Sevim Dağdelen anlässlich 75 Jahre NATO

Mit Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der NATO begann an diesem Dienstag in der Hauptstadt der USA der dreitägige Gipfel des umstrittenen Militärbündnisses. Zahlreiche US-Friedensgruppen inklusive der „Veteranen für Frieden“ nahmen dies zum Anlass, um mit einem Gegengipfel unter dem Titel „No to Nato – Yes to peace“ und einer Demonstration vor dem Weißen Haus ihren Protest gegen den Kriegskurs der NATO zum Ausdruck zu bringen. Die BSW-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hielt am 6. Juli die Keynote-Rede zur Eröffnung des Gegengipfels. Die NachDenkSeiten dokumentieren die Rede im Wortlaut:

Pünktlich zu ihrem 75. Geburtstag lässt die NATO die Maske fallen. Der Washingtoner NATO-Gipfel ist dabei ein aufklärerischer Geburtshelfer. Die Geschichte der Aufklärung lehrt uns, nie das Selbstbild einer Person oder auch einer Organisation für wahr zu nehmen. Das gilt auch für die frühe Aufklärung im alten Griechenland. Die alten Griechen hatten bereits diese Erkenntnis. Über dem Apollon-Tempel stand deshalb die Losung: Erkenne Dich selbst.

Wenn wir diese Aufforderung einmal nicht nur nehmen als zarten Hinweis auf die Begrenztheit menschlichen Denkens, sondern mit dem griechischen Philosophen Heraklit sagen: „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken“, dann sagen wir, dass die Selbsterkenntnis zum Wesensmerkmal eines Menschen gehört und vielleicht auch einer Organisation.

Bei der NATO aber scheint es genau andersherum zu sein. Hier gehört die Selbstverleugnung zum Wesenskern der Organisation. Oder, um es anders auszudrücken, eine geradezu meditative Versenkung in das eigene Selbstbild gehört zum Wesenskern des Militärpakts. Es ist umso erstaunlicher, dass in der westlichen Welt dieses Selbstbild tausendfach oft nur medial gespiegelt wird, ohne es zu hinterfragen oder auch dahin zu befragen, ob dieses Selbstbild der Realität standhält.

75 Jahre NATO sind eben auch 75 Jahre Selbstverleugnung, allerdings mit massiv steigender Tendenz in den letzten Jahren. Auch weil die drei großen Mythen der NATO verblassen.

Erstens: Ein zentraler Mythos der NATO ist der einer Verteidigungsgemeinschaft, die sich dem Völkerecht verpflichtet sieht. Die NATO ist eine Gemeinschaft der Rechtsstaaten, die sich an Recht und Gesetz halten und ihr Handeln dem internationalen Recht unterwerfen und ausschließlich das Gebiet ihrer Mitgliedsstaaten verteidigen.

Wenn wir die NATO aber nach ihrer wirklichen Politik befragen, so müssen wir feststellen:

Die NATO selbst hat 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführt. Zu den NATO-Kriegsverbrechen gehörten etwa die Bombardierung eines Fernsehsenders in Belgrad und die angeblich versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft, bei der drei chinesische Journalisten getötet wurden.

2011 wiederum überfiel die NATO Libyen. Unter Missbrauch einer Resolution des UN-Sicherheitsrates wurde ein Krieg zum Regime Change geführt, in dessen Folge Islamisten die Macht in einem Landesteil übernahmen. Das Land selbst wurde in furchtbares Elend gestürzt, bis hin zu einer Rückkehr der Sklaverei.

In Afghanistan wiederum beteiligte sich die NATO seit 2003 an einem Krieg fernab des Bündnisgebiets, nur um nach 20 Jahren die Macht an die Taliban zu übergeben, zu deren Beseitigung man eigentlich losgezogen war. Dieser zwanzigjährige Krieg in Afghanistan war geprägt von zahlreichen Kriegsverbrechen, die allesamt ungesühnt blieben.

