer öfters zu Mitteln, die nur Wenige durchschauen. Dies geht so weit, dass Tendenzen zu gewahren sind, die einen Rutsch in einen Totalitarismus befürchten lassen, bzw. bereits in Ansätzen Anwendung finden.
Mausfeld: „Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu neuartigen Formen totalitärer Herrschaft.“
Den Mächtigen unliebsame Zeitgenossen wird mit Kontokündigungen und anderen Ausgrenzungen das Leben schwer gemacht. Journalisten wie Thomas Röper und Alina Lipp wurden unter Sanktionen des EU-Rats gesetzt. Beide sind nicht ganz so stark betroffen, weil sie in Russland leben und in Deutschland keine Konten mehr haben. Dazu ein Text auf den NachDenkSeiten. Anders der in Deutschland lebende Autor Hüseyin Doğru, türkischer Herkunft mit deutschem Pass, der zusammen mit seiner schwangeren Frau um seine Existenz fürchten muss. Zum Fall lesen Sie mehr auf den NachDenkSeiten.
Hegemonie oder Untergang
Wertewesten? Welche westlichen Werte, die der Westen stets wie eine Monstranz vor sich herträgt und anderen in der Welt aufzwingen will, gelten die eigentlich noch und werden selbst mit Leben erfüllt? Was bedeutet eigentlich der Begriff, der von westlichen Politikern oft im Mund geführten regelbasierten Ordnung? Und wo ist diese Ordnung niedergeschrieben und demzufolge nachzulesen?
Die meisten der Masken, welche der Westen nicht müde wird und sich nicht schämt wechselweise überzuziehen, um weiter als der angeblich Gute zu erscheinen – der er übrigens nie wahr – reißt ihm Rainer Mausfeld eine nach der anderen vom Gesicht. Mausfeld entlarvt die Heuchler. Denn der Westen verdankt seine Macht und seinen Reichtum den Völkern, die er Jahrhunderte ausgebeutet und beraubt hat und weiter beraubt.
Eine Kapitelüberschrift lautet: „Die Lebensform des Westens ist parasitär und beruht auf der Ausbeutung ökonomisch schwächerer Staaten: einige elementare Fakten“
Allerdings wachen nicht wenige Länder des Globalen Südens inzwischen auf und wollen sich dieser ihnen zugewiesenen Rolle nicht länger fügen. Sie handeln zunehmend selbstbewusster.
Der Westend-Verlag schreibt zu Mausfelds neuem Buch:
«Der Westen verdankt seine hegemoniale Position in der Welt der Überlegenheit seiner militärischen und ökonomischen Gewalt. Rainer Mausfeld beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit gegenwärtigen Kriegen und Konflikten und belegt anhand von Studien aus der vergleichenden Ökonomie, dass die privilegierte Lebensform des Westens wesentlich auf der Ausbeutung schwächerer Länder beruht. Die schwere Krise des Westens lässt deutlich werden, dass die vom Westen geschaffenen ideologischen Scheinwelten mit den auf eine Multipolarität gerichteten geopolitischen Realitäten nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Statt auf diplomatischen Wegen einen Interessenausgleich zwischen Staaten zu suchen, reagiert der Westen auf diese Herausforderung mit einer Steigerung seiner Bereitschaft zu organisierter Gewalt. Aus Angst um einen Machtverlust wechseln seine politischen Eliten in den Endspielmodus blinder Zerstörungsbereitschaft. Sie riskieren lieber eine nukleare Katastrophe, als dass sie eine Begrenzung ihres hegemonialen Anspruchs hinnehmen.«
Das letzte Kapitel ist überschrieben mit „Hat das emanzipatorische Projekt einer Zivilisierung von Gewalt heute noch eine Chance?“.
Darin beschreibt Mausfeld den Zustand der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart so:
„Heute bedeutet »Demokratie« in Wirklichkeit eine Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten, bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind. Die für eine Machtkontrolle zentrale Gewaltenteilung ist weitgehend aufgehoben. Durch die systematisch betriebene Einführung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie »öffentliche Sicherheit«, »Gefährder«, »Befürwortung von Gewalt« oder »Desinformation«, werden Gesetze zu leeren Hülsen, deren Füllung den Apparaten der Exekutive überlassen bleibt. Damit ist dem Rechtsstaat die Grundlage entzogen.“
Mausfeld legt Mittel der Manipulation offen: etwa das Framing. Bundeskanzlerin Merkel machte mal eben via Anruf aus Südafrika eine Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen rückgängig. Einmischung in die Wahlen, wie in Rumänien, fanden statt. Selbst vor frechen Geschichtsumschreibungen macht die sogenannte Elite nicht halt. Etwa sprach von der Leyen von der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Alliierten. Wo blieb der großen Aufschrei? In Wahrheit befreite doch die Rote Armee der Sowjetunion das KZ. Man setzt auf die Vergessenheit der Menschen oder deren puren Unwissenheit aufgrund schlechten Geschichtsunterrichts.
