Kürzlich stellte ich hier die im pad-Verlag erschienene interessante Broschüre «Covid-19 und die Pandemie als Amoklauf des Finanzkapitals« von Fabio Vighi vor. Nun folgt – wiederum als Leseempfehlung – eine weitere Broschüre mit Texten von Vighi mit dem Titel «Notfallkapitalismus. Texte zur politischen Ökonomie des in Agonie befindlichen „senilen Kapitalismus“«.
Wiederum hochinteressant! Wir dürften uns bei genauerem Nachdenken bewusst sein (auch der Kognitionswissenschaftler Rainer Mausfeld hat das angemerkt), dass der Kapitalismus letztlich nicht mit einer wirklichen Demokratie vereinbar ist. Dennoch hat der Kapitalismus bis heute überlebt. Denn er sorgt nicht nur für Ungerechtigkeiten und Krisen, sondern ist immer wieder auch innovativ. Was ihn in die Lage versetzt, sich immer wieder neu zu erfinden und somit zu überleben. Nicht selten wurde sein kommende Ende vorhergesagt. Doch bekannterweise (über-)leben Totgesagte immer wieder.
Allerdings häufen sich die Krisen des Kapitalismus bedenklich. Der Raubtierkapitalismus, der immer rücksichtsloser agierende Neoliberalismus (besser: Marktradikalismus) hat – nach dem Fall des missglückten Sozialismus – alles nur noch schlimmer gemacht. Frisst sich das System zunehmend selber, steht es vor einer Implosion? Finanzexperten wie Ernst Wolff warnen seit Jahren davor.
Der Wirtschaftswissenschaftler Wolfram Elsner hat zur Broschüre ein interessantes Vorwort geschrieben:
«Das globale historische „Großereignis“ der Corona-Pandemie 2020-2022 befindet sich international in einer notwendigen kritischen Auf- und Nachbereitung. Zu verdächtig waren die Begleitumstände der Pandemie. Die internationale kritische Politische Ökonomie hatte schon seit den 2010er Jahren die zunehmende Labilität, Krisenanfälligkeit, Unhaltbarkeit, den Niedergang und insgesamt eine Unseriosität des ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses des neoliberalen finanzialisierten Kapitalismus (NFK) aufgezeigt.
Die Analysen zeigten schon in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, und vor allem 2019, kurz vor der offiziellen Wahrnehmung der Pandemie, dass eine weitere, diesmal wohl massivere realökonomische Stagnation und Krise ins Haus stand und mit ihr, nach 2007/8 ff., eine weitere, größere und fundamentalere Finanzkrise. Es war klar geworden, dass die Schneeball-, Blasen- und „Ponzi“-Mechanismen der Derivate-Pyramiden des de-regulierten, enthemmten und explodierenden Spekulationssektors, der inzwischen nur noch aus sich heraus und für sich selbst existierte und arbeitete, selbst mit den jährlich real produzierten Werten der Erde (dem Weltsozialprodukt) und mit der laufenden Ausbeutung („Verwertung“) der vorhandenen realen Vermögensbestände („Assets“: öffentliches Vermögen und Infrastrukturen, Immobilien, industrielle Firmenwerte, Arbeitskraftwerte, Wasserressourcen und der gesamten Natur sowie am Ende der Atemluft) nicht mehr so viel an Mehrwert zu sich selbst hin umverteilen konnten, dass im Durchschnitt noch eine relevante Profitrate auf die die geschätzten 1,5 Billiarden USD der nominalen fiktiven Finanzwerte auf bedrucktem Papier, versehen mit Eigentumstiteln und Renditeanspruch, generiert werden konnte.
Die meisten realen Vermögensbestände der Gesellschaft (s.o.) waren ja in den Frühphasen des Neoliberalismus in den 1980er Jahren bereits geplündert worden, die Ressourcen der Welt bereits aufgekauft und große Landflächen in Afrika vereinnahmt. Die Wall Street besaß vor Corona rechnerisch im Durchschnitt Eigentumstitel für zwei, danach bis zu acht Welt-Jahres-Ernten an Weizen. Die Umverteilung auch der Einkommen zu den obersten 1% war „bis Anschlag“ umgesetzt: die Lohnsumme ausgequetscht, Staatshaushalte ausgequetscht und auf Umverteilung nach oben programmiert, die Gewinne der kleinen und mittleren Unternehmen ausgepresst und umverteilt, ebenso wie die Gewinnquote der Industrie zugunsten der Renditen des Spekulationssektors umverteilt worden waren. Die reale Ökonomie, reale Natur und reale Menschen konnten dem Spekulationskapital der kleinen Oligarchen- und Plutokraten-Schicht inzwischen gleichgültig sein.