Die NATO hat das Motto der Musketiere übernommen. Alle für einen und einer für alle. Deshalb gilt insbesondere, dass auch die Taten der einzelnen NATO-Mitglieder der Organisation selbst zugerechnet werden müssen. Die Brown-Universität spricht allein von 4,5 Millionen Toten in Folge der US-Kriege im Nahen Osten in den vergangenen 20 Jahren. Kriege wie im Irak, die auf einer Lüge beruhten und schlicht üble Völkerrechtsbrüche waren.

Das Selbstbild der NATO als eine Gemeinschaft der Verteidigung und des Völkerrechts stimmt eben einfach nicht mit der Realität überein. Wir müssen sogar sagen, dass das Gegenteil stimmt. Die NATO ist eine Gemeinschaft des Rechtsbruchs und der Völkerrechtsbrecher, die einzeln oder als Organisation Angriffskriege führt, wenn es ihr denn politisch opportun erscheint.

Zweitens: In der Öffentlichkeit am eindrücklichsten vorgetragen ist vielleicht der Mythos der NATO als einer Gemeinschaft der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Wenn wir aber in die Vergangenheit blicken, blamiert sich dieses Selbstbild geradezu. Portugal war bis 1974 eine faschistische Diktatur, die blutige Kolonialkriege in Angola und Mozambique führte. Wer sich gegen die koloniale Unterdrückung wehrte, wurde wie etwa in Tarafal auf den Kap Verden in Konzentrationslager gesperrt. Viele Menschen aus Angola oder Guinea-Bissau wurden dort zu Tode gequält. Selbstverständlich war das faschistische Portugal NATO-Mitglied. So wie Griechenland und die Türkei nach den Militärputschen.

Quelle: World Beyond War

In der NATO selbst gab es eine Geheimorganisation Gladio, wie wir heute wissen, die immer dann in Aktion trat, wenn es Gefahr gab, dass sich demokratische Mehrheiten bildeten, die gegen eine NATO-Mitgliedschaft votieren könnten. In Italien wurden etwa im Namen linksradikaler Gruppen Terroranschläge verübt, um eine Regierungsbeteiligung der Kommunistischen Partei Italiens zu diskreditieren. Aber so könnte man ja einwenden, das sei eine Zeit der Vergangenheit, jetzt aber stünde die NATO bereit für den globalen Kampf der Demokraten gegen Autokraten. Aber auch hier wird jeder ernstzunehmende Beobachter konstatieren müssen, dass dieses Selbstbild auch im 21. Jahrhundert schief ist.

Nehmen wir einmal die Türkei unter Präsident Erdogan, die wiederholt völkerrechtswidrige Kriege gegen den Irak und Syrien geführt hat und führt, die islamistische Terrorgruppen in Syrien unterstützt hat und die, so etwa die Einschätzung der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, eine Aktionsplattform für Islamisten ist – die Türkei war und ist immer ein willkommenes NATO-Mitglied.

Bilaterale Sicherheitsabkommen wie mit Franco-Spanien schließt man heute mit Ländern wie Saudi-Arabien oder Katar, im Bewusstsein, dass es sich erklärtermaßen nicht um Demokratien handelt. Es geht also allein um Geopolitik. Die NATO ist keine Gemeinschaft der Demokraten und sie verteidigt auch nicht die Demokratie.

Und drittens nun gibt es die Behauptung über sich selbst, die NATO schütze die Menschenrechte. Selbst wenn wir davon absehen, dass die NATO millionenfach das Recht auf Arbeit, das Recht auf Gesundheit oder auch das Recht auf eine angemessene Wohnung mit Füßen tritt aufgrund der zunehmenden Armut und der immer größeren Umverteilung von Reichtum von unten nach oben, stimmt dieses Bild eben auch nicht international.

