Noch immer harrt einer „der größten Polizeiskandale der deutschen Nachkriegszeit“ (neues deutschland 14./15.April 2018) der Aufklärung
via Break The Silence
„Am 4. April 2017 verfasst der bis dahin bereits über 12 Jahren zuständige Leitende OStA Folker Bittmann der StAW Dessau-Roßlau einen Aktenvermerk im Todesermittlungsverfahren zum Nachteil von Oury Jalloh, in dem er konkret benannte Polizeibeamte der Brandlegung am 7. Januar 2005 in der Todeszelle Nr. 5 des Dessauer Polizeirevieres beschuldigt. Was daraufhin passiert, entlarvt die strukturelle und institutionsübergreifende Staatsraison zur Verhinderung von Aufklärung und Strafverfolgung von Beamten lehrbuchreif…
Bittmann hatte sich bereits zu Beginn der Ermittlungen (Amtsübernahme in Dessau am 23.1.2005) in seiner ersten Pressekonferenz zum Fall öffentlich – und für die folgenden 12 Jahre – festgelegt:

Alljährlich finden Proteste in Dessau statt, die nach Aufklärung im Todesfall Jalloh fordern. Fotos: P. Donatus
Er könne keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung von Polizeibeamten im Todesfall Oury Jalloh erkennen…
- nicht in der außergewöhnlichen Brandentstehung (4-Punkt-fixierter, zuvor kontrollierter Mensch auf einer feuerfesten Matratze)
- nicht im für die geringe Brandlast außerordentlich weitgehenden Brandbild mit nahezu vollständiger Verbrennung einer feuerfesten Matratze und großflächigem vollständigem Abbrand ganzer Hautareale und Fingerglieder des Opfers
- nicht in den auffällig schlampigen Tatortermittlungen jenseits brandsachverständiger Standards, bei denen zunächst gar kein Feuerzeug entdeckt werden konnte
- und auch nicht durch die zumindest widersprüchlichen und teils sogar wegweisenden Zeugenaussagen anderer Polizeizeugen (z.B. zu einer undokumentierten Zellenkontrolle 15min vor Brandausbruch).
Sämtliche Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft und auch später der Gerichte wurden durch eine Begrenzung der Anklage auf „Unterlassung“ eingeengt und entgegen jeder vernünftigen Wahrscheinlichkeit umgedeutet. Zielführende Gutachtenaufträge (Röntgenuntersuchungen, Versuche zu Brandentstehung und Brandergebnis) wurden selbsterklärend damit verhindert, dass man bereits von der übernommenen Opfer-ist-Täter-Hypothese „überzeugt“ gewesen sei.
Stattdessen beauftragte man verschiedene Gutachten unter tatortfremden Voraussetzungen (Bewegungsversuche auf kleineren Matratzen zur Demonstration so gar nicht vorhandener Bewegungsmöglichkeiten oder tatortfremde Hosen mit Dreifachnähten zum „Übertasten“ eines nicht vorhandenen Feuerzeuges).
Damit produzierte man wissenschaftlich untaugliche „Beweise“ für die „Unschuld“ von Polizeibeamten…
Begründete Zweifel der eigens beauftragten Gutachter wurden immer wieder ignoriert:
- Zweifel des Brandgutachters Steinbach zur eigenständigen Brennbarkeit und vollständigem Abbrand feuerfester Matratzen – kein Hinderungsgrund…
…und später vor Gericht:
- Zweifel des Toxikologen Kauert an einer „stressfreien Selbstverbrennung“ ohne nennenswerte Brandgaseinatmung – kein Widerspruch…
- Zweifel des Gerichtsmediziners Bohnert an der Vereinbarkeit der Lage der Leiche ganz links mit der These des Gerichtes Oury Jalloh habe einen inhalativen Hitzeschock über einem selbst entzündeten Feuer auf der rechten Seite der Matratze erlitten – kein Problem…
Während alle widersprechenden objektiven Fakten des Tatortes oder Einschätzungen beauftragter Gutachter, die der Möglichkeit der unterstellten Selbstanzündung entgegenstehen bedenkenlos ‚vom Tisch‘ gewischt wurden, entwickelte sich der „vorstellbare“ Ablauf der Ereignisse immer mehr zu einer Verkettung von einzeln höchst unwahrscheinlichen, aber gemeinsam dann angeblich „möglichen“ Einzelereignissen:
- das „Übersehen“ eines Feuerzeuges trotz mehrfacher Abtastung / Kontrollen
- eine möglicherweise „beschädigte“ Matratze trotz gegenteiliger Zeugenaussagen
- die gewaltsame Eröffnung der Matratze an der Oberseite in einer gutachterlich notwendigen Größe von 20 x 20 cm trotz 4-Punkt-Fixierung
- Feuergröße und –hitze im Bereich der rechten Hand, die zwar ausreichend zur Auslösung eines inhalativen Hitzeschocks waren, aber keine schmerzbedingten Stressreaktionen beim Opfer ausgelöst haben sollen
- ein unmittelbarer Schocktod in angeblich rechts übergebeugter Haltung trotz der Auffindelage ganz links außen
- die Feuerlegung mit einem Feuerzeug, an dem keinerlei Spuren aus der Zelle zu finden sind, dafür aber ausschließlich tatortfremde Spuren…
Mordende oder leichenverbrennende Polizeibeamte, die kollektiv widersprüchlich lügen und dienststellenübergreifend „Beweise“ fälschen, sind Staatsanwaltschaften und Gerichten trotz der umfangreichen „Beweismittelverluste“, auffälligen Unterlassungen bei standardisierten Ermittlungen und gutachterlichen Beweisen dagegen von Anfang an und grundsätzlich „unvorstellbar“?!