Aber all das reichte nicht. Nichts konnte mithalten mit der Explosion der nominalen fiktiven Geldkapital-Werte und ihm auch nur „normale“ reale Renditen sichern. Umso mehr wurde das Spekulationskapital der 1 Prozent (1 Promille? 0,1 Promille? …) Motor immer weiter verschärfter Umverteilung, auch zulasten anderer Wohlhabender (kleine Spekulanten, Industriekonzerne als Finanzinvestoren, private Vermögende), die nicht so nah an der Quelle der Entscheidungen saßen und nicht rechtzeitig vor der nächsten Krise ihre Schäfchen durch Umswitchen in Realwerte (Ressourcen) ins Trockene bringen (in reale Sachwerte transformieren) konnten. Das Aufpumpen von Blasen entpuppte sich als ein ultimativer Umverteilungsmechanismus. Die Spekulation hatte die Verschuldungsexplosion als Voraussetzung, bei den Arbeitenden und ihren Haushalten, dem Staat, der kleineren Industrie und dem Gewerbe ohnehin, deren Verarmung mit umso mehr Krediten aufrechterhalten wurde. Aber auch bei den Großbanken und Schattenbanken, den Hedgefonds, Private Equity Firmen usw., die unendliche Kredite aus dem Nichts brauchten, da sie ja ihr Geschäft auch mit der Differenz zwischen Kreditkosten und kurzfristiger spekulativer Anlage machen. Die Zentralbanken waren daher ja unter dem Neoliberalismus exakt dafür umgegründet und oberhalb des politischen Systems gestellt worden, um den Spekulationssektor ständig mit Frischgeld zu versorgen und am Laufen zu halten.
Seit 2008 laufen die Kurven der geopolitischen Versorgung (Quantitative Easing) mit den spekulativen Ankagekurven1:1 parallel. Die staatliche Fiskalpolitik durfte im Neoliberalismus keine Rolle mehr spielen und hatte ihren Umverteilungsitrag nach oben ohnehin schon „bis zum Anschlag“, d.h. auch: bis zur Grenze der offenen politischen Legitimationskrise des Staates und der offenen Bürgerrevolte geleistet.
Kritische Politökonomen, Sozialwissenschaftler und feinfühlig beobachtende ZeitgenossInnen hatten ja bereits von „Nine-Eleven“, also seit 2001, und den unzähligen Widersprüchen des offiziellen Narrativs zum Einsturz des New Yorker World Trade Center gelernt, dass vieles nicht mehr stimmen kann im niedergehenden und um uns herum erkennbar verrottenden neoliberalen Finanzkapitalismus, der sich als eine immer gigantischere Umverteilungsmaschine entpuppte, der die Gesellschaften spaltet und ruiniert, die die „1 Promille“ immer reicher werden und den Armutssektor der Gesellschaft explodieren ließ, die Umweltkatastrophe beschleunigte, Kriege in alle Ecken der Welt trug, wo Länder unbotmäßig wurden, und im Grunde keines der drängenden Menschheitsprobleme mehr lösen konnte.
Die Menschen lernten, Fragen zu stellen und Zweifel anzumelden an „Nine-Eleven“ und darüber hinaus an all dem Genannten sowie an den mit ständigen Schock-Narrativen, angeblichen Bedrohungen, mit Krisen, Chaos und „Notfällen“ aller erdenklichen Arten begründeten, aber erkennbar bereits von langer Hand vorbereiteten Kriegen des hegemonialen Imperiums und seines Trabantensystems, seines „Global War on Terror“. Und sie mussten schmerzhaft lernen, dass ihre Fragen, Zweifel und Suchen zu keinem Zeitpunkt von offizieller Seite ernst genommen wurden. Vielmehr begann dieses System der Austerität, des ökonomischen Niedergangs, der Verarmung und Gesellschafts-Spaltung nach innen, der „einzigen Weltmacht“, der Weltbeherrschung, der Monopolarität und der imperialen Hegemonie, der Aggressivität und der Kriege nach außen, bei verschärfter „Demokratie“- und „Freiheits“- Rhetorik durch ihr zunehmend vereinheitlichtes offizielles Parteienkartell politisch zunehmend mit Unterdrückung, Zensur, „betreutem Denken“ in immer engeren Leitplanken, gesellschaftlicher Meinungsformierung und mit zu einer Hetz-, Kriegs- und Fake-Industrie mutierten OligarchInnen-
Medien die Zweifler und Kritiker mundtot zu machen, für verrückt zu erklären und als „Verschwörungstheoretiker“ und je nach Tagesbedarf als „Rechte“ und „Antisemiten“ abzustempeln, mundtot zu machen, zu ruinieren und abzuservieren.