Während wir hier diskutieren, sitzen immer noch Häftlinge im Lager in Guantanamo ein, seit über 20 Jahre ohne Prozess. Das ist die Realität der Menschenrechte. Und wenn es um Meinungs- und Pressefreiheit geht, haben die USA unterstützt von den anderen NATO-Staaten versucht, ein Exempel an Julian Assange zu statuieren. 14 Jahre lang haben sie ihn gequält. Sein Verbrechen war allein, dass er Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hatte. Man hat eine Schmutzkampagne gegen ihn losgetreten. Sowohl Clinton als auch Pompeo hatten überlegt, wie man ihn ermorden könnte. Das ist die Realität, wenn wir vom Verhältnis der NATO zu den Menschenrechten sprechen und ich bin überglücklich, sagen zu können, Julian Assange ist frei. Am Ende war die internationale Kampagne, waren die vertrauensvollen Gespräche erfolgreich. Aber wir müssen zugleich erkennen, der Kampf um Julian Assanges Freiheit ist der Kampf um die Freiheit selbst. Und dieser Kampf findet hier im Herzen der NATO statt.

Wenn man sich anschaut, wie dicht die Propaganda ist, diese Mythen der NATO Tag für Tag nimmermüde regelrecht zu zelebrieren, nimmt es sich geradezu wie ein Wunder aus, dass die Unterstützung für die NATO nicht nur weltweit bröckelt, sondern dass gerade die Menschen, die am stärksten der NATO-Propaganda in Vermittlung ihres Selbstbilds ausgesetzt sind, dem Militärpakt mit wachsender Skepsis gegenüberstehen. In den USA sinkt die Zustimmung zur NATO kontinuierlich in den letzten Jahren, in Deutschland stellt eine Mehrheit das Prinzip der Bündnisverteidigung infrage und ist nicht mehr bereit, sich zum Artikel 5 des NATO-Vertrages zu bekennen.

Warum ist das so? Warum fangen die Menschen an, an der NATO zu zweifeln? Trotz aller Propaganda?

Die Antwort ist denkbar einfach, Die NATO selbst ist es, die in die Krise stürzt und dies spüren die Menschen.

Während ihre Verteidiger von dem Militärpakt sprechen, als sei er für die Ewigkeit gebaut, unterhöhlt die Orientierung der NATO auf Eskalation in der Ukraine und Expansion nach Asien die Fundamente der Allianz selbst. Wie ein Reich geht die NATO in die eigene Falle der Überspannung. Die NATO ist dabei ein politischer Dinosaurier. Sie ist nicht bereit, von der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg zu lernen und scheint – nur jetzt auf einer globalen Ebene – die grotesken Fehleinschätzungen des Deutschen Kaiserreichs zu wiederholen.

Das Kaiserreich hielt einen Zweifrontenkrieg für führbar. Heute greift in der NATO die Überzeugung Raum, dass man sich sowohl gegen Russland und China als auch im Nahen Osten engagieren müsse. Ein globaler Hegemonieanspruch wird da formuliert. Welche Hybris! DIE NATO sieht sich in einem Dreifrontenkrieg. Wenn dies stimmte, ist die Niederlage schon programmiert.

So ist es nur folgerichtig, dass es auf dem NATO-Gipfel in dieser Woche drei Sitzungen geben soll. Zunächst einmal eine Arbeitssitzung, auf der man berät, wie die eigene Hochrüstungspolitik noch weiter gesteigert werden kann. Dann steht der Ukraine-NATO-Rat auf dem Programm. Dort soll es darum gehen, wie die üppigen Finanztransfers und Zusagen der NATO an die Ukraine weiter aufgefüllt werden können, um eine Steigerung der Waffenlieferungen und um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Als Drittes wird dann eine Sitzung mit den so genannten AP4-Staaten, den Asien-Pazifik-Partnern der NATO anvisiert, also mit Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea, wie auch ein Treffen mit den EU-Spitzen.

75 Jahre nach ihrer Gründung soll die NATO helfen, die Eskalation in der Ukraine weiter voranzutreiben, wie auch die Expansion nach Asien. Man will die NATOisierung Asiens vorantreiben und dort ein Konzept in Stellung bringen, dass man aus seiner Sicht bereits erfolgreich gegenüber Russland in Anschlag gebracht.