Autor Mausfeld: „Der Westen hat also die in der Zivilisationsgeschichte mühsam gewonnenen Institutionen für eine gewaltfreie Bewältigung von Konflikten korrumpiert und weitgehend in Instrumente zur Durchsetzung seiner hegemonialen Ansprüche verwandelt. Er war nie wirklich – es sei denn rein strategisch in Situationen einer Schwäche – an einem gewaltfreien Interessenausgleich interessiert.“
Rainer Mausfeld zeigt auf, dass die Gesellschaft des Westens ziemlich krank ist. Deren sie als Elite verstehenden Protogonisten hängen aber bereits in den Seilen. Sie hetzen gegen den Iran oder Russland, merken aber offenbar noch nicht, dass sie dabei sind letztlich sich selbst abzuschaffen. Wie lange das dauert ist derzeit nicht abzusehen. Man schämt sich fremd, wenn man das derzeit unfähigste Führungspersonal Europas seit Jahrzehnten verbal Gift gegen Moskau verspritzen hört mit stolz geschwellter Brust überheblich die starken Mäxe markieren. Die ehemalige österreichische Außenministerin Dr. Karin Kneissl muss darüber lachen. Sie nennt diese Leader „pubertierende Greise“.
Ganz ohne Hoffnung entlässt uns Rainer Mausfeld nicht aus seinem Buch
Sollten wir nicht in der Lage sein unsere gefährliche Krankheit zu überwinden? Was hat die Menschheit nicht alles schon durch- und überstanden!
Das Potential dazu wohnt uns doch inne!
Rainer Mausfeld schreibt:
„Blicken wir auf die lange Zivilisationsgeschichte zurück, so können wir erkennen, dass unsere Epoche nicht die erste ist, in der die Organisation von Machtverhältnissen extrem ungünstige Bedingungen für emanzipatorische Bestrebungen bietet. Die Zivilisationsgeschichte zeigt uns, dass es immer wieder, wenn auch oft erst über lange Zeiträume, durch ein kollektives Lernen aus gesellschaftlichen Erfahrungen möglich war, Instrumente gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu entwickeln. Daraus müssen wir lernen und die Bedingungsfaktoren genau studieren, die dies in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation möglich gemacht oder verhindert haben.“
Einfach wird es nicht. Mausfeld gibt uns zu bedenken:
„Was uns jedoch von allen vorhergehenden Epochen unterscheidet, sind vor allem zwei Aspekte. Erstens wurden in den vergangenen hundert Jahren die technologischen Mittel der Unterdrückung perfektioniert. Nie zuvor gab es einen so tiefgehenden Zugriff von Unterdrückungsmethoden auf unseren gesamten psychischen Apparat. Zweitens müssen wir heute in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne aktuelle Bedrohungen bewältigen, die in ihrem Ausmaß und ihrer Reichweite dergestalt sind, dass nach einer Zerstörung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, ein kollektives Lernen aus dem Erlittenen wohl kaum mehr möglich sein wird. Denn diese Bedrohungen sind so groß, dass sie nur vor dem Eintreten der bedrohlichen Ereignisse bewältigt werden können. Darin unterscheidet sich unsere heutige Situation von allen vorhergehenden.“
Und weiter:
„Aus der Geschichte können wir lernen, dass alle gesellschaftlichen zivilisatorischen Fortschritte nur in beharrlichen und oft verlustreichen sozialen Kämpfen errungen wurden. Diese emanzipatorischen Fortschritte mussten den Mächtigen stets abgetrotzt werden. Sie konnten nicht durch einen Dialog mit den Herrschenden errungen werden. Auch nicht mit einem Appell an das Licht der Vernunft, geschweige denn mit einem Appell an deren Mitgefühl.
Durch einen Blick auf die Geschichte können wir auch die in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen liegenden Ressourcen erkennen, die immer wieder – wenn auch zumeist erst nach langen Perioden des Stillstands oder eines Rückfalls – emanzipatorische Fortschritte ermöglicht haben. Zu diesen natürlichen Ressourcen unserer Beschaffenheit gehören die im Menschen angelegten moralischen Sensitivitäten, die Befähigung zu einem Andersdenken des Bestehenden sowie die Befähigung zu einer kollektiven Entwicklung gesellschaftlicher Normen. Wir verfügen also über eine reiche natürliche Ausstattung, die uns befähigt, Vorstellungen von einer menschenwürdigen Gesellschaft zu entwickeln und sie konkret werden zu lassen. […]
[…] Die Entscheidung, am emanzipatorischen Projekt der Aufklärung und damit an dem Ziel einer Schaffung einer menschenwürdigen Gesellschaft festzuhalten, führt auf einen gesellschaftlichen Weg, den zu beschreiten große affektive und intellektuelle Mühen bereitet. Ein solcher Weg kann nur gemeinschaftlich und solidarisch beschritten werden. Auch der unermessliche Schatz an Erfahrungen und Einsichten, die in der langen Tradition emanzipatorischer Bewegungen gewonnen wurden, kann nur in gemeinsamen Anstrengungen ausgewertet und für unser Handeln fruchtbar gemacht werden. Die großen emanzipatorischen Fortschritte, die trotz vielfacher Rückschläge in langen und mühevollen sozialen Kämpfen errungen wurden und tagtäglich in aller Welt errungen werden, sollten uns diese Anstrengungen als lohnend erscheinen lassen.