Dabei hatte es sich im Laufe der Geschichte jeweils im Nachhinein, z.T. nach Jahrzehnten, immer wieder herausgestellt, dass selten eine aufgestellte Verschwörungstheorie so Schlimmes erahnt hatte wie die tatsächlichen Verschwörungen und politisch-staatlichen Verbrechen, die dann typischerweise nach 30 Jahren, wenn regelhaft die staatlichen Archive Dokumente freigeben, ans Tageslicht kamen.
Solche Erfahrungen kulminierten für immer mehr kritisch denkende Menschen dann insbesondere während der Pandemie zu einer zentralen Erfahrung des Skeptizismus, der eigenen Verfolgung und Unterdrückung, der Meinungsunfreiheit und der umfassenden Überschwemmung mit Fakes über die Weltveränderungen von offizieller Seite, gepaart mit einem unseriösem, unsouveränem, unglaubwürdigem, aber umso autoritärerem Auftreten des Staates und seines politischen Führungspersonals.
Man glaubte immer weniger an zufällige Zusammenhänge zwischen den realen Niedergangserscheinungen, zunehmendem Demokratieabbau, wachsendem Autoritarismus, Aggressivität und Kriegen nach außen, einer immer mehr dominierenden Fake-Industrie und dem Aufkommen und politischen Nutzen von sozialpsychologischen und emotionalen Schocks, Chaos, Katastrophen und „Notfällen“. Manche schütteten schon mal in antiautoritärer Überreaktion auch das gesamt Pandemie-Kind oder Klimawandel-Kind mit dem Bade des Skeptizismus und Nihilismus gegenüber allem und jedem aus. Viele konnten nun einfach gar nichts mehr glauben und stellten einfach alles in Frage. Einen Orientierungskompass des realen Lebens war ihnen im politischen Raum abhandengekommen. Nicht zuletzt übrigens, weil ehemalige Linke sich ins System integriert hatten, die Positionen der herrschenden „Eliten“ übernahmen, den Kapitalismus plötzlich gar nicht mehr problematisch fanden, sich wohlig einrichteten in ihren Minister- und Staatssekretären-Sesseln und sich außenpolitisch plötzlich bei den Kriegsreibern „für die Freiheit“ positionierten.
Das System offenbarte insgesamt eine massive Glaubwürdigkeitskrise, die Politik sprach mit ihren zunehmend hohlen Ritualen und Phrasen, dem Closed-Shop ihres Parteienkartells, einer „Herrschaft des Volkes“ (Demos Kratos), die sich im periodischen Kreuzchen machen erschöpft, und mit unrepräsentativen Regierungen, die am Ende nur noch etwa 30% der Wahlberechtigten vertreten, immer mehr Menschen nicht mehr an. Protest breitete sich aus, und die Erkenntnis macht sich breit, dass dieser zerfallende, und daher nach innen und außen umso aggressivere Kapitalismus und sein dequalifiziertes Politpersonal eine Menge zu verbergen haben, und daher Schocks-Chaos, Katastrophen, Notfälle, Tod und Todeskulte als Herrschaftsmechanismen brauchen und jede immanente Krise des Systems zu ihren Gunsten missbrauchen.
Manche schießen auch hier übereifrig über das Ziel hinaus, indem sie vermuteten, „das System“ generiere bewusst und politisch rational und kollektiv geplant jedwede Krise selbst, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten. Nicht alles frühere Wissen aber über die endogene, immanente
Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen finanzialisierten Niedergangsstufe muss aber vor dem Hintergrund der gemachten skeptischen machenden Erfahrungen über den Haufen geworfen werden, nicht jede wissenschaftliche Erkenntnis über Viren und Bakterien, über Virologie und Epidemiologie, über Umweltzerstörung und CO2 müssen in falschen und überzogenen Umkehrschlüssen negiert werden. Es ist eben nicht so, dass die Menschheit plötzlich gar nichts mehr weiß.
Naomi Klein hatte bereits Jahre zuvor ausführlich dargelegt, dass dieser Kapitalismus von seinen funktionalen Herrschaftsmechanismen und von seiner antidemokratischen Ersatz-Legitimationsbeschaffung her die Katastrophe, das Chaos, den Schock, oder den Notfall als Herrschaftsmechanismus braucht.