Dabei geht es vorerst nicht um einen direkten NATO-Beitritt asiatischer Staaten, sondern um eine Erweiterung der NATO-Einflusszone über bilaterale Sicherheitsabkommen, nicht nur mit den AP4, sondern auch mit den Philippinen, Taiwan und Singapur.

Wie die Ukraine zum antirussischen Frontstaat aufgebaut wurde, so setzt man darauf, Staaten in Asien wie die Philippinen zu Herausforderungsstaaten Chinas transformieren zu können. Vorerst mit dem Ziel, einen kalten Stellvertreterkrieg zu führen, aber zugleich alle Vorbereitungen für einen heißen Stellvertreterkrieg der USA und der NATO in Asien zu treffen.

So wie man gegenüber Russland bei der NATO-Erweiterung auf das „boiling frog“-Prinzip gesetzt und die Erweiterung scheibchenweise vorangetrieben hat, um Russlands Argwohn nicht zu erwecken, so setzt man jetzt gegenüber China darauf, nach und nach Staaten in eine mögliche Kriegsphalanx einzureihen. Ziel aber ist immer, den Krieg nicht selbst führen zu müssen, sondern auf die Ressourcen der Alliierten zurückgreifen zu können, um diese kalten und bald heißen Kriege führen zu können. Flankiert wird dies von Wirtschaftskriegen, die jetzt auch auf China übergreifen und deren Hauptlast die Ökonomien der Klientelstaaten tragen.

Die USA und die NATO setzen auf die Strategie des chinesischen Militärstrategen Sun Tsu, der den Krieg ohne den Einsatz eigener Ressourcen als den erstrebenswerten Krieg bezeichnet.

Das Problem der NATO-Strategen ist dabei nicht nur ihre Bereitschaft, eine ganze Welt anzuzünden, sondern durch ihren globalen Anspruch Allianzen von Staaten mit zu befördern, die nicht Teil ihrer Allianz sein wollen. Diese Politik hat den Aufstieg der BRICS stark mit befördert, denn für viele Staaten ist dieser Zusammenschluss das Mittel, die eigene Souveränität schützen zu können.

Wenn es denn Förderer einer multipolaren Welt gibt, so sind paradoxerweise die USA und ihre NATO-Alliierten an erster Stelle zu nennen. Selbst Staaten wie Indien und Vietnam weigern sich, sich der NATO-Strategie unterzuordnen. Und durch ihre bedingungslose Unterstützung für die in Teilen rechtsextreme Regierung Benjamin Netanyahus verliert die NATO im globalen Süden jede moralische Legitimität, da sie als Unterstützerin israelischer Kriegsverbrechen gesehen wird.

Wie gesagt, im Westen bröckelt die Unterstützung in der Bevölkerung für eine NATO der Eskalation und der Expansion. In Deutschland fordern 55 Prozent der Bevölkerung, es dürfe keinen NATO-Beitritt der Ukraine geben. Eine Mehrheit lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und fordert einen sofortigen Waffenstillstand. In den USA ist die Finanzhilfe von bisher 200 Milliarden Dollar an die Ukraine inzwischen äußerst unpopulär. Immer mehr Menschen wollen das Geld an ein korruptes System in Kiew stoppen, das zudem noch einem rechtsradikalen Staatskult um den Nazikollaborateur Stepan Bandera huldigt.

Die Mythen der NATO verblassen! Ihre imperialen Strategien gehen an der eigenen Überspannung zu Grunde. Es braucht dagegen einen sofortigen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und endlich einen Waffenstillstand. Und wer auf Frieden und Sicherheit für die eigene Bevölkerung setzt, muss den aggressiven Expansionskurs in Richtung Asien stoppen.

Und nicht zuletzt ist der Kampf gegen die NATO ein Kampf um die eigene Souveränität. Als Bündnis von Klientelstaaten gerät Europa in Gefahr, unterzugehen. Eine Emanzipation wie in Lateinamerika steht noch aus. Ein erster Schritt wäre, sich nicht mehr dumm machen zu lassen von einer Militärallianz, die ihre aggressive Strategie mit einem sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung finanziert.