Ein im August 2016 staatsanwaltlich durchgeführtes Brandgutachten kommt dann trotz auffällig brandfördernder Abweichungen von den objektiven Tatortgegebenheiten der Zelle Nr. 5 zu den gleichen Ergebnissen, wie schon das externe Brandgutachten Smirnou 2013 und das externe Aktengutachten Peck (und andere) 2015:
„Eine Entzündung der feuerfesten Matratze nur mit einem Feuerzeug kann weder ein notwendig großes und heißes Feuer zur Auslösung eines inhalativen Hitzeschocks verursachen, noch das entstandene Brandbild erklären…“
Die daraufhin erfolgte Einleitung von Mordermittlungen durch OStA Bittmann im April 2017 führte aber nun zum genauen Gegenteil von notwendigen Ermittlungen – seit diesem Tage sind die Staatsanwaltschaften der unterschiedlichen Ebenen von Land und Bund ausschließlich damit beschäftigt zu „prüfen“, ob es überhaupt eine Notwendigkeit für Mordermittlungen geben darf oder nicht:
- Bittmann wendet sich Anfang April 2017 an den Generalstaatsanwalt und der daraufhin an den Generalbundesanwalt – der kann bereits am 24.4.17 in einer Brandlegung an einen angeketteten Schwarzen Menschen keine rassistische Motivation und im Fall selbst keine „besondere Bedeutung“ erkennen…
- Daraufhin entzieht der Generalstaatsanwalt dem Bittmann die Zuständigkeit für den Fall und übergibt Ende Mai / Anfang Juni (Akteneingang) an die StAW Halle, die das Ermittlungsverfahren in Rekordzeit von knapp 3 Monaten und ohne eigene Ermittlungshandlungen mit haarsträubender Begründung einstellt (Einstellungsvermerk 30.8.17 – offizielle Einstellung 12.10.17 – unvollständige Aktenübermittlung an die Anwältinnen der Familie am 1.11.17)…
- Die Familie legt umgehend Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein – zuständig: die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg…
- Das Polit-Magazin Monitor und mehrere Zeitungen berichten am 30.11.17 über die Einstellung der gerade erst begonnenen Mordermittlungen und das kollektive Gutachtenergebnis, das im gravierenden Widerspruch zur Darstellung der StAW Halle in ihrer Einstellungsverfügung steht…
- Die Justizministerin Keding überträgt am 7.12.17 die Ermittlungen – nach zuvor ausdrücklicher Weigerung zum Eingreifen in die Zuständigkeiten im Fall – an den Generalstaatsanwalt, der nun mit der Prüfung der Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen gleichzeitig eigene Ermittlungen beauftragt ist…(am Morgen des gleichen Tages hatte die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh übrigens Strafanzeige wegen Mordes beim Generalbundesanwalt gestellt)
- Seit 7.12.17 prüft der Generalbundesanwalt zeitgleich seine Zuständigkeit für die Strafanzeige der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh gegen einen Polizeibeamten des Dessauer Revieres, in dem es seit 1997 3 bisher ungeklärte Todesfälle gegeben hat (Hans-Jürgen Rose 1997, Mario Bichtemann 2002 und Oury Jalloh 2005) – Entscheidung Stand heute: überfällig!