Hier nun setzt Fabio Vighi mit seinen kritischen Texten aus den Corona- und Nach-Corona-Jahren an. Er steht für das oben Gesagte, für die Fortsetzung einer kritischen Politischen Ökonomie, praktischen Philosophie und Systemkritik. Und deren Aktualisierung vor der Hintergrund der Pandemieerfahrungen und der aktuellen Kriegserfahrungen mit diesem System. Er analysiert die finanzkapitalistischen Mechanismen, die Rolle der Zentralbanken, die Politische Ökonomie der allseitigen Überschuldung.
Und er breitet das Thema des neuen äußeren Feindes und des Krieges gegen ihn aus, ein Feind, den das System nach einer kurzen Zwischenzeit der relativen Friedlichkeit aufgrund von Irritation und Neuorientierung in den ersten 1990er Jahren dringend wieder brauchte. Er umspannt Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg und ist aktuell bis ins Frühjahr 2024. Er entwickelt die Idee Naomi Kleins vom Schockstrategie- Kapitalismus weiter und bringt seine Ergebnisse auf den Punkt als „Notfallkapitalismus“ (Emergency Capitalism).
Damit liegt hier auch eine Aufsatzsammlung vor, die nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie, des Krieges und der Kriegs(tauglichkeits)hetze, der dominierenden Einheiz-Fakes und des neuen zensierenden, unterdrückenden, autoritären politischen Systems deutlich skeptischer, fundamentaler skeptisch ist, als man es vor Corona war. Der Gegner kritischer und demokratischer Bewegung ist auch umfassender geworden: Wir sind mit einem „MIMPIK“ konfrontiert, einem Medial-Industriell(-Finanziell)-Militärisch-Politisch-Intellektuellen Komplex. Universitäten und Think Tanks sind voll in globale Konfrontations-, Rüstungs- und Kriegsstrategien integriert, auf Kriegstüchtigkeit umgetrimmt, und die Oligarchenmedien haben die politische Macht übernommen und treiben mit ihrem ihr Militär und Finanzkapital heutzutage Politik und Intellektuelle vor sich her.
Eine ungläubigere Generation kritischer Denker, eine Generation von kritischen Philosophen und Politischen Ökonomen meldet sich hier, die fast nichts mehr glauben kann, fast alles für möglich hält und nur noch wenig Zukunftsoptimismus für den alten Kapitalismus hat. Da hilft nur noch, die Welt in ganzer Breite hereinzuholen und zu sehen, wie schnell sie sich verändert. Und das keineswegs mehr nur noch zum Schlechten.«
Bremen, im August 2024
Wolfram Elsner
Hoch informativ, dieses Vorwort! Damit sind die Leser gut auf Texte vorbereitet. Was auch für Menschen gilt, welche wenig ökonomisch gebildet sind. Viele Leute sind ja auch betreffs der von Wolfram Elsner referierten Fakten kaum oder nicht informiert. Leider versagen ja diesbezüglich auch die meisten unserer Medien. Warum? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Fabio Vighi gibt uns zu bedenken: «Ein globales Wirtschaftssystem, dass sich der Sättigung nähert, kann nicht auf eigenen Füßen stehen. Je mehr der Kapitalismus darauf beharrt, alles zu liquidieren, was sich seinen Gesetzen widersetzt, desto mehr implodiert er. Und je mehr er auch zur Geisel einer perversen Logik wird, die auf der Fantasie eines grausamen Feindes basiert, der bereit ist, uns zu vernichten.
Wie Domenico Losurdo zeigt, wurden die zivilen Errungenschaften der liberalen Ideologie in Symbiose mit den modernen Tragödien der Sklaverei, Deportation und des Völkermords etabliert. Diese Tragödien kehren im teuflischen Projekt der neoliberalen Globalisierung zurück. Das Paradoxon, das den moralischen Antrieb der heutigen „guten Politik“leitet, wurde von Baudrillard perfekt zusammengefasst:
„Wenn Le Pen nicht existierte, müsste er erfunden werden. Er ist es, der uns von der bösen Seite unserer selbst befreit, von der Quintessenz all dessen, was das Schlimmste in uns ist. Dafür ist er verflucht. Aber wehe uns, wenn er verschwindet, denn sein Verschwinden würde unsere rassistischen, sexistischen und nationalistischen Viren (wir haben sie alle) oder einfach die mörderische Negativität des sozialen Seins auslösen.“
Jean-Marie Le Pen ist nicht verschwunden. Er wurde geklont und in ein buntes Karussell von Monstern eingefügt, deren Aufgabe es ist, uns von den realen Prozessen sozioökonomischer Verwüstung abzulenken […]
Wie bei Colonel Kurtz in Apocalypse Now wird das Böse vom Guten hervorgebracht und muss beseitigt werden, um diese peinliche Wahrheit
zu verbergen. In dieser Hinsicht sollte man sich Max Horkheimers unsterbliche
Mahnung vor Augen halten: „Wer nicht bereit ist, über den Kapitalismus zu sprechen, sollte auch über den Faschismus schweigen.