Spardiktat, Hetze und Peitsche: Die Ampel im neoliberalen Kürzungsrausch

Harte Sanktionen, Zwang zu stundenlangen Arbeitswegen und Wegfall des „Schonvermögens“: Die Ampel plant eine neue Sozialabbau-Agenda, um die „deutsche Wirtschaft zu retten“. Zur Begründung liefert sie vor allem neoliberale Märchen. Teilen und Herrschen ist mal wieder angesagt.

Von Susan Bonath

Die Hetze gegen Arbeitslose eskaliert. Die vom Axel-Springer-Blatt Bild vor 20 Jahren als „Florida-Rolf“ und „Mallorca-Karin“ personifizierten Sündenböcke beschimpft man heute pauschal als „Totalverweigerer“, die schuld am wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands seien. Die Ampel setzt wieder mehr auf Erpressung, schürt Missgunst und zückt die Peitsche.

Mit „schärferen Regeln“, wie harte Sanktionen, Zwang zu stundenlangen Arbeitswegen und Verringerung des Schonvermögens, will die Regierung Bürgergeldbezieher „zur Arbeitsaufnahme bewegen“. Das besagt ein Maßnahmenkatalog des FDP-geführten Bundesfinanzministeriums unter dem Titel „Wachstumsinitiative – neue wirtschaftliche Dynamik für Deutschland“, auf den sich die Koalitionsfraktionen nun einigten. Damit beerdigen sie auch die geplante Kindergrundsicherung.

Härter bestrafen

Im gewohnten Slang der für diverse Großkonzerne tätigen Lobbyistenpartei FDP fordert die Ampel-Regierung in ihrem Programm das neoliberale Standardprogramm: mehr Freiheit (und Steuererleichterungen) für das Kapital, mehr Härte gegen Arbeitslose. Ihr Motto „Keine Hilfe ohne Gegenleistung“ gilt freilich nur für Letztere.

Sie will Bürgergeldbezieher, die „Angebote“ der Jobcenter für Arbeitsstellen oder Maßnahmen ablehnen, wieder härter bestrafen: „Wer eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme ohne triftigen Grund ablehnt, wird mit erhöhten Kürzungen des Bürgergeldes rechnen müssen“, heißt es.

Wie einst unter Hartz IV will die Regierung derart Ungehorsamen für drei Monate 30 Prozent der Grundsicherung streichen. Damals waren auch Totalsanktionen erlaubt, die unter 25-Jährige am häufigsten und schnellsten trafen. 2019 wertete das Bundesverfassungsgericht dies als grundgesetzwidrig. Durch die Hintertür führte die Ampel aber kürzlich die Totalsanktionen in leicht abgewandelter Form wieder ein.

Drei Stunden Arbeitsweg „zumutbar“

Was „zumutbar“ oder ein „triftiger Grund“ ist, sollen vor allem die Jobcenter entscheiden. In den letzten 20 Jahren fielen diese Behörden, die zum Teil den Arbeitsagenturen sowie den Landkreisen unterstehen, vor allem mit der Vermittlung von Erwerbslosen in prekäre Niedriglohnsektoren auf. Denn für die Qualifizierung fehlte schon im Hartz-IV-System das Geld.

Eine verschärfte Zumutbarkeitsregel legt das Regierungspapier allerdings fest: Eine Pendelzeit zum Job von bis zu drei Stunden täglich müssen von der Behörde Vermittelte hinnehmen, sofern die tägliche Arbeitszeit mindestens sechs Stunden beträgt. Bei Teilzeitjobs mit geringerer täglicher Beschäftigungsdauer sollen Anfahrtswege von bis zu 2,5 Stunden verpflichtend zumutbar sein.