Wir profitieren heute von dem Mut, der Entschlossenheit und der Kraft derjenigen, die diese Kämpfe mit besonderem überpersönlichen Einsatz geführt haben. Oftmals gegen den Widerstand und die politische Apathie eines Großteils der Bevölkerung. Die zivilisatorischen Errungenschaften, auf die wir heute stolz sind, verdanken wir jenen, die diese sozialen Kämpfe geführt haben. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung auch für unsere Gegenwart. Denn Geschichte wird von Menschen gemacht. Sie hängt wesentlich von menschlichen Entscheidungen ab. Auch der Umgang mit dem Problem der Gewalt in einer Gesellschaft oder zwischen Völkern hängt von menschlichen Entscheidungen ab.
Dies allein bietet Grund genug, Hoffnung zu haben, dass sich auch unter den gegenwärtig höchst ungünstigen Umständen Weiteres erreichen lässt, sofern diese Hoffnung mit einem klaren und entschlossenen emanzipatorischen Veränderungswillen sowie mit einer Bereitschaft zu kollektiven Anstrengungen Hand in Hand geht.“
Du hast keine Chance – aber nutze sie
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, gab uns Kant mit auf den Weg. Versuchen wir das anscheinend Unmögliche zu tun. Der Filmemacher Herbert Achternbusch prägte unter dem Eindruck des kalten Krieges und der Studentenbewegung den Satz „Du hast keine Chance – aber nutze sie.“
Abermals ein großartiges Buch von Rainer Mausfeld! Ich wünsche ihm viele Leserinnen und Leser.
Es profitiert von der jahrzehntelangen akribischen wissenschaftlichen Arbeit des Autors. Profitieren auch wir davon indem wir es lesen und weiterempfehlen.
Rainer Mausfeld
Hegemonie oder Untergang. Die letzte Krise des Westens?
12.10.2025
9783987913341
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Zum Buch:
Der Westen verdankt seine hegemoniale Position in der Welt der Überlegenheit seiner militärischen und ökonomischen Gewalt, sagt Mausfeld. In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit gegenwärtigen Kriegen und Konflikten und belegt anhand von Studien aus der vergleichenden Ökonomie, dass die privilegierte Lebensform des Westens wesentlich auf der Ausbeutung schwächerer Länder beruht. Die schwere Krise des Westens lässt deutlich werden, dass die vom Westen geschaffenen ideologischen Scheinwelten mit den auf eine Multipolarität gerichteten geopolitischen Realitäten nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Statt auf diplomatischen Wegen einen Interessenausgleich zwischen Staaten zu suchen, reagiert der Westen auf diese Herausforderung mit einer Steigerung seiner Bereitschaft zu organisierter Gewalt. Aus Angst um einen Machtverlust wechseln seine politischen Eliten in den Endspielmodus blinder Zerstörungsbereitschaft. Sie riskieren lieber eine nukleare Katastrophe, als dass sie eine Begrenzung ihres hegemonialen Anspruchs hinnehmen.
Aus dem Inhalt:
Der Westen befindet sich im Endspielmodus. Die Macht- und Besitzeliten des Westens und die ihnen dienende politische Klasse können vor dem Hintergrund gegenwärtiger Entwicklungen ihre weit- und tiefreichende Verleugnung gesellschaftlicher und geopolitischer Realitäten nicht länger aufrechterhalten. Sie spüren den wachsenden Widerstand gegen ihre hochgradig parasitäre Lebensform, die sie auf Kosten der übrigen Welt und der schwächsten Teile ihrer eigenen Bevölkerungen pflegen. Sie ahnen das Zerbrechen ihrer selbstüberhöhenden Phantasiegebilde; sie werden der Brüchigkeit ihrer Macht- und Gewaltordnung gewahr. Ein solcher Prozess muss in ihnen Verwirrung, Gefühle der Ausweglosigkeit und Angst hervorrufen. Die einzige Macht, die sie noch sehen, ist die Macht der Zerstörung. Während sie die Welt in den Abgrund führen, suchen sie für sich zu retten, was noch zu rauben ist. Sie sind im Endspielmodus eines Handelns, das nicht mehr von einem halbwegs rationalen strategischen Denken geleitet ist, sondern durch Machtgier, Habsucht, Größenwahn und Realitätsverleugnung. Ihr Denken und Reden ist in einer endlosen solipsistischen Schleife bloßer Phrasen gefangen.
Zum Autor:
Rainer Mausfeld, 1949 in Iserlohn geboren, ist emeritierter Professor an der Universität Kiel, wo er bis 2016 den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung innehatte. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte umfassen die Wahrnehmungspsychologie, Kognitionswissenschaft sowie die Ideengeschichte der Naturwissenschaften. Seine gesellschaftspolitischen Arbeiten zeichnen sich durch eine thematische Vielfalt aus – von „weißer Folter“ über neoliberale Ideologie bis hin zur Transformation der Demokratie in einen autoritären Sicherheitsstaat sowie den psychologischen Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements.