[…] Die totalitäre Ordnung unterscheidet sich von ihrer bürgerlichen Vorgängerin nur dadurch, dass sie ihre Hemmungen verloren hat.“ So wurde uns beispielsweise kürzlich eingeredet, dass Donald Trump für alle Schrecken der Erde verantwortlich ist, von der Sklaverei, auf der die Vereinigten Staaten von Amerika aufgebaut wurden, bis hin zum neuesten ‚apokalyptischen‘ Virus. Es spielt keine Rolle, ob das Imperium des Guten für dasselbe Böse verantwortlich ist, das es dem anderen zuschreibt. Wichtig ist, dass die sanfte Seite unserer Intelligenz nicht gestört wird […]
Weiter schreibt Vighi: «Die industrielle Produktion von Notfällen erfordert wiederum glaubwürdige Akteure auf der globalen Bühne sowie ein Publikum, das bereit ist, sich von zynischer Medienpropaganda schockieren zu lassen.
Der Cashflow in Richtung Aktienmärkte muss weiter steigen, was auch immer dafür nötig ist. Wie ich in meinen früheren Beiträgen zu diesem Thema argumentiert habe, war COVID-19 im Wesentlichen ein beispielloser Versuch, die expansive Kapazität künstlicher Liquidität zu einem kritischen Zeitpunkt in der Geschichte des Kasino-Kapitalismus wiederherzustellen. Ende 2019 drohte der Finanzsektor erneut, rasch illiquide zu werden, da das Monopoly- Geld versiegte – ein vorhersehbares Ereignis, das bereits die Große Finanzkrise ausgelöst hatte. Im Jahr 2019 stand jedoch viel mehr auf dem Spiel als 2008, denn die Geldsucht des Systems hatte ihren Höhepunkt erreicht.
Was sind die Triebkräfte des senilen Kapitalismus? Ich werde fünf davon in keiner bestimmten Reihenfolge auflisten und dann ihre Zusammenhänge erörtern:
1. Schulden. Der einzige Weg in die kapitalistische Zukunft wird weiterhin durch Programme zur Liquiditätsschöpfung geebnet. Geld „aus dem Nichts“ zu schöpfen und es als Kredit in Umlauf zu bringen, ist die elementare geldpolitische Strategie, die unsere Gesellschaften davor bewahrt, in den Abgrund zu stürzen – wie die Comicfigur, die, nachdem sie über den Rand einer Klippe gelaufen ist, in der Luft schwebt, bevor sie die Schwerkraft wahrnimmt. Die Anziehungskraftder Schwerkraft ist jedoch jetzt unwiderstehlich, und der Abstieg hat mit einer heftigen Währungsabwertung begonnen.
2. Blasen. Finanzblasen, die durch billige Kredite aufgeblasen werden und einen wahnhaften Mechanismus der ewigen Bewegung nähren, sind das einzige aussagekräftige Maß für die noch verbleibende Vermögensbildung. Für die Handlanger der „schönen Maschine“ geht es nur noch darum, die Blasen am Platzen zu hindern. Während sich die finanzialisierte Wirtschaft von ihren sozialen Bindungen entfernt, wird die menschliche Existenz zur Sicherheit für den spekulativen Algorithmus.
3. Kontrollierte Zerstörung. Lohndumping und ein Abwärtswettbewerb um immer weniger Arbeitsplätze sind die notwendige Kehrseite des Blasenparadigmas. Damit die spekulativen Märkte fortbestehen können, muss die „Arbeitsgesellschaft“ schrittweise verkleinert werden, da sich die heutigen künstlich aufgeblähten Finanzanlagen und die reale Nachfrage gegenseitig ausschließen. Einfach ausgedrückt: Die Main Street ist eine Belastung für die Wall Street, weshalb sich der Konsumkapitalismus nun in die Verwaltung der kollektiven Verelendung verwandelt.