Das heißt im Klartext: Vermitteln Behörden Betroffene zum Beispiel als Teilzeit-Putzkräfte mit einer 30-Stunden-Woche, darf der Arbeitsort so weit entfernt liegen, dass die Anfahrtszeit dahin theoretisch eineinhalb Stunden beträgt. Im Papier ist von verpflichtender Jobsuche im Umkreis von 50 Kilometern die Rede. Wie Betroffene vom Land ohne Auto und Nahverkehr in dieser Zeit dort hingelangen oder wovon sie das bezahlen sollen, erläutern die Autoren nicht.

Hartz IV 2.0

Auch an das vor dem Jobverlust erarbeitete „Schonvermögen“ will die Regierung verstärkt ran. Unter Hartz IV durften Betroffene pro Lebensjahr 150 Euro angespart haben. Mit dem Bürgergeld erhöhte sich der Betrag auf 40.000 Euro und 15.000 Euro für weitere Familienmitglieder. Die Bezieher müssen dies seither erst ein Jahr nach Beginn des Bezugs aufbrauchen. Nun soll diese „Karenzzeit“ auf ein halbes Jahr sinken.

Mit anderen Worten: Wer entlassen wird und binnen anderthalb Jahren keinen neuen Job gefunden hat, verliert fast alles: Das zu große Haus, die zu kostspielige Mietwohnung, das zu teure Auto, die Sparrücklagen für die Kinder und so weiter. Das müssen Betroffene dann auf Sozialhilfeniveau „aufessen“.

Zurückkehren sollen überdies die sogenannten „Ein-Euro-Jobs“. Für einen Salär von einem bis zwei Euro pro Stunde sollen Jobcenter schwer Vermittelbare wieder verstärkt dazu heranziehen. Dabei handelt es sich nicht um Arbeitsverhältnisse ‒ bezahlten Urlaub und Entgeltfortzahlung bei Krankheit gibt es nicht.

Im ersten Hartz-IV-Jahrzehnt waren diese Ein-Euro-Jobs ein Dorn im Auge einiger Branchen. Ganze Heerscharen von Ein-Euro-Jobbern ersetzten Festangestellte in der Grünanlagenpflege und beim Winterdienst, in Sportvereinen, Jugendclubs oder bei der Seniorenbetreuung.

Kindergrundsicherung ist tot

Das Gerede im Papier von 30-Prozent-Sanktionen für Leute, die beim Schwarzarbeiten erwischt wurden, kann man indes als blanken Populismus werten, der einen Generalverdacht erzeugen soll und unterstellt, dass dies ein massenhaftes Phänomen sei. Wird jemand bei Schwarzarbeit erwischt, ist das bereits heute strafbar. Auch das Bürgergeld kann dann komplett gestrichen werden.

Man kann konstatieren: Das im Koalitionsvertrag vollmundig versprochene, aber schon bei seiner Einführung einer Hartz-IV-Attrappe gleichende „Bürgergeld“ ist völlig tot – es lebe Hartz IV 2.0.

Tot ist auch die von SPD und Grünen propagierte Kindergrundsicherung, um die Armut bei den Jüngsten zu bekämpfen. In den Haushaltsplanungen der Koalition taucht sie auch für kommendes Jahr nicht auf. Schon im vergangenen Jahr widersetzte sich die FDP mit Unterstützung der Unionsfraktion vehement dem Vorhaben. Heraus kam eine schlechte Symbolattrappe. Auch die wird offensichtlich niemals umgesetzt werden.

Stattdessen bleibt’s beim Alten: Eine mickrige Kindergelderhöhung von fünf Euro soll kommen. Nun ist anzumerken, dass jeder Cent des Kindergeldes vom Bürgergeld wieder abgezogen wird. Genau wie unter Hartz IV hat also ohnehin nichts davon, wer auf diese Leistung angewiesen ist. Für alle anderen mit Nachwuchs ist Kindergeld sozusagen ein bedingungsloses Grundeinkommen – egal, wie dick das Konto ist. Wer wohlhabend genug ist, soll dann auch von einer Erhöhung des Kinderfreibetrages profitieren.