In öffentlichen Stellungnahmen bezeichnet der zuständige Generalstaatsanwalt die öffentlich bekannten Fakten und Gutachteraussagen im Fall immer wieder als „Mutmaßungen und Spekulationen“, die es nun nicht etwa durch zielgerichtete Ermittlungen, sondern ausschließlich durch „Prüfung nach Aktenlage“ mit erneuter Bewertung zu beurteilen gelte.
Eine „Vorverurteilung“ (wie die jahrelange und letztlich haltlose Unterstellung, Oury Jalloh habe sich selbst verbrannt) durch zielführende Mordermittlungen gegen konkrete Polizeibeamte sei unbedingt zu vermeiden.
Es gelte aller belastender Fakten, Indizien und Hinweise zum Trotz eine „Unschuldsvermutung“ für Täter, welche für das Opfer zu keiner Zeit Anwendung fand.
Anhaltspunkte für offenkundige Beweismittelmanipulationen und –vernichtungen sind schon deswegen nicht zu verfolgen, weil bisher keine „Anknüpfungstatsachen“ erkennbar seien, die für einen Mord sprächen…
Zusammenfassend entsteht somit der Eindruck, dass die Einleitung oder Durchführung von Mordermittlungen im Fall Oury Jalloh institutionsübergreifend unerwünscht sind:
- Wer solche Ermittlungen einleitet wird umgehend suspendiert (StAW Dessau-Roßlau).
- Wer solche Ermittlungen einstellt wird durch Verweis an höhere Ebenen aus dem Kreuzfeuer der Kritik genommen (StAW Halle).
- Wer solche Ermittlungen nach Aktenlage lediglich prüft, statt sie zielführend voranzutreiben, verhindert Aufklärung und Strafverfolgung letztlich durch Zeitverschwendung / Verschleppung.
Und selbige Zeit wird „natürlich“ fortlaufend als „Argument“ ins Feld geführt, warum Aufklärung ab jetzt angeblich nicht mehr möglich sein soll (Generalstaatsanwalt).
- Wer solche Ermittlungen trotz einer unaufgeklärten Serie von Todesfällen und einschlägigen Hinweisen auf menschenverachtende und rassistische Praktiken, haarsträubenden „Ermittlungsfehlern“ und offenkundigen Beweismittelmanipulationen nicht übernimmt, entzieht sich damit offensichtlich not-wendiger systemrelevanter Verantwortung (Generalbundesanwalt).
Aus der Sicht der Hinterbliebenen, der Familie und Freunden ist das Agieren der Justiz (nicht nur) im Fall Oury Jalloh eine unerträgliche Irreführung und Verleugnung des Offensichtlichen. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und „richterlichen Überzeugungen“ im Fall sind weder unabhängig noch nachvollziehbar angemessen. Ignorante Befangenheit und gegensätzliche Wertmaßstäbe offenbaren eine kollektive wie vorsätzliche Unwilligkeit zur Übernahme von Verantwortung und Herstellung einer Fehlerkultur, die Veränderung der unsäglichen Verhältnisse überhaupt erst ermöglichen würde.
Vorverurteilende Täter-Opfer-Umkehr und eine Staatsraison, die Aufklärung von Straftaten durch Polizeibeamte um jeden Preis zu verhindern sucht, sind beides unfassbar fatale Signale an Opferfamilien und Communities of Colour deutschland-, europa- und weltweit.
Andererseits wirkt die dadurch garantierte Straffreiheit aber auch wie eine Bestätigung in die gewalttätigen Täterkollektive und Vertuscher*innen in Diensten der jeweiligen Staaten hinein und signalisiert – genauso wie hier im NSU-Komplex und anderen „Ermittlungen“ gegen Behörden des deutschen Staates – dass Aufklärung, Verantwortung und transparente Fehlerkultur weder gewünscht, noch vorgesehen sind.
Die Kontinuität mörderischer Verbrechen durch staatlich beauftragte und geschützte Akteure ist Status Quo einer vorgeblich „aufgeklärten“ und „offenen“ Gesellschaft, die selbstkritische Fehlerkultur weder zulässt noch anerkennt – weder bei kolonialen Genoziden, noch den bei sich zwangsläufig wiederholenden „Einzelfällen“ extremer tödlicher Gewalt gegen ausgegrenzte „Andere“.
Wer aus bekannten Fehlern nicht zu lernen vermag, indem diese aktiv verleugnet oder ignoriert werden, ist unabdingbarer Teil dieser tödlich-zerstörerischen Kontinuität gegen das Leben an sich!“
Quelle: Break The Silence (vom 6. April 2018)
Bisher auf meinem Blog zum Fall Oury Jalloh hier und hier.
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