4. Notfälle. Unsere existenzielle Lage in der Endphase des Bubble-to-Bubble-Kapitalismus ist eine zutiefst terroristische Meta-Notfall-Ideologie, eine Permakrise, die uns von der Wiege bis zur Bahre begleiten muss. In dieser Hinsicht war die Pseudo-Pandemie des Jahres 2020 nur der Eisbrecher. Machen wir uns nichts vor: Eine Welt, die so fanatisch ihre eigene Implosion verteidigt, hat noch viele weitere Schocker für uns auf Lager.
5. Manipulation. Medienpropaganda ist im Zeitalter der digitalen Hypervernetzung eine Selbstverständlichkeit, und so ist es nur natürlich, dass der senile Kapitalismus, der seinen Zusammenbruch spürt, das Beste daraus macht. Hier ist ein hartnäckiges Zusammentreffen von blinder Dummheit und zynischer Berechnung am Werk. Wie George
Orwell schon lange vor dem Internet voraussagte, geht es darum, Lügen zu erzählen und sie gleichzeitig zu glauben: „Der Prozess [der massenmedialen Täuschung] muss bewusst sein, sonst würde er nicht mit ausreichender Präzision durchgeführt werden, aber er muss auch unbewusst sein, sonst würde er ein Gefühl der Falschheit und damit der Schuld mit sich bringen.“
Jean Baudrillard nannte das Ergebnis dieses Prozesses „Hyperrealität“
Während das Bewusstsein für die Massenbetrug langsam erwacht, bevorzugen die meisten Menschen die Vogel-Strauß-Politik: Besser nichts wissen, als das eigene Maß an Leichtgläubigkeit in Frage zu stellen. Und doch hat es wenig Sinn, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Stattdessen ist es von entscheidender Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass Virus der unsichtbare Schutzschild war, der eingesetzt wurde, um eine Banken- und Finanzkrise zu vermeiden, die 2008 in den Schatten gestellt hätte, und gleichzeitig eine Notfallstrategie für das koordinierte Management der Massenverarmung einzuleiten – nicht nur in den Randgebieten der kapitalistischen Welt, sondern auch in ihrem Zentrum. Es ist besonders aufschlussreich, dass wir jetzt dazu überredet werden, den wirtschaftlichen freien Fall als Schicksal zu akzeptieren: eine Art mythische Stagflation, die ihren Ursprung in externen und weitgehend unkontrollierbaren Auslösern (Pandemie) […]«
«Die Mainstream-Medien werden uns niemals über die Ursachen einer strukturell insolventen Wirtschaft informieren, aus dem einfachen Grund, dass sie ein Zweig dieses bankrotten Systems sind. Im Gegenteil, sie werden versuchen, uns davon zu überzeugen, woanders hinzuschauen: Pandemien, Kriege, kulturelle Vorurteile, politische Skandale, Naturkatastrophen und so weiter. Die reaktiven Medien können den Niedergang zwar nicht mehr verbergen,aber sie haben gelernt, exogenen Ereignissen die Schuld zu geben. «
«Es ist daher von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass wir vor einem totalen sozioökonomischen Zusammenbruch stehen“, mahnt Vighi. «Diejenigen, die den finanziellen Saftladen antreiben, werden weiterhin Konflikte und Spaltungen aller Art fördern, um den systemischen Zusammenbruch zu verbergen. Jeder Konflikt, ob geopolitisch oder anderweitig, beginnt und endet im „Krisenkapitalismus“. Der Niedergang des Sozialismus in den 1980er Jahren lüftete den Schleier der Maya. Seitdem ist,wie ein Buddhist sagen würde, „Dualität eine Täuschung“: Es gibt nur ein sozioökonomisches Dogma, und es funktioniert nicht mehr. Es ist nun unmöglich, den Konsumkapitalismus am Leben zu erhalten und gleichzeitig die Verschuldung ins Unendliche zu steigern. Der Berg an Schuldscheinen übersteigt bei Weitem das, was wir als Sicherheit besitzen (im Wesentlichen unser Vermögen, unsere