Der Russe sei schuld

All die neuerlichen Sozialabbaupläne deklariert die Ampel in ihrem Papier als alternativlosen Sparzwang. Schließlich gehe es der Wirtschaft schlecht und schuld sei, wie man es erahnen kann, weder die Politik noch die kapitalistische Krisendynamik, sondern, neben Bürgergeld beziehenden „Faulpelzen“, der „Übeltäter“ schlechthin: der Russe.

So haben also in der Ampel-Fantasie weder die extremen Corona-Einschränkungen noch die absurden Sanktionen gegen Russland etwas mit der Energiepreis-Explosion und der folgenden Abwanderung großer und der Schwächung kleiner und mittelständischer Unternehmen zu tun. Nein, zu Sündenböcken erklären die „Ampel-Experten“ Arme, das Coronavirus und „den russischen Einmarsch in die Ukraine“.

Und weil eben nicht mehr so viel da sei, das man in die aufzurüstenden Kriegskassen umschichten kann, sollen die Armen ihre Gürtel noch enger schnallen. Wenn dann die Kriminalität weiter steigt, weil manch ein Verarmter auch ein Stück vom Kuchen begehrt, können die Regierenden ja gleich den Überwachungsstaat ein wenig weiter ausbauen.

Wie wäre es, sarkastisch gefragt, mit einer ein- und ausschaltbaren „Bezahlkarte“ für alle Lohnabhängigen? Vorschläge, dieses Repressionsinstrument gegen Flüchtlinge auf Bürgergeldbezieher auszuweiten, tragen diverse Politiker und Medien bereits seit einiger Zeit vor.

Weniger offene Stellen

Die Peitsche, die FDP, SPD und Grüne unter Beifall der Unionsfraktion schwingen, um Bürgergeldbezieher in den Arbeitsmarkt zu zwängen, krankt an vielen Stellen. So steigt, trotz Klagen über Fachkräftemangel, schon jetzt die Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder. Immer mehr dieser Betroffenen rutschen am Ende in das Bürgergeld. Und das hat seinen Grund.

Denn die Zahl der bei der Arbeitsagentur gemeldeten offenen Arbeitsstellen sinkt seit Monaten. Mitte 2022 war deren Zahl kurzzeitig auf fast 900.000 hochgeschnellt, in diesem Juni aber wieder unter 700.000 gerutscht – bei 2,73 Millionen als arbeitslos und erwerbsfähig registrierten Erwachsenen.

Kein Geld für Qualifizierung

Betrachtet man die „offenen Arbeitsstellen“ vom Juni dieses Jahres genauer, sieht es noch düsterer aus. Zieht man Teilzeit- und befristete Arbeitsstellen ab, bleiben etwas mehr als eine halbe Million sozialversicherungspflichtige Jobs übrig, davon lediglich gut 130.000 Helferstellen. Der Rest waren Stellen für „Experten/Spezialisten“ und spezifische Fachkräfte.

Da die Regierung auch 2,6 Milliarden Euro bei der Qualifizierung Arbeitsloser streichen will, kommen für die meisten offenen Stellen schwer vermittelbare Bürgergeldbezieher von vornherein also gar nicht infrage. Dagegen hilft auch die Sanktions- und Erpressungspeitsche wenig.

Populistisches Täuschungsmanöver

Bestenfalls nur Peanuts werden die verschärften Sanktionen in die Kassen spülen. Der größte Posten im Sozialhaushalt ist nämlich die Rente. Für die Bürgergeld-Leistungen beinhaltet der Etat in diesem Jahr gerade einmal 26,5 Milliarden Euro. Das ist weniger als ein Drittel der Ausgaben für den Militäretat von rund 90 Milliarden Euro.

Allein diese Zahlen zeigen: Es handelt sich um ein populistisches Täuschungsmanöver, bei dem es wohl ausschließlich darum geht, Neid und Missgunst unter Lohnabhängigen zu schüren. Während sich die „kleinen Leute“ gegenseitig die Butter auf dem Brot neiden und „Faulheit“ vorwerfen, knallen oben vermutlich längst die Champagnerkorken.

Quelle: RT DE

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.