Arbeitskraft und unser Leben), während die Fiat-Währungen längst ihre Reise ins Land des Mülls angetreten haben. Das gesamte Bankensystem steht kurz vor dem Zusammenbruch, weshalb es dringend neue inflationäre Liquidität benötigt, um sich über Wasser zu halten. Der „Great Reset“ ist der autoritäre Versuch unserer Eigentümer, auf diese systemische Bedrohung zu reagieren, indem sie die Kontrolle über die Sicherheiten (unser Leben) übernehmen und am Steuer bleiben. Alles andere ist Wahrnehmungsmanagement. Die westlichen Mittelschichten sind Gefangene ihrer Vergangenheit und davon überzeugt, dass der liberaldemokratische Kapitalismus der Nachkriegszeit als Modell der sozialen Organisation nicht nur grundsätzlich gerecht, sondern auch ewig und unbestreitbar ist. Diese optische Täuschung, die bislang (auch bei scharfer Kritik) zu einem fast bedingungslosen Vertrauen in unsere Institutionen geführt hat, ist verständlich:
Die westlichen Mittelschichten sind seit Jahren Gegenstand der liebevollsten Aufmerksamkeiten des Großkapitals, im Kontext einer profitabler Gesellschaftsvertrag, der um Massenlohnarbeit und wachsende Konsumgewohnheiten herum organisiert ist. Mit anderen Worten:
Das Kapital hat eine Arbeitsgesellschaft geformt und gleichzeitig ausgebeutet, die sich am „idealen Standard“ des Arbeiter-Konsumenten orientiert, der vom Traum einer sozialen Aufstiegsmobilität befriedigt wird. […]«
„Die Gefahr einer Katastrophe wird
durch die Gefahr anderer Katastrophen abgewendet“
(T. Adorno)
Die Crux: «Vielleicht ist es ein Zeichen der Zeit, dass selbst die scharfsinnigsten Denker, Historiker und geopolitischen Kommentatoren Schwierigkeiten haben, die existenzielle Natur der Verbindung zwischen unserem schuldenbasierten Wirtschaftssystem und militärischen Eskalationen zu begreifen. Vor allem scheinen sie nicht zu verstehen, warum der überschuldete Westen immer wieder versucht, einen geopolitischen Kampf vom Zaun zu brechen. Dabei ist die Logik dahinter ganz einfach: Die heutigen Notfälle sind keine unabhängigen Variablen, sondern der zerstörerische Modus Operandi der implosiven kapitalistischen Reproduktion.
Das Donnern der Bomben in der Ukraine, in Gaza und im Nahen Osten ist die Opernbegleitung zum tödlichen Tanz von Rezession und Inflation im Zeitalter von QE-Infinity, stagnierenden Einkommen und struktureller Schuldenmonetarisierung. Die unausweichlichen Realitäten der wirtschaftlichen Implosion müssen in der ohrenbetäubenden Kakophonie des Krieges oder der Förderung seiner Bedrohung ertrinken.
Psychopathische Finanzeliten lieben den Geruch von Napalm am Morgen.
Die Maginot-Linie ihres Finanzkasinos steht unter so starkem Druck, dass nur ein kontinuierliches geopolitisches Rauschen die Illusion systemischer Nachhaltigkeit aufrechterhalten kann. [..}«
Die Sackgasse des Notfallkapitalismus zeigt, dass es in der Geschichte der Moderne keine progressive Teleologie gibt, da die Bedingungen für Barbarei regelmäßig wieder auftauchen. Der Kapitalismus als „sozial notwendige Illusion“ bricht aus allen Nähten, und doch hält er sich durch die schiere Kraft der Manipulation und unverfälschte Gewalt. Im Kern dieser Beharrlichkeit liegt auch eine weitere entscheidende Errungenschaft: die fragmentierten und verarmten Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie für ihr eigenes Schicksal verantwortlich sind. Sie müssen Verantwortung übernehmen. Sie müssen auch Opfer bringen, indem sie sich anpassen, umschulen, disqualifizieren und neu qualifizieren, während sie von den Medien und der politischen Klasse bevormundet werden.
«Wer gewinnt?«, fragt Fabio Vighi
„Der Westen ist zu einem totalitären Raum geworden
– dem Raum einer selbstverteidigenden Hegemonie,
die sich gegen ihre eigene Schwäche verteidigt.“
(Jean Baudrillard)
Wenn wir also eine einzige moralische Pflicht haben, dann ist es, die neuen Generationen dazu zu erziehen, kritisch über die wahren
Ursachen hinter der gewaltsamen Implosion des Systems nachzudenken. Doch das Kapital scheint einen solchen Schritt schon lange vorhergesehen zu haben, indem es alle Bereiche, einschließlich der Bildung, kolonisiert hat. Die Heranbildung der neuen Generationen zu einer „Kultur“ der narzisstischen Stumpfsinnigkeit und der stolzen Ergebung ist für die Errichtung eines neuen totalitären Regimes, in dem Armut, Gewalt und Manipulation zur Normalität werden, von entscheidender Bedeutung. Die Social-Media-Konglomerate sind ein perfektes Beispiel dafür. Die Sucht nach dem Scroller am Telefon ist beispielsweise per se hypnotisch, unabhängig von den Inhalten, die kurz auf dem Bildschirm erscheinen. Sobald die Augen in der teuflischen Vorrichtung gefangen sind, wird der Geist sofort desensibilisiert und ist nicht mehr in der Lage, ernsthaft kritisch zu denken.«
Knallhart geschilderte Realität. Sind wir noch zu retten? Gute Frage! Sagen wir es so: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Informieren wir uns zuerst und denken wir darüber nach, was zu tun ist. Noch sind wir nicht verloren. Doch, schauen wir uns in der derzeitigen Welt um. Und schauen wir uns die Politiker an. Besonders auch in Deutschland. Darüber hinaus in der EU sind es nicht besser aus. Unvermögen, Kriegslüsternheit allenthalben. Man schlägt die Hände tagtäglich über dem Kopf zusammen. Politikerformate wie De Gaulle, Olof Palme, Willy Brandt, Helmut Schmidt, andere und selbst Helmut Kohl sucht man vergebens. Dabei werden sie hängeringend dringendst gebraucht! Zu lange schauen wir – mit Nietzsche gesagt – bereits in den Abgrund, der längst immer bärbeißiger zurück schaut.
Fazit
Liebe Leserinnen und Leser, ich legen ihnen diese Texte von Fabio Vighi ans Herz. Und empfehlen sie sie gern weiter. Ihr Kaufpreis dürfte für alle Interessierten erschwinglich sein. Greifen Sie zu, bestellen sie – am besten beide der hier erwähnten – Broschüren von Fabio Vighi und rezipieren sie diese. Danach werden sie klüger sein! Und ja: Hinter den meisten im pad-Verlag veröffentlichten Texten stecken kluge und klüger werdende Köpfe. Früher wurden kluge Köpfe immer hinter der FAZ verortet. Längst vorbei …
INHALT der Broschüre:
Vorwort von Prof. Dr. Wolfram Elsner / Prolegeomena zu einem franziskanischen Kapitalismus / Von Covid-19 bis Putin-22: Wer braucht schon Freunde mit solchen Feinden? / Ein System zur Lebenerhaltung / Senile Wirtschaft: Blasenontologie und die Schwerkraft / Willkommen im “Niedrigenergie-Kapitalismus” oder: Proletarier der Welt, tragt Gesichtsmasken / Weihnachtsgeschenkideen? Eine Weihnachtsmann-Rallye, ein Völkermord, ein Sündenbock und die Kritik eines Philosophen / Vertrauen in Institutionen und Kriegsdividende / Unser Interessengebiet: Der Lärm des dauernden Krieges / Der Feind und die libidinöse Ökonomie der Apokalypse / Wer gewinnt? / Über den Autor
Schriftenreihe des Forum Gesellschaft & Politik Redaktion und Übersetzung: Peter Rath-Sangkhakorn
unsere Seite im Netz: http://www.pad-Verlag.de E-Mail: pad-verlag@gmx.net
Titelblattabbildung: Pixabay
Die in diesem Heft wiedergegebenen Veröffentlichungen von Fabio Vighi erschienen zuerst in “The Philosophical Salon” s. S. 97
© pad-Verlag – Am Schlehdorn 6 – 59192 Bergkamen Bergkamen 2024 Printed in Germany ISBN 978-3-88515-372-6
Preis: 7 Euro
Zu Fabio Vighi
Fabio Vighi ist Professor für Kritische Theorie und Italienisch an der Universität Cardiff/Großbritannien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Ideologiekritik, politische Ökonomie, theoretische Psychoanalyse, Hegel’sche Dialektik und Film.
Zu seinen jüngsten Arbeiten gehören Critical Theory and the Crisis of Contemporary Capitalism (Bloomsbury 2015,mit Heiko Feldner) und Crisi di valore: Lacan, Marx e il crepuscolo della società del lavoro (Mimesis 2018), Unworkable: Delusions of an Imploding Civilization(SUNY Press, 2022); Crisi di valore: Lacan, Marx e il crepuscolo della societa‘ del lavoro (Mimesis, 2018); States of Crisis and Post-Capitalist Scenarios (Ashgate, 2014; gemeinsam mit Heiko Feldner und Slavoj Zizek herausgegeben), Critical Theory and Film: Rethinking Idology
